Ian Yery & der Hardcore Absolute Beginner - Kooky Rooster - E-Book

Ian Yery & der Hardcore Absolute Beginner E-Book

Kooky Rooster

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Beschreibung

Mo, sportlich, selbstbewusst und Pazifist, entdeckt eines Tages, dass der Held eines Computer-Kriegsspiels ihm aufs Haar gleicht. Wenig amüsiert darüber sucht er Kontakt zu jenem 3D-Künstler, der sich für dieses Malheur verantwortlich zeichnet und trifft auf Nils, einen extrem menschenscheuen Hardcore Absolute Beginner. Zweiunddreißig, verliebt und ungeküsst – keine gute Ausgangsposition für Nils und eine Herausforderung für Mo. Liebe heißt nicht, dass alles plötzlich ganz einfach geht – oder etwa doch?

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Kooky Rooster

Ian Yery & der Hardcore Absolute Beginner

Allen HABsBookRix GmbH & Co. KG81371 München

1| Mo & Ian Yery

 

 

 

… Kriegsheld …

 

Mo nahm immer drei Stufen auf einmal, wenn er die alten, abgetretenen Treppen zur Wohnung hochlief. Jeans und T-Shirt waren nass und klebten an seiner verschwitzten Haut. Mairegen. Ihm fiel ein, dass seine Mutter immer behauptet hatte, er wäre nur deswegen so groß, weil er immer im Mairegen joggte. Das war natürlich naturwissenschaftlich gesehen Unsinn – es lag wohl eher an den Genen, denn auch sein Großvater war schon über eins neunzig gewesen. Außerdem joggte er nicht nur im Mairegen, sondern das ganze Jahr über. Ebenso hätte seine Mutter behaupten können, er wäre vom Novembernebel rotblond geworden oder hätte durch Schneeflocken seine Sommersprossen erhalten.

Mo öffnete die hohe, knarrende Tür, von der brauner Lack absplitterte, und ließ seinen Rucksack auf die Armada aus Schuhen und Taschen fallen, die im Flur auf dem Boden herumlagen. Aus Stefans Zimmer drangen Maschinengewehrsalven, Explosionen, Todesschreie … der übliche Kriegslärm eines Computerspiels. Quittiert wurde das grausame Metzeln von flachen, zynischen Bemerkungen. Mo stöhnte genervt und verdrehte die Augen. In Socken schlurfte er übers Parkett, zupfte an seinen nassen Sachen und streckte den Kopf ins Krisengebiet. Dicke Nebelschwaden krochen über ein Schlachtfeld aus leeren Pizzakartons, Chipspackungen, Limonadeflaschen und Schmutzwäsche. Es roch nach Verderben, Nikotin, Verwesung und Schweiß.

»Guten Morgen!«, rief Mo, obwohl es bereits neunzehn Uhr war, und zollte damit Stefans Tagesrhythmus Respekt. Aus den Tiefen des Raumes tauchte eine zierliche Gestalt auf und wankte mit steifen Gliedern ungelenk auf ihn zu wie ein Zombie. Stefan wog hundertzwanzig Kilo, er konnte es nicht sein. Blieb nur noch …

»Judith?«

»Guten Morgen, Mo. Du musst dir unbedingt was ansehen«, grölte sie über den Lärm von Maschinenpistolen und dräuenden Bassklängen hinweg, die das Szenario dramatisch untermalten.

Sie schüttelte Arme und Beine aus und schrie: »Mah, mir ist alles eingeschlafen!«

Mo bekam von diesem Sound immer leichte Bauchschmerzen, ähnlich wie vor einem Gewitter. Obwohl Judith hübsch, zierlich und klug war, hatte sie vor einigen Wochen etwas mit Stefan angefangen, der in allem so ziemlich das Gegenteil von allem war, was Frauen (oder Männer) für gewöhnlich gut fanden. Aber Judith war nicht gewöhnlich. Eigentlich passten die beiden gut zusammen. Wer nicht hierher passte, war Mo.

»Soll ich die UNO anrufen?«, rief er, stülpte sich den Kragen seines T-Shirts über die Nase und hustete demonstrativ.

»Haha, sehr witzig«, schrie Judith und trieb wieder in die Tiefen der Nebelschwaden ab, in der fixen Annahme, Mo würde ihr folgen.

Doch statt sie zur Kommandozentrale zu begleiten, stakste er über Müll und getragene Kleidung hinweg zum Fenster. Ratsch – riss er den Vorhang zur Seite und Licht flutete den düsteren Raum. Die beiden Strategen an der Front rebellierten mit einem einhelligen Schrei.

»Mach das zu!«, kreischten Judith und Stefan im Chor und zogen dabei die Schultern synchron hoch.

»Ihr seid Soldaten, keine Vampire!«, rief Mo kopfschüttelnd und öffnete das Fenster. Frische kühle Luft blies ihm ins Gesicht und der Duft von nassem Gras und Mauerwerk drang in seine Nase. In einer theatralischen Geste neigte er sich hinaus in den Frühlingsregen und holte hörbar Luft, ganz so, als wäre er beinahe an einer Rauchgasvergiftung krepiert.

»Mo, du musst dir das ansehen!«, brüllte Stefan, ohne dabei vom Bildschirm wegzusehen.

»Das ist vergebene Liebesmüh, Leute, und das wisst ihr. Ich kann mit dem Scheiß nichts anfangen!«, erklärte Mo über den Krach hinweg.

Ständig nervten ihn seine Mitbewohner mit diesen Computerspielen, erzählten ihm von der – seiner Meinung nach – einfallslosen Handlung, oder weihten ihn in angeblich raffinierte Strategien ein. Untereinander kommunizierten sie diesbezüglich in einer Art Fremdsprache – zumindest verstand Mo von dem Computerspieler-Jargon oft kein Wort. Er verbrachte lieber Zeit in der Natur, vor allem in den Bergen, an Felswänden, oder kraxelte in der Halle an Kletterwänden hoch. Da er sich bei der Arbeit eingesperrt fühlte, dort ohnehin an Computer und Geräte gefesselt war, wollte er in seiner Freizeit nichts mehr damit zu tun haben.

»Aber das musst du dir ansehen, Mo!«, schrie Judith und kam erst jetzt auf die glorreiche Idee, Stefan zu befehlen, die Lautsprecher etwas leiser zu drehen.

Die plötzliche Stille ließ die Wände zusammenrücken. Mit einem demonstrativ genervten Seufzen tappte Mo zur Einsatzzentrale der aktuell ruhenden Kriegshandlungen. Er schlüpfte aus dem nassen Shirt und benutzte es wie ein Handtuch, um den Schweiß von seinem dampfenden Körper zu wischen. Judith musterte ihn aus dem Augenwinkel, leckte sich über die Lippen und erntete dafür einen beleidigten Blick von Stefan.

»Aaalso, Leute, waaas giiibts«, fragte Mo gelangweilt und blickte überallhin, nur nicht auf den Monitor. Die Plakate an den Wänden zeigten bis zur Unkenntlichkeit gerüstete Soldaten in martialischen Posen, die mit Waffen auf den Betrachter zielten. Wie beruhigend!

»Guck dir das an!«, brabbelte Stefan aufgeregt und klickte wild herum, um eine bestimmte Ansicht aufzurufen. Da Mo mit diesen Das-musst-du-dir-unbedingt-ansehen-Showeinlagen noch nie etwas hatte anfangen können, schaute er gar nicht erst hin. Meist reichte es seinen Mitbewohnern schon, wenn er ein angetanes Toll hervorstieß.

»Toll!« In gespielter Faszination ließ Mo seinen Blick über den Schreibtisch wandern, der aussah wie nach einem Atomangriff. Er war überzogen von einer Ascheschicht und die Tastatur hatte mehrere Brandlöcher, da sich Stefan angewöhnt hatte, Glimmstängel zwischen den Funktionstasten abzulegen, wenn er beide Hände brauchte. Dort vergaß er sie im Spielstress und erinnerte sich erst durch den beißenden Geruch verbrannten Kunststoffs wieder daran, dass er eigentlich seinen Lungen hatte schaden wollen, nicht der Tastatur.

»Du siehst ja gar nicht hin!«, beschwerte sich Judith und nutzte die Gelegenheit, ihm in die Seite zu kneifen.

Mo wich ihr gekonnt aus. »Sorry, aber ich kann mit dem ganzen Kram echt nix anfangen. Was wollt ihr denn von mir hören?«, fragte er und warf einen flüchtigen Blick auf den Monitor. Irritiert hielt er inne.

»Na? Was sagst du?«, stieß Judith triumphierend aus.

»Irgendwie gruselig, nicht wahr?«, wisperte Stefan ehrfürchtig.

»Spannend, ihr habt also dem Feldwebel mein Aussehen verliehen«, knurrte Mo.

Hin und wieder erlaubten sich die beiden den Scherz, mit den Designmöglichkeiten eines Spiels ihrem Char – wie sie es nannten – ihr eigenes Aussehen oder das eines Prominenten oder sogar einer Comicfigur zu verleihen. Meist brauchte man viel Fantasie, um tatsächlich eine Ähnlichkeit feststellen zu können. In diesem Fall aber glaubte Mo sein Spiegelbild zu erblicken, allerdings gekleidet in Tarnanzug und mit einer besorgniserregend großen Waffe in der Hand. Als überzeugter Pazifist gefiel ihm das ganz und gar nicht.

»Alter, das haben nicht wir gemacht. Bei dem Spiel kann man seinen Char nicht anpassen – mal davon abgesehen, dass man das mit den üblichen Standardeinstellungen nie so präzise könnte. Das stammt aus den kreativen Köpfen der Spieleschmiede«, verteidigte sich Stefan.

»Ihr wollt mich doch verarschen. Wie funktioniert das? Kann man da sein Passfoto hochladen oder so etwas?«

Stefan erhob sich langsam aus dem knarzenden Drehstuhl und überließ ihn seinem Mitbewohner, der – den Blick wie hypnotisiert auf den Bildschirm gerichtet – auf die körperwarme Sitzfläche sank. Es war wirklich beängstigend, wie verdammt ähnlich die Figur Mo sah – nein, nicht bloß ähnlich, sie sah exakt so aus wie er.

»Judith, wo ist die Spielehülle?«, fragte Stephan geschäftig wie ein Sanitäter, der einen Patienten vor einer Ohnmacht bewahren wollte und durchsuchte hektisch die DVD-Hüllen auf dem Schreibtisch. Die Ascheschicht wirbelte hoch und eine stinkende Wolke kroch in Mos Nase. Normalerweise war das ein pikierter Aufschrei wert, doch nun bemerkte er es gar nicht. Diese Ähnlichkeit …

»Du hattest sie doch vorhin!«, pöbelte Judith ihren Freund an und begann den Boden abzusuchen, indem sie nach und nach Schmutzwäsche und Pizzakartons aufhob, nur um sie wieder auf dieselbe Stelle fallen zu lassen.

»Du hast vorhin wegen der Tastenkombi nachgesehen!«, motzte Stefan zurück und wirbelte noch mehr Staub auf.

»Nein hab ich nicht, weil du …«

»Ich hab sie!«, rief Stefan euphorisch und hob die Verpackung des Spiels hoch, als wäre sie der Heilige Gral. Ein imaginärer Frauenchor ertönte, und in diesen kurzen Sekunden brach die Sonne durch die Wolken, blinzelte durch das geöffnete Fenster und reflektierte sich goldschimmernd auf der Hülle. Das sah so magisch aus, dass Judith beinahe auf die Knie ging … vor ihrem weißen Ritter. Oder eher dem schwarzen Ritter mit Marilyn-Manson-T-Shirt und einer fünf Euro XXL-Jogginghose, die, entgegen ihrer Bezeichnung, noch nie zum Laufen getragen worden war.

»Guck mal!«, rief Stefan erregt, und drückte Mo die Hülle in die Hand.

Auf dem Cover prangte ein Foto des Spielcharakters. In der hohen Auflösung des Drucks sah er Mo noch viel ähnlicher.

Das konnte doch nicht sein!

Mos Mundwinkel zuckten. Mal grinste er, dann presste er die Lippen aufeinander und zog die Stirn kraus. Immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf.

»Hast du deine Visage verhökert?«, fragte Judith.

»Man kann seine Visage nicht verhökern«, erklärte Stefan mild lächelnd.

»Kann man sehr wohl!«, erwiderte Judith schnippisch.

»Kann man nicht!«

»Kann man doch!«

»Kann man nicht!«

»Doch!«

»Nein!«

»Oja!«

»Neihein!«

»Leute!«, unterbrach Mo die beiden Streithähne. »Ich hab mich nie irgendwo eintragen, fotografieren oder Ähnliches lassen. Keine Ahnung, woher die meine Visage haben!«

»Vielleicht aus dem Internet?«, mutmaßte Judith.

»Es gibt keine Fotos von mir im Internet.«

Da war sich Mo ganz sicher. Er achtete penibel darauf. Man hatte ihn im Kletterverein schon mehrmals gebeten, Fotos von sich für die Homepage freizugeben, doch er lehnte das rigoros ab. Auch seinem Arbeitgeber hatte er strikt untersagt, Bilder von sich in den Webauftritt einzuflechten. Er war, was seine Internetpräsenz betraf, extrem vorsichtig, manche nannten es sogar paranoid. Mo hatte die Befürchtung, dass jemand Fotos von ihm missbrauchen könnte, um zum Beispiel für Potenzmittel oder Singleportale zu werben. So etwas war vor Jahren mal seinem Ex-Freund passiert. Dieser hatte ein ziemlich heißes Foto von sich in einem Forum veröffentlicht und sich einige Monate später als Treffen-Sie-Boys-aus-Ihrer-Umgebung-Werbemaskottchen wiederentdeckt.

Und jetzt wurde Mos Gesicht tausendfach, wahrscheinlich sogar millionenfach auf der ganzen Welt verbreitet. Mo wurde schlecht.

»Sorry – ich muss mal …«, brabbelte er und stürzte aus dem Zimmer, um sich gleich darauf im Bad zu übergeben.

Aufgekratzt und kopflos tappte er durch die Wohnung, dann zog er Laufschuhe an und joggte zwei Stunden im strömenden Mairegen.

Es half nicht. Unterwegs hatte er Zeit, darüber nachzudenken und kehrte noch aufgeregter zurück, als er losgesprintet war. Noch schlimmer ging es ihm, als er im Internet stöberte und herausfand, dass sein Gesicht durch die Vermarktung des Spiels und durch Gamer bereits überall verbreitet worden war. Okay – es war nicht wirklich sein Gesicht, sondern das dieses Spielcharakters, und immerhin stand nicht Mos Name dabei, sondern Ian Yery – so hieß dieser virtuelle Kriegsheld. Wahrscheinlich vermutete auch niemand, dass irgendwo eine reale Person existierte, die genauso aussah wie dieser Charakter. Dennoch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er von Gamern erkannt werden würde.

Zu allem Überfluss arbeitete Mo in einem Copyshop. Schüler und Studenten waren die Hauptkunden, also jene Leute, die am ehesten dieses Spiel zockten. Laut Stefan war es erst vor wenigen Tagen auf den Markt gekommen. Es würde also nur noch eine Angelegenheit von Tagen sein, bis es losging. »Hey, du siehst ja voll aus wie Ian Yery.«

Was, wenn ihn eines dieser pickeligen Kids mit dem Smartphone aufnahm und das Video oder Foto dann ins Internet stellte? Mo, die Kuriosität, der Freak, der aussah wie eine Computerspielfigur. Panik. Da war er all die Jahre so vorsichtig gewesen, und nun griff die Kralle des Internets doch noch nach ihm.

 

 

 

… 150.000.000 Lover …

 

»Stefan, wo ist die Hülle von diesem gottverdammten Spiel!«, brüllte Mo um vier Uhr morgens und stürmte in das finstere Zimmer seines Mitbewohners. Er rüttelte Stefan, der wie ein Gebirgsmassiv vor seinem grellen Bildschirm saß, und erschreckte ihn damit fast zu Tode, da ihn dieser wegen der Kopfhörer nicht hatte kommen hören.

»Alter! Jetzt hab ich deinetwegen verloren!«, motzte Stefan, nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte.

»Wo ist die Hülle … das Heft!«, zischte Mo aufgewühlt.

»Hier.« Stefan reichte ihm, wonach er verlangte und brummte: »Krieg dich wieder ein, sonst stirbst du mit fünfunddreißig an einem Herzinfarkt!«

»Der Kandidat dafür bist wohl eher du«, entgegnete Mo und spielte damit nicht nur auf Stefans beeindruckendes Gewicht an, sondern auch auf die Landschaft aus Fast-Food-Verpackungen und Limonadeflaschen.

Stefan schnaubte beleidigt.

Hektisch blätterte Mo durchs Heft, bis nach hinten, wieder bis nach vorne und dann wieder zurück. Er fand nicht, wonach er suchte und grapschte nach der Hülle, untersuchte sie und versuchte, bei der miesen Beleuchtung das Kleingedruckte zu entziffern.

»Was ist denn los, Alter?« Stefan musterte seinen Mitbewohner besorgt.

Mo war weder der Typ, der um diese Uhrzeit wach war, noch jemand, der mit den Nerven runter war.

»Wer hat das Spiel programmiert?«, fragte Mo und fuchtelte wild mit der Hülle herum.

Stefan schnappte danach, drückte seine Finger unter ein blaugelbes Logo und meinte: »Da steht es doch! IM-Games.«

»Nein, ich will nicht den Namen der Firma, sondern den der Person, die das hier programmiert hat. Das Aussehen von Ian Yery ist doch auf dem Mist von jemandem gewachsen! Ich will wissen, auf wessen.«

»Alter, an so einem Spiel arbeiten an die hundert Leute.«

»Hundert?« Mo schnappte nach Luft und riss die Augen auf.

Mit einem langsamen, mitleidigen Blick musterte Stefan ihn, dann drehte er sich zum Monitor. »Ich zeig dir was.«

Wenige Klicks später liefen Namen über den Bildschirm, so wie beim Abspann eines Spielfilms. Es waren auch fast so viele. Mo seufzte geknickt.

»Wozu brauchst du die Namen? Verklag doch gleich die ganze Firma, wenn es dir darum geht«, schlug Stefan vor.

»Ich will nicht klagen. Erstens hab ich keine Kohle dafür. Zweitens wirbelt das erst recht Staub auf. Ich hab mir nur gedacht … Kannst du das nochmal abspielen?«

»Die Credits?«

»Wenn du damit den Nachspann meinst: ja. Und lass mich zum Computer.«

Um seinen Widerwillen zu demonstrieren, ächzte Stefan als er aufstand und seinem nervigen Mitbewohner den Stuhl überließ.

Mo konzentrierte sich, las all die Namen, versuchte sich zu erinnern und bat Stefan, die Credits noch vier weitere Male abzuspielen.

»Scheiße«, sagte er schließlich enttäuscht und ließ sich gegen die Lehne des Stuhles fallen.

»Darf ich fragen, wonach du suchst?«

»Ich dachte, ich kenne vielleicht zufällig den Programmierer und er hat …«

»Du glaubst, du kennst den Programmierer? Und was weiter? Dass du ihm so imponiert hast, dass er deinem göttlichen Körper ein Denkmal in einem Spiel setzen wollte?« Gespielt abschätzig musterte Stefan seinen attraktiven Mitbewohner.

»Ich dachte eher an eine Racheaktion. Vielleicht will mir jemand eins auswischen. Ich war in meiner Vergangenheit nicht immer nett zu den Kerlen, mit denen ich was hatte«, erklärte Mo.

»Du warst mal ein Arschloch?«, fragte Stefan gespielt verblüfft.

»Ich war jung und brauchte die Bestätigung!«

»Wir stellen fest, dass wir nicht eingebildet sind«, kommentierte Stefan belustigt, »aber mal davon abgesehen: die Firma ist in Amerika …«

»Ja, und?« Mo zuckte mit den Schultern. »Ich war immerhin ein Jahr in Amerika.«

»Dir ist aber schon klar, dass allein die USA über 300 Millionen Einwohner hat? Selbst wenn für dich davon nur 150 Millionen interessant sind, denkst du wirklich, dass du ausgerechnet mit einem der Mitarbeiter an diesem Spiel gefickt hast? Ernsthaft!«

»Idiot!«, knurrte Mo, erhob sich und stakste aus dem Zimmer.

 

 

 

… acht Namen …

 

»Ich hasse dich«, murmelte Stefan und betrachtete Mos perfekt definierten, nackten Körper, der malerisch und schutzlos auf dem Bett drapiert dalag. Die Sonne kletterte durch die Ritzen der Jalousien und streichelte verwegen Mos Morgenlatte. Der junge Gott schnarchte leise vor sich hin.

Stefan wollte auch so einen Körper haben. Jeder wollte so einen Körper haben.

Das Handy auf dem Nachtkasten piepste und vibrierte unter dem unsanften Weckruf, und in die fleischgewordene Ode an den Mann geriet Leben. Mo rieb sich die Augen, gähnte, streckte sich und zeigte damit, dass er noch viel schöner sein konnte. Müde blinzelte er Stefan an und blieb seelenruhig liegen, trotz Erektion. Als wäre es für ihn das Normalste auf der Welt, sich nackt vor seinem (und die Betonung liegt auf) heterosexuellen Mitbewohner zu räkeln.

»Was machst du denn da?«, fragte Mo.

Wenn überhaupt, hatte er vielleicht gerade mal zwei Stunden Schlaf hinter sich gebracht.

»Hier«, sagte Stefan knapp und reichte Mo einen Zettel.

»Das ist die Rechnung einer Pizzalieferung! Was soll ich damit?« Während Mo mit kleinen Augen auf den Beleg fokussierte, richtete er sich langsam auf.

»Rückseite«, grunzte Stefan.

Mo drehte das Papier um. Jemand hatte einige Namen und E-Mail-Adressen mit Kugelschreiber draufgekritzelt.

»Was ist das?«, fragte Mo und winkte mit dem Zettel.

»Ich habe recherchiert. Für Entwurf und Ausarbeitung der Grafik sind diese Leute zuständig. Vermutlich ist einer dieser Typen dafür verantwortlich, dass Ian Yery aussieht wie du. Daneben stehen jeweils die E-Mail-Adressen, falls du denen eine Beschwerde zukommen lassen willst.«

Mo überflog die Liste.

»Acht Namen?«, fragte er verwundert.

»Leider konnte ich es nicht weiter eingrenzen.« Stefan wandte sich ab, um aus dem Zimmer zu wackeln. »Ich geh jetzt schlafen, gute Nacht!« Es war halb acht, er hatte den Schlaf mehr als verdient!

 

2| Nils brennt

 

 

 

… vor drei Jahren …

 

Die Sonne knallte auf das Festivalgelände und die Menschenmasse herunter, die über das versengte, staubige Gras trampelte. Auf den Bühnen mühten sich zu dieser Tageszeit unbekannte Bands ab, die zwar wenige, aber eingefleischte Fans hatten, für die sie offenbar die Hauptgigs der Veranstaltung waren. An allen Ecken gab es Stände für Merchandising-Produkte, Fastfood, Schmuck und vieles mehr.

Nils hockte mit seiner Schwester und zwei ihrer Freunde im Schatten eines Lautsprecherturms und beobachtete das Geschehen an der Kletterwand in der Nähe. Schon lange träumte er davon, auch einmal an einer solchen hochzukraxeln. Er hatte zwar Höhenangst, aber man wurde ja gut gesichert, und wenn er nicht runterschaute …

Nils konnte sich vorstellen, dass es ihm Spaß machen könnte, wie vieles andere auch, das er nicht wagte auszuprobieren. Es sah wirklich geil aus, wenn sich die Kletterprofis an den Griffen hochzogen. Bei ihnen wirkte das so mühelos. Das Spiel der Muskeln und Sehnen unter der glänzenden, sonnengebräunten Haut machte Nils ganz wuschig.

Besonders hatte es ihm ein bestimmter Kletterer angetan, von dem er den Blick einfach nicht lassen konnte. Er war sehr groß, hatte streichholzkurzes, rotblondes Haar, einen Dreitagebart und einen Körper zum Niederknien. Dabei wirkte er sehr freundlich, ausgesprochen nett, und kümmerte sich zuvorkommend um Festivalbesucher, die das mit dem Klettern auch mal versuchen wollten. Wie es schien, war er sehr beliebt bei seinen Kollegen. Er lachte viel, wobei an seinen Augenwinkeln Fältchen entstanden, und er schien vor Energie nur so zu strotzen. Ein schlanker, sehniger Typ, und wenn er gelegentlich eine kleine Pause nutzte, um selbst die Wand hochzuklettern, wirkte es, als trotze er den Gesetzen der Physik – nur das Spiel seiner Muskeln und Sehnen verriet, dass die Schwerkraft auch für ihn existierte.

Der Kerl sah zu Nils runter und lächelte ihn dabei offen und freundlich an. Nils ging nicht davon aus, dass dieses Lächeln ihm gewidmet war. Vermutlich sah der Mann beim Lachen nur rein zufällig in seine Richtung, während er sich über etwas amüsierte, das ein Kunde oder Kollege gerade gesagt hatte. Dennoch fuhr Nils sofort ein Stich durch den Bauch und er erwiderte das Lächeln instinktiv. Verwegen fragte er sich, ob der Mann vielleicht doch ihn gemeint haben könnte. Völlig ausgeschlossen! Warum nur verrannte sich Nils immer in solche Fantasien? Der Kerl hatte ihn wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen. Nils seufzte traurig, konnte den Blick aber dennoch nicht von diesem Mann abwenden.

Nils war neunundzwanzig und dies erst die vierte Veranstaltung dieser Art, die er besuchte, und das auch nur, weil Jana ihn mitgeschleift hatte. Ein Freund von ihr war kurzfristig verhindert, und um die teure Karte nicht verfallen zu lassen, hatte sie ihren Bruder unter Androhung fieser Gemeinheiten dazu genötigt, mitzukommen. Nils hasste den Andrang der Festivalbesucher, hielt sich generell lieber von Menschen fern. Zudem kannte er die Freunde seiner Schwester überhaupt nicht, was ihn unheimlich stresste, da er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Neue Kontakte zu knüpfen war für ihn nicht nur der blanke Horror, es war ihm ein vollkommenes Rätsel. Er wusste nicht, wie er das anstellen sollte, hatte es irgendwie nie gelernt. Wie sollte er reagieren? Was wurde von ihm erwartet? Sein Selbstvertrauen war seit jeher am Boden und mit den Jahren wurde es eher schlimmer als besser. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es jemand interessieren könnte, was er zu sagen hatte und wer er war. Jedes Entgegenkommen bewertete er als Mitleidsgeste, unterstellte seinem Gegenüber, es wäre doch bloß dazu genötigt worden, sich mit ihm abzugeben und zog sich zurück.

Dabei hatte er gar keinen Grund, sich zu verstecken und so verunsichert zu sein. Zumindest behauptete das Jana immer. Laut ihr sah er ganz schnuckelig aus. Okay, seine Frisur wirkte etwas altmodisch, fast, als eifere er den Beatles nach, aber es war üppig und glänzte blauschwarz. Angeblich hatte er eine schöne Nase – was auch immer das bedeuten sollte – und einen Mund, der zum Küssen einlud. Aber Jana war eine Frau und obendrein auch noch seine Schwester. Sie musste ja etwas Nettes sagen. Sie konnte nicht wissen, was Männern gefiel – und auf genau die kam es Nils an. Von seinen Lippen sah man außerdem ohnehin nicht viel, da er die meiste Zeit nervös war und sie so fest aufeinanderpresste, dass es aussah, als hätte er gar keine. Seine graublauen Augen wirkten durch seinen meist eingeschüchterten Blick leicht glupschig.

»Sei doch einfach mal etwas entspannt«, wurde er heute bereits zum x-ten Mal von Jana oder ihren Freunden aufgefordert, aber die hatten leicht reden. Sie fühlten sich wohl, waren interessant, wurden gesehen und ernstgenommen. Sie wussten in jeder Situation, was sie sagen und wie sie reagieren sollten, konnten lockere Scherze machen.

Schon wieder schaute dieser schöne Mann von der Kletterwand herüber und lächelte. Nils’ Herz dehnte sich zu einem fast schmerzhaften Schlag, und diese gewisse Aufregung tröpfelte in seinen Bauch. Er versuchte, sich zu beruhigen. Unmöglich konnte der Mann unter den vielen tausend anderen Festivalgästen ausgerechnet ihn meinen. Verlegen, mit rotglühenden, rauschenden Ohren, senkte Nils den Blick, zupfte ein paar vertrocknete Grashalme aus der staubigen, festgetretenen Erde und zwang sich, interessiert zur Bühne zu schauen.

Als er den Blick nach einer Weile erneut zu dem großen, rotblonden Kletterer schweifen ließ, wurde er wieder – oder noch immer? – von ihm angestrahlt. Das war definitiv kein Zufall, der Mann meinte ihn! Dennoch, Nils drehte sich nervös um, inspizierte die Leute in seiner unmittelbaren Nähe. Er ging davon aus, dass er sich irrte. Er musste sich irren. Der Kerl lächelte bestimmt jemandem zu, der direkt neben oder hinter Nils saß. Doch da war keiner – zumindest keiner, der Blickkontakt zu dem Kletterer herstellte. Als sich Nils ungläubig wieder umdrehte und den Mann überrascht ansah, amüsierte sich dieser augenscheinlich darüber, dass er sich so verunsichern ließ.

Mittlerweile stand Nils regelrecht unter Strom. Die Aufregung kroch durch jede Faser seines Körpers, sein Herz raste, der Atem ging heftig und sein Schwanz drängte sich gegen den Hosenstall. Rasch schob er seine Weste vor den verräterisch ausgebeulten Schritt. Der Kletterer bemerkte das und lachte auf. Spätestens jetzt war sich Nils sicher, dass dieser Mann wirklich ihn ansah und ihn anlächelte. Er bekam Panik. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Mann seiner Träume einfach auf ihn zukäme, ihm die Hand entgegenstreckte, Nils zu sich hochzöge und ihn zärtlich, bald innig küsste … alberne Fantasien. Naiv und idiotisch! Nils hatte noch nie geküsst. Noch nicht einmal Händchen gehalten hatte er bis jetzt, geschweige denn Sex gehabt oder auch nur jemanden umarmt. Er schämte sich unglaublich dafür und wenn ein Gespräch auf das Thema sexuelle Anekdoten kam, log er lieber, dass sich die Balken bogen, statt zuzugeben, dass er ein Hardcore Absolute Beginner war.

Näherte sich ihm jemand, bekam er Panik. Dabei wünschte er sich nichts so sehnlich wie Liebe, Sex und alles, was dazugehörte. Er zerbrach langsam daran, dass ihm das versagt blieb. Das Problem war noch nicht einmal, dass er sich nie verliebte – mehr oder weniger war Nils dauernd in irgendeinen Mann verknallt. Er schaffte es bloß nie, einen Schritt auf das entsprechende Objekt seiner Begierde zuzugehen. Vielleicht war Nils auch einfach nur wählerisch. Er wollte nicht irgendeinen Mann, der zufällig Gefallen an ihm fand, sondern es musste einer sein, in den er sich verknallt hatte. Nils war daher ein Meister der Flucht und unbeabsichtigter Ignoranz. Den Großteil der Angebote, die er zweifellos erhielt, zumindest wenn er seiner Schwester Glauben schenken wollte, bemerkte er nicht einmal. Jana hatte mit Nils schon oft ein ernstes Wörtchen gesprochen, weil er angeblich jemanden abgewiesen haben sollte, der an ihm interessiert gewesen wäre. Nils argwöhnte allerdings, dass sie das nur erfand, um sein Selbstvertrauen zu puschen. Zumindest hatte er nie etwas von irgendeinem Interesse bemerkt – und selbst wenn, er hätte doch gar nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Mehr oder weniger kam es wohl aufs Gleiche raus – ob er eine Anmache bemerkte oder nicht – am Ende blieb er unberührt.

Diesmal aber bemerkte er sie. Ob der Kletterer jedoch wirklich Interesse an ihm als Mann hatte, konnte Nils nicht deuten. Wäre es ihm vor den Freunden seiner Schwester nicht so peinlich gewesen, hätte er sie um ihre Meinung gebeten. Sie hätte ihm ihre Einschätzung darüber mitteilen können, ob Nils richtig lag und der Kletterer tatsächlich mit ihm flirtete. In dieser Hinsicht wagte Nils nicht, sich auf sein Gefühl zu verlassen, hatte Angst, sich durch eine Fehleinschätzung zu blamieren, selbst wenn sie nur auf der Ebene reiner Spekulation blieb. Da zwischen Nils und dem rotblonden Hünen nicht nur eine Absperrung und eine erhöhte Plattform waren, sondern auch ein paar Meter Abstand und eine Menge Leute, traute er sich, das Lächeln zu erwidern. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Nils den Mut aufbrachte zu flirten. Es machte Spaß, es wühlte ihn auf, es kitzelte im Bauch und sein Herz jubelte.

Plötzlich machte der Kletterer eine Bewegung mit dem Kopf, die so viel bedeutete wie: Komm her. Nils schluckte und das Lächeln rutschte von seinem Gesicht. Hatte er das richtig verstanden? Hatte dieser Mann ihn eben gebeten, zu ihm hinzukommen? Einfach so?

Nils musste ziemlich schockiert wirken, denn der Kerl zwinkerte ihm zu, als wollte er ihm Mut machen. Er hob die Hand und winkte ihn eindeutig und unmissverständlich zu sich. Nils schüttelte panisch den Kopf. Selbst wenn er gewollt hätte – und irgendwie wollte er ja auch – er hätte gar nicht aufstehen können, so weich waren seine Knie. Der Kletterer zuckte mit den Schultern, als sagte er so etwas wie: Deine Sache, dann eben nicht, und wandte sich dem nächsten Kunden zu.

Nils zerriss es fast das Herz. Er hatte es vermasselt! Aber was hatte er denn vermasselt? Da war doch nichts. Trotzdem fühlte er sich verletzt und … er vermisste dieses Lächeln, vermisste es, gesehen zu werden, gemeint zu sein. War das nicht total idiotisch?

Plötzlich fasste Nils einen Entschluss. Der Arsch ging ihm auf Grundeis und er hatte so viel Schiss, dass er nicht wusste, ob er es bis zur Kletterwand schaffen würde, ohne ohnmächtig zu werden, aber er wollte es zumindest versuchen. Keine Ahnung, was er dann sagen wollte, oder tun würde. Vielleicht drehte er sich dann ja einfach wieder um und lief weg – aber er wollte sich unbedingt diese Chance geben. Wie von selbst erhob sich sein Körper, um ihn entschlossen zur Kletterwand zu tragen, da sprang seine Schwester hoch, gefolgt von ihren Freunden.

»Gute Idee! Lasst uns was zu essen holen, ich verhungere fast und hier riecht es so affengeil nach fetttriefenden Pommes.« Flankiert von ihren Begleitern rannte sie auch schon los.