Die Wiederkehrer - Kooky Rooster - E-Book

Die Wiederkehrer E-Book

Kooky Rooster

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Stell dir vor, du knallst mit dreißig vor einen LKW und du … Nein, anders: Stell dir vor, am Ende deines etwas außer Kontrolle geratenen Lebens triffst du auf deinen sexsüchtigen, alkoholabhängigen Schutzengel, der im Zuge des 12-Stufen Programms an dir eine Wiedergutmachung leisten will. Allerdings stellt er eine Bedingung: Du sollst einen Mann lieben! Angenommen, du heißt Nikolaus Scheiffler und führtest bis zu deinem Tod ein heterosexuelles Leben. Du könntest wieder zwanzig sein. Du könntest von vorne anfangen und alles besser machen. Vor allem die Sache mit der Liebe. Wenn – ja wenn du nur Raffael Hagen lieben könntest. Würdest du es tun? Niko macht es. Er verliebt sich auch in einen Mann – aber in den falschen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kooky Rooster

Die Wiederkehrer

Männer weinen nicht

Allen, die mich inspiriert haben - negativ wie positiv.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Reingekracht!

 

Niko parkte auf dem Pannenstreifen und bei jedem Auto, das an ihm vorbeiraste, bebte der Wagen ein bisschen. Was für Kräfte hier am Werken waren! Wahnsinn! Genau das Richtige für sein Vorhaben. Mit einem leisen 'Klick' löste er den Gurt und surrend versenkte sich dieser in der Verankerung. Nikos Herz raste, der ganze Körper kitzelte vor Aufregung, der Hals schnürte sich mit einem pochenden Stechen zu und er bekam kaum Luft. Es waren nicht nur die Kräfte der Physik, die ihm in diesen Minuten so bewusst wurden, sondern auch die des Lebens, besser gesagt: des Lebenswillens.

Niko blickte in den Seitenspiegel, sah Autos und LKWs, die mit beängstigender Geschwindigkeit auf seinen Wagen zu und schließlich knapp daran vorbeibrausten. Wenn er selbst seine Rostschüssel über die Autobahn jagte – oder von einer Brücke aus auf die Fahrbahn spähte – kam ihm die Geschwindigkeit nicht halb so gefährlich vor, wie hier auf dem Pannenstreifen – so unerträglich nah am Tod. Mit zitternder Hand tastete Niko nach dem Türgriff, die andere rutschte vom Lenkrad ab, an dem er sich krampfhaft festzuhalten versuchte. Nikos schweißnasse Handfläche glitschte einfach so darüber. Er fluchte. Warum hatte er bloß solche Angst? Als er den Entschluss gefasst hatte, hier ranzufahren, war er noch ganz gelassen gewesen, nüchtern, entschlossen, bereit. Nun streikte sein Körper, verweigerte ihm die Kraft, den destruktiven Akt auch zu vollziehen.

'Wrumms, wrumms' – Vor allem die riesigen, tonnenschweren LKWs rüttelten an Nikos Auto, schüttelten es regelrecht durch. Nur eine Sekunde, nur ein kleiner Sprung, und er würde von so einem Blechungeheuer erfasst und in den ewigen Frieden katapultiert werden. Hoffentlich. Endlich. Zumindest, wenn er es endlich schaffen würde, diese verdammte Tür aufzustemmen, die weichen Knie aus dem Wagen zu wuchten und …

***

Nikos Leben war eine einzige Verkettung ungünstiger Umstände. Falsch! Es war das Ergebnis von Faulheit, Angst Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Zumindest waren das in etwa die Worte gewesen, die Karin ihm gestern Abend an den Kopf geworfen hatte. Die Aussprache war eskaliert. Nein. Auch das stimmte nicht wirklich. Dass die Beziehung in eine Sackgasse geführt hatte und dort elendig verreckt war, hatte Niko insgeheim schon sehr lange gewusst. Er hätte sich schon vor Jahren von Karin trennen sollen! Warum er es nicht getan hatte? Bequemlichkeit und die Furcht vor Veränderung. Verdammt. Niko war erst dreißig, aber sein Leben war gelaufen.

Wollte er sich wirklich wegen Karin umbringen? Der Gedanke, frei zu sein, war gar nicht mal so übel und einen großen Unterschied machte es ohnehin nicht mehr, ob er mit ihr zusammen war oder nicht. Der letzte gemeinsame Sex war bereits mehr als zwei Jahre her und auch davor war es schon lange mies gelaufen. Richtig gut waren nur die ersten paar Monaten gewesen, doch die Leidenschaft kühlte rasch ab. Die Abstände, in denen sie es trieben, wurden immer größer und bald machten sie es nur noch einmal monatlich, dann alle zwei Monate und irgendwann bemerkte Niko, dass sie nur noch zweimal im Jahr Sex hatten – zu ihrem und zu seinem Geburtstag – und irgendwann nicht einmal mehr an diesen Tagen.

Den Gesprächen war es nicht besser widerfahren und Gemeinsamkeiten, das kristallisierte sich auch recht bald heraus, hatten sie keine. In den ersten Wochen konnten sie zwar noch ganze Nächte durch quatschen, aber dann war die Luft raus. Richtig verliebt war Niko nicht gewesen, eher fasziniert, wollte wissen, wie sich die Sache entwickelte und ob er in der Lage war, eine längerfristige Beziehung zu führen. Verflucht, Karin hatte recht! Sie war für ihn nichts weiter als ein Experiment gewesen. Eine Laborratte, an der er seine sozialen Kompetenzen und seine Beziehungstauglichkeit üben konnte.

Warum bloß hatte er ihr gestern Abend gestanden, dass er nie in sie verliebt gewesen war? Ach richtig! Sie wollte es unbedingt wissen. In einem zermürbenden Gespräch – in dem sie seit vielen Jahren erstmals wirklich wieder miteinander gesprochen hatten, schonungslos und ehrlich – hatte Karin ihn mit tränennassen Augen angesehen und gefragt: „Hast du mich überhaupt jemals geliebt?“ Das wäre eine hervorragende Möglichkeit gewesen zu lügen. Niko sagte nichts und beantwortete damit ihre Frage. Das Tragische daran war, dass Karin ihn angeblich geliebt hatte. Zumindest hatte sie ihm noch kurz zuvor gestanden, wie unfassbar verliebt sie damals in ihn gewesen wäre und es so schade fände, dass diese Gefühle nun verschollen waren. Niko saß hilflos da, wie gelähmt, und tat sich ihre Heulerei an. Plötzlich wurde sie ganz still, hörte auf zu schniefen und fragte leise: „Warst du in mich verliebt, damals, als wir zusammenkamen?“ Wieder wäre das eine günstige Gelegenheit gewesen, unaufrichtig zu sein. Niko nutzte sich nicht und damit war die Sache für Karin beendet. Die 'Sache', das war ihre Beziehung, und damit wurde die dramatische Trennungsarie eingeleitet.

„Zehn Jahre, du Arsch, du hast mir zehn Jahre meines Lebens gestohlen!“, warf sie ihm an den Hals, tobte und schrie und holte ein Vergehen nach dem anderen aus dem gut gefüllten Vorratsschrank seiner Verfehlungen. Niko konnte sie sogar verstehen. Es hätte ihn auch gewurmt, sich so viele Jahre selbst etwas vorgemacht zu haben. Aber was konnte er denn dafür? Es war doch nicht seine Schuld, dass er sich nicht in sie verliebt hatte! Sollte er etwa lügen, nur damit es ihr besser ging? Vermutlich wäre das sogar eine vernünftige Entscheidung gewesen, aber Entscheidungen waren nicht Nikos Stärke. Ja und Amen sagen zu allem, was Karin vorschlug, oder überhaupt irgendjemand vorschlug, das war schon viele eher sein Ding. Niko wollte es nicht komplizierter machen, als unbedingt notwendig, trottete daher ambitionslos den Bedürfnissen anderer hinterher. Nicht ein einziges Mal hatte er in all den Jahren den Kopf gehoben, aufgesehen, sich dafür interessiert, wohin er überhaupt unterwegs war.

Nun stand er vor dem Abgrund. Selbst schuld.

Wenn er Karin nicht mehr hatte, wer kümmerte sich dann um alles? Sie hatte die Sache mit der Miete, Strom und Gas, Internet, Handy, Steuererklärungen und Arztterminen geregelt und ihm damals sogar die Bewerbungsunterlagen erstellt. Karin drängte ihn regelmäßig dazu, um eine Gehaltserhöhung anzusuchen und legte Niko sogar die passenden Argumente bereit, die er bei seinem Chef vorbringen konnte. Wie hatte er nur so unselbständig werden können! Es hatte sich eingeschlichen. Niko hatte Karin nichts recht machen können, war die Sachen anders angegangen, als sie sich das vorgestellt hatte, also hatte sie sie ihm aus der Hand genommen. Immer. Überall. Sie so gemacht, wie sie es brauchte und Niko hatte nur noch auf Befehle gewartet. Trag den Müll runter, aber nimm den linken Eimer. Fahr das Auto in die Werkstatt, der Herr Sowieso weiß Bescheid, was gemacht werden muss. Heute hast du um achtzehn Uhr einen Zahnarzttermin. Es war bequem gewesen. Praktisch. Unbequem wurde es erst, als sie begann, ihm mangelnde Initiative vorzuwerfen.

„Du brauchst doch nur zu piepsen, wenn du was brauchst, habe ich denn jemals etwas nicht ausgeführt?“ Das war seine Antwort gewesen und Niko hatte nicht begriffen, was Karin daran so furchtbar aufgeregt hatte.

„Bist du glücklich?“, wollte sie gestern Abend wissen. Nach zehn Jahren das erste Mal.

„Naja, ich lebe“, antwortete Niko nach einer langen Pause.

„Das heißt, du bist unglücklich?“, bohrte sie nach, doch Niko schüttelte bloß den Kopf. Nein, unglücklich war er nicht – eher … abgestumpft. Niko erwartete gar nicht, glücklich zu sein. Das war eine geniale Methode, um nicht unglücklich zu werden. Zumindest, wenn man das duale Prinzip bedachte. Augen zu und durch, immer geradeaus, nicht nach links und rechts sehen, sich gegen keine unliebsame Entwicklung sträuben, hinnehmen und geduldig sein. War das nicht die Philosophie einer ganzen Weltreligion? So verkehrt konnte das doch nicht sein!

Als Niko allerdings später in der Nacht wach lag – auf dem Sofa natürlich, denn nun waren sie getrennte Leute – stellte er fest, dass er sich all die Zeit nur etwas vormacht hatte. Er war todunglücklich! Seit langem schon. Niko konnte nicht einmal sagen, wann es genau angefangen hatte. Vielleicht war er es schon immer gewesen, bereits als Kind. Unsinn! Er hatte eine glückliche Kindheit. Zumindest aber eine gewöhnliche. Probleme gab es doch überall. Vielleicht wäre er auch ohne Schläge gediehen, und auf die Schuldgefühle, die ihm seine Mutter Tag um Tag eingepflanzt hatte, hätte er auch liebend gern verzichten können. Aber hatte nicht jeder sein Päckchen zu tragen? Wem nützte es, darüber zu klagen? Es war, wie es eben war und es ging ja irgendwann vorüber. Das war das Überlebenskonzept seiner Kindheit gewesen, jenes, das er in der Schule angewandt hatte, später im Beruf und dann natürlich auch in der Beziehung mit Karin.

Möglicherweise war es falsch.

Niko hatte zu weinen begonnen wie ein kleines Kind. Die ganze Nacht schüttelte es ihn durch und er verbrauchte eine ganze Klopapierrolle, um sich von den ekligen Tränen zu befreien und die laufende Nase zu säubern. Ihm war, als könnte er nie wieder aufhören zu schluchzen, müsste ab nun für immer weinen. Es war eine Qual, es war schrecklich und es war ihm unsäglich peinlich. Auch wenn es niemand sah – Niko schämte sich vor sich selbst. Was war er denn? Ein Jammerlappen? Kinder weinen. Frauen weinen. Männer nicht! Als vor einem Jahr sein kleiner Bruder bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte er auch nicht geweint.

„Wir alle sterben früher oder später“, hatte er nur trocken dahergesagt und zum Entsetzen aller Trauergäste mit den Schultern gezuckt. Letzte Nacht aber schrie Niko nach Benjamin, hasste ihn für seine Fahrlässigkeit, dafür, dass er ihn im Stich gelassen hatte und Niko ihn nun so schmerzlich vermissen musste. Und wie Niko seinen Bruder vermisste! Die Dämme brachen nach und nach: Niko trauerte um die heißgeliebte Großmutter, die nur einen Monat nach Benni verstorben war, um Karins Vater, der zwei quälende Jahre lang an Krebs krepiert war. All das hatte Niko emotionslos hingenommen, war immer sofort dagewesen, wenn man ihn gebraucht hatte – man konnte ja wirklich alles von ihm haben – aber gefühlt hatte er nichts. Zumindest bis vergangene Nacht. Plötzlich quälten ihn sogar Dinge, die Jahrzehnte zurücklagen, die in seiner Kindheit passiert waren. Er spürte ein tiefes bodenloses Loch, weinte um verpasste Chancen und zerbrach an der dumpfen Ahnung, dass ihm etwas Wichtiges im Leben völlig entgangen war. Es war der reinste Horrortrip.

Am Morgen brachte Niko kaum die Augen auf, so geschwollen waren sie und jeder Knochen tat ihm weh. Er fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht in der Trommel einer riesigen Waschmaschine verbracht, wäre stundenlang im Schleudergang polternd hin und her geworfen worden. Niko wurde erst aus dem Schlaf gerissen, als Karin das Haus verließ und dabei hinter sich kräftig die Tür zuschmiss. Auf dem Klodeckel hatte sie ihm einen kleinen gelben Notizzettel mit folgender Nachricht hinterlassen:

'Heute Abend bist du raus! Was du bis zum Wochenende nicht abgeholt hast, landet auf dem Müll!'

Schock! Über diese Konsequenz ihrer Trennung hatte Niko bis zu diesem Augenblick noch gar nicht nachgedacht. Das war Karins Wohnung! Verdammt! War Niko jetzt obdachlos? Wo sollte er bloß hin? Seine Freunde hatten gerade erst Familien gegründet und konnten keinen Versager auf ihrer Couch gebrauchen. Seine Eltern? Undenkbar! Niko hatte sich bei seinem Auszug geschworen, nie wieder in das Haus seines Vaters zurückzukehren. Blieb nur noch ein Hotel. Gott, wie trostlos!

Niko saß bereits im Auto, um zur Arbeit zu fahren, da läutete das Handy. Sein Vater! Wann hatte dieser zuletzt angerufen? Noch nie! Den Kontakt hielt Nikos Mutter. Sie brauchte jemanden, der ihre Klagelieder anhörte und dem sie die Schuld an ihrem Unglück zuweisen konnte. Was war so dringend, dass ihn sein Vater um acht Uhr morgens anrief? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit einem mulmigen Gefühl ging Niko ran. Schlimm genug, dass er selbst die ganze Nacht geheult hatte – jetzt musste er seinem Vater auch noch am anderen Ende der Leitung beim Schluchzen zuhören. Nikos Vater hatte noch nie geweint. Männer weinen nicht. Frauen weinen. Kinder weinen. Männer nicht! Doch jetzt schluchzte sein Vater und bekam kaum ein verständliches Wort heraus. Er steckte Niko – der immer noch völlig aufgerieben war – damit an.

„Was ist denn los“, schluchzte Niko ins Telefon. Herrgott, was waren die Scheiffler-Männer doch für Jammerlappen!

„Mama hat Krebs“, brachte Nikos Vater schniefend hervor. Die Eltern sprachen sich nicht bei ihren Vornamen an, sondern sagten tatsächlich 'Mama' und 'Papa' zueinander. Als Niko in der Pubertät gewesen war, hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen, ob sie das auch beim Sex so hielten. Vielleicht war es ein Fetisch, den Partner 'Mama' oder 'Papa' zu nennen, immerhin wurde das auch in manchen Filmen verarscht. 'Komm zu Mama.'' Komm zu Papa.' Brrr. 'Mama hat Krebs.' Aus dem Mund seines Vaters klang das so grotesk, dass Niko losprusten musste. Seine Nerven lagen völlig blank. 'Immerhin bekommt Benni das nicht mehr mit', war Nikos nächster Gedanke.

Bauchspeicheldrüse. Endstadium. Ein Krebs, den man meist zu spät entdeckt. Zunächst hatten die Ärzte geglaubt, Nikos Mutter hätte einen Schlaganfall, doch dann hatten sie die Metastasen entdeckt, die sich bereits bis ins Hirn ausgebreitet hatten.

„Es geht zu Ende“, schluchzte Nikos Vater, „Was soll ich jetzt tun? Ich weiß noch nicht einmal, wie ich den Herd ankriege!“ Ach du liebe Güte! Das war Nikos Zukunft! Sein Vater war sein späteres Ebenbild. Zwar wusste Niko – noch – wie man einen Herd bediente oder eine Waschmaschine, aber er war auf dem besten Weg dahin gewesen, wo sein Vater heute bereits war.

„Ich sage meinem Chef Bescheid, dann komme ich“, versprach Niko und startete mit zitternden Händen den Wagen. Es war keine gute Idee, in dieser Verfassung selbst mit dem Auto zu fahren. Da konnte weiß Gott was passieren. Das hatte Niko schon bei seinem Bruder gesehen.

„Gut, dass ich Sie erwische, Herr Scheiffler“, wurde Niko vom Chef begrüßt, der ihm die Hand auf den Rücken legte und ihn sofort ins chaotische Büro schob. Das. War. Kein. Gutes. Zeichen. „Setzen Sie sich doch, Herr Scheiffler“, forderte der Chef Niko auf, richtete sich die Krawatte und sank hinter dem riesigen Schreibtisch in den feudalen, bequemen Stuhl. Niko hätte lieber stehen bleiben wollen, doch er fügte sich. War einfacher. Außerdem hatte er wackelige Beine und es war nicht klug, dem Chef gegenüber Schwäche zu zeigen. Niko musste seinem Vorgesetzten nun klar machen, dass er spontan ein paar Tage Urlaub benötigte. Zumindest war nun geregelt, wo er die nächsten paar Nächte schlafen könnte, schoss Niko durch den Kopf. Gleich darauf schämte er sich für diesen Gedanken.

„Herr Scheiffler …“, kam ihm der Chef zuvor, seufzte, spielte mit einem Kugelschreiber, musterte seinen Mitarbeiter, als wäre ihm wichtig, wie es diesem ging. Ein Schauspiel, das er durch Seminare zur Mitarbeiterführung perfektioniert hatte. Dass ihn jedoch nicht im Geringsten interessierte, wie sich Niko fühlte, war daran zu erkennen, dass er weder die geschwollenen Augen bemerkte, noch die bleiche Haut oder das zerzauste Haar, oder, dass sein Mitarbeiter zitterte. „… Sie wissen ja, dass wir mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben …“, begann der Chef. Einigen? Das war eine schamlose Untertreibung. Der Betrieb kämpfte seit einem Jahr verzweifelt gegen den Konkurs. Es gab Wochen, da musste die Belegschaft täglich damit rechnen, am Morgen keine Stühle oder Rechner mehr vorzufinden, weil diese versteigert werden sollten. Die Gehälter wurden mittlerweile mit drei Monaten Verzögerung überwiesen und zu Weihnachten war der Vollidiot von Chef auf die glorreiche Idee gekommen, statt des Gehalts den Mitarbeitern ihre Arbeitsrechner zu schenken.

Die halbe Belegschaft war bereits gekündigt worden und der Rest versuchte, mit den übriggebliebenen Fragmenten der ehemals florierenden Druckerei, über die Runden zu kommen. Das war eigentlich so gut wie unmöglich, da die Leasingfirmen die meisten Druckmaschinen abgeholt hatten. Es war seit Monaten nichts weiter, als ein Zeit absitzen, bis es endlich knallte. Warum Niko noch da war? Betörende Lügen der Geschäftsleitung: Einerseits wurden jede Woche neue, wenn auch absurde Versprechen gegeben, das nahende Ende der Krise prophezeit. Man hielt die Leute mit Durchhalteparolen bei der Stange und erzählte ihnen, man habe eine Lösung gefunden, ab nun ginge es steil bergauf. Andererseits war das Gehalt gut und Niko hatte ja noch den Job. Wozu sollte er sich den Stress antun und woanders bewerben?

„… kündigen“, drang an Nikos Ohr. Er hatte gar nicht richtig zugehört.

„Was?“ Niko wurde rückwirkend gekündigt, um die Kündigungsfrist abzukürzen. Eine rasch abverlangte Unterschrift, die Niko völlig perplex leistete, machte dieses hinterhältige Vorhaben legal. Mit Ende des Monats wurde er also arbeitslos. Das waren zwar noch zwei Wochen hin, aber da Niko noch Urlaubstage offen hatte und der Chef kein Geld, um diese auszuzahlen, sollte Niko auf der Stelle die Firma verlassen.

„Wie … gleich?“, fragte er verwirrt. Ihm dröhnte der Schädel. Niko fühlte sich wie in die Wüste gestoßen, auf den tiefsten Grund des Meeres verbannt, ans Gipfelkreuz eines Achttausenders genagelt.

Der Chef erhob sich erleichtert, knöpfte geschäftig das Sakko zu, reichte Niko die Hand und brabbelte prosaisch: „Es war uns ein Vergnügen, mit Ihnen zusammengearbeitet zu haben. Die Unterlagen kommen in den nächsten Tagen mit der Post.“ Mit diesen Worten schob er Niko zur Tür hinaus und schlug sie hinter ihm zu.

Die Blicke der Kollegen verrieten, dass sie Bescheid wussten. Ihnen blühte dasselbe Schicksal und sie wandten sich von Niko ab, als wäre eine Kündigung ansteckend. Kein Abschied. Kein Gruß. Kein tröstendes Wort. Niko erinnerte sich an die besseren Zeiten dieser Firma. Wenn ein Mitarbeiter die Druckerei verlassen hatte, gab es eine kleine Abschiedsfeier, Sekt, Brötchen, Tränen und gute Wünsche. Niko sah sich um. Plötzlich waren alle weg, hatten sich in einem der hinteren Büros verkrümelt. Kollegen, mit denen er sieben Jahre zusammengearbeitet hatte. Die er gemocht hatte, mit denen er sich gut verstanden hatte. Keiner war da, um Niko zu verabschieden, private Telefonnummern und E-Mail Adressen zu tauschen, damit sie in Kontakt bleiben konnten.

Immerhin musste sich Niko für das Sterben seiner Mutter nicht extra freinehmen, dachte er. Sogleich schämte er sich für diesen Gedanken.

Wie einsam so ein Parkplatz nach Dienstbeginn wirken konnte. Niko hätte jetzt gerne irgendjemanden getroffen, mit dem er reden konnte. In seinem Zustand hätte er sogar einen völlig Fremden angesprochen. Mit Karin konnte er ja nun nicht mehr über die Kündigung oder den Zustand seiner Mutter sprechen, und mit den Kollegen oder seiner Mutter nicht über die Trennung von Karin. Es war, als würde sich die Welt weiterdrehen, er aber an derselben Stelle stehenbleiben und ruckartig aus ihr heraus gehoben. Hatte er sich jemals einsamer gefühlt? Vermutlich – aber war er dabei auch wirklich allein gewesen? Nein. Wie luxuriös doch Gefühle der Einsamkeit waren, wenn man wusste, dass im Fall des Falles jemand da war. Wenn man sich Gesellschaft nur aus Stolz versagte, dem temporären Vergnügen an Leid. Jetzt, wo Niko wirklich allein war, war es nichts weiter als eine gruselige, dumpfe Leere. Angst zu verschwinden, sich in Luft aufzulösen. Einfach so. Und niemand würde es merken, keinen interessieren.

Egal wie krampfhaft Niko nachdachte, ihm fiel niemand ein, an den er sich wenden konnte. Früher hatte sein bester Kumpel Simon herhalten müssen, wenn es ihm dreckig ging oder er in Not war. Das war der einzige Mensch, mit dem er wirklich gut konnte, dem er vertraute. Aber der hatte sich schon vor Jahren rar gemacht, als er bei den Anonymen Alkoholikern seine jetzige Frau und Mutter seiner Tochter kennengelernt hatte. Danach hatte es nur noch Ben gegeben. Mit dessen Tod hatte sich auch der gemeinsame Freundeskreis zerschlagen. Niko war nicht besonders gut darin, neue Kontakte zu knüpfen und sie zu halten und hatte sich an Karins Freundeskreis drangehängt. Aber Karins Freunde hatten den großen Nachteil, Karins Freunde zu sein – für die war er sowieso schon lange der gefühllose Arsch, von dem sich Karin aus unerfindlichen Gründen nicht trennte.

Niko stieg in sein Auto, um die Reise in die über hundert Kilometer entfernte Stadt anzutreten, in der seine Eltern lebten und in deren Krankenhaus seine Mutter gerade im Sterben lag. Und danach? Was passierte nach ihrem Tod? Sollte Niko seinen Vater pflegen? Den Arsch, der ihn durch die Kindheit geprügelt hatte? Aber was gab es für eine Alternative? Ohne Job, ohne Wohnung und ohne Geld – denn die fehlenden Gehälter, das ahnte Niko, auf die würde er noch gut ein Jahr warten müssen. Und dann war da noch … Oh Gott!

Niko hasste das Arbeitsamt – er hatte regelrecht Panik davor – und das war noch eine milde Untertreibung. Genau so stellte er sich das Fegefeuer vor. Bürokratisch organisierte Demütigung, ein Moloch, der Menschenwürde fraß, endlose Gänge hinab bis an die Zerrüttung der Existenz. Organisiertes und von oben abgesegnetes Mobbing, strukturiertes Verwehren von Ansprüchen auf Hoffnung oder Entfaltung. Mit dreifachem Durchschlag und Siegel beglaubigtes Aberkennen der Menschen- und Bürgerrechte. Saubere, wohlformulierte Entlassung in die Vogelfreiheit, stigmatisiert und zum Sündenbock gemacht, auf den jeder ehrliche und hart arbeitende Bürger treten und spucken durfte. Der Arbeitslose war der Teppich in der Hierarchie der Gesellschaft. In manchen Zonen des Systems herrschte noch tiefstes Mittelalter. Das Arbeitsamt war eine solche Zone.

Auf der Autobahn kam Niko dann der erlösende Gedanke. Warum brachte er sich nicht einfach um? Das war die Lösung. Von seinem Leben erwartete er sich nichts mehr! Er war ein Versager, kein Job, kein Dach über den Kopf, hatte einen Bauch, verlor die ersten Haare und eine Frau würde er auch nicht mehr finden. Die waren alle verheiratet und hatten Kinder, oder sie wollten heiraten und Kinder, und dazu war Niko nicht bereit – und nicht imstande. Das war wohl auch so ein Knackpunkt gewesen, an dem die Beziehung mit Karin gescheitert war. Es hatte sich vor einigen Jahren herausgestellt, dass Niko unfruchtbar war. Sein Arzt hatte ihm zwar genau erklärt, woran es lag – aber Niko hatte es nicht so genau wissen wollen. Was spielte es für eine Rolle? Es änderte ja nichts an den Tatsachen. Augen zu und durch.

Warum funktionierte sie jetzt nicht? Diese Sache mit dem 'Augen zu und durch'? Niko müsste doch nur die Tür aufreißen und auf die Fahrbahn springen. Der nächste LKW würde Mus aus ihm machen und er hätte endlich seinen Frieden. Warum flennte er stattdessen wie ein Baby, sodass ihm der Rotz bis zum Knie hing? Er war nicht nur erbärmlich, er war eklig. Verdammt, er müsste doch bloß aussteigen und einen Schritt machen. Feigling, elender! Tu es! Tu es, verdammt! Wen kümmert es schon! Es ist für alle das Beste!

Niko ließ einen solchen Schrei los, dass er das Gefühl hatte, die Adern auf der Stirn würden platzen, die Stimmbänder reißen und die Lunge explodieren. Er hasste sich selbst so sehr, dass er gar nicht wusste wohin mit der Wut. Am meisten hasste er sich dafür, dass er verflucht nochmal solche Angst vor dem Tod hatte.

Echt miese Story

 

Schon seit einigen Minuten hatte das Auto nicht mehr geruckelt. Überhaupt war es verdächtig ruhig geworden. Das Rauschen der Reifen und Brummen der Motoren war verschwunden. Niko hielt inne, lauschte und warf einen Blick auf die verwaiste Straße. Auch der Seitenspiegel zeigte eine gähnend leere Asphaltfläche. Wo waren all die Autos hin? War etwas Schlimmes passiert? Vielleicht ein Unfall. Auch auf der Gegenfahrbahn war es still geworden. Zwei Unfälle? Hatte man die Straße möglicherweise für einen Schwertransport gesperrt? Mit fahrigen Händen tastete Niko zum Autoradio und schaltete es ein. Rauschen. Er drückte auf den Knopf für den Senderdurchlauf, der auch prompt die Arbeit begann. Der Kasten mühte sich ab, brachte aber nichts hervor. Auch Nikos Handy fand kein Netz. Das war gespenstisch. Über Nikos Rücken kletterte Gänsehaut und ihm war, als hauche ihm jemand eiskalt in den Nacken. Panisch fuhr er herum, aber da war keiner. Woher auch?

Die Angst vor dem Tod wich einer ganz anderen, dumpf pochenden Angst, die sich schwer in Nikos Magen legte, anschwoll und mit klammen Händen nach seiner Kehle krallte.

Endlich schaffte es Niko, die Fahrertür zu öffnen, obgleich die gespenstische Stille noch fürchterlicher war, als der Gedanke an einen jähen Aufprall am Kühlergrill eines LKWs. Er stieg aus. Der Asphalt wirkte so nah, so unfassbar präsent, als wäre Niko nur wenige Zentimeter groß. Die Sonne versengte das Land, über der Autobahn flirrte die Luft, es roch nach Hochsommer, nach gedüngten Feldern, Gummi und heißer Straße. Ein schrecklicher Gedanke braute sich zusammen. War Niko etwa tot? Hätte er das nicht merken müssen? Er war doch gar nicht aus dem Wagen gesprungen. Kein Aufprall, kein Poltern, kein Geräusch quietschender Reifen und dröhnender Hupen, kein Schmatzen eines sich zerlegenden Körpers. Sah man nicht außerdem im Todeskampf die Vergangenheit noch einmal vor dem geistigen Auge vorbeiziehen? Oh – sie war an ihm vorbeigezogen! Verdammt! Und das grelle Licht? Nun, Nikos Augen brannten von der sengenden Sonne, den grellen Reflektionen durch den Asphalt.

Scheiße! Niko war nicht bereit für das hier. Er wollte noch nicht sterben. Jetzt, wo er fürchtete tot zu sein, wünschte er sich sein Leben zurück, sehnte er sich sogar nach den Unannehmlichkeiten, dem Leid und dem Schmerz. Es hätte doch noch so vieles gegeben, dass er hätte tun können, das er noch hätte erleben können, ausprobieren. Niko hatte nie Golf gespielt, war nie mit einem Fallschirm gesprungen, hatte das Meer nicht gesehen und hatte er nicht einst davon geträumt, nach Prag zu reisen? Er wollte spüren, wie das Salzwasser an seiner Haut leckte, wie der Wind ihm ins Gesicht schlug. Er hätte sich ein Motorrad kaufen können, sich die Haare wachsen lassen, als einsamer Wolf durch die Welt reisen, abnehmen, Gewichte stemmen und in jedem Städtchen ein Mädchen haben. Er hätte … es war ein kühner Gedanke, aber vielleicht hätte er sogar noch die Liebe kennenlernen dürfen, sich verlieben. Er hatte zu wenig erfüllenden Sex gehabt – überhaupt zu wenig Sex. Und außerdem – was war das bloß für ein einfallsloses Jenseits? War das totsein? Alles wie gehabt, nur dass er ganz alleine war? Müssten nicht irgendwo die ganzen anderen Toten sein, Engel, Dämonen, Götter, was auch immer?

Plötzlich drang ein sattes Röhren an Nikos Ohr. Eher ein Brummen und Knattern, das sich langsam näherte, immer lauter wurde. Das war der Sound eines Motorrads! Eines sehr schweren Motorrads. Niko drehte sich um und – tatsächlich! Auf der Mittelspur cruiste eine chromblitzende Harley Davidson auf ihn zu und bremste knatternd ab. Sie hielt direkt vor ihm, auf dem mittleren Fahrstreifen und gegen die Fahrtrichtung, an. Sie wurde von einem Polizisten geritten, der lässig den Motor abstellte und den Schlüssel herumdrehte. Das war kein hiesiger Sesselfurzer mit verklemmtem Gang und Vorschriften im Blutkreislauf, sondern die Rambo-Variante. Ein amerikanisches Heldenepos auf zwei Beinen! Er hatte diese unsägliche verspiegelte Pilotenbrille auf, eine oberpeinliche, sorgfältig gestutzte Rotzbremse und einen Körper wie ein Stier. Der Cop wuchtete die Muskelberge aus dem ächzenden Sattel, die Uniform spannte und er spuckte einen Zigarrenstummel aus dem Mundwinkel auf die Straße. Als er auf Niko zu schlenderte, knarrten seine Lederstiefel. Er rückte die Sonnenbrille zurecht.

„Nikolaus Scheiffler?“, donnerte die raue Stimme des Bullen. Niko klappte den Kiefer wieder hoch, schluckte schwer und nickte ehrfürchtig.

„Sehr gut“, knurrte das Tier, ließ den Blick in die Ferne schweifen wie ein achtsamer Leibwächter und brummte über Nikos Schädel hinweg: „Ich bin Harry. Dein Schutzengel.“

Niko prustete los und der Hüne warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Ach, kommen Sie schon, das kann doch nur ein Witz sein!“, stieß Niko belustigt hervor und schüttelte den Kopf. Wer trieb da Scherze mit ihm? Die Uniform des Bullen war noch nicht einmal ein Original – sah vielmehr so aus, wie aus einem drittklassigen Kostümladen geliehen. Harry … sah aus wie jemand, der sich im Karneval als 80er Jahre Fernsehserien-Autobahncop verkleidet hatte. Sein Erscheinungsbild beeindruckte allein durch die Größe, die Muskellandschaft, den imposanten Kiefer und den lächerlichen Schnauzbart. Aber ein echter Polizist …? Das war einfach zu viel des billigen Klischees. Mal ganz abgesehen von dem bescheuerten Namen: Harry. Meine Güte! Schutzengel? Das war doch mehr als nur hirnverbrannt.

„Ich glaube nicht, dass du im Augenblick viel zu lachen hast, Nikolaus Scheiffler“, stellte der Bulle im schlimmsten Machoslang, den Hollywood je erfunden hatte, klar.

„Warum ist die Straße leer, gab es einen Unfall?“, fragte Niko unbeeindruckt. Auf dieses blöde Spiel wollte er sich gar nicht erst einlassen.

Der Cop musterte Niko langsam von Kopf bis Fuß, rauf, runter, rauf, runter. Er zupfte einen Kaugummi aus der Brusttasche und pfriemelte ihn seelenruhig aus dem Stanniolpapier. Ohne Niko aus den Augen zu lassen, schob er sich das Kaugummiblättchen zwischen die strahlend weißen Zähne und kaute währen der eingängigen Musterung darauf herum, wie eine Kuh beim Widerkäuen. Das war einfach zu skurril.

„Du hast dich verfahren!“, erklärte der Bulle in einem überheblichen Tonfall.

„Woher wollen Sie wissen …“, begann Niko, bremste sich jedoch gleich ab. Der Cop stemmte die Hände in die Hüften, richtete den Gürtel und tippte mit dem Ringfinger warnend gegen den Schlagstock. Was sollte das denn bitte werden? Hatte der Kerl vor, Niko zusammenschlagen, nur weil ihm dieser eine Frage stellen wollte? Als der Bulle erkannte, dass sich Niko tatsächlich hatte einschüchtern lassen, grinste er triumphierend und bleckte die perfekte Zahnreihe. Mit ihr hätte er glatt Werbung für Zahnpasta machen können. Auch mit diesem Grinsen. Schließlich mahlte er weiter unappetitlich auf dem Kaugummi herum.

„Und … äh … jetzt?“, fragte Niko und konnte den provokativen Unterton in seiner Stimme nicht vermeiden. Wenn Meister Oberklug zu wissen glaubte, dass Niko falsch war, vielleicht wusste er ja dann auch, welcher Weg der richtige war.

„Hm, ja, das ist in der Tat etwas knifflig“, räumte der Polizist ein und brach das Machogehabe ab. Mit Daumen und Zeigefinger hob er die Polizeikappe vom Kopf und kratzte sich mit den restlichen Fingern über den Scheitel. Dabei blickte er ratlos suchend erst nach rechts, dann nach links, spähte in die Ferne, als erwarte er Verstärkung.

„Ich bin auf dem Weg zu meiner krebskranken, im Sterben liegenden Mutter“, erklärte Niko artig und fühlte sich ein bisschen wie Rotkäppchen, das im Wald auf den bösen Wolf gestoßen war. Nikos Vorhaben fühlte sich mit einem Mal abstrakt an, beinahe so, als hätte er das alles nur geträumt. Vielleicht war das, was er für sein Leben gehalten hatte, bloß ein Albtraum gewesen und nun war er aufgewacht und fand sich in seinem echten Leben wieder. Allein, ihm fehlte jede Erinnerung daran.

„Meeeeh“, blökte der Bulle und rümpfte dabei die Nase, als lehne er eine übelriechende Speise ab.

„Entschuldigung?“ Niko war empört.

„Nä, das ist nicht gut, das ist gar nicht gut“, murmelte Harry kopfschüttelnd.

„Was ist nicht gut?“, fragte Niko nach. Der Bulle stülpte die Kappe wieder über den Kopf, zwirbelte den Schnauzbart und meinte:

„Deine Story. Ganz mies, ganz mies.“ Der Hüne schüttelte seufzend den Kopf.

„Story? Das ist mein Leben! Wovon reden Sie überhaupt?“, fuhr Niko den Cop an. Das gab's doch wohl nicht!

„Zu wenig Sex-Appeal“, meinte Harry und stierte nachdenklich über Niko hinweg in die Ferne. Er seufzte tief und murmelte vor sich hin: „Das muss anders werden, ganz anders.“

„Okay.“ Niko tastete nach der Autotür. „Ich steige jetzt ein und fahre einfach mal weiter.“

Ohne Niko Beachtung zu schenken, pulte der Bulle den Schlagstock aus dem Gürtel und legte ihn warnend auf das Autodach. Er stützte die starken Arme links und rechts von Nikos Kopf ab und kam diesem so mit der breiten, gestählten Brust ziemlich nahe. Der Muskelprotz brummte drohend. Gulp. Niko schielte auf die Knöpfe und schluckte schwer. Das war deutlich. Niko beschloss, zunächst nichts zu tun und einfach abzuwarten. Eine andere Chance hatte er ohnedies nicht und außerdem war er ein Meister darin, auszuharren. Harry schien endlich zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Er nickte Kaugummi kauend vor sich hin und formulierte immer wieder ein zähes:

„Yeah, Yeah! Das ist gut. Das ist gut.“ Der Cop sah zu Niko herab und dieser konnte sein verzerrtes Spiegelbild in der Pilotenbrille erkennen. Er wirkte darin wie ein Zwerg, winzig und hilfsbedürftig. Die Augen des Cops waren zwar nicht erkennbar, aber Niko fühlte sich von ihnen durchbohrt.

„Was ist gut?“, piepste Niko. Er hatte ein äußerst ungutes Gefühl und im Verhältnis zu dem, was er in den letzten Stunden durchmachen musste, hatte das etwas zu bedeuten.

„Kannst du schwul sein?“, fragte der Bulle und Niko prustete los.

„Was?“, stieß er belustigt hervor, aber die Frage des Hünen schien kein Scherz gewesen zu sein. Niko wurde unablässig fixiert. An Harrys Kiefer traten beeindruckende Sehnen hervor, während er weiterhin wiederkäute und offensichtlich auf eine Antwort wartete.

„N... nein ich glaub nicht“, stammelte Niko eingeschüchtert.

„Mmmh“, brummte der Cop und blickte erneut kauend und effektheischend männlich in die Ferne. Dabei zupfte er wie beiläufig Fotos aus der Brusttasche seines Hemdes und streckte sie Niko entgegen. Zögernd griff dieser danach und starrte geschockt auf die Motive.

„Scheiße!“, brabbelte Niko fassungslos und ihm sackten fast die Beine weg. Ihm wurde kotzübel. Auf den Fotos erkannte er sich selbst, beziehungsweise eine Vision davon. Er war entstellt, hatte einen weggetretenen, leeren Blick und überall kamen Schläuchen aus seinem Körper. Er schien darauf ein paar Jahre älter zu sein. Am Krankenbett saßen sein Vater, er hatte schlohweißes, zerzaustes Haar und eine etwas pummelige Frau, die halb so alt war wie er und die aussah, wie frisch vom Straßenstrich aufgesammelt. Ihre Speckröllchen wölbten sich durch ein hautenges Kleid mit Leopardenfellaufdruck. An Handgelenken, Hals und Fingern klimperte das Inventar eines Kaugummiautomaten aus den 80-Jahren – kiloweise billiger, kitschiger Plastikschmuck.

„Yeah!“, brummte der Bulle, als er Nikos erbleichtes Gesicht bemerkte. „Keine schöne Sache, was?“

„Was … ist … das? Woher … sind die … Fotos?“, stammelte Niko erschüttert. Es war wie bei einem Unfall – er wollte zwar, aber er konnte einfach nicht wegstarren. Solche Bilder hatte er schon in manchen Dokus über Wachkoma-Patienten gesehen.

„Weißt du, Nikolaus, Kühlergrills von LKWs sind keine besonders zuverlässige Todesquelle.“

Niko schwankte etwas. In seinem Kopf drehte sich alles. War er tatsächlich im Jenseits? Hatte Harry recht und er war tatsächlich sein … Schutzengel? Musste Niko in wenigen Minuten in diesen übel zugerichteten, gelähmten Körper zurück schlüpfen und dort für … oh Gott … wie lange? … rein?

„Achtundzwanzig Jahre“, brummte der Cop und trommelte, einer inneren Melodie folgend, mit zwei Fingern auf dem Blech des Autodachs herum. Niko fuhr hoch und starrte Harry fragend an. „Du wolltest wissen, wie lange du so dahinvegetieren wirst. Achtundzwanzig Jahre, drei Monate, vier Tage und sieben Stunden. Außer …“

Nikos Knie schlotterten, der Brustkorb zog sich eng zusammen und kalter Schweiß bildete sich auf seinem Rücken.

„Außer was?“, fragte er verzweifelt und eine Träne kullerte über seine Wange.

„Außer, du wirst schwul“, erklärte der Bulle väterlich sanft.

„Okay!“, sprudelte es aus Niko heraus, ohne auch nur eine weitere Sekunde darüber nachzudenken. Erst hinterher fiel ihm ein, dass er dazu im Vorfeld einiges geklärt hätte haben wollen. Aber die Entscheidung fühlte sich richtig an, auch wenn er noch keine Vorstellung davon hatte, worauf der Cop mit dieser Forderung hinaus wollte. Keinesfalls wollte Niko so enden, wie auf dem Foto – niemals – was auch immer er dafür tun musste.

„Wirklich?“, gluckste Harry, wandte sich nur kurz ab, um den Kaugummi auf die Straße zu pusten und funkelte Niko amüsiert an.

„Wenn ich dann nicht …“ Statt weiterzureden tippte Niko auf die schrecklichen Fotos. Der Cop warf einen erstaunten Blick darauf, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Er grapschte nach den Bildern und warf sie über die Schulter hinter sich. Dort rangen diese mit der leichten Brise und flatterten schließlich tanzend auf den Asphalt.

„Nope“, erwiderte Harry salopp, griff nach dem Schlagstock und musterte interessiert dessen abgerundetes Ende. Wollte er Niko damit nun doch noch verprügeln? Als der Bulle merkte, wie Niko den Knüppel mit einem bangen Blick anstarrte, grinste er breit und wackelte mit den Augenbrauen.

„Na? Schon aufgeregt?“, brummte er anzüglich, bildete mit Zeigefinger und Daumen einen Ring und stieß den Knüppel hindurch. Gulp! Instinktiv klemmte Niko die Arschbacken zusammen und glubschte panisch auf die pantomimische Penetration. Hatte er sich gerade zu Harrys Lustsklaven gemacht? Für alle Ewigkeit?

„Keine Sorge, bin auf Entzug. Strenge Enthaltsamkeit!“, murmelte Harry und zupfte, wie um das zu untermauern, kurz am Hosenstall.

„Und was … wie …?“, stammelte Niko.

„Mh, das mit der Mieze war der totale Reinfall. Das hätte ich ahnen müssen. Aber … scharf war sie, oder?“, plapperte der Cop drauflos und zwinkerte Niko grinsend zu. Dieser brauchte eine Weile, bis er begriff, worüber Harry redete.

„Karin?“, fragte er jedoch sicherheitshalber nach.

„Weißt du, Nikolaus, Whiskey ist eine verdammte Hure“, wechselte der Hüne plötzlich das Thema und legte einen Arm um Nikos Schultern. Dabei klemmte er dessen Genick fest in die Armbeuge. Selbst wenn Niko es gewagt hätte, dagegen konnte er keinen Widerstand leisten. Harry drehte sich zur Seite und schleifte seinen Schützling dabei grob mit sich. Mit Niko fest im Arm schlenderte der Cop einige Schritte über den flirrenden Asphalt.

„Hure“, brabbelte Niko um zu beweisen, dass er zugehört hatte. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon der Bulle sprach.

„Yeah! Richtig!“, dehnte dieser die Vokale wie ein Cowboy. „Die Sache ist die, Nikolaus, ich hab Scheiße gebaut. Ich sag nur: Staubsauger, Whiskey und Pornos“, erklärte Harry. Niko konnte ihm nicht folgen. „Hast du eine Ahnung, wie schnell da die Zeit vergeht?“, fragte der Bulle, erwartete aber keine Antwort. Er machte mit dem Arm eine Bewegung, als demonstriere er einen Absturz. „Bumm!“, stieß er laut aus und Niko fuhr erschrocken hoch. „'Nine-Eleven' sagt dir was?“, fragte Harry und schob Niko etwas von sich weg, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. Was für eine Frage! Jedem sagte 'Nine-Eleven' etwas. Aber was hatte das mit Niko zu tun? „Weißt du, Nikolaus, es ist nicht leicht, wenn ein Schutzengel über Nacht ein paar hundert Schützlinge verliert. Man kann mir im Grunde keinen Vorwurf machen.“

„Ähm, ja …“, murmelte Niko mit mehr als nur einem Fragezeichen im Gesicht.

„Schwamm drüber.“ Der Cop machte eine wegwerfende Geste und Niko war erleichtert. Solche Geständnisse machten ihn immer wahnsinnig nervös. Die Leute erwarteten dann immer irgendeine Reaktion von ihm, aber er wusste nicht welche. Sollte er sie loben? Sie bedauern? Sich entschuldigen? Meist schwieg Niko dann und die Leute schüttelten darüber abschätzig den Kopf und gingen zu einem anderen Thema über. Niko hatte dann immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.

„Weißt du noch … die Party, auf der du die Mieze kennengelernt hast?“, fragte Harry plötzlich.

„Mein zwanzigster Geburtstag?“, stellte Niko die Gegenfrage. Das war zumindest die Party gewesen, auf der er Karin kennengelernt hatte.

Niko war frisch in die erste eigene Wohnung gezogen und zu seinem zwanzigsten Geburtstag erfüllte er sich den Traum einer richtigen, großen Party. Da er nicht genug Leute kannte, bat er alle Gäste, noch irgendwen mitzubringen. Es war sein Bruder gewesen, der Karin angeschleppt hatte. Ben war heimlich in Karin verschossen und hatte sich wohl erhofft, dass endlich etwas zwischen ihnen laufen würde – und dann hatte sie mit Niko rumgemacht. Bens Blick sprach ganze Enzyklopädien an Enttäuschung, als er am nächsten Morgen seinen Bruder und Karin nackt umschlungen vorgefunden hatte. Nikos Herz zog sich zusammen. Was war er bloß für ein Arschloch gewesen. Zwar hatte Karin ihn sehr offensiv angegraben, und Harry hatte schon recht, sie war eine 'scharfe Mieze' – aber er hätte spätestens dann die Finger von ihr lassen können, als ihm bewusst geworden war, dass er sie seinem verliebten Bruder ausgespannt hatte.

„Zu der Zeit hat es angefangen“, erklärte der Cop.

„Was hat da angefangen?“, wollte Niko wissen.

„Mein Alkoholproblem. Und die Sexsucht. Ich sage dir: Lass die Finger von Staubsaugern. Das endet gaaanz böse.“

„Okay“, murmelte Niko enttäuscht. Es ging also immer noch um Harry.

„Worauf ich hinaus will …“, begann der Cop und Stolz würzte seine Stimme, „… ich mach jetzt ein Programm. Zwölf Schritte. Wirklich gut. Ich bin fast durch. Jetzt geht es um die Wiedergutmachung.“

„Mmmohkay“, presste Niko reserviert hervor. Gott, er war wirklich schlecht darin, auf solche Geständnisse zu reagieren. Darüber hatte sich Simon auch immer beschwert. Es machte es den Leuten schwer, sich ihm zu öffnen.

„Nikolaus Scheiffler …“, sagte der Cop feierlich, blieb stehen und blickte Niko durch die verspiegelte Pilotenbrille entschlossen an, „… ich kann dich wieder auf diese Party bringen. Du bekommst die Chance, die letzten zehn Jahre noch einmal zu leben. Aber es gibt eine Bedingung.“

„Ich muss schwul sein?“, folgerte Niko.

„Hey! Kluges Bürschchen. Hast aufgepasst“, lobte der Cop und wuschelte Niko durchs Haar, als wäre dieser ein fünfjähriges Kind, das sich durch Niedlichkeit ausgezeichnet hatte. „Eigentlich geht es nicht ums Schwulsein an sich – aber es läuft darauf hinaus!“, meinte Harry.

„Aha“, machte Niko und strich das Haar wieder glatt.