Der Schmetterling - Reinhard Hellmann - E-Book

Der Schmetterling E-Book

Reinhard Hellmann

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Beschreibung

Reinhard Hellmann, 1940 in Berlin geboren, vergleicht seinen Beruf als Psychoanalytiker und sein Leben mit drei Ehen und fünf Kindern mit einer Raupenhülle - in der er in der moralischen Verpflichtung seiner Mutter gegenüber gefangen war. Nach und nach gelingt es ihm, sich aus dieser Hülle zu befreien und als etwas Besonderes zu entpuppen: sich selbst.

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Seitenzahl: 70

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Wie es einer »seelischen Raupe« gelang, aus dem familiären Raupenmantel in die Freiheit zu gelangen.

Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen. Er zerrt an ihr, er zerreißt sie. Da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit.FRIEDRICH NIETZSCHE: MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES

Inhaltsverzeichnis

Die Vorfahren

Die Romanze

Geburt und frühe Jahre

Enttäuschungswut

Herr und Hund

Die Großmama

Vaterfiguren und Berufsstationen

Zwischenruf

Reinhard als Vater

Der Junge findet seinen Weg

Reinhard als Dozent an der Universität

Die Suche nach Freunden

Die Eigenanalyse macht Fortschritte – Reinhard wird stabiler

Erfahrung mit neuen Wegen zur Spiritualität

Begegnung mit Tod, Krankheit und Kraft

Die Vorfahren

GROSSELTERN MÜTTERLICHERSEITS: Franz Freiherr von Dalwigk zu Lichtenfels mit Maria Huberta Blanka Gräfin Beissel. In zweiter Ehe: Vera Gräfin Grote (ab 1924).

Elisabeth, meine Mutter, wurde als fünftes Kind und einziges Mädchen in Torgau/Sachsen geboren. Ihre Mutter verstarb, als das Kind ein Jahr alt war, an Tuberkulose. Dies war wohl der erste und schwerste Verlust im Leben von Elisabeth, meiner Mutter. Sie wuchs mit den vier recht wilden Brüdern und diversen Betreuerinnen auf, die der Witwer organisieren konnte. Als Elisabeth drei Jahre alt war, kam die Stiefmutter »Grötelchen« (geb. Gräfin Grote) ins Haus. Sie nahm sich die fünf Kinder mit Strenge und militärischer Konsequenz vor, wie sie es als Rotkreuzschwester beim Militär gelernt hatte. Elisabeth war von den fünf Kindern die intelligenteste, doch musste sie unter der sehr strengen Stiefmutter am meisten leiden. Diese Stiefmutter verzieh Männern viel, aber sich selbst und Frauen gar nichts. Ihrem geliebten Gatten Franz schenkte sie noch einen Sohn, Thomas, und eine zweite Tochter, Vera. Somit waren inzwischen sieben Kinder zu betreuen. Die strenge Rotkreuzschwester schuf Ordnung und Disziplin in der Familie. Für Einfühlung und Sensibilität für die Bedürfnisse der Kinder hatte sie kein Empfinden. Als Elisabeth später ihren geliebten Fritz heiraten wollte, hatte die grausame Stiefmutter große Bedenken, weil er nicht adelig war.

Großeltern väterlicherseits: Paul Hellmann, Baurat der Stadt Frankfurt/Main, mit Katharina geb. Rettig. Fritz Hellmann, mein Vater, wurde als erstes Kind – seine Schwester kam zwei Jahre später – ebendort geboren. Vater Paul Hellmann war ein gutmütiger, schwacher Papa, der allerdings, wenn seine launische, jähzornige Frau ihn darum bat, die Kinder mit der Reitpeitsche verprügelte. Fritz machte nach einem Einser-Abitur schnell erfolgreiche Studienschritte auf dem Gebiet der Altphilologie, also dem Studium der alten Sprachen Griechisch und Latein. Rasch promovierte er zum Dr. phil. Die Habilitation zum Dr. phil. habil schloss sich an. Als er dann später seine geliebte Elisabeth heiraten wollte, hatte seine Mutter große Bedenken wegen der adligen Schnösel aus Berlin.

Eltern: Vater: Dr. phil. habil. Fritz Hellmann, Dozent für alte Sprachen an der Humboldt-Universität in Berlin. Mutter: cand. med. Elisabeth Huberta Blanka Freiin von Dalwigk, Studentin der Medizin an den Universitäten Berlin und Freiburg/Breisgau.

Die Romanze

AN EINEM NEBLIG-TRÜBEN Sonntagmorgen im Jahr 1939 stand um 9.30 Uhr der Eilzug von Berlin nach Freiburg, mit Umstieg in Stuttgart, in Berlin zur Abfahrt bereit. In diesem Zug, im Wagen Nummer 32, saß im Abteil zweiter Klasse die Studentin Elisabeth von Dalwigk. Ihr Vater, der General der Kavallerie Franz Freiherr von Dalwigk hatte seine hübsche, einzige Tochter fürsorglich bis zu ihrem Sitzplatz im Abteil begleitet und sich dann, die Tochter in Sicherheit wähnend, von ihr mit vielen guten Wünschen verabschiedet. Den aufkommenden Abschiedsschmerz verbarg der disziplinierte Militärmann von altem Adel hinter freundlicher Geste. Elisabeth saß nun in dem gut gewärmten Abteil. Sie schloss die Augen und genoss einen kurzen Tagtraum: Sie sah sich im Hörsaal mit vielen Studenten sitzen. Am Rednerpult sprach ihr Dozent Fritz Hellmann in geschliffener Philologensprache. Was er sagte, war in dem von Verliebtheit getränkten Traum völlig unwichtig. Sie genoss es, dass alle seine Worte nur an sie gerichtet waren, und war so glücklich, der einzige Mensch für ihn zu sein. Damit war der Traum zu Ende.

Was Elisabeths sorgender Vater und Militärstratege nicht wusste, war, dass sich in der unweit vom Abteil seiner Tochter befindlichen Toilette ein junger, ansehnlicher, sportlicher Mann befand, der ungeduldig der Abfahrt des Zuges gen Süden entgegenfieberte. Es war der Dozent für alte Sprachen der Humboldt-Universität Berlin, Dr. Fritz Hellmann.

Elisabeth hatte ihn während ihres ersten Semesters in Freiburg zum ersten Mal erlebt, und nun war sie sehr gespannt, ihn dort wieder zu treffen. Kaum fing der Zug an zu rollen, öffnete sich die Tür zu ihrem Abteil. Sie war noch etwas benommen von ihrem kurzen, sehr schönen Traum. Nicht der Fahrkartenkontrolleur stand vor ihr, sondern Fritz Hellmann, ihr heimlicher Schwarm. Elisabeth war darin hart trainiert, ihre Gefühle im Zaum zu halten, denn vor ihrer sehr strengen Stiefmutter durfte sie diese nie zeigen. Ihr gutherziger Vater war sehr wenig zu Hause, so dass sie den vier groben Brüdern ausgeliefert war. Diesen verwilderten Rabauken konnte sie erst recht keine Gefühle preisgeben. Wie könnte sie nun die Lage meistern, wo nun schon ihr starkes Erröten zeigte, wie es um sie stand.

Fritz Hellmann, der fast zehn Jahre älter war und in der Annäherung an weibliche Wesen Erfahrung hatte, überspielte die schwierige Situation elegant, indem er Goethe zitierte: »Liebes Fräulein, darf ich’s wagen, Arm und Geleit ihr anzutragen«, begann er, charmant zu überbrücken. »Bin Studentin, bin auch schön, möchte ungern alleine nach Freiburg gehn«, versuchte sie, unter Aufbietung aller Kräfte zu entgegnen. Danach sprang sie auf und flüchtete blitzschnell in die Toilette.

Die Flucht gab ihr die Gelegenheit, sich im Spiegel davon zu überzeugen, wie deutlich ihre Verliebtheit nach außen zu sehen war. Die doch heftige Rötung ihres sonst vornehmen, blassen Gesichts versuchte sie, mit hellem Puderwatteninstrument zu übermalen.

Als sie sich wieder einigermaßen sicher fühlte, verließ sie das sichere »Örtchen« und nahm ihren Platz vis-à-vis von Fritz Hellmann wieder ein. Bis zu ihrer Ankunft in Freiburg hatten die beiden noch drei Stunden Zeit für ein weiteres Kennenlernen. Das gelang sehr gut. Zum Abschied umarmten sich die Verliebten lange und innig. »Du, ich muss dich bald wieder sehen«, flüsterte er in ihr rechtes Ohr. »Ich komme sicher in deine Vorlesung«, hauchte sie ihm in sein linkes.

So trennten sie sich, jeder mit großem Glücksgefühl im Bauch. Vorerst blieb alles ihrer beider großes Geheimnis. Für Elisabeth gab es noch zwei weitere kleine zu beherbergen. Offiziell also für die Eltern studierte Elisabeth nicht Medizin. Das hätten sie, vor allem die sehr strenge Stiefmutter nie erlaubt und damit auch nie finanziert. Also gab die »folgsame« Elisabeth vor, für das Lehramt Philologie eingeschrieben zu sein. Das gefiel den Eltern, zumal das Medizinstudium zu dieser Zeit eine Männerdomäne war. Sich mit Leichen und eventuellem Aufschneiden derselben zu befassen, fand die Stiefmutter skandalös.

Ein zweites kleines Geheimnis umgab Elisabeth mit zwei eifrigen Medizinstudenten, die die hübsche junge Frau gern näher kennengelernt hätten. »Hallo Kollegin«, so begrüßte sie Heinrich, ein couragierter, stämmiger Kommilitone, als sie sich auf dem Wege zur Vorlesung begegneten. Elisabeth blieb höflich, distanziert – diese Übung beherrschte sie perfekt, weil in der Familie geübt, auch als Heinrich sich im Hörsaal neben sie setzte. In Gedanken war sie bei ihrem geliebten Fritz – für den Studenten neben sich lauschte sie angestrengt den Ausführungen des Anatomieprofessors. Doch Heinrich blieb nach der Vorlesung hartnäckig an ihrer Seite. Als er dann versuchte, sich mit ihr zu verabreden, erklärte sie ihm, sie müsse dringend ins Dekanat zu einer Besprechung, und verschwand blitzschnell.

Später, auf dem Weg in die Mensa traf sie Ernst, den kleinen, schmächtigen, witzigen Charmeur, der sich auch auf ihre Spur zu begab. »Hallo, wir kennen uns doch«, versuchte er anzubandeln. »Kann sein«, erwiderte Elisabeth kühl und drehte elegant eine Kurve in die andere Richtung. Sie hatte es sehr eilig, denn um 14 Uhr würde bei den Philologen die Vorlesung beginnen. Dozent war Fritz Hellmann. Elisabeth rannte die letzten Meter zum Hörsaal. Sie wollte dringend einen Platz möglichst weit vorn ergattern. Während er sprach, hing sie an seinen Lippen und war wieder in ihren Traum versunken. Auch Fritz Hellmann war wohl vom Fieber der Verliebtheit ergriffen. Er wirkte manchmal etwas unkonzentriert, und auffallend oft wanderten seine Blicke für Sekunden in die erste Bankreihe, wo Elisabeth saß.

Für Elisabeth und Fritz begann nun die schönste Liebesromanze ihres Lebens. Sie umarmten, küssten und liebten sich mit der Unersättlichkeit eines jungen Liebespaares. Sie genossen lange Spaziergänge in der Dämmerung, sie hatten lange Gespräche über die alten Griechen, über Medizin und Literatur im Allgemeinen.