Der Schattenkrieg - Ronen Bergman - E-Book
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Der Schattenkrieg E-Book

Ronen Bergman

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Beschreibung

Von der Staatsgründung Israels bis heute - die erste umfassende Geschichte der geheimen Tötungskommandos des Mossad

Mordanschläge, die dem israelischen Geheimdienst Mossad zugeschrieben werden, sorgen immer wieder für Aufsehen. Doch über die Hintergründe dieser Aktionen war bislang kaum etwas bekannt. In seinem packend geschriebenen Enthüllungsbuch deckt der israelische Geheimdienstexperte Ronen Bergman nun erstmals die ganze Dimension eines Schattenkriegs auf, der seit Jahrzehnten im Geheimen ausgetragen wird. Er beschreibt die Erfolge und Misserfolge der zum Teil unbekannten Attentate, benennt Opfer, Täter und Verantwortliche und fragt, welchen Preis Staat und Gesellschaft in Israel für ihre Sicherheit bezahlen.

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Zum Buch

Mordanschläge, die dem israelischen Geheimdienst Mossad zugeschrieben werden, sorgen immer wieder für Aufsehen. Doch über die Hintergründe dieser Aktionen war bislang kaum etwas bekannt. In seinem packend geschriebenen Enthüllungsbuch deckt der israelische Geheimdienstexperte Ronen Bergman nun erstmals die ganze Dimension eines Schattenkriegs auf, der seit Jahrzehnten im Geheimen ausgetragen wird. Er beschreibt die Erfolge und Misserfolge der zum Teil unbekannten Attentate, benennt Opfer, Täter und Verantwortliche und fragt, welchen Preis Staat und Gesellschaft in Israel für ihre Sicherheit bezahlen.

Zum Autor

Ronen Bergman, geboren 1972, ist Chefkorrespondent für Militär- und Geheimdienstthemen bei der israelischen Tageszeitung Yediot Acharonot. Nach Abschluss seines Jurastudiums an der Universität Haifa arbeitete er zunächst für den israelischen Generalstaatsanwalt und promovierte dann an der Universität Cambridge mit einer Arbeit über den Mossad. Bergman ist einer der führenden Experten für Sicherheitsfragen und Geheimdienste im Nahen Osten, seine Analysen werden u. a. in der New York Times, im SPIEGEL und in der Zeit veröffentlicht. Er ist Autor mehrerer Bücher, für seine publizistische Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem B’nai B’rith’s International Press Award und mit dem Sokolow-Preis, Israels wichtigster Auszeichnung für Journalisten.

RONEN BERGMAN

DER SCHATTENKRIEG

ISRAEL UND DIE GEHEIMEN TÖTUNGSKOMMANDOS DES MOSSAD

Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Jens Hagestedt, Norbert Juraschitz und Heide Lutosch

Deutsche Verlags-Anstalt

Die amerikanische Ausgabe des Buches erschien 2018 unter dem TitelRise and Kill First. The Secret History of Israel’s Targeted Assassinationsbei Random House, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2018 by Ronen BergmanCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenIn Kooperation mit dem SPIEGEL-Verlag, Hamburg,Ericusspitze 1, 20457 HamburgCovergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: © ShutterstockLektorat: Christina Kruschwitz, BerlinSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingGesetzt aus der Berling NovaISBN 978-3-641-09515-4V005
www.dva.de

Für Yana, die genau zur rechten Zeit erschien

»Wenn jemand kommt, dich zu töten, steh auf und töte ihn zuerst.«

BABYLONISCHER TALMUD, TRAKTAT SANHEDRIN, ABSCHNITT 72, VERS 1

Inhalt

Vorbemerkung zu den Quellen

Prolog

1 In Blut und Feuer

2 Eine geheime Welt entsteht

3 Die Agentur, die Treffen mit Gott arrangiert

4 Die gesamte militärische Führung, mit einem einzigen Schlag

5 »Als fiele uns der Himmel auf den Kopf«

6 Eine Reihe von Katastrophen

7 »Der bewaffnete Kampf ist der einzige Weg zur Befreiung Palästinas«

8 Meir Dagan und seine Expertise

9 Die PLO erweitert ihre Aktivitäten ins Ausland

10 »Niemand, den ich getötet habe, ist ein Problem für mich«

11 »Die falsche Identifizierung einer Zielperson ist kein Versagen, sondern ein Fehler«

12 Hybris

13 Der Tod in der Zahnpasta

14 Eine Meute wilder Hunde

15 »Abu Nidal, Abu Shmidal«

16 Schwarze Flagge

17 Ein Putschversuch des Schin Bet

18 Dann gab es einen Funken

19 Intifada

20 Nebukadnezar

21 Ein »grüner Sturm« zieht auf

22 Das Zeitalter der Drohne

23 Mughniyyas Rache

24 Nur ein Schalter: an und aus

25 »Bringt uns den Kopf von Ajasch«

26 »Schlau wie eine Schlange, naiv wie ein kleines Kind«

27 Auf dem Tiefpunkt

28 Totaler Krieg

29 »Mehr Selbstmordbomber als Sprengstoffwesten«

30 »Zielperson ausgeschaltet, Operation gescheitert«

31 Der Aufstand in Einheit 8200

32 Windröschen pflücken

33 Die Radikale Front

34 Maurice töten

35 Eindrucksvoller taktischer Erfolg, katastrophaler strategischer Fehlschlag

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Register

Vorbemerkung zu den Quellen

Die israelische Geheimdienstgemeinde wacht argwöhnisch über ihre Geheimnisse. Die fast vollständige Intransparenz ihres Handelns wird durch einen Komplex von Gesetzen und Verhaltensregeln gesichert, durch strenge Militärzensur, durch Einschüchterung, Befragung und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und ihren Quellen sowie durch die interne Solidarität und Loyalität der Geheimdienstmitarbeiter selbst. Alle Blicke hinter die Kulissen haben daher bis heute bestenfalls Einzelheiten erhascht.

Wie ist es dann möglich, über eine der verschwiegensten Organisationen der Welt ein ganzes Buch zu schreiben?

Bemühungen, den israelischen Verteidigungsapparat zur Kooperation bei den Recherchen für dieses Projekt zu überreden, haben zu nichts geführt.[1] Aufforderungen, die Geheimdienstgemeinde möge dem Gesetz Genüge tun, indem sie ihre historischen Dokumente dem Staatsarchiv übergebe und der Veröffentlichung von 50 oder mehr Jahre alten Materialien zustimme, wurden mit eisernem Schweigen beantwortet. Die Behandlung einer Petition an das Oberste Gericht, die Einhaltung des Gesetzes zu erzwingen,[2] wurde unter Mitwirkung des Gerichts jahrelang torpediert und endete mit – einer Änderung des Gesetzes: Die Geheimhaltungsfrist wurde von 50 auf 70 Jahre verlängert, das heißt auf eine Zeitspanne, die länger ist als die Geschichte des Staates.

Im Übrigen sah der Verteidigungsapparat der Entstehung des Buches nicht tatenlos zu.[3] Schon 2010, zu einem Zeitpunkt, da nicht einmal der Vertrag über das Buch unterzeichnet war, hielt die Caesarea, die Mossad-Abteilung für verdeckte Operationen, eine Sondersitzung ab, um Möglichkeiten zu besprechen, meine Recherchen zu behindern. Alle ehemaligen Mossad-Bediensteten wurden angeschrieben und davor gewarnt, mir Interviews zu geben. Mit den mutmaßlich »problematischsten« ehemaligen Mitarbeitern wurden Einzelgespräche geführt. Ende 2011 bat der Generalstabschef der israelischen Armee, Generalleutnant Gabi Aschkenasi, den Schin Bet, aggressive Schritte gegen mich zu unternehmen, da ich »schwere Spionage« begangen hätte, was daraus hervorgehe, dass ich »als geheim eingestufte Dokumente« in meinem Besitz hätte und von »geheimem Material« Gebrauch machte, um Aschkenasi »persönlich in Verruf zu bringen«. Seither haben mehrere Organisationen versucht, ein Publikationsverbot für das Buch oder für große Teile desselben zu erwirken.

Wenn israelische Medien geheime Aktionen, vor allem gezielte Tötungen, erwähnen, die einem israelischen Geheimdienst zugeschrieben werden, müssen sie, einer Auflage des Militärzensors gehorchend, durch den Zusatz »ausländischen Publikationen zufolge« kenntlich machen, dass die Erwähnung nicht auf offizieller Anerkennung von Israels Verantwortlichkeit basiert. Insofern muss dieses Buch, dessen Inhalte von israelischer Seite keinerlei offizielle Bestätigung erfahren haben, als »ausländische Publikation« gelten.

Keines der 1000 Interviews, auf denen dieses Buch basiert[4] – Interviews mit einem breiten Spektrum von Quellen, von Persönlichkeiten der politischen Führung über Chefs von Geheimdiensten bis hin zu Attentätern –, wurde von Israels Verteidigungsapparat genehmigt. Die meisten Quellen werden durch ihre Namen kenntlich gemacht. Andere fürchteten verständlicherweise, identifiziert zu werden, und werden daher unter Angabe ihrer Spitznamen oder der Initialen ihrer bürgerlichen Namen zitiert; außerdem erwähne ich nur jene Charakteristika, die die Identitäten der Personen nicht verraten.

Zudem habe ich von den Tausenden Dokumenten Gebrauch gemacht, die ich von diesen Quellen erhalten habe und die in diesem Buch erstmals für die Öffentlichkeit ausgewertet wurden. Meine Quellen waren nicht befugt, die Dokumente von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen, geschweige denn, sie an mich weiterzugeben. Von einer autorisierten Geschichte der israelischen Geheimdienste ist dieses Buch also denkbar weit entfernt.

Aber warum haben meine Quellen mit mir gesprochen und mir diese Dokumente zur Verfügung gestellt? Jeder meiner Gesprächspartner hatte seine eigenen Motive, und manchmal war die Hintergrundgeschichte kaum weniger interessant als der Inhalt des Interviews. Es ist klar, dass einige Politiker und Geheimdienstleute – Angehörige von Berufsgruppen, die sich bestens auf Manipulation und Täuschung verstehen – den Versuch machten, mich als Übermittler ihrer Version der Ereignisse zu benutzen oder die Geschichte vorteilhaft für sie selbst darzustellen. Ich habe mich bemüht, solche Versuche durch Abgleich mit möglichst vielen schriftlichen und mündlichen Quellen zu durchkreuzen.

Ich hatte aber den Eindruck, dass das Motiv oft ein anderes war – eines, das viel mit einem für Israel typischen Widerspruch zu tun hat: Einerseits ist nahezu alles in diesem Land, was mit den Geheimdiensten und der nationalen Sicherheit zu tun hat, als »streng geheim« klassifiziert. Andererseits möchte jeder über das sprechen, was er getan hat. Taten, zu denen sich Menschen in anderen Ländern aus Scham nicht bekennen würden, sind für Israelis Grund, stolz zu sein, weil sie kollektiv als notwendig für die nationale Sicherheit betrachtet werden, als notwendig für den Schutz des bedrohten Lebens israelischer Bürger, ja für die Erhaltung der Existenz des bedrängten Staates.

Nach einiger Zeit gelang es dem Mossad, die Verbindung zu einigen meiner Quellen zu kappen (in den meisten Fällen allerdings erst, nachdem sie mit mir gesprochen hatten). Weit mehr Quellen sind gestorben, seit ich mich mit ihnen getroffen habe, die meisten von ihnen eines natürlichen Todes. Die Darstellungen aus erster Hand, die diese Männer und Frauen für das vorliegende Buch gegeben haben – Männer und Frauen, die Zeugen waren von bedeutsamen historischen Ereignissen und diese mitbestimmt haben –, sind die einzigen, die außerhalb der Geheimarchive des Verteidigungsapparats existieren. Zum Teil sind sie die einzigen, die überhaupt existieren.

Prolog

Meir Dagan, Chef des israelischen Mossad, legendärer Spion und Attentäter, betrat den Raum.

Er ging gestützt auf seinen Gehstock, den er seit den 1970er-Jahren gebrauchte, als er noch ein junger Sondereinheitsoffizier war und im Gazastreifen gegen palästinensische Terroristen kämpfte. Durch eine ihrer Landminen war er damals verwundet worden. Dagan, der über die Macht von Mythen und Symbolen so einiges wusste, stritt ganz bewusst nicht die Gerüchte ab, dass sich in seinem Stock eine Klinge verbarg, die er durch einen Knopfdruck ziehen könnte.

Dagan war ein kleiner Mann und so dunkelhäutig, dass die Menschen stets überrascht waren, wenn sie erfuhren, dass er polnischer Herkunft war. Vor sich her schob er einen gewaltigen Schmerbauch. Zu dieser Gelegenheit trug er ein einfaches, offenes Hemd, leichte schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Er wirkte, als hätte er sich keine großen Gedanken um sein Äußeres gemacht. Er strahlte ein direktes, prägnantes Selbstvertrauen aus und besaß ein ruhiges, bisweilen bedrohlich wirkendes Charisma.

Das Konferenzzimmer, das Dagan an jenem Nachmittag des 8. Januar 2011 betrat, befand sich in der Mossad-Akademie nördlich von Tel Aviv. Zum ersten Mal überhaupt traf sich der Chef der Spionagebehörde im Herzen einer von Israels bestbewachten und geheimsten Einrichtungen mit Journalisten.

Dagan hatte für die Medien wenig übrig. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie ein unersättliches Monster sind«, sagte er mir später. »Also gibt es keinen Grund, eine Verbindung zu ihnen zu unterhalten.«[1] Trotzdem hatten ich und einige weitere Korrespondenten drei Tage vor dem Treffen eine vertrauliche Einladung erhalten. Ich war überrascht. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte ich den Mossad und insbesondere Dagan scharf kritisiert, was diesen schwer erzürnt hatte.[2]

Der Mossad tat, was er konnte, um das Treffen möglichst abenteuerlich wirken zu lassen. Wir waren angewiesen, zum Parkplatz des Cinema City zu kommen, eines nicht weit vom Mossad-Hauptquartier gelegenen Kino-Komplexes, und außer Notizblöcken und Schreibutensilien alles im Auto zu lassen. »Man wird Sie gründlich durchsuchen, und wir wollen jegliche Unannehmlichkeiten vermeiden«, sagte uns ein Begleiter. Von dort fuhr man uns in einem Bus mit dunkel getönten Fenstern zum Komplex des Mossad-Hauptquartiers. Wir passierten eine Reihe elektronisch gesicherter Tore und elektrischer Schilder, die die Besucher informierten, was im Innern der Eingrenzung gestattet und was verboten war. Dann wurden wir mit Metalldetektoren gründlich gefilzt, um sicherzugehen, dass wir keine Audio- oder Video-Aufzeichnungsgeräte mitgebracht hatten. Wir betraten das Konferenzzimmer. Ein paar Minuten später kam Dagan, ging umher und schüttelte Hände. Als er zu mir gelangte, drückte er einen Augenblick lang meine Hand und sagte mit einem Lächeln: »Sie sind mir ja so ein Bandit!«

Dann setzte er sich. Zu seinen Seiten saßen der Sprecher des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und die Chefzensorin des Militärs, eine Brigadegeneralin. (Der Mossad ist eine dem Ministerpräsidenten unterstellte Einheit; jede Berichterstattung über seine Aktivitäten unterliegt nach Landesgesetz der Zensur.) Sowohl der Sprecher als auch die Generalin glaubten, Dagan hätte das Treffen nur einberufen, um sich von den Personen zu verabschieden, die seine Amtszeit begleitet hatten, und dass er nichts Substanzielles sagen würde.

Sie täuschten sich. Die Überraschung stand dem Sprecher des Ministerpräsidenten ins Gesicht geschrieben, dessen Augen immer größer wurden, während Dagan redete.

»Eine Rückenverletzung hat ihre Vorteile«, begann Dagan seine Ansprache. »Man bekommt ärztlich attestiert, dass man nicht wirbellos ist.« Rasch erkannten wir, dass dies nicht nur bloßer Wortwitz war, denn Dagan setzte zu einem vehementen Angriff auf den israelischen Ministerpräsidenten an. Benjamin Netanjahu, so behauptete Dagan, verhalte sich unverantwortlich und manövriere das Land aus egoistischen Motiven in eine Katastrophe hinein. »Dass jemand gewählt wird, bedeutet nicht, dass er auch schlau ist«, lautete eine seiner Spötteleien.

Es war der letzte Tag von Dagans Amtszeit als Direktor des Mossad. Netanjahu wies ihm die Tür, und Dagan, dessen Lebenstraum es gewesen war, die Position des obersten Spions Israels zu bekleiden, wollte nicht länger tatenlos zusehen. Die akute Vertrauenskrise zwischen den beiden Männern war aus zwei Fragen heraus entstanden, und beide waren fest verwoben mit Dagans Lieblingswaffe: den Tötungsmissionen.

Acht Jahre zuvor hatte Ariel Scharon Dagan zum Mossad-Chef ernannt und ihn mit der Aufgabe betraut, das iranische Atomwaffenprojekt aufzuhalten, das beide Männer als existenzielle Bedrohung für Israel betrachteten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, agierte Dagan auf unterschiedliche Weise. Die schwierigste, aber auch wirkungsvollste Methode war seiner Meinung nach, die wichtigsten iranischen Nuklear- und Raketenforscher ausfindig zu machen und zu töten. Der Mossad bestimmte 15 solcher Zielpersonen, von denen sechs eliminiert wurden, meist auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit. Dies erfolgte durch Bomben mit Kurzzeitzündern, die Motorradfahrer an ihren Autos anbrachten. Außerdem wurde ein General der Iranischen Revolutionsgarden, dem das Raketenprojekt unterstand, zusammen mit 17 seiner Männer in seinem Hauptquartier in die Luft gesprengt.

All diese Operationen waren erfolgreich, doch Netanjahu und sein Verteidigungsminister Ehud Barak fanden, dass ihr praktischer Nutzen schwand. Sie beschlossen, dass verdeckte Maßnahmen das iranische Nuklearprojekt nicht mehr effektiv verzögern könnten und nur ein massives Flächenbombardement der iranischen Nukleareinrichtungen die Entwicklung eigener Atomwaffen erfolgreich aufhalten könne.

Dagan sprach sich entschieden gegen diesen Gedanken aus. Tatsächlich stand er gegen alles, woran er glaubte: dass offene Kriegführung nur in Betracht komme, wenn »das Schwert an unserem Hals ist«, oder als letztes Mittel in Situationen, in denen keine Wahl blieb. Alles andere könnte und sollte durch verdeckte Maßnahmen erledigt werden.

»Attentate haben eine Auswirkung auf die Moral«, sagte er, »ebenso wie einen praktischen Effekt. Ich glaube nicht, dass es viele Männer gab, die Napoleon hätten ersetzen können, oder einen Präsidenten wie Roosevelt oder einen Premierminister wie Churchill. Der persönliche Aspekt spielt eine große Rolle. Es stimmt, dass jeder ersetzbar ist, aber es gibt einen Unterschied zwischen einem Ersatzmann mit Mumm und irgendeiner farblosen Figur.«

Obendrein war die Anwendung von Attentaten aus Dagans Sicht »weitaus moralischer« als eine uneingeschränkte Kriegführung. Die Neutralisierung von ein paar wichtigen Personen genügt, um letztere Option unnötig zu machen, und rettet unter Soldaten und Zivilisten beider Seiten unzählige Menschenleben. Ein groß angelegter Angriff auf den Iran würde zu einem schweren Konflikt im gesamten Nahen Osten führen, und selbst dann würden die iranischen Einrichtungen wahrscheinlich nicht ausreichend beschädigt.

Würde Israel einen Krieg gegen den Iran beginnen, so Dagans Meinung, stünde damit außerdem seine gesamte Karriere unter Anklage. Die Geschichtsbücher würden zeigen, dass er die ihm von Scharon übertragene Aufgabe nicht erfüllt hatte: dem iranischen Atomprogramm mit verdeckten Mitteln ein Ende zu setzen und so auf einen offenen Angriff zu verzichten.

Dagans Widerstand und ähnlich starker Druck von Seiten der obersten Militär- und Geheimdienstchefs bewirkten, dass der Angriff auf den Iran immer wieder verschoben wurde. Dagan setzte sogar den CIA-Direktor Leon Panetta über den israelischen Plan in Kenntnis (der Ministerpräsident deutete an, dass er dies ohne Erlaubnis tat), und bald mahnte auch Präsident Obama seinen Amtskollegen Netanjahu, nicht anzugreifen.

Die Spannung zwischen den beiden Männern nahm 2010 sogar noch zu. Dagan war nun sieben Jahre im Amt. Er hatte ein Killerkommando aus 27 Mossad-Agenten nach Dubai geschickt, um dort einen hohen Vertreter der palästinensischen Terrororganisation Hamas zu eliminieren. Sie erledigten den Job: In seinem Hotelzimmer spritzten ihm die Attentäter ein lähmendes Mittel und machten sich davon, bevor die Leiche entdeckt wurde. Kurz nach ihrer Abreise jedoch bekam die ganze Welt Bildmaterial mit ihren Gesichtern und eine lückenlose Aufzeichnung ihrer Bewegungen zu sehen. Der Grund dafür war eine ganze Reihe schwerer Schnitzer: Man hatte die unzähligen Überwachungskameras in Dubai außer Acht gelassen und obendrein dieselben Pässe verwendet, mit denen die Agenten vorher schon einmal nach Dubai eingereist waren, um die Zielperson zu verfolgen. Zu guter Letzt wurde noch eine Telefonverbindung benutzt, die von der örtlichen Polizei problemlos geknackt werden konnte. Die Erkenntnis, dass es sich um eine Operation des Mossad handelte, fügte der Behörde ernsten operativen Schaden zu und brachte daneben den Staat Israel in eine höchst peinliche Lage, da dieser erneut dabei erwischt worden war, seine Agenten mit falschen Pässen freundlich gesinnter westlicher Länder ausgestattet zu haben. »Aber Sie haben mir doch gesagt, das Ganze wäre ein Kinderspiel, und das Risiko, dass etwas schiefgehe, wäre praktisch gleich null«, schimpfte Netanjahu mit Dagan und befahl ihm, viele der anstehenden Attentatspläne und andere Operationen bis auf Weiteres auf Eis zu legen.[3]

Die Konfrontation zwischen Dagan und Netanjahu spitzte sich zu, bis Netanjahu – so seine eigene Version – beschloss, Dagans Amtszeit nicht zu verlängern. Dagan hingegen formulierte es so: »Ich konnte ihn einfach nicht mehr ertragen, also beschloss ich, aus dem Dienst auszuscheiden.«

Bei jenem Gespräch in der Mossad-Akademie und bei einigen späteren Interviews für dieses Buch legte Dagan die unerschütterliche Überzeugung an den Tag, dass es dem Mossad unter seiner Führung gelungen wäre, das iranische Atomprogramm durch Attentate und andere gezielte Maßnahmen zu stoppen – zum Beispiel durch eine Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, um die Iraner an der Einfuhr wichtiger Elemente für ihr Atomprojekt zu hindern, die sie nicht selbst herstellen konnten. »Wenn es uns gelingt, zu verhindern, dass die Iraner bestimmte Komponenten bekommen, wäre dies ein ernster Schlag gegen ihr Projekt. Ein Auto besitzt im Schnitt 25 000 Teile. Stellen Sie sich vor, dass 100 davon fehlten. Es wäre sehr schwierig, es zum Fahren zu bringen.«

»Andererseits«, fuhr Dagan mit einem Lächeln fort und kehrte zu seinem bevorzugten Modus operandi zurück, »ist es bisweilen am wirkungsvollsten, den Fahrer zu töten, und fertig.«

Von allen Mitteln, derer sich eine Demokratie zum Schutz ihrer Sicherheit bedient, ist keines belasteter und kontroverser als die »Tötung des Fahrers« – ein Mordanschlag. Manche wählen den euphemistischen Begriff der »Liquidierung«. Die amerikanischen Geheimdienste sprechen aus rechtlichen Gründen von sogenannten gezielten Tötungen. In der Praxis laufen alle Begriffe auf dasselbe hinaus: die Tötung eines bestimmten Individuums zur Erreichung eines bestimmten Zieles – um das Leben von Menschen zu retten, die die Zielperson zu töten beabsichtigt, oder einen gefährlichen Akt zu verhindern, den sie durchführen will, und manchmal auch, um einen Führer zu beseitigen und so den Lauf der Geschichte zu ändern.

Bedient sich ein Staat eines solchen Mittels, werden zwei sehr schwierige Dilemmas berührt. Erstens: Ist die Maßnahme überhaupt wirkungsvoll? Wird die Welt durch die Eliminierung eines Individuums oder einer bestimmten Anzahl von Individuen zu einem sichereren Ort? Zweitens: Ist das Ganze moralisch und rechtlich vertretbar? Ist es ethisch und juristisch legitim für ein Land, zum Schutz seiner eigenen Bürger das nach sämtlichen ethischen Kodizes oder Gesetzen schwerwiegendste Verbrechen zu begehen – die vorsätzliche Vernichtung menschlichen Lebens?

Dieses Buch befasst sich hauptsächlich mit den Attentaten und gezielten Tötungen, die der Mossad und andere Arme der israelischen Regierung sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten durchführten, sowie – in den ersten Kapiteln – mit den Aktivitäten der Untergrundmilizen der vorstaatlichen Ära, Organisationen, aus denen nach der Staatsgründung die Armee und die Geheimdienste hervorgingen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Israel mehr Menschen liquidieren lassen als jedes andere Land der westlichen Welt. Unzählige Male überlegten die Staatslenker, wie die nationale Sicherheit am besten zu verteidigen sei, und entschieden sich unter Abwägung sämtlicher Optionen immer wieder für Geheimoperationen, wobei Attentate das Mittel der Wahl waren. Dies, so glaubten sie, würde komplizierte Probleme lösen, denen sich der Staat gegenübersah, und bisweilen sogar den Lauf der Geschichte verändern. In vielen Fällen befand die israelische Führung sogar, dass es zur Tötung einer bestimmten Zielperson moralisch und legal sei, das Leben unschuldiger Zivilisten zu gefährden, die zufällig in die Schusslinie geraten könnten. Solchen Menschen Schaden zuzufügen gilt dabei als notwendiges Übel.

Die Zahlen sprechen für sich. Bis zum Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im September 2000, als Israel auf Selbstmordanschläge erstmals mit dem Einsatz bewaffneter Drohnen zur Ausführung von Tötungen reagierte, hatte der Staat etwa 500 gezielte Tötungsmissionen angeordnet. Bei diesen waren mindestens 1000 Menschen getötet worden, sowohl Zivilisten als auch Gegner.[4] Während der zweiten Intifada führte Israel weitere 1000 Operationen durch, von denen 168 erfolgreich waren. Seither – und bis zur Niederschrift dieses Buches – hat Israel rund 800 gezielte Tötungen ausgeführt, die fast gänzlich Teil der Kriegführung gegen die Hamas im Gazastreifen in den Jahren 2008, 2012 und 2014 waren, oder Mossad-Operationen im gesamten Nahen Osten gegen palästinensische, syrische und iranische Zielobjekte.[5] Zum Vergleich: Von den Vereinigten Staaten wurden während der Präsidentschaft George W. Bushs einer Schätzung zufolge 48 gezielte Tötungen durchgeführt; unter Präsident Obama gab es 353 solcher Anschläge.[6]

Israels Rückgriff auf das Attentat als militärisches Mittel ergab sich nicht durch Zufall, sondern wurzelt vielmehr in den revolutionären und aktivistischen Anfängen der Zionistenbewegung, im Trauma des Holocausts und in der Ansicht der israelischen Führung und Bürger, dass dem Land und seinem Volk ständig die Vernichtung drohte und, wie im Holocaust, niemand zu Hilfe kommen werde, wenn dieser Fall eintritt.

Aufgrund der geringen Staatsfläche Israels, der Versuche arabischer Staaten, es noch vor der Staatsgründung zu vernichten, ihrer fortdauernden Drohungen, dies zu tun, und der ständigen Gefahr durch den arabischen Terrorismus brachte das Land ein höchst effektives Militär und die wohl besten Geheimdienste der Welt hervor. Diese wiederum haben die robusteste und rationellste Attentatsmaschinerie der Geschichte entwickelt.

Auf den nachfolgenden Seiten werden die Geheimnisse dieser Maschinerie – einer Verbindung von Guerilla-Kriegführung mit der militärischen Macht eines technologischen Kraftwerks – detailliert dargestellt: Agenten, Führungsfiguren, Methoden, Ziele, Erfolge, Fehlschläge und moralische Fragen. Dieses Buch zeigt auf, wie sich zwei separate Rechtssysteme in Israel entwickelten – eines für gewöhnliche Bürger und eines für Angehörige von Geheimdiensten und militärischer Führung. Letzteres System hat ohne parlamentarische oder öffentliche Beteiligung, nur mit einem Nicken oder Zwinkern, hoch problematische Tötungsmissionen gestattet, bei denen viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren.

Andererseits waren es gerade diese als Waffe eingesetzten, auf einer »schlicht hervorragenden« Geheimdiensttätigkeit (so der frühere Chef von NSA und CIA, General Michael Hayden) basierenden Attentate, die Israels Krieg gegen den Terror zu einem der wirksamsten machten, den je ein westliches Land geführt hat. Oft wurde Israel durch ein Attentat vor einer schweren Krise bewahrt.

Der Mossad und die anderen israelischen Geheimdienste haben Individuen beseitigt, die als direkte Bedrohung der nationalen Sicherheit erkannt wurden. Ihre Tötung beinhaltete zudem eine klare Botschaft: Wenn du ein Feind Israels bist, finden und töten wir dich, egal, wo du auch bist. Diese Botschaft wurde auf der ganzen Welt vernommen. Gelegentliche Patzer haben den Ruf des Mossad als aggressive und gnadenlose Organisation nur verstärkt – nicht das Schlechteste, wenn die Abschreckung ein ebenso wichtiges Ziel ist wie die Verhinderung spezifischer feindseliger Akte.

Die Attentate wurden nicht sämtlich von kleinen, geschlossenen Gruppen ausgeführt. Je komplexer sie wurden, desto mehr Personen waren daran beteiligt, bisweilen Hunderte, die Mehrheit davon unter 25 Jahre alt. Manchmal treffen sich diese jungen Menschen und ihre Kommandeure mit dem Ministerpräsidenten – dem Einzigen, der grünes Licht für eine Tötungsmission geben kann –, um eine jeweilige Operation zu erklären und endgültige Zustimmung einzuholen. Solche Foren, in denen die meisten Mitwirkenden, die sich für den Tod eines Menschen aussprechen, unter 30 Jahre alt sind, gibt es vermutlich nur in Israel. Einige der rangniederen Offiziere, die an derartigen Treffen teilgenommen haben, sind über die Jahre zu nationalen Führungsfiguren aufgestiegen und manche sogar selbst Ministerpräsident geworden. Wie hat sie diese Zeit geprägt, als sie noch an Tötungsoperationen beteiligt waren?

Die Vereinigten Staaten haben sich die in Israel entwickelten Attentatstechniken und Methoden der Informationsbeschaffung zum Vorbild genommen. Nach dem 11. September und nachdem Präsident George W. Bush beschlossen hatte, mit einer Reihe gezielter Tötungen gegen al-Qaida vorzugehen, übernahmen die USA einige dieser Methoden für ihre eigenen Geheimdienste und Terrorabwehrsysteme.

Die Kommando- und Kontrollsysteme, die Einsatzzentralen, die Methoden der Informationsbeschaffung und die Technologie der unbemannten Flugkörper (oder Drohnen), die wir heutzutage bei Amerika und seinen Verbündeten sehen, wurden zum großen Teil in Israel entwickelt.

Wenn Amerika heute dieselbe Art außergerichtlicher Tötungen, die Israel seit Jahrzehnten anwendet, tagtäglich als Waffe gegen seine Feinde einsetzt, ist es angemessen, nicht nur die beeindruckenden operativen Ressourcen zu bewundern, die Israel geschaffen hat, sondern sich auch mit dem hohen moralischen Preis zu befassen, der für den Gebrauch solcher Macht bezahlt wurde und immer noch bezahlt wird.

Ronen Bergman

Tel Aviv

1 In Blut und Feuer

Am 29. September 1944 verbarg sich David Schomron im Dunkel der St. George Street, nicht weit entfernt von der Rumänischen Kirche in Jerusalem. Ein Kirchengebäude wurde von den britischen Machthabern in Palästina als Offiziersunterkunft genutzt, und Schomron wartete darauf, dass einer dieser Offiziere – ein Mann namens Tom Wilkin – die Unterkunft verließ.

Wilkin war Kommandeur der jüdischen Einheit der CID (Criminal Investigation Department,Kriminalpolizei) im britischen Mandatsgebiet. Er machte seine Arbeit ausgezeichnet, insbesondere wenn es darum ging, den jüdischen Untergrund, der regelmäßig für Unruhe sorgte, zu unterwandern und zu stören.[1]

Wilkin war aggressiv, gleichzeitig aber außerordentlich geduldig und berechnend, sprach fließend Hebräisch und hatte sich in 13 Dienstjahren in Palästina ein weitreichendes Netzwerk von Kontaktmännern aufgebaut. Dank der Informationen, die diese lieferten, wurden Untergrundkämpfer verhaftet, ihre Waffenlager beschlagnahmt und geplante Aktionen vereitelt, die auf einen britischen Abzug aus Palästina gerichtet waren.[2]

Das war der Grund, warum David Schomron Tom Wilkin umbringen wollte.

Schomron und sein Partner an jenem Abend, Jaakow Banai (Deckname Mazal, »Glück«), waren Agenten der Lechi, der radikalsten aller zionistischen Untergrundbewegungen, die Anfang der 1940er-Jahre gegen die Briten kämpften. Lechi war zwar das Akronym für »Kämpfer für die Freiheit Israels« auf Hebräisch, doch betrachteten die Briten die Gruppe als Terrororganisation und bezeichneten sie abfällig als »Stern-Bande«, nach ihrem Gründer, dem romantischen Ultranationalisten Avraham Stern. Stern und seine kleine Gefolgschaft verursachten mit Attentaten und Bombenanschlägen ein gezieltes Chaos – eine Kampagne »persönlichen Terrors«, wie der Einsatzleiter der Lechi (und spätere israelische Ministerpräsident), Jitzchak Schamir, es nannte.[3]

Wilkin wusste, dass man ihn im Visier hatte. Fast drei Jahre zuvor hatte die Lechi schon einmal versucht, ihn und seinen Chef Geoffrey Morton umzubringen. Es war die erste, unbeholfene Aktion der Gruppe. Am 20. Januar 1942 brachten Attentäter auf dem Dach und in den Räumlichkeiten des Gebäudes Yael Street Nr. 8 in Tel Aviv Bomben an. Doch statt der beiden Personen, auf die sie es abgesehen hatten, töteten sie drei Polizeibeamte – zwei Juden und einen Engländer, die eintrafen, bevor Wilkin und Morton die Ladungen auslösen konnten. Wenig später floh Morton aus Palästina, nachdem er bei einem weiteren Angriff auf sein Leben verletzt worden war – diesmal als Racheakt dafür, dass er Stern erschossen hatte.[4]

Solche Einzelheiten, das Hin und Her, wer wen in welcher Reihenfolge getötet hatte, kümmerten Schomron nicht. Die Briten hatten das Land besetzt, das die Zionisten als das rechtmäßig ihre betrachteten, und das allein zählte. Schamir hatte gegen Wilkin öffentlich die Todesstrafe verhängt.[5]

Für Schomron und seine Kameraden war Wilkin kein Mensch, sondern vielmehr ein Ziel, prominent und daher wertvoll. »Wir waren zu beschäftigt und hungrig, um uns Gedanken über die Briten und ihre Familien zu machen«, sagte Schomron.[6]

Als die Attentäter herausfanden, dass Wilkin im Nebengebäude der Rumänischen Kirche lebte, machten sie sich zu ihrer Mission auf. Schomron und Banai hatten Revolver und Handgranaten in ihren Taschen. In der Nähe befanden sich zusätzliche Lechi-Mitglieder, elegant mit Anzug und Hut bekleidet, damit sie wie Engländer aussahen.

Wilkin verließ die Offiziersunterkunft in der Kirche und machte sich auf den Weg zur Einrichtung der Kriminalpolizei im Russenbau, wo der Untergrundtätigkeit verdächtige Personen festgehalten und verhört wurden. Er war wachsam wie immer und sah sich unterwegs ständig um. Dabei behielt er eine Hand die ganze Zeit über in der Tasche. Als er die Ecke St. George Street und Mea Schearim Street erreichte, erhob sich ein Jugendlicher, der vor einem örtlichen Gemüseladen saß, und ließ seinen Hut fallen. Das war das Signal. Die beiden Attentäter gingen auf Wilkin zu und identifizierten ihn anhand der Fotos, die sie sich angesehen hatten. Schomron und Banai ließen ihn passieren und hielten mit schweißnassen Händen ihre Revolver umklammert.[7]

Dann wandten sie sich um und zogen die Waffen.

»Bevor wir es taten, sagte Banai: ›Lass mich als Erster schießen‹«, erinnerte sich Schomron. »Doch als wir ihn sahen, konnte ich mich nicht zurückhalten, glaube ich. Ich schoss als Erster.«

Insgesamt feuerten Banai und Schomron 14 Schüsse ab. Elf dieser Kugeln trafen Wilkin. »Es gelang ihm, sich umzudrehen und seine Pistole zu ziehen«, sagte Schomron. »Doch dann fiel er mit dem Gesicht voran zu Boden. Aus seiner Stirn ergoss sich ein Strahl Blut wie aus einer Quelle. Es war kein besonders schöner Anblick.«

Eilig kehrten Schomron und Banai ins Halbdunkel zurück und flüchteten mit einem Taxi, in dem ein anderes Lechi-Mitglied bereits auf sie wartete.

»Das Einzige, was ich bereute, war, dass wir vergaßen, seine Aktentasche mitzunehmen, in der er seine ganzen Dokumente hatte«, sagte Schomron. Abgesehen davon »empfand ich rein gar nichts, nicht einmal den Anflug eines Schuldgefühls. Wir glaubten, je mehr Särge nach London geschickt würden, desto näher wäre der Tag der Befreiung.«[8]

Die Vorstellung, dass die Rückkehr des Volkes Israel in das Land Israel nur durch Gewalt erreicht werden könne, war freilich keine Erfindung von Stern und seinen Kameraden von der Lechi.

Diese Strategie geht auf acht Männer zurück, die am 29. September 1907 in einer stickigen Einzimmerwohnung mit Blick über einen Orangenhain in Jaffa zusammenkamen. Es war exakt 37 Jahre, bevor das Blut aus Wilkins Kopf strömte. Damals war Palästina noch ein Teil des Osmanischen Reiches. Mieter des Apartments war Jitzchak Ben Zwi, ein junger Russe, der früher im Jahr in das osmanische Palästina emigriert war. Wie die anderen, die sich an jenem Abend in seiner Wohnung trafen – sämtlich Einwanderer aus dem Russischen Reich, die auf einer Strohmatte auf dem Fußboden des von Kerzen erhellten Zimmers saßen –, war auch er ein bekennender Zionist, wenngleich er einer Splittergruppe angehörte, die einst die Bewegung zu entzweien gedroht hatte.[9]

Der Zionismus als politische Ideologie war 1896 aufgekommen, als der jüdische Wiener Journalist Theodor Herzl Der Judenstaat veröffentlichte. Das Werk war unter dem Eindruck seiner Berichterstattung über den Prozess von Alfred Dreyfus entstanden, eines in Paris zu Unrecht des Verrats bezichtigten und verurteilten jüdischen Armeeoffiziers.

In seinem Buch argumentierte Herzl, der Antisemitismus sei in der europäischen Kultur so fest verwurzelt, dass das jüdische Volk wahre Freiheit und Sicherheit nur in einem eigenen Nationalstaat erlangen könne. Die jüdische Elite Westeuropas, der es gelungen war, sich eine bequeme Existenz einzurichten, lehnte Herzls Ideen zum großen Teil ab. Bei den armen und zur Arbeiterklasse gehörenden Juden Osteuropas hingegen, die unter regelmäßigen Pogromen und ständiger Unterdrückung litten, fielen seine Gedanken auf fruchtbaren Boden. Manche reagierten damit, dass sie sich linken Aufständen anschlossen.

Herzl selbst betrachtete das jüdische Stammland Palästina zwar als ideales Gebiet für einen künftigen jüdischen Staat, betonte dabei aber, dass jedwede Ansiedlung dort geregelt und behutsam vonstattengehen müsse, über offizielle diplomatische Kanäle und mit internationaler Duldung, sollte ein jüdischer Staat denn eine Überlebenschance in Frieden haben. Herzls Weltsicht wurde als politischer Zionismus bekannt.

Ben Zwi und seine sieben Kameraden waren, wie auch die meisten anderen russischen Juden, praktische Zionisten. Anstatt darauf zu warten, dass ihnen der Rest der Welt eine Heimat zugestand, glaubten sie daran, selbst eine zu schaffen – indem sie nach Palästina gingen, das Land bestellten und die Wüste zum Erblühen brachten. Sie wollten nehmen, was ihnen nach eigener Überzeugung zustand, und verteidigen, was sie genommen hatten.[10]

Dies brachte die praktischen Zionisten in direkten Konflikt mit den meisten Juden, die bereits in Palästina lebten. Als winzige Minderheit in einem arabischen Land – viele waren Krämer, Religionsgelehrte und Beamte des Osmanischen Reiches – zogen sie es vor, nicht aufzufallen. Durch Unterwürfigkeit, Kompromisse und Bestechung war es diesen eingesessenen palästinensischen Juden gelungen, sich ein gewisses Maß an Frieden und Sicherheit zu erkaufen.

Ben Zwi und die anderen Neuankömmlinge waren über die von ihren Landsleuten hingenommenen Bedingungen jedoch entsetzt. Viele lebten in bitterer Armut und besaßen keinerlei Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, wodurch sie auf Gedeih und Verderb von der arabischen Mehrheit und den führenden Beamten des korrupten Osmanischen Reiches abhängig waren. Arabische Mobs griffen jüdische Siedlungen an und plünderten sie, meist ohne Konsequenzen. Schlimmer noch fanden Ben Zwi und die anderen, dass sich ebendiese Siedlungen unter den Schutz arabischer Bewacher gestellt hatten – die ihrerseits bisweilen mit dem angreifenden Pöbel zusammenarbeiteten.[11]

Diese Situation hielten Ben Zwi und seine Freunde für unhaltbar und unerträglich. Einige waren ehemalige Mitglieder linksrevolutionärer russischer Bewegungen in der Folge von Narodnaja Wolja (Wille oder Freiheit des Volkes), einer aggressiven antizaristischen Guerillabewegung, die sich terroristischer Taktiken bediente und auch Attentate verübte.[12]

Enttäuscht über die fehlgeschlagene Russische Revolution von 1905, die am Ende lediglich minimale Verfassungsreformen bewirkt hatte, wanderten manche dieser sozialistischen Revolutionäre, Sozialdemokraten und Liberalen ins osmanische Palästina aus, um einen jüdischen Staat wiederzuerrichten.

Allesamt waren sie bettelarm und konnten sich kaum über Wasser halten. Mit Unterricht und Schufterei auf Feldern oder in Orangenhainen verdienten sie nur das Nötigste. Nicht selten litten sie Hunger. Doch sie waren stolze Zionisten. Wenn sie eine Nation gründen wollten, mussten sie sich zuerst selbst verteidigen. Also stahlen sie sich allein und zu zweien durch die Straßen Jaffas, um zu dem Geheimtreffen in Ben Zwis Wohnung zu gelangen. Diese acht Personen bildeten an jenem Abend die erste hebräische Kampfeinheit der Moderne. Sie erklärten, dass sich künftig alles vom weltweit verbreiteten Bild des schwachen, verfolgten Juden unterscheiden solle. In Palästina würden Juden nur von Juden verteidigt.[13]

Sie gaben ihrer Flüchtlingsarmee den Namen Bar Giora, nach einem Führer des großen Jüdischen Aufstands gegen das Römische Reich im 1. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Auf ihrem Banner zollten sie dieser antiken Rebellion Tribut und sagten ihre eigene Zukunft voraus. »In Blut und Feuer fiel Judäa«, hieß es dort. »In Blut und Feuer wird Judäa neu erstehen.«

Judäa sollte tatsächlich wiedererstehen und Ben Zwi eines Tages der zweite Präsident der jüdischen Nation werden. Zunächst aber sollte es viel Feuer und viel Blut geben.

Die Bar Giora war anfangs keine Volksbewegung. Doch jedes Jahr trafen aus Russland und Osteuropa mehr Juden ein (35 000 allein zwischen 1905 und 1914), die dieselbe entschlossene Philosophie des praktischen Zionismus mitbrachten.

Da immer mehr gleichgesinnte Juden in den Jischuw strömten, wie man die jüdische Gemeinde in Palästina nannte, wurde aus der Bar Giora heraus 1909 die größere und aggressivere Haschomer (hebräisch für »der Wächter«) gegründet. Im Jahre 1912 schützte die Haschomer bereits 14 Siedlungen. Daneben entwickelte die Gruppe heimlich aber auch offensive Fähigkeiten und bereitete sich auf den aus praktisch-zionistischer Sicht unvermeidlichen Krieg um die endgültige Herrschaft in Palästina vor. Die Haschomer betrachtete sich daher als Keimzelle einer künftigen jüdischen Armee und eines jüdischen Geheimdienstes.

Berittene Bürgerwehren der Haschomer überfielen einige arabische Siedlungen, um dort lebende Einwohner zu bestrafen, die Juden etwas angetan hatten. Manchmal schlugen sie diese nur zusammen, manchmal kam es zu Hinrichtungen. In einem Fall wurde bei einer geheimen Versammlung von Haschomer-Mitgliedern beschlossen, einen beduinischen Polizisten zu eliminieren – Aref al-Arsan, der den Türken geholfen und jüdische Gefangene gefoltert hatte. Im Juni 1916 wurde er von der Haschomer erschossen.[14]

Die Haschomer schreckte auch dann nicht vor Gewaltanwendung zurück, wenn es darum ging, anderen Juden gegenüber ihre Machtposition zu behaupten. Während des Ersten Weltkriegs war die Haschomer ein erbitterter Gegner des Spionagenetzwerks NILI, das für die Briten im osmanischen Palästina arbeitete. Die Haschomer fürchtete, die Türken könnten die Spione enttarnen und einen Rachefeldzug gegen die gesamte jüdische Gemeinde führen. Als es nicht gelang, NILI zur Beendigung seiner Tätigkeit zu bewegen oder wenigstens dazu, einen Stapel Goldmünzen herüberzureichen, die sie von den Briten erhalten hatten, verübte die Haschomer ein Attentat auf das NILI-Mitglied Josef Lischanski, der dabei allerdings nur verwundet wurde.[15]

Im Jahre 1920 wandelte sich die Haschomer erneut, diesmal zur Haganah (hebräisch für »Verteidigung«). Wenngleich die Organisation nicht offiziell legal war, wurde sie von den britischen Machthabern, die das Land seit etwa drei Jahren beherrschten, als Verteidigungsarm des Jischuw geduldet. Die im selben Jahr gegründete Histadrut, die sozialistische Arbeitervereinigung der Juden in Israel, und die einige Jahre später gegründete autonome Regierungsorganisation des Jischuw, die Jewish Agency, beide unter Leitung von David Ben Gurion, behielten das Kommando über die Geheimorganisation.

Ben Gurion wurde 1886 als David Josef Grün im polnischen Płońsk geboren. Bereits in jungen Jahren trat er als zionistischer Aktivist in die Fußstapfen seines Vaters. Im Jahre 1906 emigrierte er nach Palästina und wurde dank seines Charismas und seiner Entschlossenheit trotz seiner Jugend rasch zu einer Führerfigur des Jischuw. Dann änderte er, nach einem anderen Anführer der Rebellion gegen die Römer, seinen Namen in Ben Gurion um.

In ihren Anfangsjahren war die Haganah noch vom Geist und der aggressiven Haltung der Haschomer geprägt. Am 1. Mai 1921 massakrierte ein arabischer Mob 14 Juden in einer Unterkunft für Einwanderer in Jaffa. Als die Haganah erfuhr, dass ein arabischer Polizist namens Tewfik Bey dem Mob Zugang zu der Herberge verschafft hatte, entsandte sie ein Killerkommando, um ihn auszuschalten. Am 17. Januar 1923 wurde er in Tel Aviv auf offener Straße erschossen. Den Beteiligten zufolge sei es »Ehrensache« gewesen, ihn von vorne und nicht hinterrücks zu erschießen. Zweck sei gewesen, »den Arabern zu zeigen, dass ihre Taten nicht vergessen sind und ihr Tag kommen wird, wenn auch etwas verspätet«.[16]

Die Mitglieder der Haschomer, die die Haganah anfangs leiteten, waren sogar bereit, Gewaltakte gegen andere Juden zu verüben. Jacob de Haan war ein in den Niederlanden geborener Haredi – ein ultraorthodoxer Jude –, der Anfang der 1920er-Jahre in Jerusalem lebte. Er propagierte die Überzeugung der Haredi, dass nur der Messias einen jüdischen Staat errichten könne, dass Gott allein entscheiden werde, wann die Juden in ihre angestammte Heimat zurückkehrten, und dass Menschen, die diesen Prozess zu beschleunigen versuchten, eine schwere Sünde begingen. Mit anderen Worten: De Haan war ein eingefleischter Antizionist und zudem äußerst geschickt darin, die internationale Meinung zu beeinflussen. Für Jitzchak Ben Zwi – damals ein prominenter Haganah-Führer – war de Haan somit gefährlich. Also befahl er seinen Tod.

Am 30. Juni 1924 – nur einen Tag, bevor de Haan nach London reisen wollte, um die britische Regierung zu bitten, ihr Versprechen, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zu errichten, noch einmal zu überdenken – eröffneten zwei Attentäter das Feuer auf ihn, als er aus einer Synagoge an der Jaffa Street in Jerusalem trat. Er wurde von drei Schüssen getroffen.[17]

Ben Gurion indes war von solchen Akten nicht gerade erbaut. Er begriff, dass er der halblegalen Miliz unter seinem Kommando zwingend klarere und gemäßigtere Normen vorgeben musste, wenn er wollte, dass die Briten die zionistischen Ziele auch nur teilweise anerkannten. Nach dem Mord an de Haan wurden die tapferen und tödlichen einsamen Reiter der Haschomer durch eine straff organisierte, hierarchisch gegliederte Streitmacht ersetzt. Ben Gurion wies die Haganah an, von gezielten Tötungen künftig abzusehen. »Was den persönlichen Terror anbelangte, war Ben Gurions Linie konsequent und strikt dagegen«, sagte der Haganah-Kommandeur Jisrael Galili später aus. Er berichtete von mehreren Gelegenheiten, bei denen Ben Gurion seine Zustimmung zur Ermordung einzelner Araber verweigert habe. Zu diesen hätten der Palästinenserführer Haj Amin al-Husseini und andere Mitglieder des Arabischen Hohen Komitees gehört, aber auch Angehörige der britischen Mandatsregierung wie etwa ein hoher Beamter der Landbehörde, der jüdische Siedlungsprojekte behindert habe.[18]

Nicht alle waren bestrebt, Ben Gurion zu besänftigen. Abraham Tehomi, der Mann, der de Haan erschossen hatte, war die gemäßigte Richtung verhasst, die Ben Gurion gegenüber den Briten und den Arabern einschlug. Gemeinsam mit einigen anderen Führungsfiguren verließ er 1931 die Haganah und gründete die Irgun Zwai Leumi, die »Nationale Militärorganisation«, deren hebräisches Akronym »Etzel« lautete und die meist nur Irgun oder IZL genannt wurde. Diese radikale Gruppe des rechten Flügels wurde in den 1940er-Jahren von Menachem Begin geleitet, der 1977 Ministerpräsident Israels wurde. Auch innerhalb der Irgun gab es persönliche und ideologische Grabenkämpfe. Gegner von Begins Übereinkunft, mit den Briten in deren Krieg gegen die Nazis zu kooperieren, spalteten sich ab und gründeten die Lechi. Für diese Männer war jede Zusammenarbeit mit den Briten undenkbar.

Beide Dissidentengruppen rechtfertigten mehr oder weniger die Anwendung gezielter Attentate gegen den arabischen und britischen Feind sowie gegen Juden, die sie als Feinde ihrer Sache betrachteten.[19] Ben Gurion blieb unumstößlich bei seiner Meinung, dass gezielte Tötungen nicht als Waffe einzusetzen seien, und ergriff harte Maßnahmen gegen diejenigen, die sich seinen Anordnungen widersetzten.[20]

Doch dann endete der Zweite Weltkrieg, und alles änderte sich, selbst die Ansichten des hartnäckigen Ben Gurion.

Während des Zweiten Weltkriegs meldeten sich etwa 38 000 Juden freiwillig zum Dienst in der britischen Armee in Europa. Die Briten stellten die sogenannte Jüdische Brigade auf, wenngleich etwas widerwillig und erst unter dem Druck der zivilen Führung des Jischuw.

Da man sich nicht ganz sicher war, wie die Brigade einzusetzen war, schickten die Briten sie zunächst zur Ausbildung nach Ägypten. Dort hörten ihre Mitglieder Mitte 1944 zum ersten Mal vom Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden. Als sie schließlich nach Europa geschickt wurden, um in Italien und Österreich zu kämpfen, sahen sie die Gräueltaten des Holocausts mit eigenen Augen und waren unter den Ersten, die Ben Gurion und andere Führer des Jischuw mit detaillierten Berichten versorgten. Einer dieser Soldaten war der 1922 in Berlin geborene Mordechai Gichon, der später zu den Gründern des israelischen Militärgeheimdienstes zählte. Sein Vater war ein Russe, seine Mutter ein Spross einer berühmten deutsch-jüdischen Familie, die Nichte von Rabbi Leo Baeck, eines Führers der liberalen (reformerischen) Juden Deutschlands. Gichons Familie zog 1933 nach Palästina, als Mordechai in seiner deutschen Schule Anweisung erhalten hatte, den Hitlergruß auszuführen und die Parteihymne zu singen.

Als Soldat kehrte er in ein Europa zurück, das in Schutt und Asche lag. Sein Volk war beinahe vernichtet, seine Gemeinden rauchende Ruinen. »Man hatte das jüdische Volk erniedrigt, mit Füßen getreten, ermordet«, sagte er. »Jetzt war es an der Zeit, zurückzuschlagen, Rache zu nehmen. Als ich mich meldete, träumte ich davon, meinen besten Freund aus Deutschland festzunehmen, der Detlef hieß und Sohn eines Polizeimajors war. So wollte ich meine verlorene Ehre als Jude wiederherstellen.«[21]

Es war dieses Gefühl der verlorenen Ehre, der Demütigung eines ganzen Volkes, ebenso wie der Zorn auf die Nazis, das Männer wie Gichon antrieb. An der Grenze zwischen Österreich und Italien begegnete er zum ersten Mal jüdischen Flüchtlingen. Die Männer der Brigade gaben ihnen zu essen und zogen ihre eigenen Uniformen aus, um sie mit warmer Kleidung gegen die Kälte zu schützen. Sie versuchten, von ihnen Einzelheiten über die Gräuel zu erfahren, die sie erduldet hatten.[22]

Gichon erinnerte sich an eine Begegnung im Juni 1945, als sich eine geflüchtete Frau an ihn wandte. »Sie löste sich von ihrer Gruppe und sprach mich auf Deutsch an«, sagte er. »Sie sagte: ›Ihr, die Soldaten der Brigade, seid die Söhne von Bar Kochba!‹« – des großen Helden des zweiten jüdischen Aufstands gegen die Römer in den Jahren von 132 bis 135 n. Chr. »Sie sagte: ›Ich werde mich immer an euer Abzeichen erinnern und daran, was ihr für uns getan habt.‹«

Gichon fühlte sich zwar durch den Vergleich mit Bar Kochba geschmeichelt, empfand aber angesichts ihres Lobes und ihrer Dankbarkeit nur Scham und Mitleid. Wenn die Juden der Brigade die Söhne Bar Kochbas waren, wer waren dann diese Juden? Die Soldaten aus dem Lande Israels, aufrecht stehend, hart und stark, betrachteten die Holocaust-Überlebenden als Opfer, die Hilfe benötigten, aber auch als Teil der europäischen Juden, die sich bereitwillig hatten abschlachten lassen. Sie verkörperten das Stereotyp des feigen, schwachen Juden der Disapora – im traditionellen jüdischen und zionistischen Sprachgebrauch das Exil –, der sich eher ergab, als zurückzuschlagen, der nicht mit einer Waffe umgehen oder schießen konnte. Dieses Bild – in seiner extremsten Version das des Juden als »Muselmann«, in der Sprache der Konzentrationslager der Begriff für bis auf die Knochen abgemagerte, dem Tode nahe Insassen – lehnten die neuen Juden des Jischuw ab. »Mein Gehirn konnte und kann es bis heute nicht fassen, … dass sich Zehntausende Juden in einem Lager mit nur ein paar deutschen Wachleuten befanden, aber sich nicht gegen diese erhoben, sondern einfach wie Lämmer zur Schlachtbank gingen«, sagte Gichon mehr als 60 Jahre später. »Warum rissen sie [die Deutschen] nicht in Stücke? Ich habe immer gesagt, dass so etwas in Israel nicht passieren könnte. Hätten diese Gemeinden Führer gehabt, die ihres Namens würdig gewesen wären, hätte die ganze Angelegenheit völlig anders ausgesehen.«

Die Zionisten des Jischuw sollten in den Nachkriegsjahren sowohl der Welt als auch, was noch wichtiger war, sich selbst beweisen, dass Juden sich niemals wieder zur Schlachtbank führen lassen würden – und dass jüdisches Blut nicht ungestraft vergossen werden konnte. Die sechs Millionen Toten sollten gerächt werden.

»Wir dachten, wir könnten nicht ruhen, bis Blut mit Blut und Tod mit Tod vergolten wäre«, sagte Hanoch Bartow, ein hochangesehener israelischer Schriftsteller, der sich einen Monat vor seinem 17. Geburtstag zur Brigade gemeldet hatte.[23]

Solche Rache jedoch, Gräuel gegen Gräuel, verstieß gegen die Regeln des Krieges und wäre für die Sache der Zionisten wahrscheinlich katastrophal gewesen. Ben Gurion, pragmatisch wie immer, sagte öffentlich nur so viel: »Rache ist heute ein Akt ohne nationalen Wert. Sie kann die Millionen, die ermordet wurden, nicht wieder lebendig machen.«[24]

Persönlich allerdings hatten die Führer der Haganah Verständnis für die Notwendigkeit einer Form von Vergeltung – sowohl, um die Truppen zu befriedigen, die den Gräueln ausgesetzt gewesen waren, als auch, um ein gewisses Maß an historischer Gerechtigkeit zu erlangen und künftige Versuche, Juden zu ermorden, zu verhindern. Deshalb billigten sie bestimmte Vergeltungsmaßnahmen gegen die Nazis und deren Helfershelfer.[25] Gleich nach dem Krieg wurde innerhalb der Brigade ohne Kenntnis der britischen Kommandeure eine geheime Einheit gebildet, mit Genehmigung und unter Leitung der Haganah. Diese hieß Gmul, Hebräisch für »Vergeltung«. Die Mission der Einheit war »Rache, aber nicht die Rache eines Räubers«, wie es in einem geheimen Memo aus dieser Zeit hieß. »Rache gegen jene SS-Männer, die selbst an dem Massaker teilnahmen.«[26]

»Wir suchten nach den großen Fischen«, sagte Mordechai Gichon und brach damit ein Schweigegelübde unter den Gmul-Kommandeuren, das er über 60 Jahre lang gehalten hatte, »den hohen Nazis, denen es gelungen war, ihre Uniformen abzustreifen und nach Hause zurückzukehren.«[27]

Die Agenten der Gmul blieben auch dann verdeckt, wenn sie ihre regulären Pflichten bei der Brigade erfüllten. Gichon selbst nahm bei der Nazi-Jagd zwei verschiedene falsche Identitäten an – eine als deutscher Zivilist, eine als britischer Major. Bei seinen Reisen unter deutscher Tarnung rettete er die Gestapo-Archive in Tarvisio, Villach und Klagenfurt, die von fliehenden Nazis in Brand gesteckt wurden, aber nur zu einem kleinen Teil tatsächlich verbrannten. Als britischer Major entlockte er jugoslawischen Kommunisten, die immer noch Angst hatten, eigene Vergeltungsmaßnahmen durchzuführen, weitere Namen von Tätern. Auch einige Juden aus amerikanischen Geheimdienstkreisen waren bereit, zu helfen, indem sie Informationen über geflohene Nazis weitergaben, von denen sie glaubten, dass die palästinensischen Juden mehr damit anfangen könnten als das amerikanische Militär.

Nötigung funktionierte ebenfalls. Im Juni 1945 entdeckten Gmul-Agenten ein polnisches Paar, das in Tarvisio lebte. Die Ehefrau war daran beteiligt gewesen, gestohlenes jüdisches Eigentum von Österreich und Italien nach Deutschland zu überstellen, und ihr Ehemann hatte beim Betrieb der regionalen Gestapo-Dienststelle geholfen.[28] Die jüdischen Soldaten aus Palästina stellten sie vor eine klare Wahl: Kooperation oder Tod.[29]

»Der Goi knickte ein und sagte, er sei bereit, zu kooperieren«, sagte Jisrael Karmi, der das Paar verhörte und später, nach der Geburt Israels, zum Kommandeur der israelischen Militärpolizei wurde. »Ich wies ihn an, Listen sämtlicher hohen Beamten zu erstellen, die er kannte und die mit der Gestapo und der SS zusammengearbeitet hatten. Name, Geburtsdatum, Bildung und Positionen.«[30]

Das Ergebnis war ein spektakulärer geheimdienstlicher Durchbruch, eine Liste mit Dutzenden von Namen. Gmuls Leute spürten jeden verschollenen Nazi auf – manche lagen verwundet in einem Ortskrankenhaus, wo sie unter gestohlenen Decknamen behandelt wurden – und setzten diese Männer dann unter Druck, weitere Informationen preiszugeben. Allen versprachen sie, dass man ihnen nichts tun werde, sofern sie kooperierten, was die meisten daraufhin auch taten. Dann, wenn sie nicht mehr nützlich waren, schossen die Gmul-Agenten ihnen in den Kopf und entsorgten die Leichen. Es hatte keinen Sinn, sie am Leben zu lassen, denn sonst wäre das britische Kommando womöglich auf die geheime Mission der Gmul aufmerksam geworden.

Wenn ein bestimmter Name einmal verifiziert war, begann die zweite Phase – man lokalisierte das Ziel und sammelte Informationen für die endgültige Tötungsmission. Gichon, der in Deutschland geboren worden war, wurde häufig mit dieser Aufgabe betraut. »Niemand verdächtigte mich«, sagte er. »Meine Stimmbänder waren echte Berliner Vorkriegsware. Ich ging etwa zum Gemüseladen an der Ecke oder in eine Kneipe oder klopfte sogar an eine Tür, um Grüße von jemandem zu überbringen. Meist reagierten die Menschen [auf ihre wahren Namen] oder verfielen in vages Schweigen, was ebenso gut wie eine Bestätigung war.«[31] War die Identifikation abgeschlossen, verfolgte Gichon die Bewegungen des Deutschen und lieferte eine detaillierte Skizze des Hauses, in dem er wohnte, oder des Gebiets, das für eine Entführung ausgewählt worden war.

Die Killer selbst arbeiteten in Gruppen von weniger als fünf Personen.[32] Wenn sie ihrer Zielperson begegneten, trugen sie in der Regel Uniformen der britischen Militärpolizei und sagten, sie seien gekommen, um einen Mann namens soundso zum Verhör mitzunehmen. Meistens kamen die Deutschen widerstandslos mit. Wie Schalom Giladi in seiner Aussage für das Haganah-Archiv berichtete, wurden Nazis manchmal sofort getötet, bisweilen aber auch an einen anderen, entlegenen Ort gebracht, bevor man sie tötete. »Mit der Zeit entwickelten wir leise, rasche und effiziente Methoden, uns um die SS-Männer zu kümmern, die uns in die Hände fielen«, sagte er.

Wie jedermann weiß, der jemals in einen Pick-up eingestiegen ist, stellt eine Person, die sich in ein solches Fahrzeug hochzieht, einen Fuß auf das hintere Trittbrett, beugt sich nach vorn unter die Stoffplane und rollt sich irgendwie hinein. Der Mann, der im Lastwagen wartete, machte sich diese natürliche Neigung des Körpers zunutze.

In der Minute, in der der Kopf des Deutschen im Halbdunkel auftauchte, beugte sich der Lauerer über ihn und schlang die Arme in einer Art umgedrehtem Würgegriff unter sein Kinn – um den Hals. Um dies bis zur Erdrosselung weiterzuführen, ließ sich der Lauerer flach auf die Matratze zurückfallen, die jedes Geräusch erstickte. Der Fall nach hinten, bei dem der Kopf des Deutschen fest umklammert blieb, erstickte den Deutschen und brach ihm sofort das Genick.

Eines Tages floh eine SS-Offizierin aus einem englischen Straflager in der Nähe unseres Stützpunktes. Als die Briten entdeckten, dass sie entflohen war, gaben sie an sämtliche Stationen der Militärpolizei Fotos von ihr heraus, die sie – seitlich und von vorne – während der Inhaftierung zeigten. Wir gingen durch das Flüchtlingslager und identifizierten sie. Als wir sie auf Deutsch ansprachen, spielte sie die Unwissende und sagte, sie spreche nur Ungarisch. Das war kein Problem. Ein ungarischer Junge ging zu ihr und sagte: »Ein Schiff mit illegalen Immigranten fährt nach Palästina. Pack heimlich deine Sachen und komm mit uns.« Es blieb ihr nichts anderes übrig, als nach dem Köder zu schnappen, und sie kam zu uns in den Laster. Während dieser Operation saß ich zusammen mit Zaro [Meir Zorea, ein späterer IDF-General] hinten, während Karmi fuhr. Karmi hatte uns folgende Anweisung erteilt: »Wenn ich in einiger Entfernung einen passenden einsamen Ort erreiche, drücke ich auf die Hupe. Das ist dann das Zeichen, sie loszuwerden.«

Genau so geschah es auch. Ihr letzter Schrei auf Deutsch war: »Was ist los?« Um sicherzugehen, dass sie tot war, erschoss Karmi sie, und wir drapierten ihrer Leiche so, dass alles wie ein Sexualverbrechen aussah.

In den meisten Fällen brachten wir die Nazis zu einer kleinen Reihe von Befestigungen in den Bergen. Dort gab es verlassene, befestigte Höhlen. Die meisten derjenigen, denen die Hinrichtung bevorstand, verloren ihre Nazi-Arroganz, wenn sie hörten, dass wir Juden waren. »Habt Erbarmen mit meiner Frau und meinen Kindern!« Dann fragten wir sie, wie viele solche Schreie ihrer jüdischen Opfer die Nazis in den Vernichtungslagern gehört hätten.[33]

Die Operation dauerte nur drei Monate, von Mai bis Juli. In diesem Zeitraum tötete die Gmul zwischen 100 und 200 Menschen.[34] Mehrere Historiker, die Nachforschungen dazu anstellten, meinen, dass die Methoden zum Aufspüren der Zielobjekte unzureichend waren, wodurch viele Unschuldige getötet worden seien. Oft seien die Gmul-Teams von ihren Informanten missbraucht worden, um deren persönliche Rachsucht zu befriedigen; in anderen Fällen identifizierten die Agenten schlicht die falsche Person.[35]

Die Gmul wurde auf Eis gelegt, als die Briten, denen Klagen deutscher Familien über das Verschwinden von Angehörigen zu Ohren gekommen waren, begriffen, was vor sich ging. Sie beschlossen, der Sache nicht weiter nachzugehen, verlegten aber die Jüdische Brigade nach Belgien und in die Niederlande, weg von den Deutschen. Von der Haganah kam der strikte Befehl, jegliche Racheakte einzustellen. Die neuen Prioritäten der Brigade – so die Haganah, nicht die Briten – waren es, sich um die Holocaust-Überlebenden zu kümmern, trotz des Widerstands der Briten bei der Emigration von Flüchtlingen nach Palästina zu helfen und geeignete Waffen für den Jischuw zu beschaffen.[36]

Die Haganah-Führung untersagte zwar weitere Tötungen durch die Gmul in Europa, verurteilte damit die Vergeltung an sich aber nicht. Man beschloss, dass die Rache, die in Europa zum Stillstand gekommen war, in Palästina selbst fortgesetzt werden sollte.

Mitglieder der Deutschen Tempelgesellschaft, der Templersekte, waren aufgrund ihrer Nationalität und ihrer Sympathie für die Nazis zu Kriegsbeginn von den Briten aus Palästina ausgewiesen worden. Viele schlossen sich den deutschen Kriegsbemühungen an und nahmen aktiv an der Verfolgung und Vernichtung der Juden teil. Bei Kriegsende kehrten manche in ihre frühere Heimat zurück, etwa nach Sarona, im Herzen von Tel Aviv.

Der Führer der Templer in Palästina war ein Mann namens Gotthilf Wagner, ein reicher Industrieller, der während des Krieges Wehrmacht und Gestapo unterstützt hatte.[37] Ein Holocaust-Überlebender namens Schalom Friedman, der sich als ungarischer Pfarrer ausgab, berichtete, dass er 1944 Wagner begegnet sei, der »damit prahlte, er sei zweimal in Auschwitz und Buchenwald gewesen. In Auschwitz habe man eine große Gruppe Juden geholt, die Jüngsten, und sie mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen. ›Ich fragte sie, ob sie wüssten, dass es eine Hölle auf Erden gibt, und als man sie anzündete, sagte ich ihnen, dass ihre Brüder in Palästina dasselbe Schicksal erwarte.‹«[38] Nach dem Krieg organisierte Wagner die Versuche, den Templern eine Rückkehr nach Palästina zu ermöglichen.

Rafi Eitan, Sohn jüdischer Pioniere aus Russland, war damals 17. »Da kommen diese Deutschen fröhlich daher, die Mitglieder der Nazi-Partei waren, die bei der Wehrmacht und der SS waren, und wollen nun, da sämtliche jüdischen Besitztümer ringsum in Schutt und Asche liegen, auf ihren Grund und Boden zurückkehren«, sagte er.[39]

Eitan war Mitglied einer 17 Mann starken Einheit der »Sonderkompanie« der Haganah, die unter direktem Befehl der Haganah-Führung entsandt wurde, Wagner zu liquidieren.[40] Der Haganah-Stabschef Jitzchak Sadeh erkannte, dass es sich hierbei um keine reguläre militärische Operation handelte, und rief die beiden Männer zu sich, die dazu auserkoren waren, den tödlichen Schuss abzugeben.[41] Um ihnen Mut zuzusprechen, erzählte er ihnen von einem Mann, den er in Russland als Rache für ein Pogrom mit einer Pistole erschossen hatte.[42]

Am 22. März 1946, nachdem man sorgfältig Informationen gesammelt hatte, lauerte das Tötungskommando Wagner in Tel Aviv auf. Sie drängten ihn von der Straße ab auf ein sandiges Grundstück in der Levinsky Street 123 und erschossen ihn. Der Untergrund-Radiosender der Haganah, Kol Jisrael (»die Stimme Israels«), verkündete am Tag darauf: »Der bekannte Nazi Gotthilf Wagner, Führer der deutschen Gemeinde in Palästina, wurde gestern vom hebräischen Untergrund hingerichtet. Hiermit sei zu verstehen gegeben, dass kein Nazi seinen Fuß auf israelischen Boden setzen wird.«

Kurz darauf verübte die Haganah Attentate auf zwei weitere Templer in Galiläa und auf noch einmal zwei in Haifa, wo die Sekte ebenfalls Gemeinden errichtet hatte.[43]

»Es zeigte unmittelbare Wirkung«, sagte Eitan. »Die Templer verschwanden aus dem Land, ließen alles zurück und wurden nie wieder gesehen.« Das Templer-Viertel in Tel Aviv, Sarona, wurde zum Sitz der israelischen Streitkräfte und Geheimdienste. Und Eitan, der mit 17 zum Attentäter geworden war, half, die Einheit für gezielte Tötungen des Mossad aufzubauen.[44]

Die Ermordung der Templer war nicht nur eine Fortsetzung der Racheakte gegen die Nazis in Europa, sondern markierte einen wichtigen Politikwandel. Die Lektionen, die die neuen Juden Palästinas aus dem Holocaust gelernt hatten, waren, dass dem jüdischen Volk ständig die Vernichtung drohte, dass man sich zum eigenen Schutz nicht auf andere verlassen konnte und dass die einzige Möglichkeit, dies umzusetzen, ein unabhängiger Staat war. Ein Volk, das mit diesem Gefühl der andauernden Existenzbedrohung lebt, ergreift zum Erhalt der eigenen Sicherheit alle nur erdenklichen Maßnahmen, ganz gleich, wie extrem diese auch sein mögen, und orientiert sich dabei falls überhaupt erst in zweiter Linie an internationalen Gesetzen und Normen.

Von nun an setzten Ben Gurion und die Haganah – neben der Propaganda und den erprobten politischen Maßnahmen – gezielte Tötungen, Guerillataktiken und Terrorangriffe als zusätzliche Mittel ein, um das Ziel eines eigenen Staates zu erreichen und diesen zu schützen. Was noch wenige Jahre zuvor ausschließlich von ultra-extremistischen Gruppen wie der Lechi und der Irgun praktiziert worden war, betrachtete der Mainstream nun als praktikable Maßnahme.

Die Haganah-Einheiten begannen zunächst mit Attentaten auf Araber, die jüdische Zivilisten ermordet hatten.[45] Dann befahl das Oberkommando der Miliz einer »Sonderkompanie«, mit »persönlichen Terroroperationen« zu beginnen. Der Begriff wurde damals für die gezielte Tötung britischer Kriminalpolizeibeamter gebraucht, die den jüdischen Untergrund strafverfolgt und der jüdischen Immigration nach Israel entgegengewirkt hatten. Den Soldaten wurde befohlen, »britische Geheimdienstzentralen in die Luft zu sprengen, die der jüdischen Bewaffnung zuwiderhandelten«, und »Vergeltung in den Fällen zu üben, wo britische Militärgerichte Mitglieder der Haganah zum Tode verurteilen«.[46]

Ben Gurion sah voraus, dass in Palästina bald ein jüdischer Staat gegründet würde und die junge Nation unverzüglich gezwungen wäre, einen Krieg gegen die Araber in Palästina zu führen sowie Invasionen der Armeen benachbarter arabischer Staaten abzuwehren. Deshalb begann das Kommando der Haganah, sich im Geheimen für diesen Mehrfrontenkrieg zu wappnen. Als Teil der Vorbereitungen erging ein Befehl mit dem Decknamen »Star«, der die Ermordung der arabischen Führungsschicht in Palästina vorsah.

Während die Haganah nach und nach immer mehr gezielte Tötungen anordnete, war der Tötungsfeldzug der radikalen Untergrundbewegungen bereits in vollem Gange. Man versuchte, die Briten aus Palästina zu drängen.

Jitzchak Schamir, inzwischen Befehlshaber der Lechi, beschloss, nicht nur vor Ort Schlüsselfiguren des britischen Mandats zu beseitigen – indem man Kriminalbeamte tötete und zahlreiche Attentatsversuche auf den Jerusalemer Polizeichef Michael Joseph McConnell und den Hochkommissar Sir Harold McMichaelverübte –,[47] sondern auch Engländer in anderen Staaten, wenn diese eine Bedrohung seiner politischen Ziele darstellten. Walter Edward Guiness etwa, auch bekannt als Lord Moyne, war Resident Minister of State (Staatsminister) in Kairo, das ebenfalls unter britischer Herrschaft stand. Die Juden in Palästina sahen in Moyne einen widerlichen Antisemiten, der seine Position schamlos ausgenutzt hatte, um die Macht des Jischuw zu begrenzen, indem er die Einwanderungsquoten für Holocaust-Überlebende signifikant beschnitten hatte.[48]

Schamir gab den Befehl, Moyne zu töten. Er schickte zwei Lechi-Agenten nach Kairo, die dort an der Tür von Moynes Haus warteten: Elijachu Hakim und Elijachu Bet Zuri. Als Moyne mit seiner Sekretärin im Wagen vorfuhr, rannten Hakim und Bet Zuri auf das Fahrzeug zu. Einer steckte eine Pistole durchs Fenster, zielte auf Moynes Kopf und feuerte dreimal. Moyne griff sich an den Hals. »Oh, sie haben uns erschossen!«, schrie er, dann sackte er in seinem Sitz vornüber zusammen. Dennoch war das Ganze eine amateurhafte Operation. Schamir hatte seinen jungen Killern geraten, in einem Auto zu fliehen, doch stattdessen suchten sie auf langsamen Fahrrädern das Weite. Die ägyptische Polizei hatte sie bald geschnappt. Hakim und Bet Zuri wurden angeklagt, verurteilt und sechs Monate später gehängt.[49]

Das Attentat zeigte entscheidende Wirkung auf die britischen Machthaber, wenn auch nicht die von Schamir gewünschte. Auch in den kommenden Jahren musste Israel immer wieder feststellen, dass es kaum vorhersehbar ist, wie sich der Lauf der Geschichte ändert, wenn jemandem in den Kopf geschossen wird.

Nach dem absoluten Grauen des Holocausts, dem Versuch, ein ganzes Volk in Europa auszulöschen, stieß die zionistische Sache im Westen auf wachsende Sympathie. Einigen Berichten zufolge hatte der britische Premierminister noch bis zur ersten Novemberwoche 1944 sein Kabinett zur Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina gedrängt. Er versuchte, mehrere einflussreiche Personen als Befürworter seiner Initiative zu gewinnen, darunter auch Lord Moyne. Es liegt somit durchaus im Bereich des Möglichen, dass Churchill mit einer klaren, positiven Haltung hinsichtlich eines künftigen jüdischen Staates zur Jalta-Konferenz mit Franklin Roosevelt und Josef Stalin gereist wäre, hätte die Lechi nicht interveniert. Nach dem Anschlag in Kairo jedoch bezeichnete Churchill die Attentäter als »neue Gruppe von Gangstern« und verkündete, er wolle seine Position noch einmal überdenken.[50]