Der Schwarze Thron 2 - Die Königin - Kendare Blake - E-Book

Der Schwarze Thron 2 - Die Königin E-Book

Kendare Blake

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Beschreibung

Platz 1 der New-York-Bestsellerliste!

Mirabella, Katharine und Arsinoe sind Drillinge, jede eine Anwärterin auf den Thron der Insel Fennbirn. Ihr Reich verlangt nach einer neuen Königin – doch damit eine von ihnen die Herrschaft erlangen kann, muss sie ihre beiden Schwestern eigenhändig töten. Der Kampf um den Thron ist längst entbrannt, und jede Königin muss sich entscheiden, ob sie leben oder sterben will. Doch während zwei von ihnen noch gegen ihre Bestimmung rebellieren, schreckt die Dritte auf dem Weg zur Krone vor nichts zurück.

  • Drei Schwestern. Drei magische Talente. Nur eine Krone.
  • Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste!
  • Game of Crowns — Der Kampf der Königinnen

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Seitenzahl: 561

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Kendare Blake

DER SCHWARZE THRON

Die Königin

Übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Kendare BlakeDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Penhaligonin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Beatrice LampeUmschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, InkcraftInnenteil Karte: Virginia AllynBL · Herstellung: samSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingISBN 978-3-641-17056-1V002
www.penhaligon.de

Personenverzeichnis

INDRIDSKAMM

Hauptstadt, Heimat von Königin Katharine

DIE ARRONS

Natalia Arron, Matriarchin der Familie Arron, Oberhaupt des Schwarzen Rates

Genevieve Arron, Natalias jüngere Schwester

Antonin Arron, Natalias jüngerer Bruder

Pietyr Renard, Natalias Neffe, Sohn ihres Bruders Christophe

ROLANTH

Heimat von Königin Mirabella

DIE WESTWOODS

Sara Westwood, Matriarchin der Familie Westwood, besonderes Element: Wasser

Bree Westwood, Sara Westwoods Tochter, Freundin der Königin, besonderes Element: Feuer

WOLFSQUELL

Heimat von Königin Arsinoe

DIE MILONES

Cait Milone, Matriarchin der Familie Milone, Familiaris: Eva, eine Krähe

Ellis Milone, Ehemann von Cait und Vater ihrer Kinder, Familiaris: Jake, ein weißer Spaniel

Caragh Milone, ältere Tochter von Cait, wurde in die Schwarze Kate verbannt, Familiaris: Juniper, eine braune Jagdhündin

Madrigal Milone, jüngere Tochter von Cait, Familiaris: Aria, eine Krähe

Juillenne »Jules« Milone, Tochter von Madrigal, stärkste Naturbegabte seit Jahrzehnten und Freundin der Königin, Familiaris: Camden, eine Berglöwin

DIE SANDRINS

Matthew Sandrin, ältester Sohn der Familie Sandrin. War früher mit Caragh Milone verlobt.

Joseph Sandrin, mittlerer Sohn der Familie Sandrin, Freund von Arsinoe. War fünf Jahre lang auf dem Festland in Verbannung.

ANDERE

Luke Gillespie, Besitzer von Gillespies Buchladen, Freund von Arsinoe, Familiaris: Hank, ein schwarz-grüner Hahn

William »Billy« Chatworth Junior, Pflegebruder von Joseph Sandrin, Freier der Königinnen

DER TEMPEL

Hohepriesterin Luca

Priesterin Rho Murtra

Elizabeth, Initiandin und Freundin von Königin Mirabella

DER SCHWARZE RAT

Natalia Arron, Giftmischerin

Genevieve Arron, Giftmischerin

Lucian Arron, Giftmischer

Antonin Arron, Giftmischer

Allegra Arron, Giftmischerin

Paola Vend, Giftmischerin

Lucian Marlowe, Giftmischer

Margaret Beaulin, Kriegerin

Renata Hargrove, ohne Gabe

Greavesdrake Haus

Natalia Arron beobachtet mit kritischem Blick, wie ihre jüngere Schwester Greavesdrake wieder vereinnahmt. Genevieve war nur für wenige Monate des Hauses verwiesen worden. Betrachtet man allerdings die endlose Reihe von Koffern, die nun von den Dienern durch die Vordertür geschleppt werden, könnte man meinen, es wären Jahre vergangen.

»Es wird so guttun, wieder im eigenen Bett zu schlafen«, stellt Genevieve fest und atmet tief ein. Das Haus riecht nach poliertem Holz, Büchern und dem pikanten, mit Gift versetzten Eintopf, der in der Küche vor sich hin kocht.

»Das Bett im Stadthaus ist ebenfalls dein eigenes«, erwidert Natalia. »Tu nicht so, als hättest du leiden müssen.«

Aus den Augenwinkeln wirft Natalia ihrer kleinen Schwester einen prüfenden Blick zu. Genevieves Wangen sind zart gerötet, und ihre violetten Augen funkeln. Lange blonde Locken wellen sich auf ihren Schultern. Sie gilt als die schöne Arron-Schwester. Wenn die Leute allerdings wüssten, welch verschlagene Gedanken durch dieses hübsche Köpfchen spuken …

»Da du nun wieder zuhause bist, erweise dich als nützlich«, fährt Natalia fort. »Was erzählt man sich im Rat?«

»Deine Geschichte wurde verbreitet, wie du es angeordnet hast: dass Königin Katharine den von Königin Arsinoe initiierten Bärenangriff überlebt und sich klugerweise versteckt gehalten hat, bis keine Gefahr mehr bestand. Trotzdem kursieren gewisse Gerüchte.«

»Was für Gerüchte?«

»Hauptsächlich Schwachsinn.« Genevieve winkt ab, doch Natalia runzelt irritiert die Stirn. Schwachsinn kann zur Wahrheit werden, wenn genug Ohren ihm lauschen.

»Welche Art von Schwachsinn?«

»Dass Katharine nicht überlebt hat. Einige behaupten sogar, Zeuge ihres Todes geworden zu sein, andere glauben, sie bei ihrer Rückkehr gesehen zu haben – schlammverschmiert, mit fahler Haut und blutverkrusteten Lippen. Man nennt sie die Untote Katharine. Ist das zu fassen?«

Natalia lacht laut auf und verschränkt die Arme vor der Brust. Absolut lächerlich. Trotzdem missfällt es ihr.

»Aber was ist denn in jenen Tagen, in denen Katharine verschollen war, tatsächlich mit ihr geschehen?«, will Genevieve wissen. »Weißt selbst du es nicht?«

Vor Natalias innerem Auge erscheint das Bild von Katharine in jener Nacht, als sie zurückkehrte, voller Dreck und blutender Wunden. Stumm stand sie in der Eingangshalle, die verfilzten schwarzen Haare hingen ihr ins Gesicht. Wie ein Monster hatte sie ausgesehen.

»Ich weiß genug«, antwortet sie und wendet sich ab.

»Man munkelt, sie habe sich verändert. Inwiefern ist das möglich? Ist sie schon stark genug, um wieder mit den Giften zu üben?«

Natalia schluckt schwer. Zu üben wird nicht mehr nötig sein. Doch sie sagt nichts, sondern signalisiert Genevieve mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen, bevor sie sich auf die Suche nach Kat macht. Soll Genevieve es sich doch selbst ansehen.

Gemeinsam gehen sie durch die langen Flure des Herrenhauses, wo das Licht nur gedämpft durch die geschlossenen Vorhänge fällt. Die Schritte der Diener, die noch immer Genevieves Gepäck verräumen, verhallen hinter ihnen.

Genevieve zieht ihre Reisehandschuhe aus und lässt sie in der Tasche ihrer Reithose verschwinden. Die weiche, leuchtend rote Veloursjacke passt ausgezeichnet dazu. Mit einer schnellen Bewegung klopft sie sich ein unsichtbares Staubkorn vom Oberschenkel.

»Wir haben noch so viel zu tun«, sagt sie dann. »Die Freier können schon morgen eintreffen.«

Natalias Mundwinkel zuckt. Die Freier. Aber nur ein einziger hat um die erste Werbung bei Katharine ersucht. Dieser blonde Junge, Nicolas Martel. Trotz Katharines starkem Auftritt bei dem Giftmahl an Beltane haben die beiden anderen Freier beschlossen, ihr Glück bei Arsinoe zu versuchen.

Bei Arsinoe mit dem vernarbten Gesicht, der ausgefransten Hose und dem kurzen, ungepflegten Haar. So etwas kann doch niemand anziehend finden. Vermutlich sind sie alle neugierig auf ihren Bären.

»Wer hätte gedacht, dass unsere Königin nur eine Anfrage bekommt?«, fasst Genevieve Natalias säuerliche Miene in Worte.

»Das ist nicht von Belang. Nicolas Martel ist der Beste von ihnen. Gäbe es da nicht das schon lange bestehende Bündnis mit Billy Chatworths Vater, wäre er meine erste Wahl.«

»Billy Chatworth haben wir an die Bärenkönigin verloren«, murmelt Genevieve. »Das weiß bereits die ganze Insel.«

»Billy Chatworth wird tun, was sein Vater ihm befiehlt«, faucht Natalia. »Und nenne Arsinoe nicht Bärenkönigin. Wir wollen doch nicht, dass dieser Name Schule macht.«

Sie gehen an der Treppe vorbei, die zu Katharines Räumen führt.

»Ist sie nicht in ihrem Zimmer?«, wundert sich Genevieve.

»Heutzutage weiß man nie so genau, wo sie sich aufhält.«

Gerade kommt ein Hausmädchen mit einer Vase voll weißer Oleanderzweige vorbei und knickst hastig.

»Wo ist die Königin?«, fragt Natalia sie.

»Im Wintergarten«, antwortet das Mädchen.

»Danke schön«, erwidert Genevieve, dann reißt sie dem Mädchen mit einem Ruck die Haube vom Kopf und entblößt so die dunklen Wurzeln ihrer Arron-blond gefärbten Haare. »Und nun geh und kümmere dich um dein Haar.«

Der Wintergarten ist luftig und hell, die vielen Fenster sind nicht verdeckt. Weiße Farbe strahlt an den Wänden, und auf dem Sofa liegen bunte Kissen. Irgendwie scheint der Raum gar nicht richtig zum Haus der Arrons zu gehören und wird fast ausschließlich genutzt, um Gäste zu empfangen. Nun aber finden Natalia und Genevieve dort eine leise vor sich hin summende Katharine vor, die zwischen vielen kleinen Päckchen steht.

»Sieh mal, wer wieder hier ist«, sagt Natalia.

Katharine drückt den Deckel auf ein hübsches violettes Schächtelchen, dann dreht sie sich mit einem breiten Lächeln zu den beiden Frauen um.

»Genevieve! Wie schön, dass Antonin und du wieder auf Greavesdrake seid.«

Genevieve klappt die Kinnlade herunter. Das letzte Mal hat sie Katharine am Tag nach deren Rückkehr gesehen, und damals war sie in einem schrecklichen Zustand, noch immer ungewaschen und mit aus dem Fleisch gerissenen Fingernägeln.

Während ihre Schwester Katharine nun fassungslos anstarrt, kann Natalia mühelos ihre Gedanken erraten. Wo ist das kleine Mädchen mit dem naiven Puppenblick und dem streng geflochtenen Zopf geblieben? Das magere Ding, das brav den Kopf einzieht und nur lacht, wenn der andere zuerst damit anfängt?

Wo auch immer jene Katharine stecken mag, hier ist sie jedenfalls nicht.

»Antonin …«, stammelt Genevieve, als sie ihre Sprache wiederfindet. »Er ist bereits hier?«

»Natürlich«, erwidert Natalia. »Ihn habe ich zuerst zurückbeordert.«

Genevieve ist immer noch so schockiert vom Anblick der Königin, dass sie nicht einmal schmollt. Mit schnellen Schritten tritt Katharine auf sie zu und umfasst Genevieves Handgelenke. Falls die Königin bemerkt, dass diese dabei vollkommen gegen ihre Gewohnheit zusammenzuckt, zeigt sie es nicht. Stattdessen nimmt sie ihre Hand und zieht sie in den Wintergarten hinein.

»Gefallen dir meine Präsente?« Katharine zeigt auf die Päckchen. Sie sind alle wunderschön, sorgfältig in buntes Papier eingeschlagen und mit Satinbändern oder großen weißen Samtschleifen verziert.

»Von wem stammen sie?«, erkundigt sich Genevieve. »Von den Freiern?«

»Es geht nicht um das von«, widerspricht Katharine, »sondern um das für. Sobald ich die letzten Details arrangiert habe, werden sie nach Rolanth geschickt, zu meiner lieben Schwester Mirabella.«

Sanft fährt Katharine mit ihrem in schwarzes Leder gekleideten Zeigefinger über eine der Schleifen.

»Verrätst du uns auch, was die Geschenke enthalten?«, fragt Natalia. »Oder müssen wir raten?«

Mit einer schnellen Kopfbewegung befördert Katharine eine verirrte Haarsträhne über ihre Schulter. »Meine Schwester wird die verschiedensten Dinge in ihnen vorfinden: mit Gift präparierte Handschuhe, giftige Schmuckstücke oder auch eine getrocknete Chrysanthemenknospe, die mit einem Toxin bestrichen ist, das seine Wirkung in heißem Tee entfaltet und sie aufblühen lässt.«

»Das wird niemals funktionieren«, gibt Genevieve zu bedenken. »Sie werden sämtliche Päckchen überprüfen. Du kannst Mirabella nicht mit ein paar hübschen Giftpräsenten töten.«

»Wir haben auch die Naturbegabte mit einem hübschen Giftpräsent fast getötet«, kontert Katharine leise. Dann seufzt sie. »Aber wahrscheinlich hast du recht. Das hier dient lediglich der Unterhaltung.«

Natalia mustert die vielen Schachteln. Über ein Dutzend stehen hier, in verschiedenen Größen und Farben. Und sie werden vermutlich alle einzeln befördert werden, von unterschiedlichen Kurieren. Diese Kuriere wiederum werden mehrmals gewechselt werden, in den verschiedenen Städten, bevor die Päckchen schließlich Rolanth erreichen. Ziemlich viel Mühe für ein wenig Unterhaltung.

Katharine verziert einen der Geschenkanhänger mit ein paar schwarzen Tintensternen und Kringeln. Dann setzt sie sich auf das mit weiß-goldenem Brokat bezogene Sofa und greift nach einer Platte mit schwarzen Tollkirschen. Sie stopft sich eine Handvoll davon in den Mund und zerkaut sie so heftig, dass der giftige Saft aus ihren Mundwinkeln quillt. Genevieve keucht auf und dreht sich zu Natalia um, aber die bleibt ihr eine Erklärung schuldig. Sobald Katharines Verletzungen abgeklungen waren, hatte sie sich dem Gift zugewandt und angefangen, es regelrecht zu verschlingen.

»Noch immer keine Nachricht von Pietyr?«, fragt die Königin, während sie sich den Saft vom Kinn wischt.

»Nein. Nichts Neues. Nach deiner Rückkehr habe ich ihm sofort geschrieben und ihn hierher zitiert. Zudem habe ich eine Nachricht an meinen Bruder gesandt, um herauszufinden, wo er so lange bleibt. Doch von Christophe kam ebenfalls keine Antwort.«

»Dann werde ich Pietyr eben selbst schreiben«, beschließt Katharine. Sie drückt sich eine Hand auf den Magen, als die Tollkirschen ihre Wirkung entfalten. Wäre Katharines Gabe erwacht, dürfte das Gift ihr keine Schmerzen zufügen. Und doch scheint sie nun mehr zu vertragen als je zuvor. Bei jeder Mahlzeit nimmt sie so viel Gift zu sich, als wäre es ein Gave Noir. Katharine lächelt breit. »Ich werde einen Brief an ihn aufsetzen, bevor ich heute Abend zum Tempel fahre.«

»Das ist eine gute Idee«, nickt Natalia. »Du wirst ihn mit Sicherheit umstimmen können.«

Mit einer knappen Geste signalisiert sie Genevieve, den Wintergarten zu verlassen. Die arme Genevieve. Sie weiß gar nicht mehr, wie sie sich verhalten soll. Am liebsten wäre sie wohl gemein zu dem Mädchen, würde es zwicken oder schlagen, aber diese Königin hier wirkt, als würde sie zurückschlagen. Stirnrunzelnd entscheidet sich Genevieve für einen angedeuteten Knicks.

»Dann ist ihre Gabe also erwacht?«, fragt sie flüsternd, sobald die beiden Schwestern die Treppe erreicht haben. »Wie sie diese Beeren gegessen hat … aber durch ihre Handschuhe konnte ich spüren, dass ihre Finger geschwollen waren.«

»Ich weiß es nicht«, erwidert Natalia leise.

»Vielleicht entfaltet ihre Gabe sich gerade?«

»Falls dem so ist, habe ich das noch nie auf diese Art beobachtet.«

»Sollte ihre Gabe nicht erwacht sein, muss sie vorsichtiger sein. Zu viel Gift … sie könnte sich selbst Schaden zufügen. Vielleicht sogar bleibenden.«

Natalia hält abrupt an.

»Das weiß ich. Aber ich kann sie einfach nicht davon abhalten.«

»Was ist mit ihr geschehen? Wo war sie in jenen Tagen?«

Wieder denkt Natalia an das fahle, vollkommen durchgefrorene Mädchen zurück, das wie ein Schatten ins Haus geschlichen war. Manchmal taucht diese Gestalt in ihren Träumen auf und schlurft mit den steifen Gliedern einer Toten auf ihr Bett zu. Natalia wird von einem kalten Schauer erfasst. Trotz der warmen Sommerluft ringsum sehnt sie sich plötzlich nach einem Kaminfeuer und einer schützenden Decke auf ihren Schultern.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir es nicht wissen.«

Katharines Brief an Pietyr besteht aus nur sechs Zeilen:

Mein liebster Pietyr,

kehre zu mir zurück, sofort.

Fürchte dich nicht.

Komme schnell.

Deine

Königin Katharine

Armer Pietyr. In Katharines Vorstellung hat er sich irgendwo verkrochen. Oder rennt kopflos durch dichtes Dornengestrüpp, das wie mit Messern seine Haut zerfetzt – so wie bei ihr in jener Nacht, als sie sich an der Brecciaspalte getroffen haben. In jener Nacht, als er sie hinuntergestoßen hat.

»Ich muss meine Worte vorsichtig wählen, Herzliebchen«, raunt sie der Schlange zu, die sich um ihr Handgelenk windet. »Damit er mich immer noch für seine gefügige kleine Königin hält.« Sie lächelt. »Ich darf ihn nicht verschrecken.«

Wahrscheinlich denkt Pietyr, dass er bei seiner Rückkehr im Kerker unter dem Volroy landen wird. Dass die Königin eine mit der Gabe des Krieges gesegnete Wache veranlassen wird, seinen Schädel gegen die Steinmauern zu schlagen, bis sein Hirn herausspritzt. Aber Katharine hat niemandem verraten, welche Rolle er bei ihrem Absturz in jener Nacht gespielt hat. Und das wird sie auch nicht tun. Natalia hat sie erzählt, sie sei auf der panischen Flucht vor Arsinoes Bären gestolpert und ganz von allein in die Brecciaspalte gefallen.

Von ihrem Schreibtisch aus sieht Katharine aus dem Fenster. Im Osten, hinter den Felsbruchhügeln, schimmert die Hauptstadt Indridskamm im Licht des Nachmittags. Und in ihrer Mitte ragen die beiden schwarzen Türme des Volroy steil in den Himmel auf, das Zentrum der gewaltigen Festung, die alles andere überschattet. Im Vergleich zu ihr wirken selbst die Berge gedrungen, wie Trolle, die sich vor dem hellen Sonnenschein zusammenkauern.

Die Tollkirschen lassen Katharines Magen verkrampfen, aber sie zuckt nicht einmal zusammen. Inzwischen ist es über einen Monat her, dass sie sich mit letzter Kraft aus dem Herzen der Insel emporgekämpft hat, und nun kann Katharine einfach allem standhalten.

Sie beugt sich vor und drückt das Fenster auf. Seit Neuestem riecht es in ihren Räumen immer leicht nach Erbrochenem und den verschiedenen Tieren, an denen sie ihre Gifte testet. Überall auf den Tischen stehen Käfige mit Vögeln und kleinen Nagern, andere reihen sich an der Wand auf. Einige der Tiere sind bereits tot und warten darauf, entsorgt zu werden.

Katharine tippt mit dem Finger gegen den Käfig auf der Schreibtischplatte, um die graue Maus darin aufzuscheuchen. Sie ist auf einem Auge blind, und ihr Fell ist durch die diversen Gifte, mit denen Katharine sie eingerieben hat, fast vollständig ausgefallen. Als die Königin nun ein kleines Stück Keks durch das Käfiggitter schiebt, kriecht das Tier zwar darauf zu, schnüffelt aber nur vorsichtig daran, zu ängstlich, um zu fressen.

»Einst war ich eine Maus«, stellt Katharine fest und zieht einen Handschuh aus. Dann greift sie in den Käfig und streichelt den kahlen Rücken des kleinen Nagetiers.

»Aber das bin ich nicht mehr.«

Wolfsquell

Arsinoe und Jules sitzen gerade am Küchentisch und schnippeln kleine rote Kartoffeln, als Jules’ Großvater Ellis mit seinem Familiaris hereingestürmt kommt. Er zieht vielsagend die grauen Augenbrauen hoch und präsentiert einen schmalen, dunklen Briefumschlag mit dem Siegel des Schwarzen Rates.

Oma Cait unterbricht ihre Hackarbeit an den Kräutern gerade mal lange genug, um sich eine Haarsträhne aus der Stirn zu pusten. Dann widmen sich die drei Frauen wieder ihren anstehenden Aufgaben.

»Will ihn denn niemand lesen?«, fragt Ellis. Er legt den Brief auf den Tisch und hebt seinen Spaniel Jake vom Boden auf, damit er an den Kartoffeln schnüffeln kann.

»Wozu?«, schnaubt Cait. »Wir können uns doch denken, was drinsteht.« Sie deutet mit dem Kinn auf eine Schüssel am anderen Ende der Küche. »Könntest du mir jetzt bitte vier Eier trennen?«

Ellis setzt Jake ab und reißt den Umschlag auf.

»Sie weisen uns ausdrücklich darauf hin, dass sämtliche Freier um die erste Werbung bei Königin Katharine ersucht haben«, fasst er zusammen, was er liest.

»Lüge«, murmelt Jules.

»Kann sein, spielt aber keine Rolle. Außerdem schreiben sie, dass wir die Freier Thomas ›Tommy‹ Stratford und Michael Percy bei uns empfangen dürfen.«

»Zwei?« Angewidert verzieht Arsinoe das Gesicht. »Warum denn gleich zwei? Und warum überhaupt?«

Jules, Cait und Ellis wechseln einen vielsagenden Blick. Es gilt als großes Kompliment, wenn mehr als ein Freier zur selben Zeit ankommt. Vor dem Auftritt mit dem Bären an Beltane hatte niemand damit gerechnet, dass überhaupt jemand um die erste Werbung bei Arsinoe ersuchen würde, geschweige denn gleich zwei Kandidaten.

»Sie können jederzeit eintreffen«, stellt Ellis fest. »Und wer weiß, wie lange sie bleiben werden, wenn du ihnen gefällst.«

»Dann sind sie bis Ende der Woche wieder weg.« Arsinoe zerteilt eine Kartoffel.

Jules nimmt Ellis den Brief aus der Hand.

»Tommy Stratford und Michael Percy.« Sie erinnert sich zwar nur noch verschwommen an das Beltanefest, aber das waren die beiden Jungs, die bei der Anlandung gemeinsam auf einem Schiff waren. Damals schienen sie die ganze Zeit nur zu lachen. Billy wollte sie am liebsten erwürgen.

Arsinoe wirft ihr Messer hin und schichtet die letzten Kartoffelscheiben auf eine Holzplatte.

»Fertig, Cait. Was kommt jetzt?«

»Jetzt verschwindest du aus diesem Haus«, antwortet Cait. »Du kannst dich nicht ewig in meiner Küche verkriechen.«

Arsinoe sackt auf ihrem Stuhl zusammen. Die Bewohner von Wolfsquell kriegen einfach nicht genug von ihrer Bärenkönigin. Auf dem Markt scharen sie sich um sie und wollen immer neue Geschichten von ihrem Braunbären hören. Sie kaufen große silbrige Fische für ihn und erwarten, dass Arsinoe es sich ebenfalls schmecken lässt. Am besten noch roh, direkt vor ihren Augen. Schließlich wissen die Einwohner nicht, dass die Sache mit dem Bären nur eine Täuschung war; dass er bloß für die Erwachenszeremonie auf die Bühne gerufen wurde und wie eine Marionette für Arsinoe getanzt hat. Sie wissen nicht, dass eigentlich Jules ihn kontrolliert hat, unterstützt von niederer Magie. Nur die Familie ist eingeweiht, außerdem Joseph und Billy. Und noch weniger Menschen kennen Arsinoes allergrößtes Geheimnis: dass sie gar keine Naturbegabte ist, sondern eine Giftmischerin. Sie selbst hat ihre Gabe erst entdeckt, nachdem Jules und sie vergiftete Pralinen von Katharine gegessen haben. Jules wäre daran fast gestorben, und noch immer humpelt sie und leidet unter starken Schmerzen. Arsinoe hingegen ist nicht einmal krank geworden.

Dieses Geheimnis teilen nur Jules, Joseph und sie.

»Komm mit.« Jules klopft Arsinoe auf die Schulter und erhebt sich steif von ihrem Stuhl. Ihre Berglöwin Camden springt ebenfalls auf, schont dabei allerdings die Schulter, die sie sich bei dem Angriff von Arsinoes erstem vorgetäuschten Familiaris gebrochen hat. Jenem inzwischen toten Bären, der auch das Gesicht der Königin entstellt hat. Zwischen der Attacke, bei der Camden verkrüppelt wurde, und dem Giftanschlag, der Jules zum Krüppel gemacht hat, lagen nicht einmal zwei Monate. Fast scheint es so, als habe die Göttin in all ihrer Grausamkeit beschlossen, dass die beiden so besser zusammenpassen.

»Wo gehen wir hin?«, will Arsinoe wissen.

»Hauptsache, weg von hier«, befiehlt Cait, während sie ein paar Gemüseschnipsel auf die Schränke schleudert, damit die Krähen Aria und Eva sie sich holen können. Nachdem die beiden Vögel dankbar angefangen haben zu picken, fügt Cait etwas leiser hinzu: »Soll ich dir noch einen Weidenrindentee kochen, bevor ihr geht, Jules?«

»Nein, Oma, mir geht’s gut.«

Draußen auf dem Hof marschiert Arsinoe zunächst hinter Jules und Camden her, die den warmen Sonnenschein auf ihren steifen Gliedern genießen. Kurz hinter dem Hühnerstall biegt sie aber abrupt zu einem Holzstapel ab.

»Was wühlst du denn da herum?«, will Jules wissen.

»Ach, nichts.« Doch dann kehrt Arsinoe mit einem Buch in der Hand zurück und streicht sorgfältig die Rindenstückchen von dem weichen grünen Einband. Als sie es hochhält, runzelt Jules missbilligend die Stirn. Es handelt sich um ein Buch über Giftpflanzen, das Arsinoe heimlich aus Lukes Buchladen mitgenommen hat.

»Du bist so unachtsam«, schimpft sie. »Was, wenn dich jemand damit sieht?«

»Dann werden sie denken, ich plane meine Rache wegen dem, was mit dir passiert ist.«

»Du willst mithilfe eines Buches die Giftmischer vergiften? Giftmischer kann man nicht vergiften, oder?«

»Sag das zehnmal ganz schnell hintereinander.«

»Ich meine es ernst, Arsinoe.« Obwohl sie ganz allein auf dem Hof stehen, senkt Jules ihre Stimme zu einem Flüstern. »Wenn irgendjemand herausfindet, was du wirklich bist, verlieren wir unseren einzigen Vorteil. Willst du das aufs Spiel setzen?«

»Nein«, gibt Arsinoe leise zu. Sie will sich nicht länger streiten und kann Jules’ ständiges Gerede von Vorteilen und Strategien langsam nicht mehr hören. Jules hat schon angefangen, ihre neuen Optionen durchzugehen, bevor sie nach dem Giftanschlag überhaupt das Bett verlassen konnte.

»Das klingt nicht überzeugend«, stellt Jules nun fest.

»Ich bin auch nicht überzeugt. Ich will meine Schwestern nicht töten. Und ich glaube auch nicht, dass sie mich töten wollen.«

»Aber das werden sie.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil jede Königin es getan hat. Seit Anbeginn der Zeiten.«

Arsinoe knirscht mit den Zähnen. Seit Anbeginn der Zeiten. Laut einer alten Legende schenkte die Göttin den Menschen die Gaben, erworben durch das Opfer der Königinnen – den Drillingen, die auf die Insel gesandt wurden, als die Menschen noch in wilden Stämmen zusammenlebten. Die Stärkste von ihnen ermordete ihre beiden Schwestern, deren Blut die Insel nährte. Von da an herrschte sie als Königin, bis die Göttin neue Drillinge sandte, die heranwuchsen, töteten und die Insel nährten. Früher war das ein Instinkt, so heißt es. Ein Urtrieb, einander zu töten wie Hirsche, die im Herbst um ihr Revier kämpfen. Aber das ist alles nur eine Geschichte.

»Arsinoe? Du weißt, dass sie es tun werden. Dass sie dich umbringen werden, ob sie es nun wollen oder nicht. Sogar Mirabella.«

»Das sagst du doch nur wegen Joseph«, wehrt sich Arsinoe. »Aber Mirabella wusste es nicht und … sie konnte nicht anders.« Es war meine Schuld, hätte Arsinoe fast hinzugefügt, bringt es aber noch immer nicht über sich, ihre Tat zuzugeben – trotz allem, was ihr misslungener Zauber sie schon gekostet hat. Noch immer ist sie zu feige.

»Das ist nicht der Grund«, behauptet Jules. »Außerdem war diese Sache mit Joseph … ein Missverständnis. Er liebt Mirabella nicht. Während es mir so schlecht ging, ist er nicht von meiner Seite gewichen.«

Jules kann Arsinoe nicht in die Augen sehen. Wie sehr hat sie versucht, das zu glauben. Und ihm zu verzeihen.

»Vielleicht sollten wir einfach abhauen«, fährt Jules dann fort. »Abtauchen und uns verstecken, bis eine Königin die andere ausgeschaltet hat. Solange sie einander als Ziel dienen, machen sie vielleicht gar nicht groß Jagd auf dich. Wozu im Unterholz nach einem Birkhuhn suchen, wenn mitten auf der Lichtung ein Reh steht? Ich habe ein paar Nahrungsmittel beiseitegeschafft, nur für alle Fälle. Vorräte. Für den ersten Streckenabschnitt könnten wir Pferde nehmen, sie später gegen Proviant eintauschen und dann zu Fuß weitergehen. Wir bleiben immer in Bewegung, und zwar in der Gegend rund um die Hauptstadt, wo niemand nach dir suchen wird. So erfahren wir es auch, wenn eine von ihnen ums Leben kommt.« Jules wirft Arsinoe einen schnellen Blick zu. »Und nur fürs Protokoll: Ich hoffe, dass Katharine als Erste stirbt. Es wird leichter sein, Mirabella mit Gift zu töten, wenn sie von dieser Seite keinen Angriff mehr erwartet.«

»Und wenn Mirabella als Erste stirbt?«, hakt Arsinoe nach. Jules zuckt mit den Schultern.

»Dann musst du Katharine die Kehle aufschlitzen, denke ich. Mit ihrer Gabe kann sie dir schließlich nichts anhaben.«

Arsinoe seufzt schwer. Ganz egal, welche Königin als Erste stirbt, das alles ist verdammt riskant. Ohne einen Bären, der sie verteidigt, kann Mirabella sie mühelos umbringen, und wenn Katharine sie mit einer vergifteten Klinge angreift, würde ihr geheimes Dasein als Giftmischerin enthüllt. Und sollte Arsinoe dann tatsächlich gewinnen, stünden dann sofort die Arrons bei ihr auf der Türschwelle und würden sie mitnehmen, um sie als nächste hauseigene Giftmischerin auf den Thron zu setzen.

Aber es muss doch einen Ausweg geben, irgendeine Möglichkeit, wie wir alle da rauskommen…

Wenn Arsinoe bloß mit ihren Schwestern reden könnte. Notfalls auch unter Zwang. Wenn sie eine Pattsituation herbeiführen könnte und man sie alle drei im Turm einsperren würde. Wenn sie nur miteinander reden könnten, dann würde bestimmt alles anders kommen.

»Du musst dieses Buch loswerden«, beharrt Jules. »Ich ertrage seinen Anblick nicht.«

Schuldbewusst schiebt Arsinoe den Band in ihre Weste.

»Wie würdest du dich denn fühlen, wenn ich dir befehlen würde, dich von Camden fernzuhalten?«, protestiert sie trotzdem. »Wenn du die Giftmischer hasst, hasst du auch mich.«

»Das ist nicht wahr, du bist eine von uns. Wurdest du nicht von Naturbegabten großgezogen? Bist du nicht im Grunde deines Herzens eine Naturbegabte?«

»Ich bin eine Milone«, sagt Arsinoe leise. »Mit ganzem Herzen.«

Die Büsche und das Gras auf der Wiese nördlich vom Hartriegelteich stehen so dicht, dass Arsinoe sich tief bücken muss, um sie auseinanderzuschieben. Sie hat Jules runter ins Dorf geschickt, damit sie im Gasthaus Zum Löwen nach Joseph und Billy sucht – mit dem Versprechen nachzukommen, sobald sie ein sicheres Versteck für das Giftbuch gefunden hat. Was eine Lüge war. Nun hockt sie hier und durchkämmt das Gras, und es dauert auch nicht lange, bis sie findet, wonach sie gesucht hat: einen mit feinen weißen Blüten besetzten Wasserschierlingsstängel.

Das für Arsinoe bestimmte Gift, das Katharine geschickt und von dem auch Jules etwas abbekommen hatte, enthielt wahrscheinlich ebenfalls Schierling. Laut Buch bereitet es einen friedvollen Tod, da der Körper von den Füßen an aufwärts nach und nach gelähmt wird.

»Friedvollen Tod«, murmelt Arsinoe abschätzig. In Kombination mit den anderen Giften, die Katharine beigemischt hatte, war nichts davon mehr friedvoll gewesen. Nein, grauenhaft. Langsam wirkend, zerstörerisch und eine entsetzliche Qual für Jules.

»Warum hast du das getan, kleine Schwester?«, fragt sich Arsinoe laut. »Warst du wütend? Dachtest du, ich hätte den Bären auf dich gehetzt, damit er dich zerfetzt?«

Aber die Katharine in ihrem Kopf antwortet nicht.

Die kleine Katharine. Als sie noch Kinder waren, hatte sie immer die längsten Haare von allen. Und die schönsten. Ihr Gesicht hatte die feinsten Züge gehabt. Oft ließ sie sich flach auf dem Rücken in dem kleinen Fluss hinter der Kate treiben, und ihre Haare umschwebten sie wie eine schwarze Wolke aus Seegras. Mirabella schickte dann kleine Strömungswirbel durch das Wasser, bis Katharine gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen.

Vor Arsinoes innerem Auge blitzt Jules’ schmerzverzerrtes Gesicht auf. Mit der kleinen Katharine ist nicht zu spaßen.

Aus einem Impuls heraus beugt sie sich vor und reißt den Schierling mit der Wurzel aus. Eigentlich sollte sie all ihre liebevollen Kindheitserinnerungen verbannen. Und sie würde auch keine hüten, wäre da nicht die verflucht sentimentale Mirabella gewesen, die Arsinoe Dinge ins Gedächtnis gezaubert hatte, die vielleicht niemals wahr waren.

»Und selbst wenn doch«, murmelt Arsinoe. »Jules hat recht.« Noch vor Ablauf dieses Jahres würden zwei von ihnen sterben. Und trotz all ihrer Skrupel will sie bestimmt nicht zu den beiden Opfern gehören.

Arsinoe schnüffelt vorsichtig an einer Schierlingsblüte. Sie riecht widerlich. Trotzdem stopft sie sich die ganze Dolde in den Mund. Der muffige Geruch bekommt eine zusätzliche Note, als sie anfängt zu kauen und der Pflanzensaft austritt.

Der Schierling schmeckt nicht. Und doch hat sein Verzehr etwas … Erfüllendes an sich. Das Gefühl, das in ihr aufsteigt, wenn sie Gift zu sich nimmt, ist wahrscheinlich ähnlich wie Jules’ Empfindungen, wenn sie einen Apfel reifen lässt, oder Mirabellas, wenn sie den Wind ruft.

»Später mache ich mir ein Bett aus Giftefeu«, beschließt Arsinoe kichernd und verspeist die restlichen Blüten. »Aber vielleicht gehe ich damit zu weit.«

»Womit gehst du zu weit?«

Hastig entfernt sich Arsinoe von den Schierlingspflanzen, lässt die ausgerissenen Stängel fallen und schiebt sie mit dem Fuß in das hohe Gras.

»Göttin, Junior!«, schnauzt sie. »Im Anschleichen bist du ein wahrer Meister.«

Grinsend zuckt Billy mit den Schultern. Irgendwie ist er chronisch unterbeschäftigt. Und ständig gelingt es ihm, Arsinoe aufzuspüren. Ob das vielleicht eine Gabe der Menschen vom Festland ist? Die Gabe der Nervensägen.

»Was treibst du hier?«, will er wissen. »Du übst dich doch nicht etwa wieder in niederer Magie?«

»Cait hat mich zum Brombeerenpflücken geschickt«, schwindelt Arsinoe. Dabei sind die Brombeeren noch lange nicht reif.

Billy reckt den Hals und mustert die Büsche ringsum.

»Ich sehe hier aber keine Beeren. Und auch keinen Korb, um sie einzusammeln.«

»Du bist unerträglich«, murmelt Arsinoe.

Das bringt ihn zum Lachen. »Und damit nicht schlimmer als du.«

Entschlossen stapft sie an ihm vorbei und lockt ihn so von den Schierlingspflanzen weg.

»Okay, tut mir leid. Und was machst du hier? Ich dachte, du bist mit Joseph und Jules im Löwen.«

»Die brauchen etwas Zeit für sich.« Billy pflückt einen breiten Grashalm und spannt ihn zwischen die Finger, um damit zu pfeifen. »Außerdem meinte Jules, es gebe Neuigkeiten bezüglich der Freier.«

»Deshalb kommst du also angerannt.« Arsinoe grinst so breit, dass beinahe die schwarz lackierte Maske verrutscht, unter der sie ihre Narben versteckt.

»Ich komme gar nicht angerannt«, betont er. »Mir war immer klar, dass das passieren wird. Und dass sie wie wild hinter dir her sein würden, sobald sie den Bären sehen. Beziehungsweise dich auf dieser Klippe bei der Anlandung.«

»Die Einwohner von Wolfsquell wussten das offenbar auch. Unten am Pier liegen reihenweise Boote, deren Rumpf neu lackiert werden soll. Alle hier erwecken zwar gerne den Anschein, als wäre ihnen die Meinung der übrigen Inselbevölkerung gleichgültig, aber das ist eine fette Lüge.«

Wolfsquell. Ein schroffes, bäuerliches Städtchen am Meer voller schroffer, bäuerlicher, brutaler Menschen. Hier liebt man das Land, das Wasser und den Schwung einer guten Axt.

Arsinoe stemmt die Hände in die Hüften und lässt den Blick über die Wiese schweifen. So wunderschön. Genau das ist Wolfsquell, und zwar so, wie es ist. Der Gedanke, dass sich ihr Heimatort verändern könnte, um den angeblich illustren Gästen zu gefallen, passt ihr nicht.

»Tommy Stratford und Michael … irgendwas«, sagt sie. »Machst du dir Sorgen, dass ich sie lieber mögen könnte als dich?«

»Das ist vollkommen unmöglich.«

»Warum? Weil du so unwiderstehlich bist?«

»Nein, weil du grundsätzlich niemanden magst.«

Arsinoe schnaubt empört.

»Ich mag dich, Junior.«

»Ach?«

»Aber zurzeit beschäftigen mich wichtigere Dinge.«

Seit er auf der Insel ist, hat Billy sein Haar wachsen lassen, sodass es nun fast schon lang genug ist, um vom Wind zerzaust zu werden. Unwillkürlich fragt sich Arsinoe, wie es sich wohl anfühlt, mit den Fingern hindurchzufahren. Abrupt schiebt sie die Hände in die Taschen.

»Damit hast du recht.« Billy sieht sie ernst an. »Du solltest wissen, dass ich es abgelehnt habe, zu deinen Schwestern zu reisen.«

»Aber dein Vater! Der wird ausflippen! Wir müssen den Brief zurückholen. Hast du ihn per Vogel geschickt oder mit einem berittenen Kurier? Bitte nicht per Boot, denn das kann Jules nicht zurückrufen.«

»Es ist zu spät, Arsinoe. Die Sache ist erledigt.« Er kommt näher und berührt sanft die schwarz-rote Holzmaske. Billy war an jenem Tag dabei, als sie wegen Arsinoes Dummheit alle Opfer eines Bärenangriffs geworden waren. Er hatte versucht, sie zu retten.

»Du hast doch gesagt, du willst mich nicht heiraten«, flüstert sie.

»Na und?«

Er beugt sich zu ihr. Auch wenn sie immer sagt, dass sie nie von der Zukunft geträumt hätte – diesen Moment hat sie sich schon oft ausgemalt. Sie beobachtet Billy aus dem Augenwinkel und fragt sich, wie er wohl küsst. Sanft? Oder ungeschickt? Oder so, wie er lacht, voller Selbstvertrauen und ziemlich frech?

Arsinoes Puls beschleunigt sich. Sie wendet ihm ihr Gesicht zu, dann fällt ihr ein, dass ja Schierlingssaft an ihren Lippen klebt.

»Rühr mich nicht an!«

Sie versetzt ihm einen so heftigen Stoß, dass Billy rücklings im Gras landet.

»Aua«, beschwert er sich.

»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich verlegen und hilft ihm auf. »Das wollte ich nicht.«

»Den Fast-Kuss oder den Stoß?« Ohne sie anzusehen, klopft er sich das Gras von der Hose. Seine Wangen sind flammend rot. »Habe ich etwas falsch gemacht? Wolltest du lieber die Initiative ergreifen? Wird das hier so gemacht? Denn das wäre für mich auch okay …«

»Nein.« Noch immer hat Arsinoe den bitteren Schierlingsgeschmack in der Kehle. Beinahe hätte sie es vergessen. Der Gedanke, dass sie Billy gerade fast umgebracht hätte, lässt ihr den Atem stocken. »Es tut mir leid. Ich wollte einfach nicht. Nicht jetzt.«

Jules und Joseph haben bereits den zweiten Becher Bier geleert, bevor sie zugeben müssen, dass Billy wohl nicht mit Arsinoe zurückkommen wird.

»Ist wahrscheinlich besser so«, meint Joseph. »Es wird langsam spät. Sonst wollen die Besoffenen nur wieder den Bären sehen.«

Jules runzelt irritiert die Stirn. Der Phantom-Bär entwickelt sich langsam zu einem Problem. Seit der Erwachenszeremonie ist Arsinoe nicht mehr mit ihm gesehen worden, immer unter dem Vorwand, er sei zu wild und müsse weit draußen in den Wäldern gehalten werden. Aber damit wird sich das Volk von Wolfsquell nicht mehr lange zufriedengeben.

»Sollen wir gehen?« Joseph schiebt seinen Stuhl zurück. »Oder willst du noch eine Portion gebackene Muscheln?«

Jules schüttelt den Kopf, und sie treten gemeinsam auf die Straße hinaus. Das weiche Licht des frühen Abends lässt das Wasser in der Robbenkopfbucht, die immer wieder zwischen den Häusern auftaucht, leuchtend blau und hell orange funkeln. Während sie langsam Richtung Wasser wandern, schiebt Joseph seine Hand in die von Jules.

Für sie ist es immer noch elektrisierend, wenn er sie berührt, auch wenn das wohlige Kribbeln irgendwie befleckt ist von dem, was zwischen ihm und Mirabella passiert ist.

»Joseph!« Erschrocken hebt sie seine Hand an. »Was ist mit deinen Knöcheln passiert?«

Er lässt ihre Hand los und ballt seine zur Faust. Die Haut an seinen Fingerknöcheln ist von der Arbeit an den Booten aufgerissen und verschorft. »Früher wollte ich nie mit Vater und Matthew in der Werft arbeiten. Andererseits habe ich mir auch keine Gedanken darüber gemacht, was ich stattdessen tun könnte.« Er seufzt. »Ist wohl kein so übles Leben. Wenn es gut genug für sie ist, wie könnte es da für mich schlecht sein? Ich hoffe nur, dass es dich nicht stört, dass ich wie eine Seepocke rieche.«

Seine tapfere Miene ist für Jules unerträglich. Er wirkt, als würde er in der Falle sitzen.

»Mir ist das egal«, sagt sie. »Und es ist ja auch nicht für immer.«

»Ach nein?«

»Natürlich nicht. Nur bis Arsinoe gekrönt ist, schon vergessen? Dann sitzt du in ihrem Rat, und ich gehöre ihrer Wache an.«

»Ah …« Er legt ihr den Arm um die Schultern. »Unser Happy End. So etwas in der Art habe ich mal gesagt, oder?«

Seite an Seite schlendern sie durch die schmale Straße zwischen dem Gasthaus Zur steinigen Heide und dem Wolfshaus. Camden springt geschickt über die aufgestapelten Holzkisten mit den leeren Flaschen.

»Wo ist Arsinoe heute eigentlich hin verschwunden?«, erkundigt sich Joseph.

»Wahrscheinlich zum krummen Baum. Um zusammen mit Madrigal niedere Magie zu wirken.«

»Madrigal ist bei Matthew. Sie hat ihn am Pier empfangen, als er mit der Dickkopf reinkam.«

Madrigal und Matthew. Diese beiden Namen zusammen zu hören bereitet Jules Bauchgrimmen. Die Affäre ihrer Mutter mit Josephs großem Bruder muss dringend ein Ende finden. Zumindest Matthew könnte langsam wieder bei Verstand sein und begreifen, wie flatterhaft und wankelmütig Madrigal ist. Außerdem sollte er sich daran erinnern, dass er immer noch Jules’ Tante Caragh liebt, auch wenn sie in die Schwarze Kate verbannt wurde.

»Sie sollten das beenden«, meint Jules.

»Vielleicht. Aber das werden sie nicht. Er sagt, er liebt sie, Jules.«

»Nur mit den Augen«, faucht sie. »Nicht mit dem Herzen.« Joseph zuckt bei ihren Worten leicht zusammen, und sie mustert aus den Augenwinkeln sein attraktives Gesicht. Vielleicht lieben ja alle Männer so, mehr mit den Augen als mit dem Herzen. Dann lag es vielleicht gar nicht an dem Sturm und dem Kampf um Leben und Tod. An der Benommenheit. Was das Äußere angeht, hat Königin Mirabella mit Sicherheit mehr zu bieten als sie. Vielleicht war es einfach nur das.

Jules löst sich von ihm.

»Was ist?«, fragt Joseph. Sie treten gerade aus der Gasse heraus und biegen um die Ecke der Steinigen Heide, als ein paar Gäste das Wirtshaus verlassen. Sobald die Gruppe Joseph bemerkt, bleiben die Leute abrupt stehen.

Joseph schlingt schützend einen Arm um Jules’ Schultern.

»Lauf einfach weiter.«

Doch als sie an der Gruppe vorbeigehen, verpasst eines der Mädchen Joseph, wohl durch zu viel Whiskey ermutigt, einen Schlag auf den Hinterkopf. Als er sich zu ihr umdreht, spuckt sie ihn an.

Angewidert stößt Joseph den Atem aus, ringt sich aber trotzdem ein Lächeln ab.

Jules spürt, wie die Wut in ihr hochsteigt.

»Alles okay, Jules«, beschwichtigt Joseph sie.

»Von wegen«, pöbelt das Mädchen. »Ich habe genau gesehen, was du an Beltane getan hast. Wie du die Elementwandlerkönigin beschützt hast. Verräter!« Wieder spuckt sie ihn an. »Geh doch zurück aufs Festland, wo du hingehörst!« Sie wendet sich ab, ruft aber warnend über die Schulter: »Beim nächsten Mal werde ich nicht spucken. Dann jage ich dir ein Messer zwischen die Rippen.«

»Das reicht«, zischt Jules, und Camden springt. Der Berglöwe reißt das Mädchen von den Füßen und drückt es mit der gesunden Pfote auf das abgewetzte Kopfsteinpflaster. Zitternd liegt sie unter der Wildkatze. Ihre whiskey-bedingte Kaltschnäuzigkeit verflüchtigt sich, trotzdem verzieht sie abschätzig die Lippen.

»Und was willst du jetzt machen?«, fragt sie herausfordernd.

»Wer sich mit Joseph anlegt, bekommt es mit mir zu tun«, verkündet Jules. »Oder auch mit der Königin. Und mit ihrem Bären.«

Auf eine Geste von Jules hin zieht Camden sich zurück.

»Du solltest ihn nicht beschützen«, protestiert einer der Freunde des Mädchens, während sie ihm aufhelfen.

»Keine Spur Loyalität«, sagt ein anderer, während die Gruppe bereits die Straße hinunterläuft, in die ungefähre Richtung ihrer Häuser.

»Das hättest du nicht tun sollen, Jules«, sagt Joseph, als sie wieder allein sind.

»Sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll. Solange ich hier bin, wird dich niemand anrühren. Oder dich auch nur schief ansehen.«

»Und gerade du hast dir Sorgen gemacht, dass man dich und Camden mit eurem synchronen Humpeln für schwach halten könnte … Meiner Meinung nach machen die Leute jetzt einen noch größeren Bogen um euch beide.«

»Vermutlich spüren sie, dass wir jetzt noch schlechtere Laune haben als früher«, erwidert Jules trocken.

Joseph schiebt ihr eine braune Locke hinter das Ohr und küsst sie sanft.

»Auf mich wirkst du gar nicht so schlecht gelaunt.«

Rolanth

»Ist alles vorbereitet?«, fragt Mirabella.

»Deine Wachen und die Kutsche werden heute Abend für das Ablenkungsmanöver bereitstehen«, antwortet Hohepriesterin Luca. »Obwohl es dem Volk lieber wäre, wenn du bis zum Morgen wartest, damit man dich gebührend verabschieden kann.«

Königin Mirabella spürt, wie ihr Herz rast. Sie sitzt auf einem der kleinen Sofas in Lucas Gemächern und versinkt bis zu den Ellbogen in gestreiften Seidenkissen – wobei sie sich alle Mühe gibt, wie eine Königin auszusehen, die dem Müßiggang frönt. Doch in Wahrheit hat sie auf diesen Abend gewartet, seit Arsinoe sie verraten und bei der Erwachenszeremonie den Bären auf sie gehetzt hat.

Die Zimmertür öffnet sich, und Elizabeth kommt herein. Sie zieht die Tür hastig hinter sich zu, um das Getöse auszusperren, das dort draußen herrscht. Im Tempel von Rolanth ist an Frieden kaum noch zu denken, außer in den ruhigen Privatgemächern von Luca. Überall sonst herrscht von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hektische Betriebsamkeit. Die Apsis quillt fast über von Besuchern, die für ihre Elementwandlerkönigin Kerzen anzünden oder Opfergaben in Form von leuchtend blau oder tiefschwarz gefärbtem Duftwasser darbringen. Die Priesterinnen haben alle Hände voll damit zu tun, die Geschenke und Vorratskisten zu prüfen, die tagtäglich angeliefert werden – eben alles, was benötigt wird, um den Freiern bei ihrem anstehenden Besuch ein aufwändiges Spektakel bieten zu können.

Luca behauptet gegenüber der Königin, dass die Vorräte lediglich sortiert werden. Aber jeder weiß, dass seit Katharines Rückkehr jedes einzelne Paket auf Gift getestet wird.

»Was hat dich aufgehalten, Elizabeth?«, will Luca nun wissen. »Der Tee ist schon fast kalt.«

»Vergebt mir, Hohepriesterin. Ich wollte nur etwas Honig von den Bienenstöcken holen.« Sie stellt ein kleines Glas vor Luca hin, das zur Hälfte mit einer Honigwabe gefüllt ist, aus der die goldgelbe Süßigkeit quillt. Luca gibt etwas davon in ihre Tassen, während Elizabeth sich den Staub von ihrer Initiandenrobe wischt und Platz nimmt. Sie hat sich so beeilt, dass ihre Wangen gerötet sind und sich auf ihrer gebräunten Stirn ein feiner Schweißfilm gebildet hat.

»Du riechst nach Garten und warmer Sommerluft«, stellt Mirabella fest. »Was hast du da in der Tasche?«

Elizabeth zieht eine kleine Schaufel aus ihrer Robe, an der eine Ledermanschette samt Kettchen angebracht ist.

»Die habe ich in der Stadt anfertigen lassen. Man kann sie direkt an meinem Stumpf festschnallen.« Sie streckt ihren linken Arm aus, sodass Mirabella die vernarbte Haut am Ende des Unterarms sehen kann, wo die Priesterinnen ihr die Hand abgehackt haben. Die Strafe dafür, dass sie Mirabella dabei geholfen hatte, aus der Stadt zu fliehen. »Das Anlegen geht auch mit einer Hand ganz einfach, und so kann ich mich viel leichter um die Gemüsebeete kümmern.«

»Das ist toll«, versichert ihr Mirabella, kann aber den Blick nicht von den Narben abwenden.

Luca stellt die Tassen vor ihnen ab.

»Also, brechen wir morgen früh auf?« Elizabeth nippt an ihrem Tee und mustert Luca über den Rand der Tasse hinweg. »Sorgt Euch nicht, Hohepriesterin. Bree und ich werden sie beschützen, bis wir Königin Arsinoe in ihren Wäldern aufgespürt haben.«

Mirabella verkrampft sich sichtlich.

»Mich muss niemand beschützen. Ich muss lediglich meine Schwester finden und meine Pflicht erfüllen. Und damit möchte ich nicht bis morgen warten, Luca. Ich möchte heute Abend aufbrechen.«

Luca verbirgt ihr Lächeln hinter ihrer Tasse.

»So lange habe ich darauf gewartet, dass du die nötige Entschlossenheit entwickelst, um deine Schwestern zu töten«, sagt sie versonnen. »Und nun mache ich mir Sorgen, dass du vorschnell handeln könntest.«

»Ich handele nicht vorschnell. Ich bin bereit. Arsinoe hat ihren Bären auf mich gehetzt, der unsere Leute und unsere Priesterinnen getötet hat. Diese Tat darf nicht unbeantwortet bleiben.«

»Aber das Jahr des Aufstiegs hat doch gerade erst begonnen. Wir könnten entsprechende Gelegenheiten schaffen. Genauso wie die Arrons alles für Katharine arrangieren werden.«

Mirabella kneift die Lippen zusammen. Da Luca sie praktisch großgezogen hat, kennt sie diesen Ton in der Stimme der Hohepriesterin gut genug. Sie weiß genau, wenn man sie einer Prüfung unterzieht.

»Ich werde nicht wanken«, behauptet sie. »Und dieses Jahr wird der Aufstieg schneller beendet sein, als alle gedacht haben.«

»Nun gut.« Luca nickt. »Dann nimm wenigstens meine Stute.«

»Knister?«, hakt Elizabeth verblüfft nach.

»Mir ist klar, dass sie nicht so hübsch ist wie die weißen Tempelpferde«, gibt Luca zu, »oder so eindrucksvoll wie die schwarzen Rösser, die zur Ablenkung deine Kutsche nach Indridskamm ziehen werden, aber sie ist zäh und schnell und hat mir nun schon viele Jahre treu gedient.«

»Zäh und schnell«, resümiert Mirabella. »Du denkst also, ich werde fliehen müssen.«

»Nein«, erwidert Luca sanft. »Aber ich muss trotzdem versuchen, dich so gut es geht zu schützen.« Sie streckt den Arm über den Tisch und drückt die Hand der Königin, als plötzlich außerhalb des Zimmers ein Schrei erklingt. Hastig springen die drei Frauen auf.

»Was war das?«, fragt Elizabeth.

»Ihr bleibt hier«, befiehlt Luca, aber Mirabella und Elizabeth folgen ihr nichtsdestotrotz die Treppe hinunter und in die lange Halle im Ostflügel, neben der sich einige Lagerräume befinden.

»Dort drinnen!« Elizabeth zeigt auf den Hauptraum.

Wieder gellt ein Schrei durch den Tempel, schrill und verzerrt von Angst und Schmerz. Verstörte Priesterinnen rufen sich aufgebrachte Befehle zu. Als Mirabella in das Chaos vordringen will, sieht sie zunächst nur herumwirbelnde weiße Roben.

Ganz hinten in einer Ecke liegt eine junge Initiandin und zuckt krampfhaft mit den Gliedern, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. Vier Novizinnen halten sie fest. Das Mädchen ist fast noch ein Kind, höchstens vierzehn Jahre alt, und beim Klang ihrer Schreie breitet sich eisige Kälte in Mirabella aus. Noch schlimmer wird es, als Rho, die mit der Gabe des Krieges gesegnete Priesterin mit den blutroten Haaren, die Initiandin an der Schulter packt.

»Kleine Idiotin!«, brüllt Rho. Einige Körbe mit Vorräten kippen um, mehrere Stimmen ertönen und übertrumpfen sich gegenseitig in dem Versuch, das Mädchen zu beruhigen oder zu verhören.

Doch Mirabellas Stimme übertönt die gesamte Kakophonie.

»Was ist passiert? Geht es ihr gut?«

»Bleib weg, Mirabella, komm nicht näher!« Luca eilt in die Ecke hinüber. »Was ist los, Rho?«

Rho packt die Initiandin am Hals und reißt ihren Arm in die Höhe. Die Hand ist bis zum Gelenk hinauf blutverschmiert. Erschreckend schnell bilden sich Blasen und platzen auf, wandern immer weiter ihren Arm hinauf, während das Gift tiefer und tiefer in ihren Körper vordringt – Richtung Herz.

»Sie hat einen vergifteten Handschuh übergestreift«, erklärt Rho. »Hör auf zu zappeln, Mädchen!«

»Es soll aufhören!«, fleht die Initiandin. »Bitte macht, dass es aufhört!«

Frustriert verzieht Rho das Gesicht. Die Hand des Mädchens ist nicht mehr zu retten. Sie greift nach ihrem gezahnten Priesterinnenmesser, mustert es kurz und wirft es dann fort.

»Bringt mir eine Axt!« Sie zwingt das Mädchen, sich über einen Tisch zu beugen. »Streck den Arm aus, Kind, schnell. Noch können wir es am Ellbogen aufhalten. Mach es nicht noch schlimmer.«

Mehrere Priesterinnen treten an Rhos Seite, halten das Mädchen fest und reden ihm gut zu. Eine andere stürmt an Mirabella vorbei. Sie hat ein kleines silbernes Beil dabei.

»Etwas anderes konnte ich nicht finden«, erklärt sie.

Rho packt die Waffe und wiegt sie in der Hand.

»Dreht ihr Gesicht weg.« Sie holt mit dem Beil aus.

»Schau ebenfalls weg, Elizabeth.« Mirabella zieht ihre zitternde Freundin eng an sich und schirmt deren Blick ab. Gleichzeitig hält sie die Enden der Kapuze an deren Initiandenrobe fest zusammen, damit der flauschige kleine Specht, der in Elizabeths Kragen hockt, nicht herauskommt und entdeckt wird.

Mit einem schnellen, harten Schlag trifft das Beil auf die Tischplatte. Es ist wohl Rhos Kriegergabe zu verdanken, dass sie kein zweites Mal ausholen muss. Die Priesterinnen binden den blutenden Arm des Mädchens ab und bringen es fort, damit es versorgt werden kann. Vielleicht hat das ihr Leben gerettet. Vielleicht konnte das Gift, das für die Königin bestimmt gewesen war, aufgehalten werden.

Mirabella beißt die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Katharine hat das getan. Die süße, kleine Katharine, die Mirabella heute so gar nicht mehr kennt. Aber inzwischen hat sie dazugelernt. Sentimentalität hat sie sich einmal gestattet, bei Arsinoe, und das war ein Fehler. Das wird ihr nicht wieder passieren.

»Wenn ihr Stumpf abgeheilt ist, werde ich ihr eine Schaufel anfertigen lassen, so wie meine. Wir werden zusammen im Garten arbeiten. Sie wird ihren Arm gar nicht vermissen«, schluchzt Elizabeth.

»Das ist lieb von dir«, sagt Mirabella tröstend. »Und wenn ich mit Arsinoe fertig bin, werde ich Katharine ausschalten, damit niemand mehr Angst haben muss vor vergifteten Handschuhen aus der Hauptstadt.«

Am Abend stoßen Mirabella, Bree und Sara Westwood im Hof des Tempels zu Luca und ihren Priesterinnen. Mirabellas schwarzes Kleid ist unter einem weichen braunen Mantel verborgen, und sie trägt fest geschnürte Reitstiefel. Bree, Elizabeth und die Wachen, die sie eskortieren werden, sind ähnlich gekleidet. Wer sie unterwegs zu sehen bekommt, wird sie für fahrende Händler halten.

Mirabella streichelt einem der hochbeinigen schwarzen Kutschpferde sanft über die Nase. Das prachtvolle, glänzend lackierte und mit Silber beschlagene Gefährt ist eine leere Hülle, ein reines Ablenkungsmanöver auf seinem Weg nach Indridskamm, zu Katharine. Die Zugpferde sind rabenschwarz, und wäre da nicht das glänzende Zaumzeug gewesen, hätte man sie für Schatten halten können. Als Ablenkung für Katharine und die Arrons sollte das ausreichen. Es wird dafür sorgen, dass sie Mirabella in Wolfsquell nicht in die Quere kommen.

»Hier ist Knister.« Luca drückt Mirabella die Zügel ihrer kräftigen braunen Stute in die Hand. »Du kannst dich auf sie verlassen.«

»Daran zweifle ich nicht.« Mirabella reibt dem Pferd die Stirn. Dann tritt sie an seine Seite und schwingt sich in den Sattel.

»Was ist das?«

Mirabella dreht sich um. Ihre Begleiter sind alle bereits aufgestiegen, aber eine der Priesterinnen zupft an Brees Satteltaschen herum.

»Finger weg!« Bree lässt ihr Pferd einen Schritt gehen. »Das sind Birnen.«

»Wir haben aber keinerlei Birnen geprüft«, erwidert die Priesterin.

»Das liegt daran, dass ich sie höchstpersönlich gepflückt habe, und zwar in einem Obstgarten im Moorgraspark.«

»Sie dürfen die nicht mitnehmen«, wendet sich die Priesterin an Luca.

»Und wie wir die mitnehmen«, beharrt Bree. »Königin Katharine ist nicht so raffiniert, dass sie ausgerechnet diese drei Birnen an einem bestimmten Baum in einem bestimmten Obstgarten in einem der vielen Parks von Rolanth vergiftet.« Etwas leiser und nur an Mirabella gewandt, fügt sie hinzu: »Und falls doch, hat sie den Sieg verdient.«

Mirabella und Elizabeth verkneifen sich ein Grinsen. Das Licht ist schwach, denn Wolken verhüllen die abnehmende Mondsichel. Vielleicht bleibt den Priesterinnen dadurch verborgen, dass sich der Brustkorb der Mädchen vor Lachen leicht hebt.

»Reitet zügig«, befiehlt Rho. Sie hat ihre Kapuze abgestreift, sodass ihr die roten Haare über die Schultern fallen. »Und verhaltet euch ruhig. Uns haben Berichte erreicht, laut denen in den Wäldern von Wolfsquell ein Bär sein Unwesen treibt. Ein Mann und sein kleiner Junge wurden zerfleischt und mit gebrochenem Genick aufgefunden. Deine Schwester hat ihren Familiaris scheinbar nicht unter Kontrolle. Oder vielleicht ist sie einfach nur bösartig. So oder so gilt es, keine Zeit zu verlieren.«

Mirabella greift nach den Zügeln und wendet Knister Richtung Straße.

»Zum ersten Mal sind wir einer Meinung, Rho.«

Indridskamm

Katharines Pferd gerät auf den Pflastersteinen ins Rutschen, während die Königin sich dem Tempel von Indridskamm nähert. Schnell zieht sie seinen Kopf hoch. Katharine liebt es, in vollem Galopp durch die Hauptstadt zu preschen, mitten auf der Straße, sodass die Leute sich hastig in Sicherheit bringen müssen. Ihre schwarzen Haare und Halbmonds Schweif flattern wie Fahnen im Wind. Halbmond ist das mutigste und lebhafteste Pferd in den Ställen von Greavesdrake. Bertrand Roman – der ungehobelte Wachmann, den Natalia auf Genevieves Empfehlung hin angestellt hat – hat keine Chance, mit der Königin mitzuhalten.

Am Tor des Tempels wartet im Schatten eine Initiandin, die sich durch den Türdienst ihre schwarzen Armbänder verdient. Sobald Halbmond steht, gibt Katharine dem Mädchen ein Zeichen, das daraufhin vortritt. Nachdem die Königin abgestiegen ist, fragt die Initiandin: »Soll ich dein Pferd in den Stall bringen, Königin Katharine?«

»Nein danke. Ich bleibe nicht lange. Führe ihn nur ein wenig herum, und er hat sicher auch nichts gegen ein Stückchen Zucker, falls du gerade eines zur Hand hast.« Während sie sich abwendet, muss sie unwillkürlich lächeln, denn sie hört, wie Bertrand Roman erst jetzt schnaufend und ächzend auf seiner schwarzen Stute angeritten kommt.

Katharine wartet nicht auf ihn. Sie tritt durch das Tor in das Hauptschiff des Tempels, wo sie die strahlende Junisonne von Indridskamm hinter sich lässt und stattdessen in den Duft von brennendem Weihrauch und Holzpolitur gehüllt wird. Äußerlich mag der Tempel mit der dramatischen Architektur der Stadt mithalten können, mit seiner schwarzen Marmorfassade und den vielen Wasserspeiern, doch im Inneren ist er überraschend karg: Der schmale Mittelgang wird lediglich von einem abgewetzten schwarzen Bodenmosaik geziert, und die Gläubigen beten auf schlichten Holzbänken. Durch die hoch in der Mauer eingelassenen Fenster fällt strahlend weißes Tageslicht.

Mit einer knappen Geste begrüßt Katharine die Oberpriesterin Cora und öffnet dann den Kragen ihrer schwarzen Reitjacke.

»Bringt kühles Wasser für die Königin«, ruft Cora, woraufhin eine Novizin eilig einen Krug holt.

»Du solltest deine Wache nicht so weit hinter dir lassen«, mahnt Cora, noch während sie sich verbeugt.

»Mach dir um mich keine Sorgen, Priesterin«, erwidert Katharine. »Natalia hat ihre Augen und Ohren in jedem noch so fernen Winkel der Insel. Wäre in Wolfsquell oder Rolanth etwas im Gange, hätte sie mich schon längst zuhause eingesperrt.«

Cora lächelt nervös. Sie sind alle so ängstlich. Als würde Mirabella plötzlich aus dem Nichts auftauchen und den Tempel dem Erdboden gleichmachen, oder als käme Arsinoe einfach so auf ihrem Bären in die Stadt geritten. Als ob sie das wagen würden.

Katharine geht durch den Mittelgang und drückt mit in schwarze Handschuhe gekleideten Fingern die Hände der Tempelbesucher. Selbst zu dieser ungewöhnlichen Stunde ist der Tempel fast voll. Vielleicht hat Natalia recht, und das Jahr des Aufstiegs führt die Menschen zurück zu ihrer Göttin. Oder sie sind alle gekommen, um einen Blick auf ihre untote Königin zu erhaschen.

»Bald wird ein Freier die Hauptstadt mit seinem Besuch beehren, ist das richtig?«, fragt Cora.

»Jawohl«, nickt Katharine, »Nicolas Martel. Natalia plant ein Willkommensessen für ihn im Highbern Hotel.«

»Es wird uns eine Ehre sein, ihn im Tempel zu empfangen. Würdest du eine bestimmte Dekoration empfehlen?«

»Der Tempel von Indridskamm ist auch so schon elegant genug«, erwidert Katharine wegwerfend. »Aber Natalia mag Giftblumen. Irgendetwas Hübsches, es darf allerdings nicht über Hautkontakt wirken.«

Cora nickt verständig und führt Katharine dann in die Apsis und zum Altar. Hier liegt, vom Raum abgetrennt durch eine Silberkette, der Stein der Göttin, ein großer, gewölbter Obsidianblock, der halb in den Boden eingelassen ist. Selbst in dem dämmrigen Licht hier hinten scheint er von innen heraus zu leuchten. Wenn Katharine lange genug in ihn hineinsieht, kommt es ihr so vor, als würde sie in die Schwärze der Brecciaspalte blicken.

»Er ist wunderschön«, flüstert die Königin.

»Ja, das ist er. Und sehr heilig.«

Angeblich stammt der Block von der Ostwand des Hornberges. Man erzählt sich, der Berg habe eines Tages seine Flanke geöffnet wie ein Auge und den Stein freigegeben. Katharine weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist. Aber die Vorstellung gefällt ihr.

Aus einem Impuls heraus greift sie nach Coras Handgelenk. Die tätowierten schwarzen Armbänder der Oberpriesterin sind bereits alt und verblasst, dabei scheint Cora kaum älter als vierzig. Sie muss noch sehr jung gewesen sein, als sie dem Tempel beitrat.

»Welch eine Hingabe«, murmelt Katharine, während sie mit dem Leder ihres Handschuhs über die Tätowierung streicht.

Am anderen Ende des Tempels öffnet sich das Tor und fällt wieder zu. Dann hört man das Poltern von Bertrand Romans Stiefeln. Katharine verzieht den Mund.

»Ich hätte gerne einen Moment allein mit der Göttin«, sagt sie dann.

»Selbstverständlich.« Die Oberpriesterin verbeugt sich und macht sich daran, die Leute wegzuschicken. »Etwas zügiger, bitte!« In den Bänken rascheln Kleider, und hastige Schritte ertönen. Katharine wartet reglos ab, bis das Tor zufällt und alles still ist.

»Du ebenfalls, Bertrand«, sagt sie dann irritiert. »Warte draußen auf mich.«

Noch einmal poltern seine Stiefel, und das Tor öffnet und schließt sich.

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen schlüpft Katharine unter der Silberkette hindurch. Sie spürt, wie der Stein der Göttin sie beobachtet.

»Erkennst du uns?«, flüstert sie ihm zu. »Stinken wir immer noch nach den Felsen und der dicken, feuchten Erde, in die du uns geworfen hast?«

Sie kniet sich hin und stützt sich mit beiden Händen auf dem Marmorboden ab. Dann beugt sie sich tief über den Steinblock. Auf der schwarz glänzenden, geschwungenen Oberfläche erscheint ihr blasses Spiegelbild.

»Diesmal wirst du deinen Willen nicht bekommen«, haucht Katharine so dicht über dem Obsidian, als wollte sie ihn küssen. »Wir werden dich kriegen.«

Dann streift sie ihren Handschuh ab und drückt die nackte Hand gegen den kalten, harten Stein. Vielleicht bildet Katharine es sich nur ein, aber sie glaubt zu spüren, wie der Stein der Göttin erschauert.

Wolfsquell

Als Arsinoe, Jules und Joseph in Lukes Buchladen ankommen, ist der Tee bereits aufgebrüht, und auf dem ovalen Tisch auf der Empore über dem Verkaufsraum stehen Sandwiches mit gebackenem Fisch bereit. Luke hat seinen schwarz-grün gefiederten Hahn Hank über die gewundene Straße zum Haus der Milones oben auf dem Hügel geschickt, damit er sie am frühen Nachmittag abholt. Jules hat den Vogel noch immer unter dem Arm, da er verlangt hat, auf dem Rückweg getragen zu werden. Nun stellt sie ihn auf den Boden, woraufhin er prompt seine Federn sträubt.

»Was soll das alles?«, fragt Arsinoe. »Wozu die offizielle Hühnervorladung?«

Bevor Luke antworten kann, rammt Joseph ihr den Ellbogen in die Rippen und deutet mit dem Kinn auf das Schaufenster, in dem ein prachtvolles Gewand hängt – das Kleid, das Luke für Arsinoes Krönung schneidert. Betreten stellt Arsinoe fest, dass am Mieder zusätzliche Spitze aufgetaucht ist. Falls Luke sie jemals in diesem Kleid sehen will, wird er die wieder entfernen müssen.

»Kommt«, fordert Luke sie auf, »setzt euch und esst.«

Die drei wechseln einen bedeutungsschweren Blick. Sogar Camden scheint misstrauisch zu sein, denn ihr Schwanz streicht angespannt über den Teppich. Trotzdem steigen sie die Stufen hinauf, setzen sich hin und schieben sich Fischsandwiches in den Mund.

»Mirabella plant einen Anschlag«, verkündet Luke.

Arsinoe spürt, wie alle sie ansehen, und ist froh, dass die Maske einen Großteil ihrer Mimik verschwinden lässt.

»Woher weißt du das?«, fragt Joseph.

»Ein befreundeter Schneider aus Rolanth ist auf seiner Reise hier vorbeigekommen. Er hat gesehen, wie sie zwei Trecks ausgerüstet haben. Einer davon dient als Ablenkung, eine Kutsche, die nach Indridskamm fährt und dafür sorgen soll, dass Katharine brav dort bleibt.«

»Wie kann er das denn wissen?«, wendet Jules ein. »Vielleicht ist das Ablenkungsmanöver ja auch für uns bestimmt.«

»Er hat ihre Späher auf der Straße entdeckt und ist ihnen gefolgt. Sie haben die Hauptstadt umrundet und sind dann Richtung Torberg weitergeritten. Irgendwann hat er sie aus den Augen verloren, aber von dort aus kann man leicht in die Wälder abbiegen. In unsere Wälder.«

Luke legt jedem von ihnen einige Kekse auf den Teller.

»Ehrlich gesagt, empfände ich es fast schon als Erleichterung, wenn etwas passiert«, fährt er fort. »Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass Mirabella mutig genug wäre hierherzukommen, nachdem sie auf der Bühne so panisch vor dem Bären geflohen ist.«

Joseph zieht den Kopf ein.

»Und welch ein Glück, dass du jetzt so im Vorteil bist«, fügt Luke lächelnd hinzu. »Ich habe es ja schon immer gesagt: Die Göttin ist auf deiner Seite!«

»Ja, ist schon toll, die Oberhand zu haben«, murmelt Arsinoe. Luke weiß nicht, dass der Bär nur eine Täuschung war. Und dass sie sich diesem Kampf ganz allein wird stellen müssen. Er wird wahnsinnig enttäuscht von ihr sein, wenn sie mit Jules davonläuft und sich verkriecht, bis Katharine tot ist.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, überlegt Luke. »Wenn wir richtigliegen, könnte sie schon in ein oder zwei Tagen in unseren Wäldern auftauchen, kurz nach den Spähern.«

Schweigen breitet sich aus. Hank pickt an dem Keks in Arsinoes Hand. Ihre Finger sind ganz taub geworden.

»Wir …« Jules zögert kurz. »Wir sollten gehen. Uns vorbereiten.«

»Natürlich.« Luke steht auf. »Nimm ein paar Kekse mit. Und etwas Fisch. Ich … ich freue mich so, dass ich dir diese Nachricht überbringen konnte. Fast wünschte ich, ich könnte mitkommen und an deiner Seite kämpfen.«

Vollkommen unbesorgt drückt er Arsinoe an sich. Er ist absolut überzeugt davon, dass sie gewinnen wird. Arsinoe erwidert die Umarmung mit aller Kraft.

»Wir müssen hier weg«, flüstert Jules, während sie in den Laden hinuntergehen. »Wenn Mirabella herkommt, bleibt uns nichts anderes übrig, als wegzulaufen.«

»Ich kann nach Sonnenuntergang die Pferde holen«, schlägt Joseph vor.

»Nein, es ist besser, wenn ich das übernehme. Ich kann mit meiner Gabe dafür sorgen, dass sie ruhig bleiben.«

Mit hölzernen Bewegungen läuft Arsinoe zur Tür, während die anderen ihr versichern, dass die Flucht ja nur vorübergehend sei. Dass Mirabella auf der Stelle kehrtmachen werde, wenn Arsinoe nicht in Wolfsquell sei, und sich dann Katharine vornehmen werde. Vielleicht könnten sie schon nach einer Woche zurückkommen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie angreift«, stellt Arsinoe benommen fest.

»Ich habe es dir doch gesagt«, knurrt Jules und kneift wütend die Augen zusammen. »Ich habe dir gesagt, dass sie es tun wird.«

Sie verlassen den Laden und wollen sich gerade aufteilen, um möglichst schnell Vorräte zusammenzustellen, als sie unvermittelt einer dichten Menschentraube gegenüberstehen. Es passiert so plötzlich, dass Camden erschrocken faucht und mit den Pfoten in die Luft schlägt.