Drei Pfeile für die Liebe - Kooky Rooster - E-Book

Drei Pfeile für die Liebe E-Book

Kooky Rooster

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Beschreibung

Gott hätte ihm wenigstens anständige Schwingen geben können. Oder ein fetziges Superheldenkostüm. Stattdessen muss Amor in einem Nachthemd und mit peinlich winzigen Flügelchen seinen Dienst verrichten. Lässt es sich damit langbeinige, kettenrauchende Kellnerinnen bezirzen? Nun, dafür hat er eigentlich eh keine Zeit, denn sein neuester Auftrag droht katastrophal zu scheitern: Er muss den sonnigen Grafikdesigner Sascha mit dem stillen Copyshopmitarbeiter Nick verkuppeln. Während Sascha nach dem ersten amourösen Schuss auch sofort für Nick entflammt, zerbricht der Liebespfeil an Nicks Brust. Drei Mal. Zeit, ein paar göttliche Mitstreiter – Freunde möchte Amor diese schräge Truppe nicht nennen – um Hilfe zu bitten.

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Kooky Rooster

Drei Pfeile für die Liebe

Amors Nemesis

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Das obligatorische Zitat

 

 

 

»Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben –

das sagt doch jeder mal.« – Amor

 

1 – Das Kapitel, in dem Nick aufwacht

 

 

 

Nicks Lider schnellten hoch, als wäre irgendwo hinter den Augäpfeln eine Feder gerissen. Alles gut. Es war alles gut. So gut es eben sein konnte. Er schloss noch einmal kurz die Augen, um den Tag noch ein wenig vor sich herzuschieben. Durch den unruhigen Schlaf, und weil Nick sein Bett nur schluderig bezog, hatte das Laken einen Wulst gebildet, der ihm in den Rücken drückte. Das Kissen lehnte an seinem Scheitel und bedeckte zur Hälfte seine Stirn. Unter den Kopf hatte es nur ein Zipfel geschafft, flach und lasch, das trotzdem störte.

Einen Moment. Nick brauchte nur einen Moment. Von draußen drang das emotionslose Kichern vergeblicher Startversuche an sein Ohr. Der alte Citroën des Nachbarn verweigerte wieder einmal den Dienst. Nick versank im Teer morgendlicher Erschöpfung. Er musste die letzten Sequenzen eines Traumes verdrängen, der ihn nicht zum ersten Mal heimgesucht hatte und – streng genommen – kein echter Traum war. Sondern viel mehr ein Trauma. Eine Erinnerung, die sich über seine tatsächlichen Träume immer wieder in sein Bewusstsein drängte.

 

Gähnend kratzte Nick über das Chaos, das der Schlaf mit seinen schwarzen Haaren angestellt hatte, und suchte mit der anderen Hand im Küchenschrank scheppernd nach seiner geliebten Garfield-Müslischale. Er fand sie schließlich im Stapel alten Geschirrs neben der Spüle. Nachlässig prüfte er, ob sie sauber war, spülte sie kurzerhand aus und ertränkte darin Haferflocken in Sojamilch. Anschließend verlor er das Interesse daran.

Auf dem Weg ins Bad knirschte es unter seinen nackten Fußsohlen. Das erste Stück Stoff, auf das er versehentlich trat – eine Socke – nutzte er, um auf einem Bein voranzuschlittern. Dadurch schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er musste dieses widerliche Gefühl von Krümel auf Haut nicht ertragen, und er konnte die Socke in die Nähe der Waschmaschine bugsieren.

 

Svens blonder Haarschopf ergoss sich über den graublauen Teppich. Ein Arm lag unnatürlich geknickt unter seinem Körper begraben. Auf der verdrehten Schulter saß eine Krähe und blickte Nick mit seitlich geneigtem Kopf an.

 

Traumsequenzen. Erinnerungsfetzen. Wie Ohrfeigen brachen sie in sein Bewusstsein. Aus dem von Kalkflecken matten Hahn spritzte Wasser in verschiedene Richtungen und traf gelegentlich auch das mit Zahnpasta verkrustete Waschbecken. Nick bildete mit den Händen Schaufeln und warf sich das eiskalte Nass ins Gesicht, um die unliebsamen Bilder fortzuwaschen.

Dann hob er den Kopf und betrachtete sein Spiegelbild. Dort sah er nicht wirklich sich selbst, oder die unzähligen eingetrockneten Spritzer, sondern nur einzelne Fragmente, wie etwa die Bartstoppeln, über die er mit den Fingern rieb, um abzuschätzen, ob er mit dem Rasieren noch einen Tag warten konnte. Oder seine dichten Augenbrauen, die seine Stirn vom restlichen Gesicht trennten.

 

Von jenem Haken, den sie gemeinsam für den Boxsack an die Decke geschraubt hatten, hing ein Seil – fasrig gerissen.

 

In Nicks Magen ballte sich eine Faust. Er beugte sich über die Badewanne, stützte sich mit einer Hand ihm gegenüber an der gekachelten Wand ab, mit der anderen schraubte er am Knauf mit dem blauen Punkt. Wasser stürzte aus der Brause und trümmerte eiskalte Nadelstiche auf seinen Schädel. Das weiße T-Shirt sog sich voll und klebte bald kalt und schwer an seinem Rücken.

Nick konzentrierte sich auf die Tropfen, die rings um sein Gesicht im kleinen Stausee mündeten, der sich wegen des chronisch verstopften Abflusses bildete. Gerade, als er feststellte, dass er das heute erstaunlich lang ertragen konnte, hatte er auch schon genug. Er schälte sich aus dem Shirt, das an ihm klebte wie eine zweite Haut, und schleuderte es in die Wanne. Wie ein Stein platschte es in die langsam schwindende Pfütze.

 

2 – Das Kapitel, in dem Nick zum ersten Mal auf Sascha trifft

 

 

 

Die Hände nach dir ausgestreckt,

greifen sie in Glaspaläste,

um sich blutig zu schneiden.

Du – Elfenkönig – regierst,

ohne mein Blut zu sehen.

– Sven

 

Dieser Spruch stand in krakeligen Buchstaben mit einem schwarzen Faserstift an die Wand im Treppenhaus geschrieben. Nick rannte, sein sonnengelbes Fahrrad auf den Schultern, an den Worten vorbei, als gingen sie ihn nichts an. Er brauchte das Gedicht nicht zu lesen, er brauchte nicht einmal hinzusehen, um seine Magie zu spüren. Es hockte in seiner Seele. Die Handschrift war seine.

 

Der Morgenwind sauste über Nicks Gesicht hinweg zu seinen Ohren und flüsterte von einem April, in dem sich seine Welt ändern würde. Es war das erste Mal in diesem Jahr, dass er das Fahrrad nutzte, und die Muskeln in seinen Beinen erwachten mit einem geradezu sehnsüchtigen Seufzen aus der Winterpause. Die Wolkendecke und die Häuserfronten der Stadt waren sich einig, heute alles grau in grau zu halten. Behände kurvte Nick durch den Morgenverkehr und schnitt Autos, die im morgendlichen Stau standen.

 

An den Schultern drehte er Sven zu sich herum, dessen Kopf lose in den Nacken kippte. Er konnte ihm bis in den Rachen sehen, als der Kiefer aufklappte. Das blonde Haar war über sein Gesicht gewirbelt, klebte an der noch verschwitzten Haut und Speichelresten in den Mundwinkeln.

 

Nick ballte die Fäuste um die Bremshebel und rammte einen Passanten, der gerade den Zebrastreifen querte. Oder besser gesagt: dessen kniehohen Terriermischling. Der Hund quietschte erst jämmerlich, dann verbiss er sich knurrend im Vorderreifen des Fahrrads.

Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich Nick und der junge Mann am anderen Ende der Leine entsetzt an – als wären sie nicht sicher, wer von ihnen beiden einen Fehler begangen hatte.

»Buster! Aus!«, befahl der Besitzer des Hundes seinem wild gewordenen Köter, dann schien er den Unfallhergang fertig rekapituliert zu haben und begann ihn zu loben. »Faaaain Buster! Braaav! Töte das böse, böse Fahrrad!«

Nick verstärkte den Griff um die Lenkstange, da Buster mit vollem Körpereinsatz am Vorderreifen zerrte. So als wollte er ihn aus dem Rahmen reißen, um ihn als Beute in sein Versteck zu schleppen, wo er ihn zufrieden zernagen konnte.

»Sorry, ich hab die Ampel nicht gesehen. Ich meine, ich hab sie zwar gesehen, aber nicht, dass sie rot ist.« Als Nick klar wurde, dass er im Moment des Unfalls, noch nicht einmal diese Welt gesehen hatte, revidierte er: »Ich meine, ich hab die Ampel doch nicht gesehen. Eigentlich die ganze Kreuzung nicht. Nicht einmal Sie oder Ihren Hund.« Und weil ihm dämmerte, wie das wirken musste, fügte er entschuldigend hinzu: »Sie wissen schon.«

Busters Herrchen – dem blauen Rollkragenpulli und der schwarzen Jogginghose nach wohl beim Prä-Tagewerk-Gassigehen – musterte Nick wortlos von den abgetragenen Turnschuhen über die verbeulten Jeans, bis hoch zum dunkelblauen Hoodie, dessen Kapuze zwar über den Kopf gezogen, dessen Reißverschluss aber nicht verschlossen war. Auf dem Shirt, das hervorblitzte, stand in schwarzen, deutlich lesbaren Buchstaben: ›voll total farbenblind‹.

Der Blick des Hundebesitzers rutschte vom Spruch hoch in Nicks Gesicht. Sein Blick verweilte mit einem Ausdruck auf ihm, als wüchsen Nick grün knospende Zweige aus den Nasenlöchern.

»Buster! Aus!«, befahl er, ohne Nick aus den Augen zu lassen, und zog kurz aber kräftig an der Leine. Der Terrier ließ auf der Stelle los, würgte den Geschmack von Gummi hoch und himmelte sein Herrchen sabbernd an.

Eilig setzten die beiden ihren Weg zur anderen Straßenseite fort, wobei sich der eine noch zweimal nach Nick umdrehte, und der andere seinem Begleiter bei jedem Schritt hechelnd die Nase ins Knie rammte.

In düsterer Vorahnung blickte Nick an sich runter, dann zog er den Reißverschluss der Kapuzenweste bis zum Hals zu.

Nick begutachtete den Schaden. Der Radschlauch hing vom Vorderreifen wie eine abgestoßene Schlangenhaut. Verdammt. Mit einem frustrierten Seufzen hob Nick das Fahrrad auf den Gehweg und legte die restliche Strecke zur Arbeit zu Fuß zurück.

 

Eineinhalb Meter über ihm – auf jener Ampel, die Nick nicht wahrgenommen hatte – saß ein kleiner dicker Mann ohne Scheitelhaar. Er trug ein weißes Nachthemd, seine behaarten Beine baumelten ungeduldig. Schnaufend schraubte er einen schneeweißen Recurve–Sportbogen auseinander und verstaute die Einzelteile sorgfältig in einem Futteral aus weißem Plüsch. Dann zog er mit seinen klobigen Fingern den Reißverschluss an den winzigen, herzförmigen Schiebegriffen zu und stand entschlossen auf. Wie es aussah, musste er noch mal ran. Nur einer von zwei Pfeilen hatte das Ziel getroffen. Mit einem Seufzen breitete er die winzigen Flügel auf seinem Rücken aus und flatterte davon.

 

3 – Das Kapitel, in dem Nick zum zweiten Mal auf Sascha trifft

Als Nick an einem Schaufenster vorbeikam, in dem mehrere Generationen Fliegen verdorrt auf dem Rücken lagen, und über dessen Stempel, Tassen, Polster und T-Shirts sich ein grauer Schleier aus Staub gebildet hatte, verlangsamte er den Schritt. Das war sein Reich. Zumindest von neun bis achtzehn Uhr, Montag bis Freitag.

Aus dem Torbogen neben dem Geschäft waberten ihm Schwaden säuerlich-würzigen Gestanks entgegen. Nick stülpte mithilfe zweier Finger den Halsausschnitt des T-Shirts über die Nase und hielt die Luft an, während er rasch sein lädiertes Fahrrad an die braune, sich wie Blätterteig schälende Wand neben den überquellenden Mülleimer lehnte. Seine Augen begannen zu tränen. Hektisch pflückte er die Schlüssel aus der Gesäßtasche. Zweimal fielen sie ihm aus der Hand und krachten scheppernd zu Boden, ehe er es schaffte, ins Geschäft zu flüchten und tief Luft zu holen.

Das ruhige Surren von Kopiergeräten im Stand-by-Modus vermengte sich mit dem typisch satten Geruch elektronischer Geräte und trockener Wäsche.

»Ng!«, unkte es aus dem Dschungel aus Bildschirmen, Bügelpresse und metallenen Papierregalen.

»Da draußen riechts, als hätte jemand eine Leiche entsorgt«, sagte Nick zum bläulichen Lichtschein – bislang die einzige Lichtquelle hier, abgesehen von den Schaufenstern.

Ein ovales Gesicht ploppte hinter einem Bildschirm hervor, gerahmt von langen, schwarzen Strähnen, die wie Schnürsenkel darum herum baumelten. »Leiche? Wo ist eine Leiche?«

»Ich sagte, dass es da draußen riecht, als hätte jemand eine Leiche entsorgt.«

»Ach so.« Kevin zuckte mit seinen mageren Schultern, dann verschwand sein Kopf wieder.

Nick bohrte einen Finger in die Starttaste seines Rechners, da ließ ihn ein vertrautes Surren aufhorchen. »Kevin?«, fragte er.

Im vorderen Bereich des Ladens bewegte sich eine Silhouette.

Kevins unheimlich ovaler Kopf schnellte hinter einem Regal hervor. »Was gibts?«

Für einen Moment verfing sich Nicks Blick in den irritierend baumelnden Strähnen. »Hast du schon aufgeschlossen?«

»Nö? Warum?«

Mit einem Nicken deutete Nick zum Schatten, der offensichtlich gerade damit beschäftigt war, Unterlagen zu sortieren.

Kevin machte eine verschwörerische Miene und flüsterte: »Ein Einbrecher?«

Nick sah die Sache etwas pragmatischer. »Bist du durch den Kundeneingang gekommen?«

Kevins Augen wurden kugelrund, als hätte er soeben das Geheimnis hinter dem Bau der Pyramiden entdeckt: »Nein?!«

»Und gestern?«

»Ich gehe immer durch den Seiteneingang«, zischelte Kevin argwöhnisch und beobachtete den Schatten mit zusammengekniffenen Augen.

Für einen Moment blitzte dort ein Licht auf.

»Ich meinte eigentlich, ob du gestern abgeschlossen hast, als du nach Hause gegangen bist.«

»Natürlich! … Das heißt … Warte mal.« Kevin legte nachdenklich einen Zeigefinger an sein glatt rasiertes Kinn. Sein Blick flatterte nach links oben.

»Ja oder nein?«

Der Zeigefinger zielte auf Nick. »Das ist die Frage!«

Mit einem Seufzen ließ Nick Kevin stehen und näherte sich dem Schatten, der konzentriert Papiere sortierte, und gelegentlich mit einer Taschenlampe auf eine Seite leuchtete, um sehen zu können, was darauf stand. Nick erkannte die typisch krummen, zittrigen Finger eines älteren Stammkunden.

»Guten Morgen?«, sagte Nick.

Der betagte Herr strahlte sich mit der Taschenlampe von unten ins Gesicht. Die Schatten seiner Falten und Gesichtszüge erschufen eine entstellte Fratze.

»Aaaaaahhh!«, tönte es aus dem hinteren Teil des Ladens.

»Guten Morgen, ich bins nur. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe ein paar wichtige Inhalte zu vervielfältigen«, erklärte die heisere aber sehr freundliche Stimme des Professors im Ruhestand, der jede Woche viele Stunden damit zubrachte, Skripten aus seinem Lebenswerk zu kopieren.

»Seit wann sind Sie schon hier?«, fragte Nick.

Der Professor beleuchtete seine Armbanduhr, die er zum Ablesen dicht vor seine krumme Nase hob. »Noch nicht so lange. Zwei Stunden. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Zwei …?! Wie sind Sie hier hereingekommen?«, fragte Nick, obwohl er die Antwort, die er eigentlich gar nicht hören wollte, bereits kannte.

»Die Tür war nicht abgeschlossen.«

Schuldbewusst stolperte Kevin zurück zu seinem Platz, wobei er unabsichtlich ein paar Gegenstände in Bewegung setzte, die sich geräuschvoll über den Boden verteilten. Er zog den knallroten Kopf ein. »Tut mir leid.«

Beschwichtigend hob Nick die Hände und machte ein paar Schritte rückwärts auf den Kundeneingang zu. »Kein Grund, die Einrichtung zu demolieren, Kev.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kontrollierte er den Knauf der Eingangstür. Sie unternahm nicht den geringsten Versuch, verschlossen zu wirken. »Offen. Du hast gestern nicht abgesperrt, Kev.«

»Übrigens …« Der Professor griff nach einem orangefarbenen Kuvert, das neben seiner Zettelwirtschaft lag, und hielt es unschlüssig in beiden Händen. Schließlich machte er einen verlegenen Schritt auf Nick zu. »Ich habe mir erlaubt, diesen Auftrag entgegenzunehmen. Der Plan möge bis zum Mittag zweimal kopiert werden.«

Nick hatte seine Hand noch nicht einmal angehoben, um nach dem Kuvert zu greifen, da schlitterte Kevin bereits seitwärts über den Laminatfußboden herbei und zupfte es dem Professor aus den faltigen Fingern.

»Das mach ich«, sagte er und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

___

Über dem Adamsapfel markierten dicke, blauviolette Striemen die Grenze zwischen Kopf und Hals. Auf der Brust ruhte lose der Knoten der Schlinge – das Seil war nur fünfzehn Zentimeter darüber gerissen.

»Es tut mir leid«, riss Kevin Nick aus seinen Erinnerungen.

Halb bewusst hatte Nick mitgezählt. Es war gerade mal halb zwölf und Kevins reuevolle Beteuerung war mittlerweile ein Dutzend Mal über seine schmalen Lippen geschossen. Das »Schon Okay« verkniff sich Nick jedoch noch, obgleich er es bereits bei der ersten Entschuldigung gedacht hatte. Es fiel ihm zwar verdammt schwer, aber er musste Kevin ein Mindestmaß an Disziplin abverlangen. Nicht, dass er ihm sonst irgendetwas abverlangen würde.

Nick beobachtete seinen Kollegen, der gerade dabei war, ein weißes T-Shirt, das ihm auf den Boden gefallen war, von Staub und Haaren zu befreien. Dann breitete er es auf der Bügelunterlage aus und strich es glatt, was sich ob seiner verschwitzten Hände zur Sisyphusarbeit ausdehnte. Das schwarze Band-Shirt, das Kevin trug, hing an ihm wie eine Toga – nicht, weil es so feierlich wirkte, sondern weil es irgendeinen Konflikt mit seiner Körperhaltung austrug. Offenbar hatte jedes Kleidungsstück in seiner Nähe ein Problem mit ihm.

Kevin schien zur Überzeugung zu gelangen, dass er das Shirt in seiner Hand noch einmal kräftig ausschütteln musste, ehe er einen erneuten Versuch starten konnte, es glatt auf die Bügelfläche zu bekommen. Dabei entkam es ihm und er war wieder damit beschäftigt, Staub und Haare mit Daumen und Zeigefinger vom Stoff zu pflücken.

Als er es endlich halbwegs glatt in die Bügelpresse geschafft und sogar die Textilfolie zu seiner Zufriedenheit positioniert hatte, betätigte er den Starthebel. Mit einem beherzten Röhren tat die Presse ihren Dienst. Das Monster von Maschine öffnete das Maul und gab mit einem besorgniserregend knusprigen Geruch das Ergebnis frei.

Beherzt zog Kevin das Trägermaterial ab und hielt einen Moment verdutzt inne. Eine satte Falte zog sich vom rechten Auge bis zur linken Schulter des Motivs – das Porträt eines Kleinkindes. Kurzerhand zerrte er das Shirt aus der Presse und faltete es überraschend gekonnt. Die Methode hatte er in einem Internetvideo gesehen und einen ganzen Tag damit verbracht, den Arbeitsschritt auswendig zu lernen um, nun, um irgendwann einmal jemanden zu beeindrucken, der sich von so etwas beeindrucken ließ.

»Kevin?«, sagte Nick.

Der zukünftige Rockstar zuckte erschrocken zusammen und ließ sein gefaltetes Kunstwerk zu Boden fallen. Rasch hob er es auf und blickte Nick schuldbewusst an. »Ja? Ich meine … Ja?« Sein linkes Auge zuckte.

»Sind die eigentlich echt?«

Kevin biss sich auf die Lippen.

»Die sind gefärbt, richtig?«

Kevin starrte auf das bedruckte Shirt in seinen Händen und überlegte angestrengt, was er antworten sollte.

»Deine Haare. Die sind nicht von Natur aus schwarz, oder?«

So oder so ähnlich musste Kevin bei Stundenwiederholungen in der Schulzeit aus der Wäsche geschaut haben, wenn er nicht vorbereitet gewesen war.

»Ich komme darauf, weil du praktisch keine Augenbrauen und Wimpern hast«, erklärte Nick und machte einen Schritt auf Kevin zu, um ihm das Shirt abzunehmen.

»Ich … ähm … blond«, sagte Kevin unsicher und sah zu, wie Nick es wesentlich ungeschickter und nachlässiger als er faltete – eher zusammenrollte –, und auf die Ablage für fertige Aufträge warf.

Einen halben Meter über ihnen, auf dem obersten Fach des Metallregals für Kopierpapier, hatte sich ein kleiner fülliger Mann in Nachthemd positioniert. Mit geübten Handgriffen schraubte er die Teile eines schneeweißen Recurve-Sportbogens zusammen, die er aus einem weißen Plüschfutteral holte.

»Entschuldigung?«, sagte eine schwach vertraute Stimme hinter Nick.

Kevins schwarze Schnürsenkelsträhnen vollführten eine beeindruckend synchrone Pendelbewegung zu beiden Seiten seines Gesichts, als er seinen unfassbar ovalen Kopf zur Seite neigte, um an Nick vorbeizuschauen. Seine nicht vorhandenen Augenbrauen wippten fröhlich. »Bitte schön?«

Noch ehe sich Nick umdrehen konnte, stieß etwas oder jemand gegen sein Knie. Im selben Moment, da er die Ursache dafür ausmachte, ertönte ein:

»Buster! Aus!«

Der blaue Rollkragenpulli war einem weißen Hemd gewichen, das unter einem Sakko steckte, das exakt dieselbe sandbraune Farbe wie die kurzen Haare seines Trägers hatte. Das war der Typ von heute Morgen. Der Kerl, in dessen Hund Nick mit dem Fahrrad gelandet war. Seine großen, sanftmütigen Augen ruhten einen irritierend langen Moment auf Nicks Lippen.

Anatomisch bedingt zeigten Nicks Mundwinkel immer etwas nach oben, selbst wenn er mies drauf war. Sein Gesicht war zum Lächeln verdammt. Abhilfe leisteten da lediglich seine intensiven Augen, die dem sonnigen Ausdruck dann und wann den nötigen Wahnsinn verliehen.

»Ich habe heute Morgen einen Plan vorbeigebracht«, erklärte der Typ mit dem Reifenmörder, der soeben zum Kunden aufgestiegen war.

Kevin hob einen Zeigefinger und rührte damit in der Luft herum, während er »Plan … Plan … Plan …« summte. Dann setzte er sich hektisch in Bewegung.

»Ein älterer Herr hat den Auftrag entgegengenommen. Er hat gesagt, er wäre praktisch hier angestellt«, erinnerte Busters Herrchen. »Ich habe zwei Kopien bestellt.«

Buster schnüffelte konzentriert an Nicks rechtem Knie, drückte die feuchte Schnauze dagegen und blieb selbst dann daran kleben, als Nick das Bein etwas zurückzog.

Kevins liebenswürdig inkompetente Art bot ein Schauspiel, dem sich selten ein Kunde entziehen konnte. »Zwei Stück! Schach … Matt.« Er grinste triumphierend und hob das orangefarbene Kuvert sowie zwei Papierrollen hoch. Dabei warf er das T-Shirt mit der Falte im Kindergesicht zu Boden. Während er es aufhob und den Staub wegpustete, warf der Kunde Nick einen prüfenden Blick zu. Nick wiederum konzentrierte sich voll auf Buster.

»Schach Sascha«, las Kevin den mit Kugelschreiber gekritzelten Namen auf dem Kuvert und streckte dem Kunden die Pläne entgegen.

Die drei konnten es nicht sehen, aber ein weißer Pfeil mit pinkfarbenen Federn hielt direkt auf Nick zu. Glitzerstaub platzte aus dem Inneren des Schafts, als er an Nicks Brustbein zerbarst. Der abgeknickte Pfeil fiel zwar, landete jedoch nie auf dem Boden, sondern löste sich in Luft auf. Über den Köpfen der drei ertönte ein Fluch und Buster kläffte zur Decke hoch.

»Aus! Buster! Ruhig jetzt!«, schimpfte Sascha.

Buster beruhigte sich nur widerwillig. Zur Kompensation hob er ein Bein und markierte Nicks rechtes Knie.

»Scheiße!« Nick sprang zur Seite – zu spät. Der Stoff seiner Jeans saugte sich mit Hundeurin voll.

Kevin, der Sascha gerade das Wechselgeld herausgab, prustete los.

Sascha zog den Terriermischling an der Leine zu sich. »Nein! Buster! Böser Hund.«

Schuldbewusst zog Buster den Schwanz ein, setzte sich auf die Schuhe seines Herrchens und versuchte, sein Herz zu erweichen, indem er möglichst debil aus dem Fell glupschte.

»Ich denke, ihr seid jetzt quitt«, meinte Sascha und grinste Nick schief an. Ohne sich für seinen Köter zu entschuldigen, marschierte er aus dem Geschäft. Dabei drehte er sich noch zweimal nach Nick um. Buster rammte ihm hechelnd die Nase ins Knie.

4 – Das Kapitel, in dem Nick zum dritten Mal auf Sascha trifft

Gegen neunzehn Uhr trug der missmutige kleine Mann mit Halbglatze noch immer sein Nachthemd – oder schon wieder – und zurrte die Schrauben seines Bogens so fest, dass es knarrte. Er beklagte sich bei seinem Sportgerät über seinen Job, die Menschen heutzutage, und seine Arbeitskleidung. Vor allem über seine Arbeitskleidung. Dann ließ er seine nackten, behaarten Beine vom Regal mit den Marmeladengläsern baumeln und wartete.

Oberhalb seines Kopfes hing ein runder, gewölbter Spiegel. Von hier aus hatte man den besten Überblick über den kleinen Supermarkt. Daher hatte man hier außerdem einen Lautsprecher installiert, der Amor unablässig neben ausgesucht schlechter Musik auch beeindruckend hirnlose Slogans ekstatisch ins Ohr plärrte.

Als Amor einen jungen Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze erspähte, der wie eine wintermüde Biene in den Laden schwirrte, erhob er sich entschlossen. Er beobachtete, wie Nick ziellos durch die Gänge schlurfte, sich mal hier und mal da der Lektüre von Zutatenlisten hingab, nur um die Produkte wieder zurück in die Regale zu stellen.

Adrenalin schoss in Amors unförmigen Leib, als ein sandfarbenes Sakko in den Laden wehte, und zielstrebig hinter Nick vorbei, zur Gebäcktheke eilte. Konzentriert umfasste Amor den Griff seines Bogens, klemmte die Nocke in die Sehne, legte den Pfeil auf die Pfeilauflage, umfasste die Sehne mit drei Fingern, und begab sich in die Grundstellung. Als sich Nick unschlüssig der Gebäcktheke näherte, an der Sascha gerade seine Bestellung aufgab, spannte Amor die Sehne, setzte den Ankerpunkt zwischen Mundwinkel und Nasenwurzel, und verfolgte ihn mit der Pfeilspitze.

Aus dem Lautsprecher dröhnte ein abscheulicher Top-Hit, und obgleich Amor direkt danebenstand, verbannte seine Anspannung den aufdringlichen Bass in ein dumpfes, belangloses Hintergrundrauschen. Er war eins mit dem Bogen. Eins mit dem Opfer. Er atmete in den Pfeil.

Lächelnd nahm Sascha die Papiertüte entgegen und scherzte mit der Verkäuferin, während er einen Schritt zurücktrat. Unter seiner Sohle erwartete ihn der abgetragene Turnschuh von Nicks vollgepisstem Fuß.

Amor ließ die Sehne los, sein Ellenbogen schnellte nach hinten, der Pfeil nach vorn, direkt auf Nicks Brustkorb zu. Hinter den pinkfarbenen Federn zeichnete ein glitzerndes Flirren die Flugbahn nach.

In jenem Moment, da Sascha registrierte, dass er auf etwas Weiches trat, und Nick spürte, dass seine Zehen gequetscht wurden; in jenem Moment, da beide versuchten, einander aufzufangen, obwohl keiner von ihnen drohte zu stürzen, zersplitterte an Nicks Brustkorb der dritte Pfeil. Eine weitere Wolke Glitzerstaub explodierte aus dessen Inhalt und verschwand auf dem halben Weg zum Boden. Amor fluchte, ballte die Faust und holte aus.

Während Saschas Herz heftig zu hämmern begann, und er an ein Zeichen glaubte, da er heute bereits zum dritten Mal auf den Kerl traf, der ihm schon von der ersten Sekunde an gefallen hatte – ihn nun sogar in den Armen hielt –, zerbarst der Spiegel über den Marmeladengläsern. Splitter schellten auf den Fliesenboden und brachen das tote Licht der Neonröhren tausendfach. Sascha versagte die Stimme, als er sich bei Nick entschuldigen wollte.

Nick zog die Augenbrauen zu einem düsteren Balken zusammen – ein bemüht finsterer Blick über ewig lächelnden Lippen. »Quitt, hm?«, knurrte er – mehr zu sich selbst. Dann marschierte er schnurstracks zur Kassa, ohne sich um das Knirschen der Splitter unter seinen Sohlen zu kümmern, und fischte unterwegs im Vorbeigehen eine Flasche Cola aus dem Getränkeregal.

Ständig Erinnerungen an die schlimmste Stunde seines Lebens, ein kaputtes Fahrrad, ein bepisstes Bein und nun auch noch schmerzende Zehen. Das war kein guter Tag gewesen. Ganz und gar nicht.

Dieser Ansicht war auch Amor.

Nicht dieser Ansicht waren Kevin und Buster, die den Tag ziemlich okay fanden, und überhaupt der Meinung waren, man sollte sich nicht allzu viele Gedanken über das Gelingen von Tagen machen.

Sascha hingegen würde sich noch über diesen und künftige Tage den Kopf zerbrechen, über dichte Augenbrauen, dunkelblaue Kapuzenpullis und diverse Situationen, die er herbeiführen könnte, um Nick noch einmal zu begegnen. Die halbe Nacht würde er dank seiner Überlegungen wach liegen, und am nächsten Morgen zu gegebener Zeit perfekt gestylt an einer Ampel stehen, um von einem ganz bestimmten Jemand seinen Hund überfahren zu lassen.

5 – Das Kapitel, in dem Amor seine göttlichen Mitstreiter um Hilfe bittet

[*Emo-Puppe: Man nehme einen Teddybären, knüpfe ein Seil um seinen Hals, wickele Verbandsmull um seine Handgelenke, schieße ihm in die Schläfe (alternativ könnte man es mit einem Faserstift auch bloß so aussehen lassen) und reiße ihm das Herz heraus (oder jenen Teil, wo es liegen würde, hätte er eines). Alternativ könnte man dafür auch eine Puppe nehmen – vorzugsweise eine mit leeren Augenhöhlen.]

Abby presste eine solche Emo-Puppe* fest an ihre Brust und führte Malizius seit zwanzig Minuten an einer Leine immer und immer wieder im Kreis herum.

»Das passt nicht«, erklärte Amor dem etwa achtjährigen Mädchen, dessen kupferrote Locken bis zur Leibesmitte reichten.

Malizius fauchte, grapschte mit seinen dürren Fingern nach der Leine und hielt mit seinem langen, spitz zulaufenden Schwanz das Gleichgewicht.

»Drei Mal! Die Pfeile sind abgeknickt wie Strohhalme! Dass es mitunter eine Sauerei werden kann, hab ich schon erlebt, aber das hier war etwas völlig anderes.« Nachdenklich kratzte Amor mit der Zehe des einen den Fußknöchel des anderen Beins und schüttelte frustriert den Kopf.

Abby zerrte an der Leine und Malizius verlor das Gleichgewicht. Er stolperte mit seinen plumpen Hinterläufen einen Schritt vorwärts und musste die Leine loslassen, um sich mit den Pfoten aufzufangen. Überall an seinem nackten, echsenartigen Körper rollte sich die picklig graue Haut in Falten. Man konnte seine abstoßend spitzen Rippen zählen.

»Wenn ich da an den einen Fall denke, damals …« Amor machte eine theatralische Geste, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. »Das Brustbein ist aufgeplatzt und eine Substanz wie schwarzes, zähflüssiges, stinkendes Öl ist herausgespritzt. Alles war voll von dem Zeug, und im Brustkorb: nichts. Das heißt: Das Herz war so klein wie eine Walnuss.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er seine eigene Erinnerung nicht glauben. »Was treiben die Menschen bloß? Wie kann man sich so gehen lassen?«

Malizius war zwar vollauf damit beschäftigt, der Leine hinterherzuschleichen, doch seine großen, nach obenhin spitz zulaufenden Ohren hörten jedes Wort. Er neigte seinen kahlen Schädel, bleckte die beiden stiftartigen, gelben Schneidezähne, leckte mit seiner schwarzen Schlangenzunge gierig darüber und sagte mit schnarrender Stimme: »Das hätte was für mich sein können, du Auswurf eines Schleimdrachens.«

Abby zerrte erneut respektlos – wie Kinder es nun einmal tun – an der Leine und Malizius stolperte widerwillig hinterher.

»Und dass ein Pfeil gar nicht erst eindringt, das hattest du noch nicht?«, fragte eine Stimme von so unfassbar tiefem Bass, dass Amors Nachthemd zu vibrieren begann. Aus der Dunkelheit der seit Jahren stillgelegten (und daher für konspirative Treffen so attraktive) Bar, trat ein Schatten. Ein umwerfend großer Schatten, für ein menschlich gestaltetes Wesen. Und so gut bestückt.

Amor fühlte sich in seinem Nachthemd mit einem Schlag overdressed. »Nun … gelegentlich kratzt der erste Pfeil nur ein wenig an der Oberfläche. Beim zweiten Versuch ist das Herz dann weich genug, dass wenigstens die Pfeilspitze eindringen kann. Der Rest entwickelt sich. Aber dass ein Pfeil selbst beim dritten Mal nicht die winzigsten Spuren hinterlässt. Nein, einen so hartnäckigen Fall hatte ich noch nicht. Ich bin aber auch erst seit siebzig Jahren im Dienst.«

Der Schatten parkte seinen gewaltigen, nackten Körper auf einem der herumstehenden Barhocker. Mit seinen über zwei Metern reine Muskelmasse wirkte er auf dem Hocker, als kauerte er auf einem winzigen Kindergartenstuhl. Und er besaß keinerlei Schamgefühl.

Amor versuchte, nicht dort hinzusehen, wo er einfach hinsehen musste. »Abby, willst du Vitus nicht mal etwas, na ja, du weißt schon … Anstand beibringen?«, fragte er mit heiserer Stimme das kleine Mädchen, das den ekelhaften Nackt-Waschbär-Vampir-Eidechsenmann, oder was immer dieser Dämon darstellen sollte, quälte. Noch im selben Augenblick verlor er die Hoffnung, dass sein Anliegen irgendeine Relevanz für sie besaß.

Malizius witterte den Frust und das Unbehagen, blähte die Nüstern und blickte Amor lüstern an. »Du hast da was«, schnarrte er und seine Zunge leckte mulmiges Gefühl.

Amor verzog das Gesicht, als hätte er in eine bittere Frucht gebissen, und wandte sich ab. Dort lenkten lange, kräftige Beine seinen Blick auf den enormen … »Gott, ihr seid so … so …«

»Genau!«, schnarrte Malizius begeistert und rollte seine triefenden Kulleraugen. Dann würgte er, weil Abby die Leine straff zog und er sich dagegen sträubte.

Amor beobachtete das Schauspiel angewidert, dann fuhr er wieder herum und suchte oberhalb der gewaltigen Bauch- und Brustmuskeln – im Schatten – Vitus’ Gesicht. »Wäre es zu viel verlangt, wenigstens deinen Schritt zu bedecken?«

Vitus setzte sich in Bewegung. Seine Ellenbogen stützten sich auf die Knie und das kantige Gesicht schob sich ins Licht. Was für ein massiver Kiefer! Eine Naturgewalt. Ein Fels.

Amors Knie wurden weich.

»Ich verstehe nicht«, grollte es aus dem gewaltigen Brustkorb.

»Ich meine ja nur«, murrte Amor kleinlaut und schaute auf seine Zehen.

»Und wir sollen deinen Scheißkarren jetzt aus dem Dreck ziehen, oder was?«, fragte das Mädchen mit glockenheller, reiner Kinderstimme. Sie stand mit dem Rücken zu Amor. Ihre kupferroten Haare brannten über dem schwarzen Spitzenkleidchen. Malizius spuckte auf ihre schwarz glänzenden Lackschuhe und leckte seinen eigenen Rotz sogleich wieder ab.

»Nun. Ja«, stammelte Amor und spielte verlegen mit seinen Fingern. »Wenn es euch nichts ausmacht?«

Vitus, Malizius und Amor blickten zu Abby.

»Wie heißt der Junge?«, fragte sie, ihnen den Rücken zugewandt. Sie drehte den Kopf nur so weit, dass sie ihnen ihr linkes Ohr zeigte.

»Nick. Nikolaus, um genau zu sein.« Amor räusperte sich. »Und er ist kein Junge … zumindest wenn man sein Alter …«

»Halt die Klappe«, zischte Abby.

Amor warf Vitus einen verunsicherten Blick zu.

Blauschwarzes, langes Haar floss wie Seide über das atemberaubende Muskelgebirge. Das Ungeheuer von Männlichkeit zwinkerte Amor zu. Dem wurde ganz anders zumute.

Malizius kicherte. Seine schwarze Zunge leckte Unbehagen und spuckte es angewidert aus. Es war nicht die hässliche Delikatesse von Unbehagen gewesen, sondern die Variante, die nach Lust und Leidenschaft schmeckte. Der Dämon wollte sich den Mund mit Eiter ausspülen.

»Meinst du den naiven Schwulen, den du mit dieser Scheißkröte von gefallener Seele verkuppeln willst?«, fragte Abby.

Amor verschluckte sich am eigenen Speichel.

Malizius fuhr rasch die Zunge aus und grunzte wohlig.

»Ja. Aber Schei… gefallene Seele stimmt nicht ganz. Und ich will garantiert niemanden verkuppeln. Ihr wisst genau, dass ich nur Anweisungen befolge.«

»Vielleicht will dieser Nick nicht schwul sein«, donnerte es aus den Untiefen des Muskelgebirges.

Malizius kicherte labil.

»Das hat doch nicht er zu entscheiden«, konterte Amor so entrüstet, als hätte Vitus die Schwerkraft infrage gestellt.

»Haltet das Maul! Alle beide!«, befahl Abby, ihnen immer noch den Rücken zugewandt. »Ich hab da was. Einen Schwur. Dreizehn Jahre alt.« Abby drehte sich um und Amor fühlte den Impuls, in Deckung zu gehen. Ein Reflex aus alten Zeiten. Ihre grünen Augen fixierten ihn. Er war immer wieder aufs Neue überwältigt von ihrem unerhört niedlichen, puppenhaften Gesicht, vor allem, wenn er bedachte, welchen Job sie ausübte. Auf ihrer Alabasterhaut tanzten Sommersprossen. Sie sah aus wie die personifizierte Unschuld. In schwarzer Robe.

Gott, du elender Zyniker, dachte er.

Malizius schmatzte genüsslich.

»Du wirst dir noch den Magen verrenken«, spuckte ihm Amor vor die verkommene Seele.

»Was für ein Schwur?«, fragte Vitus und neigte sich so weit vor, dass Amor seinen heißen Atem über die Halbglatze streichen spürte. Gänsehaut kribbelte über seinen Rücken.

Abby presste ganz fest die Augen zusammen, wie Kinder es tun, die sich unsichtbar machen wollen, und schrie mit der Stimme eines verzweifelten, jungen Mannes: »ICH SCHWÖRE HIERMIT, NIE WIEDER ZU LIEBEN!!!« Schwarze Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, und als sie ihre wundervoll blattgrünen Augen wieder öffnete, sah sie aus, als hätte sie ein Cocktail aus Kajal, Mascara und Depression verunstaltet.

Malizius schauderte gerührt, Vitus wirkte ernsthaft bestürzt – und Amor begann schallend zu lachen. Erst, als er bemerkte, dass die anderen ihn peinlich berührt anstarrten, riss er sich zusammen und erklärte amüsiert: »Kommt schon Leute. Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben? – Das sagt doch jeder mal in seinem Leben.« Um zu beweisen, wie albern dieser Satz für ihn klang, lachte er noch einmal demonstrativ.

Sein Publikum verstand dennoch nicht.

»Also wenn dieser Satz ziehen würde, wäre die Menschheit längst ausgestorben«, meinte Amor belustigt.

6 – Das Kapitel, in dem Sascha neugierig ist

Um es vorwegzunehmen: Sascha wurde enttäuscht. Er wusste ja nicht, dass Nicks sonnengelbes Fahrrad wegen Buster neben einer Restmülltonne im Koma lag – oder eher lehnte. Und dass sich Nick deshalb zu Fuß auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte.

Die Schmerzgrenze, bis sich hoffnungslos Verliebte in ihrer hoffnungslosen Verliebtheit albern vorkamen, lag verdammt hoch. Buster entwickelte bereits erste ernste Verhaltensstörungen, während Sascha – eingehüllt in Chanel No. 5 – an der Ampel stand und versuchte, beiläufig zu wirken. Nach dreißig Minuten endlich entdeckte er in der Ferne einen jungen Mann in legerer Kleidung auf einem Fahrrad. In seinem Magen brach ein Schwarm Heuschrecken auf. Flink befeuchtete Sascha mit der Zungenspitze einen Mittelfinger, fuhr sich damit über die Augenbrauen, und betete zu allen Dämonen, die ihm beistehen wollten, dass er nicht plötzlich untragbar aussah.

Als sich der arglose Jüngling der Kreuzung näherte, bugsierte er Buster auf den Zebrastreifen, der sich aus gutem Grund dagegen sträubte. Die Fußgängerampel stand auf Rot. Oder anders gesagt: Der arglose Jüngling hatte Grün. Nichts ahnend strampelte er in die Pedale. Und machte einen Salto über sein Mountainbike, als sich plötzlich vor ihm eine Leine zwischen einem offensichtlich Wahnsinnigen und seinem offensichtlich verstörten Hund spannte.

Saschas darauffolgender bodenlos entsetzter Blick galt weniger dem Unfall, den er verursacht hatte, als dem Umstand, dass es nicht Nick war, der sich vom Beton schälte und ihn einen kranken Irren schimpfte. Nicht-Nick bestand darauf, nicht, gar nicht, und unter keinen Umständen von diesem Irren mit Hund angefasst zu werden. Auch seinen Rucksack durfte Sascha nicht berühren. Schon gar nicht seinen Rucksack.

Interessiert beobachtete Buster die Szene vom Bordstein aus. Die Fußgängerampel sprang auf Grün und er setzte sich schwanzwedelnd in Bewegung. Ab sofort entschied er die weitere Route. Aus Sicherheitsgründen. Und weil er den Duftfaden einer Bäckerei gewittert hatte.

Die Liebe wäre nicht die Liebe, hätte Sascha nicht bis zur Schwelle seiner Wohnungstür bereits ein Dutzend gute Gründe erfunden, warum sein Angebeteter nicht zur Stelle gewesen war.

Mit klackernden Krallen trabte Buster über den Parkettboden zu seinem Körbchen und ließ sich schnaubend auf die Decke plumpsen. Die Stirn in tiefe Runzel gelegt beobachtete er, wie sein Herrchen zum gläsernen Schreibtisch lief und dem weißen, runden Klickding einen kleinen Schubs gab.

Der Computer erwachte aus dem Ruhezustand und das ästhetische Foto eines noch ästhetischeren Sixpacks zierte den Desktop. In Socken tappte Sascha in die Küche. Busters Blicke folgten seinen Fersen, wobei sich seine Stirnfalten von der linken Braue zur rechten bewegten – und wieder zurück, als Sascha wieder hereinkam.

Mit einer Tasse Kaffee – dessen Aroma einen zähen Kampf mit Chanel No. 5 aufnahm, und dabei nur mühsam den Sieg errang – setzte er sich auf den schicken Chefsessel vor seinem Schreibtisch. Das war der Platz, an dem Sascha für gewöhnlich den Vormittag verbrachte und Websites programmierte.

Zur Abwechslung beschloss er, mal bestehende Websites anzusehen. Man musste immer up to date sein. Mal sehen. Die Tastatur klackerte sanft unter seinen Fingerkuppen und mit einem beherzten Schlag auf die Enter-Taste schickte er den Begriff ›Copyshop‹ wie ein Stöckchen hinaus ins weltweite Netz. Die Suchmaschine antwortete – wie eine Konfettibombe.

Natürlich, klar, er hätte sich denken können, dass das, was ihm der Algorithmus auf den Bildschirm klatschte, nur einen Heuhaufen, nicht aber die berühmte Nadel bringen würde. Sascha fügte die Postleitzahl der Stadt und die Gasse hinzu.

Hundert Marienkäfer krabbelten von seinen Leisten hoch bis zu seinem Herzen und wieder retour, als die ersehnte Antwort an erster Stelle erschien. Ihm entkam ein vergnügtes Jauchzen und Buster kommentierte es mit einem müden »Wuff«.

Saschas Ohren glühten, als er auf den Link klickte. Ich benehme mich wie ein pubertierendes Mädchen, schalt er sich. Offensichtlich hatte sein Herz durch sein doch recht bewegtes, achtundzwanzigjähriges Leben weniger Schaden genommen als befürchtet.

Er war also wieder da. Dabei hatte er eine Weile ernsthaft geglaubt, er würde nie wieder lieben können. Nach dem Ende seiner letzten Beziehung vor zwei Jahren – aus der ihm Buster geblieben war –, hatte er sich geschworen, nie wieder zu lieben. Nun, das hatte offensichtlich nicht geklappt. Gottseidank.

Die Website baute sich etwas mühsam auf.

»Bei allen Dämonen, die mir geläufig sind, ich hoffe, das hast nicht DU verbrochen«, entfuhr es ihm, als ihm das quietschbunte Massaker aus hüpfenden, springenden und tanzenden Cliparts die Augen verbrannte.

Diese Site war so etwas wie eine Müllverwertungsanlage des World Wide Web. Wer auch immer sie verbrochen hatte, hatte ein Händchen für die Rückseite von Geschmack – oder zumindest einen gehörigen Patzen wirklich kranken Humor.

Sascha brach fast das Herz. Sollte sich für dieses Desaster wirklich sein Augensternchen verantwortlich zeichnen, würde er die Sache abblasen, ehe sie begonnen hatte. Zunächst jedoch galt es, so etwas wie ein Impressum, und im besten Fall sogar ein Verzeichnis über die Mitarbeiter zu finden. Auf gewöhnlichen Homepages kein großes Thema, hier aber war es dem … Gestaltungspsychotiker sogar gelungen, Text unlesbar unterzubringen. Normalerweise tat sich Sascha solche Seiten keine drei Sekunden an. Sie beleidigten seine Profession dermaßen, dass er sie am liebsten aus der Welt tilgen wollte.

»Komm schon, wer so etwas ins Netz stellt, beabsichtigt nicht, anonym zu bleiben«, murmelte er.

Buster horchte auf.

Als Sascha entdeckte, dass die animierten Gifs Links zu weiteren Seiten darstellten, fand seine Geduld ihr Ende. Einzig die Hoffnung, den Namen seines Schwarms zu erfahren, ließ ihn durchhalten. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm die Erinnerung an das T-Shirt mit der Aufschrift ›voll total farbenblind‹ in den Kopf. Sein Magen krampfte sich zusammen. Es war sogar sehr gut möglich, dass er sich hier in eine gestalterische Amöbe verliebt hatte.

Als er ein Gif entdeckte, bei dem sich zwei Clowns unablässig gegenseitig mit Holzhämmer auf den Kopf schlugen, klickte er in gruseliger Vorahnung darauf und – wurde fündig.

»Von Bildgröße hast du also auch noch nichts gehört«, murmelte Sascha, als er lediglich den Ausschnitt eines Fotos sah, und die Scrollbalken unten und an der Seite ahnen ließen, dass das Format eine ganze Plakatwand abdecken konnte. Statt sich zu Tode zu scrollen, speicherte er das Foto auf die Festplatte und öffnete es im Image-Viewer. Er nippte an seinem Kaffee – und verschluckte sich, als das Bild fertig aufgebaut war.

Kevin in seiner Vision als Rockstar. Komplettiert mit einem Halo-Effekt, der ihm eine Art Jesusaura verlieh, sowie ein paar (zu viele) sternförmige Glanzpunkte. Sascha beschloss, dies für sich nicht weiter zu kommentieren, es aber als skurriles Kleinod auf seinem Rechner zu belassen. Dann öffnete er den Browser erneut und scrollte weiter, in der Hoffnung – oder Angst, das konnte er nach den Impressionen der letzten Minuten nicht so genau sagen –, weitere Fotos zu finden.

Unter dem enorm riesigen Bild erklärte eine Zeile, dass man hier Kevin sah, den stolzen Designer dieser Seite, auch bekannt als ›Killerkev‹, der hiermit alle seine Fans recht herzlich grüßte. Das Bild, so stand hier, dürfe man übrigens gerne verwenden – auch für unanständige Dinge ›zwinker‹.

Noch ehe Sascha darüber in ein müdes Grinsen verfallen konnte, entdeckte er ein weiteres, deutlich kleineres Bild darunter. Sein Herz machte einen Sprung, als er das Scrollrad der Maus bewegte, und ihm die Website endlich das zeigte, wonach er gesucht hatte.

Wie es aussah, hatte Nick nicht bemerkt, dass er fotografiert worden war, und der Bildqualität nach zu urteilen, hatten ihn eine sehr billige Handykamera und ein unfähiger Fotograf erwischt. Sascha hätte einen Mord in Auftrag gegeben, hätte man ein Foto dieser Qualität von ihm in Umlauf gebracht. Dennoch war er glücklich über dieses Bild und speicherte es ebenfalls ab. Unweigerlich musste er bis über beide Ohren grinsen, als er ihn aussprach, den Namen seines Angebeteten: »Nick.«

Dieser stand einsam und allein und ohne Aufforderung zu ›unanständiger Verwendung‹ unter dem Bild. Sascha malte sich aus, wie zäh der Kampf mit Killerkev gewesen sein musste, unkommentiert auf der Seite verewigt zu bleiben.

Und das war es dann auch gewesen, mit der Produktivität an diesem Vormittag. In bester Absicht öffnete Sascha zwar immer wieder Arbeitsordner und Dateien, an denen er weiter programmieren sollte, aber am Ende beschäftigte er sich damit, das Foto von Nick qualitativ aufzubessern. Ihn nervte selbst, dass er sich wie ein verknallter Teenager benahm, und wollte das Grafikprogramm schon beenden, ohne abzuspeichern – doch dann machte er sogar einen Ausdruck vom fertig retuschierten Foto.

»Ich bin kindisch, dumm und verrückt, ich könnte verstehen, wenn du nichts von mir willst«, sagte er zum ausgedruckten Nick, und weil er sich albern vorkam, versteckte er das Bild unter einem Stapel Unterlagen.

7 – Das Kapitel, in dem Kevin Nick herausfordert

»Wetten, du traust dich nie mit ›Wenn ich du wäre, wär ich lieber ich‹ rumzulaufen?«, fragte Kevin provozierend, als er die lasergestanzten Gummiplatten in die dafür vorgesehenen Stempel klebte. Dabei schaffte er es, sich bis zu den Ellenbogen mit blauer und schwarzer Tinte zu bekleckern.

»Das ist albern«, meinte Nick und legte einen Kissenbezug in die Bügelpresse.

»Darum geht es ja.« Kevin wackelte lustig mit seinen unsichtbaren Augenbrauen. Er fand sich gerade sehr innovativ.

»Außerdem hab ich den Spruch schon mal gelesen«, meinte Nick. Er war heute deutlich besser gelaunt als gestern, und Kevin hatte einen Riecher dafür.

Nick für dämliche Spielchen zu gewinnen, war für ihn eine Methode, Frieden zu schließen. Schaffte er es, Nick zu irgendeinem Unsinn zu überreden, war die Welt wieder im Gleichgewicht. Dann würde ihm Nick die unversperrte Tür unmöglich länger nachtragen können.

»Fünfzig Euro«, bot Kevin.

Nick betätigte die Bügelpresse. »Hör auf damit. Für Geld mach ichs sowieso nicht.« Er wartete das Röhren der Maschine ab und öffnete sie.

»Okay, okay …« Eine göttliche Eingebung schoss in Kevins unerschütterliche Seele. »Wenn du ich wärst, wär ich lieber du.« Er zeichnete den imaginären Schriftzug plakativ visionär in die Luft.

»Wenn du ich wärst, wär ich lieber du?«, wiederholte Nick verstört. »Was soll das heißen?«

»Mist«, sagte Kevin, als er den Stempel auf seinem Handrücken ausprobierte und feststellte, dass er den Gummi verkehrt herum eingeklebt hatte.

»Konzentrier dich lieber auf deine Arbeit, als dir blöde Sprüche einfallen zu lassen«, meinte Nick.

»Würdest du?«, fragte Kevin unbeirrt, zog mit einer Pinzette die Stempelplatte ab und pflanzte sie um hundertachtzig Grad gedreht wieder ein.

»Würde ich was?« Nick stopfte die Füllung in den frisch bedruckten Kissenbezug und zog den Reißverschluss zu.

»Na, das T-Shirt mit dem Spruch tragen. In der Mittagspause.«

»Meinetwegen.« Nick seufzte. Er würde ja doch nicht darum herumkommen. Außerdem hatte er schon wesentlich doofere Texte ausgetragen. Zudem verbrachte er die Mittagspause ohnehin nur im Café um die Ecke.

In Kevins Gesicht entfachte irre Begeisterung. Er rieb sich die Hände und setzte sich hoch inspiriert vor seinen Rechner. »Ich hab was viel Besseres«, meinte er kichernd. Seine dünnen Strähnen pendelten über der Tastatur und krochen vereinzelt wie dünne Wurzeln über seinen besorgniserregend ausgeprägten Rundrücken.

Nick bereute bereits, zugesagt zu haben, und während er im Shop die Stellung hielt, konnte er hinter seinem Rücken vernehmen, wie Kevin in der Erfüllung seines teuflischen Planes erblühte. Dabei schubste er in unregelmäßigen Abständen etwas zu Boden, oder prustete unmotiviert los.

Nick half einer älteren Dame, Fotos ihrer Enkelkinder vergrößert zu kopieren, und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Kevin begeistert nickend die Bügelpresse bediente. Ob er auf die Kunden auch so wirkte? So … schlicht?

Als Kevin bemerkte, dass er beobachtet wurde, schob er sich geheimniskrämerisch vor seine Kreation. Kind, dachte Nick, setzte sich an seinen Rechner und vertiefte sich in seine Arbeit – Preisänderungen an einer Speisekarte.

Gegen halb eins erhob sich Nick, kramte in den Taschen seiner Jeans nach Geld und zählte nach, ob es für eine Cola und einen Toast reichte. Tat es. »Mahlzeit«, murmelte er ein bisschen zu leise. Vielleicht, ja, vielleicht – die Chancen standen furchtbar schlecht – kam er ja davon.

»Warte!«, rief Kevin, und plötzlich schien das ganze Universum an einem Netz zu hängen, in das sich Kevin verheddert hatte. Das ganze Universum ließ sich durch einen nicht durchnummerierten, tausendvierhundertseitigen Bericht vertreten, der mitsamt zweier Stempel, einer bedruckten Tasse und etwa fünfhundert Büroklammern geräuschvoll zu Boden krachte. Speziell für den Kleinkram brauchte die Schwerkraft fast zwei Minuten, bis er sorgfältig und vollständig bis unter Regale, Schreibtische und Kopiergeräte verteilt war. Zwei Minuten, in denen jeder im Geschäftslokal innehielt.

»Ups«, sagte Kevin als Schlussakkord – die Finger vor seiner Brust in das Shirt gekrallt, das er für Nick angefertigt hatte. Einen angemessenen zeitlichen Abstand zu dieser Sinfonie des Chaos abwartend, entrollte er es und kommentierte es mit einem gejauchzten »Tadaaaaa«.

»Wenn du dich wärst, bleib lieber mal, du?!«, las Nick. »Was soll das heißen?«

Kevin war nicht im Mindesten gekränkt, dass Nick seinen genialen Witz nicht verstand. Nun, immerhin verstand ja Nick nicht, worum es ging, und nicht er selbst. Ein netter Kontrast zum Rest seines Daseins. Aber er wollte mal nicht so sein und zeigte mit dem Finger auf die Worte, die Nick noch einmal lesen sollte.

»Wenn. Du. Dich. Wärst. Wärst … was meinst du damit, verdammt noch mal?«

Kevin schmunzelte. »Naaa? Wer wird denn da gleich ungeduldig werden?«

»Ich geh jetzt essen.« Nick wandte sich dem stinkenden Angestelltenausgang zu.