Der Schwur der Wikinger - Clive Cussler - E-Book

Der Schwur der Wikinger E-Book

Clive Cussler

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der 6. NEW-YORK-TIMES-Bestseller über Sam und Remi Fargo

In der Arktis entdecken Sam und Remi Fargo ein Langboot der Wikinger. An Bord befinden sich – neben einem riesigen Goldschatz – Hinweise auf den Verbleib des sagenumwobenen Auge des Himmels. Die beiden Schatzjäger kämpfen sich bald durch undurchdringliche Dschungel und dringen in uralte Tempel und Gräber ein. Doch ihre Suche ist nicht unbemerkt geblieben, und plötzlich befinden sie sich zwischen den Fronten von Verbrechern und skrupellosen Grabräubern. Werden Sam und Remi Fargo die Lösung für ein Jahrtausende altes Rätsel finden – oder den Tod?

Archäologie, Action und Humor für Indiana-Jones-Fans! Verpassen Sie kein Abenteuer des Schatzjäger-Ehepaars Sam und Remi Fargo. Alle Romane sind einzeln lesbar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 580

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Russell Blake ist der Autor von zahlreichen gefeierten Thrillern. Er lebt an der Pazifikküste von Mexiko.

Liste der lieferbaren Bücher

Von Clive Cussler im Blanvalet-Taschenbuch (die Dirk-Pitt-Romane):

Eisberg, Das Alexandria-Komplott, Die Ajima-Verschwörung, Schockwelle, Höllenflut, Akte Atlantis, Im Zeichen der Wikinger, Die Troja-Mission, Cyclop, Geheimcode Makaze Der Fluch des Khan, Polarsturm, Wüstenfeuer, Unterdruck

Von Clive Cussler und Paul Kemprecos im Blanvalet-Taschenbuch (die Kurt-Austin-Romane):

Tödliche Beute, Brennendes Wasser, Das Todeswrack, Killeralgen, Packeis, Höllenschlund, Flammendes Eis, Eiskalte Brandung

Von Clive Cussler und Graham Brown im Blanvalet-Taschenbuch (die Kurt-Austin-Romane):

Teufelstor, Höllensturm, Codename Tartarus, Todeshandel

Von Clive Cussler und Craig Dirgo im Blanvalet-Taschenbuch (die Juan-Cabrillo-Romane):

Der goldene Buddha, Der Todesschrein

Von Clive Cussler und Jack DuBrul im Blanvalet-Taschenbuch (die Juan-Cabrillo-Romane):

Todesfracht, Schlangenjagd, Seuchenschiff, Kaperfahrt, Teuflischer Sog, Killerwelle, Tarnfahrt

Von Clive Cussler und Grant Blackwood im Blanvalet-Taschenbuch (die Fargo-Romane):

Das Gold von Sparta, Das Erbe der Azteken, Das Geheimnis von Shangri La, Das fünfte Grab des Königs, Das Vermächtnis der Maya, Der Schwur der Wikinger

Von Clive Cussler (die Isaac-Bell-Romane):

Höllenjagd)

Von Clive Cussler und Justin Scott (die Isaac-Bell-Romane):

Sabotage, Blutnetz, Todesrennen, Meeresdonner, Die Gnadenlose

Clive Cussler& Russell Blake

Der Schwur der Wikinger

Ein Fargo-Roman

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Eye of Heaven« bei Putnam, New York.
März 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung und -illustration: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com Redaktion: Jörn RauserHK · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-16928-2V003
www.blanvalet.de

PROLOG

Irgendwo in der Labradorsee

A. D. 1085

Grell leuchtende Blitze brannten sich in den trüben Nachthimmel und erhellten die ausgezehrten Gesichter der Männer an den langen Riemen aus Kiefernholz, mit denen sie das Wikingerlangschiff in seinem Kampf gegen den unbarmherzig tobenden Ozean unterstützten. Der Kapitän wiegte sich im Takt mit der schweren Dünung, während er mit besorgtem Blick verfolgte, wie die Wand sich auftürmender Brecher das Schiffsheck unter sich begrub.

Senkrecht aufragende Bastionen aus schwarzen Wassermassen drohten – vom eisigen Wind getrieben – das Schiff, so sturmerprobt es auch erscheinen mochte, jeden Moment zum Kentern zu bringen. Ungeachtet der Regenmassen, die auf sie herabprasselten, verrichteten die Männer an den Rudern ihre Arbeit. Schließlich hing ihr Überleben von diesem unermüdlichen Einsatz ab. Der Kapitän betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitgefühl und Entschlossenheit, die Stirn sorgenvoll zerfurcht, während der Wolkenbruch seine Haut peitschte und das Wasser an der dünnen weißen Narbe entlangrann, die sich von seinem linken Augenwinkel bis zu dem blonden Bart erstreckte. Als Angehöriger eines grausamen Volksstamms von Abenteurern und Plünderern war er auf dem Ozean aufgewachsen. Die ungezähmte Gewalt der Natur war ihm nichts Neues. An unzähligen Tagen hatte er die tückische Nordsee verflucht, aber selbst für ihn war dies ein Unwetter, wie es ihm nie zuvor begegnet war.

Das hölzerne Schiff musste weit vom Kurs abgekommen sein und wurde von der Dünung nach Norden getrieben. Wäre es auf seiner beabsichtigten Route geblieben, hätte einer der mächtigen Brecher ganz gewiss seinen Bug überrannt. Es wäre gekentert und hätte seine Insassen in den sicheren Tod gerissen. Das Beste, was der Kapitän unter diesen Bedingungen tun konnte, war, das Schiff mit dem Heck vor dem Wind zu halten und den Sturm abzureiten.

Ein greller Blitz zuckte durch die aufgewühlten Wolken und erhellte für einen kurzen Moment die Umgebung, ehe er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Salzwasser troff aus dem dichten Bärenfellmantel des Kapitäns, unter dem sich die Muskeln seiner kräftigen Arme wölbten, mit denen er das Ruder in Position hielt. Ein weiterer Blitz machte die Nacht zum Tage. Das Profil eines aus Holz geschnitzten, drohend aufgerichteten Drachens dicht hinter seinem Kopf, umweht von Gischtwolken, die der tobende Sturm von den Wellenkämmen riss, reflektierte den bläulich weißen Lichtschein.

In dem schmalen Laufgang zwischen den Bänken, auf denen die erschöpften Ruderer schufteten, näherte sich ein hochgewachsener Mann mit lederartiger Haut und einer ungebändigten roten Haarmähne. Trotz der heftigen Schwankungen des Schiffes schritt er sicheren Fußes über die rauen Eichenplanken.

»Thor lässt seiner Wut heute Nacht freien Lauf, nicht wahr, Vidar?«, rief der Kapitän seinem Maat durch den heulenden Wind zu.

»Kann man wohl sagen, Herr. Aber ich denke, das Schlimmste ist jetzt vorbei. Mir scheint, die Brecher sind nicht mehr so hoch wie vor ein paar Stunden.«

»Hoffentlich hast du recht. Meine Arme schmerzen, als hätte ich die ganze Nacht mit einem Bären gerungen.«

»Ich kenne das Gefühl gut. Ihr habt doch meine Frau gesehen.«

Die Mienen der beiden erfahrenen Seeleute verzogen sich kurz zu einem freudlosen Grinsen, dann trat der Maat neben den Kapitän und übernahm das Ruder.

»So viel zu dem Versuch zu schlafen. Daran ist bei diesem Albtraum nicht zu denken. Wie halten sich die Männer?«, fragte der Kapitän.

»Wie bei diesen Verhältnissen zu erwarten. Ihnen ist kalt, und sie sind müde.« Vidar verkniff sich die Bemerkung, dass sie sich fürchteten. Niemals hätten diese Krieger eingestanden, Angst zu haben.

»Sie haben genug Bier getrunken und die Gastfreundschaft der Eingeborenen ausgiebig genossen. Dies hier wird ihnen einiges zu denken geben, falls sie weich geworden sind wie ein Frauenwams.«

»Sicher, Käpt’n. Es wird ihnen eine Lehre sein …«

Eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte das Deck unter ihren Füßen. Beide Männer verfolgten das verwirrende Geschehen mit Augen, die nach einem Leben auf See und auf dem Schlachtfeld kaum noch etwas überraschen konnte.

Aus dem Augenwinkel nahm der Kapitän einen mächtigen Schatten wahr, der sich hinter ihm auftürmte, und fuhr instinktiv herum. Das Heck zerschnitt eine riesige Woge, deren Rauschen in diesem Augenblick – als die beiden Hälften des Wellenkamms brachen – das einzige Geräusch war. Nach einem kurzen Moment, den das Schiff auf dem Wellenkamm verharrt hatte, sank es auf der Rückseite des Brechers in die Tiefe. Das schwarze Monster verschwand in der Dunkelheit.

»Könnt Ihr Euch vorstellen, was geschehen wäre, hätte uns dieses Ungetüm von vorn erwischt?«, fragte Vidar mit einer Stimme, die vor Entsetzen zu einem Flüstern herabgesunken war.

»Oder mittschiffs. Dann wären wir jetzt alle nach Walhalla unterwegs.«

Ihre Blicke wanderten zum Mast, der nun zersplittert und nutzlos war. Die obere Hälfte war abgebrochen wie der Zweig eines Baums und hatte den größten Teil des Segels mit in die Tiefe gerissen – beide ein Opfer der Wucht, mit der die Sturmböe sie getroffen hatte. Dies war das Ergebnis einer teuren Fehlkalkulation. Er hätte das wollene Tuch herablassen sollen, ehe der Wind es losreißen konnte. Aber er hatte jedes Quäntchen Geschwindigkeit herausholen wollen. Seine Männer verfügten zwar über starke Arme, doch nach fast vierundzwanzig Stunden angestrengten Ruderns, auch wenn sie die Ruderbänke nur in Schichten besetzten, stießen auch sie an ihre Grenzen.

Als eines der imposantesten Langschiffe, die je vom Stapel gelaufen waren, bot die Sigrun einer Mannschaft von neunzig Männern Platz. Die Ruderpositionen, jeweils zwei für die vierzig Riemen des Schiffes, reichten für achtzig Männer. Außerdem besaß sie einen umlegbaren Segelmast von knapp zwanzig Metern Höhe. Der Rumpf hatte eine Länge von achtunddreißig Metern und maß an seiner breitesten Stelle knapp sechs Meter. Der Kiel war aus einem massiven Eichenstamm herausgehauen, während würfelförmige Steinklötze als Ballast dienten.

Bei ruhiger See schaffte die Sigrun mit aufgezogenem Segel fast vierzehn Knoten Geschwindigkeit, aber bei einem Wintersturm von dieser Gewalt, wie er in den fernsten Regionen des Nordatlantiks auftrat, war die Geschwindigkeit gar nicht von vorrangiger Bedeutung – das höhere Gewicht hatte die Manövrierfähigkeit.

Die Sigrun verfügte über einen für Wikingerschiffe typischen geklinkerten und an Bug und Heck gleichförmigen Rumpf. Jedoch war die Bordwand deutlich erhöht, um Hochseefahrten zu ermöglichen. Heck und Bug waren als identische Drachenköpfe ausgearbeitet worden. Schiffe wie die Sigrun hatten eine beeindruckende Erfolgsgeschichte und bereits die gefährlichsten Meeresregionen des Planeten befahren. Ihre Seetüchtigkeit und Geschwindigkeit waren legendär. Die Widerstandsfähigkeit selbst des stabilsten Schiffes hatte jedoch Grenzen, und der Sturm hatte der Sigrun und ihrer Mannschaft weitaus heftiger zugesetzt, als es in all den Jahren zuvor jemals der Fall gewesen war.

Stunden, die sich zu einer Ewigkeit auszudehnen schienen, verstrichen, und als sich der erste Lichtschimmer des neuen Tages durch die tiefhängende graue Wolkendecke kämpfte, beruhigte sich allmählich die See. Nun, da das Schlimmste offenbar überstanden war, gab der Kapitän Befehl, dass sich die erschöpften Ruderer ausruhen konnten – bis er eine neue Gefahr ausmachte: Eis. Fünfzig Meter voraus ragte ein Eisberg aus dem Wasser, so groß wie ein kleiner Berg. Der Kapitän wirbelte zu dem Mann herum, der das Ruder bediente, und rief ihm eine Warnung zu.

»Eis! Direkt voraus!«

Das Schiff hatte einen geringen Tiefgang, dennoch konnte die wogende See es in die Nähe der untergetauchten Masse drücken. Eine leichte Kollision würde den Holzrumpf aufreißen und das Langschiff sinken lassen, und dann würde die Mannschaft in den eisigen Fluten recht bald den Tod finden. Der Bug schwang langsam herum und gehorchte nur schwerfällig dem Ruderbefehl. Eine weitere lang gezogene Woge der stetig rollenden Dünung schob sie näher auf den Eisberg zu – viel näher, als dem Kapitän lieb war.

»Jetzt aber mit aller Kraft, Leute! Pullt, verdammt noch mal. Pullt, was ihr könnt, sonst sind wir erledigt!«

Leise wie ein Gespenst glitt das Schiff an der bedrohlichen Eismasse vorbei. Der Blick des Kapitäns wanderte über den gefrorenen Koloss, eine verlassene, öde Insel mitten im Ozean. Er schickte ein weiteres stummes Bittgebet zu den Göttern. Wenn sich das Schiff bereits im Treibeis befand, musste der Sturm es noch viel weiter nach Norden getrieben haben, als er befürchtet hatte. Und der bedeckte Himmel machte es unmöglich, mit den primitiven Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, einen neuen Kurs zu berechnen.

»Holt einen der Raben aus dem Schiffsraum«, befahl er also.

Vidar gab den Befehl an den nächsten Mannschaftsangehörigen weiter, der sich eilig entfernte. Das Unwetter hatte sich nahezu vollständig ausgetobt, und nun wurde es Zeit, eine der geheimen Waffen der seefahrterprobten Wikinger einzusetzen: Vögel.

Zwei Männer wuchteten eine Deckklappe auf und stiegen in den vorderen Schiffsraum hinab. Wenig später tauchten sie wieder auf und schleppten einen primitiven Holzkäfig, in dem sich ein großer schwarzer Schatten aufgeregt hin und her bewegte. Der größere der beiden Männer trug den Käfig zum Schiffsheck, wo der Kapitän bereits wartete, und stellte ihn aufs Deck. Nach einem letzten Blick aufs Meer ging der Kapitän in die Hocke und betrachtete den Raben.

»Nun, mein Freund, es ist so weit. Mögest du geradeaus und in die richtige Richtung fliegen. Lass mich nicht im Stich. Unser Überleben hängt von deinem Instinkt ab. Lass dich von Odin führen.«

Er richtete sich auf und gab dem Mannschaftsangehörigen ein Zeichen mit dem Kopf. »Lasst ihn frei und wünscht ihm Gottes Segen.«

Der Mannschaftsangehörige hob den Käfig bis in Brusthöhe hoch, während Vidar näher kam und die Klappe öffnete, nachdem er die Lederschnur, die sie verschloss, aufgenestelt hatte. Nun griff er hinein. Der Rabe duckte sich und wich aus, aber jede Gegenwehr war zwecklos. Vidar konnte ihn mit seinen klammen Händen leicht in die Enge treiben. Er holte den Vogel heraus und warf ihn, während er ein Gebet murmelte, in die Luft.

Der Rabe umkreiste, nach der langen Gefangenschaft taumelnd, das Schiff, gewann schließlich die Kontrolle über seine Schwingen, schlug kräftiger und vollführte nun einen Schwenk nach backbord.

»Beeil dich. Bring den Bug herum. Dem Raben hinterher.«

Ihre Blicke folgten dem schwarzen Punkt, während er in der Ferne verblasste. Anschließend richteten sie den furchteinflößenden Drachenkopf am Schiffsbug nach der Flugrichtung des Vogels aus.

»Wie viele haben wir noch, Vidar?«, erkundigte sich der Kapitän.

»Nur einen. Die anderen beiden sind zu Tode erschrocken.«

»Ich kann mir vorstellen, wie sie sich gefühlt haben müssen. Von diesem Unwetter werden wir sicher noch erzählen, wenn wir schon alt und grau sind und am Feuer zusammensitzen.«

»Das stimmt wohl. Aber wir haben es überstanden. Und jetzt wissen wir auch, wo wir Land finden können.«

»Die einzige Frage ist nur, wie weit wird es bis dorthin sein?«

»Ja. Und was erwartet uns da?«

»Höchstwahrscheinlich keine warmen Strände und willige Mädchen, nehme ich an, dem Eis und den sinkenden Temperaturen nach zu urteilen.«

»Ich glaube, du hast recht.«

Die Männer verstummten und hingen ihren eigenen Gedanken nach, der weitere Kurs war zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiss. Erst wenn sie Land fänden und die Wolkendecke aufriss, könnten sie sich nach der Sonne orientieren, um den Heimweg zu berechnen.

»Ruf die restlichen Männer an die Riemen, Vidar. Wir müssen Zeit aufholen, solange es noch hell ist. Ich will nicht noch eine Nacht auf dem Meer verbringen, umringt von Eisbergen, die nur darauf warten, uns zu versenken.«

Vidar wandte sich an die Mannschaftsangehörigen, die sich ausruhten und schliefen, wo immer sie auf dem Deck einen geeigneten Platz gefunden hatten. »Es wird Zeit, dass ihr euren Unterhalt verdient. An die Riemen, Wikinger, an die Riemen!«

Am späten Nachmittag konnten sie am Horizont, bei dem gegenwärtigen Tempo etwa einen halben Tag entfernt, schneebedeckte Berggipfel ausmachen. Der ersehnte Anblick verlieh den erschöpften Männern frische Kraft, sodass sie ihre Anstrengungen verdoppelten, nun da ihr Ziel in Reichweite gerückt war. Vidar übernahm das Ruder, der Kapitän bezog neben ihm Posten und behielt das Wasser ringsum wachsam im Auge. Je näher sie dem Festland kamen, desto dichter war das Meer mit treibenden Eisschollen bedeckt, zwischen denen gelegentlich größere Eisberge aufragten.

»Was denkst du?«, fragte der Kapitän, dessen Gesicht nach zwei Tagen äußerster Anstrengungen totenbleich war.

»Wir haben Festland vor uns, das ist sicher. Ich würde empfehlen, einen geschützten Ort zu suchen, wo wir die Nacht verbringen können. Anschließend müssen wir beraten, wie es weitergehen soll.«

»Die Männer sind am Ende ihrer Kräfte. Wir können versuchen, den Mast notdürftig zu reparieren. Wenn wir den ganzen Weg rudern müssen, dürfte die Heimreise unendlich lang und mühsam werden.«

Vidar nickte. »Das ist wohl wahr.«

»Sieh dort – ein Fjord. Wenn wir ihm landeinwärts folgen, müssten wir einen geeigneten Platz finden, um ein Lager aufzuschlagen«, sagte der Kapitän und deutete mit einem knotigen Finger auf eine Lücke in der Küstenlinie. »Mit ein wenig Glück könnte das sogar die Mündung eines Flusses sein.«

»Durchaus möglich«, sagte Vidar und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um mehr erkennen zu können.

»Falls es ein Fluss ist, bedeutet das Trinkwasser. Und vielleicht auch Tiere.«

»Beides wäre angesichts unserer schwindenden Vorräte höchst willkommen.«

»Wir sollten dem Fjord folgen, so weit er ins Festland hineinreicht«, sagte der Kapitän. »Etwas Besseres fällt mir im Augenblick nicht ein, außerdem wird es bald wieder dunkel sein.«

»Hauptsache, wir kommen aus dem Wind. Zumindest werden uns die Steilwände vor dem Schlimmsten schützen.«

»Dann nimm Kurs auf den Fjord.«

Vidar fixierte die Ruderer mit einem aufmunternden Blick. »Kommt schon, Leute. Pullt. Wir haben es fast geschafft.«

Der einzige Laut war das Knarren der Riemen, als die Männer dem Befehl gehorchten und ihre Arbeit wieder aufnahmen. Nirgendwo gab es ein Lebenszeichen, nirgendwo auch nur einen Hinweis darauf, dass sie nicht die einzigen lebenden Wesen auf der Erde waren. Nichts deutete an, dass das Schicksal sie nicht in die eisige Hölle eines weltabgeschiedenen Totenreichs verschlagen hatte.

»Langsam, Männer. Langsam …«, rief Vidar, während sie auf ihrem Weg zu den blau-weißen Steilwänden auf beiden Seiten des Fjords den Eisschollen auswichen. Er wandte sich halb zum Kapitän um, der schräg hinter ihm stand. »Könnt Ihr erkennen, was das dort hinten ist? Sieht aus wie ein enger Kanal.«

»Ja, ich sehe es. Wahrscheinlich liegt dahinter eine weitere Bucht. Was immer es sein mag, wir müssen die Fahrt fortsetzen, bis wir einen Platz für die Nacht finden. Aber sehr wahrscheinlich werden wir an dieser abweisenden Küste nichts dergleichen finden.«

Das Schiff schob sich durch die Lücke in der Uferlinie und geriet in zunehmend dichtes Treibeis. Die zerklüfteten Felswände der engen Schlucht ragten weit in den Himmel empor und sperrten die verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne aus. Während die Sigrun ihren Weg fortsetzte, wurde es stetig dunkler, aber glücklicherweise waren die schlimmsten Auswirkungen des Unwetters von der schmalen Kanaleinfahrt aufgehalten worden. Das Wasser im Fjord lag vollkommen still.

Der Kapitän deutete auf einen Punkt vor ihnen.

»Dort. Am Fuß des Gletschers. Es ist vielleicht nicht der günstigste Ort, aber es sieht so aus, als könnten wir das Schiff dort wenigstens teilweise auf Land setzen, sodass es für die Nacht sicher ist. Morgen früh werden wir dann einen Erkundungstrupp zusammenstellen und nachsehen, was uns an Land erwartet.«

Vidar warf einen prüfenden Blick auf die schmale, flache Eiszunge, die bis ins Wasser des Fjords reichte, und nickte. Er stemmte sich gegen das Ruder und schwenkte den Schiffsbug in Richtung des leicht abfallenden Uferabschnitts herum. Das schwindende Licht tastete sich über die Eisschollen, die das Wasser des Meeresarms bedeckten, und die Männer mobilisierten ihre letzten Kraftreserven, um das Langschiff an Land zu manövrieren. Ein heftiger Ruck lief durch das Schiff, als der steil gerundete Bug auf die gefrorene Kruste traf. Die Mannschaft sprang an Land, um das Schiff höher auf das eisige Ufer zu ziehen, damit es von der ansteigenden Flut nicht mitgerissen wurde und abtrieb. Ihre Kriegsäxte benutzten sie, um sich auf dem spiegelglatten Untergrund ausreichenden Halt zu verschaffen. Sie konnten das riesige Schiff fast zur Hälfte aufs Trockene ziehen – ein Beweis für die überlegene Konstruktion und die erstaunlich leichte, aber stabile Bauweise der Wikingerschiffe. Der Kapitän gab seinen Männern das Zeichen, die Bemühungen einzustellen. Sie hätten ihr Bestes getan und sollten lieber darauf achten, ihre Kräfte zu sparen und auf dem Deck ihre Lager für die Nacht aufzuschlagen.

Der Kapitän blickte zum Himmel, der sich mittlerweile wolkenfrei und mit seinem funkelnden Sternenzelt über ihnen wölbte, und flehte mit einem stummen Bittgebet zu den Göttern, sie möchten ihm dabei helfen, seine Männer wohlbehalten in Sicherheit zu bringen. Morgen würden sie sich, mit ihren Langbogen bewaffnet, auf eine Expedition begeben und – mit ein wenig Glück – Wildtiere aufstöbern und erlegen, damit sie ausreichend Nahrung hatten, während sie den gebrochenen Mast reparierten. Zwar war es nicht unmöglich, ausschließlich unter Einsatz der Ruder in ihre östlich gelegene Heimat zu gelangen, aber ein auch nur zum Teil funktionsfähiges Segel würde die Wahrscheinlichkeit, ihre unbezahlbare Fracht unbeschadet ans Ziel zu bringen, beträchtlich erhöhen.

Kurz vor dem Einschlafen dachte er ein letztes Mal an diesem Tag daran, um jeden Preis in die Heimat zurückkehren zu müssen. Das hatte er dem Anführer dieser Expedition, der in einem fernen Land gestorben war, mit einem heiligen Eid geschworen.

Der neue Tag begrüßte sie mit der Unheil verheißenden Kulisse eines grauen Himmels. Vidar drehte sich auf die andere Seite, wobei sein Mantel knisterte, als eine dünne Eisschicht, die sich auf der ledernen Außenhaut gebildet hatte, zerbröselte. Widerstrebend schlug er die Augen auf, um feststellen zu müssen, dass das gesamte Schiff weiß bestäubt war – ein Schneeschauer hatte es kurz nach Mitternacht zugedeckt. Der Kapitän, der nur wenige Schritte von ihm entfernt einen Schlafplatz gefunden hatte, rührte sich ebenfalls und erhob sich dann. Sein Blick wanderte über die schlafende Mannschaft, ehe er auf dem Wasser verharrte, das nun hart gefroren war. Bedrohliche Sturmwolken, die den Horizont ausfüllten, brüteten über dem Ozean. Für einen kurzen Moment verfolgte er, wie sich die dunkle Linie nach und nach näherte. Schließlich ging er zu Vidar hinüber, der, die Gliedmaßen steif vor Kälte, Mühe hatte, sich aufzurichten.

»Ich fürchte, das nächste Unwetter zieht schon auf. Die Männer sollen das, was von unserem Segel übrig ist, auseinanderfalten«, befahl der Kapitän. »Wir benutzen es als Schutzdach. Dieser Wolkenbank nach zu urteilen haben wir es noch nicht überstanden.«

Vidar nickte, während er blinzelnd den Himmel betrachtete. »Viel Zeit bleibt uns nicht, bis der Sturm losbricht.«

Der Kapitän wandte sich an seine Mannschaft. »Männer! Hoch mit euch! Zieht das Segel vom Mast und breitet es über das Deck, damit man sich darunter verkriechen kann! Und beeilt euch, wenn ihr nicht schon bald bis zum Hals im Schnee versinken wollt!«

Der Mannschaft, benommen vom Schlaf, kam nur schwerfällig in Gang, hatte es jedoch, als die eisige Sintflut einsetzte, geschafft, ein behelfsmäßiges Zelt aufzubauen und darunter Schutz zu suchen. Der erste Hagelschauer ergoss sich mit der Wucht eines Peitschenschlags auf das Wollgewebe. Die Männer waren für die Umsicht und schnelle Reaktion des Kapitäns dankbar, als der Sturm wie ein tollwütiger Dämon an ihrem Schiff zerrte.

Das Unwetter tobte, ohne im Mindesten nachzulassen, bis zur Mittagsstunde. Erst dann verringerte sich die Kraft der Windböen, bis als einziges Geräusch nur noch das heftige Atmen der Männer zu hören war, die dicht aneinandergedrängt – um sich gegenseitig zu wärmen – unter dem Schutzdach kauerten, während der Schneesturm einschlief.

Als der Kapitän den Rand des Segels anhob, zurückschlug und in die mittlerweile herrschende Windstille hinaustrat, war die Landschaft blendend hell – weiß, so weit sein Auge reichte, und das Schiff bis zum Rand unter Schneemassen vergraben. In Gedanken analysierte er ihre augenblickliche Lage, die von Moment zu Moment aussichtsloser erschien. Sie waren gefangen, da das Schiff in diesem Zustand nicht zu verwenden war. Es gab nur wenig, was seiner Hoffnung auf ihr Überleben Nahrung geben konnte.

Vidars Kopf schob sich neben ihm nach draußen, und dann zog die Mannschaft langsam das Segel zur Seite, wobei die Männer immer wieder innehielten, um den Anblick der arktischen Wüste in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Der Kapitän inspizierte die nähere Umgebung und straffte die Schultern.

»Nun gut. Das Schlimmste liegt hinter uns. Solange sich das Unwetter beruhigt hat, solltest du einen Erkundungstrupp zusammenstellen und diesen Ort in Augenschein nehmen. Sieh zu, dass ihr vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück seid. Ich möchte wissen, was uns jenseits unseres Lagerplatzes erwartet.«

Vidar, die Miene ausdruckslos und das Kinn entschlossen vorgereckt, wandte sich an die Männer. »Ich brauche dreißig eurer besten Schützen. Nehmt eure Bögen und Schwerter und packt ausreichend Verpflegung für den Tag ein. Wir brechen auf, sobald alle bereit sind.«

Die Mannschaftsmitglieder machten sich sofort ans Werk, angetrieben von der Aussicht, endlich das Schiff verlassen zu können. Gutmütige Diskussionen entbrannten darüber, wer der bessere Bogenschütze und daher eher geeignet war, die geforderte Aufgabe zu übernehmen. Nachdem sie sich entsprechend ausgerüstet hatten, begaben sich die Wikinger auf ihren Marsch durch den frisch gefallenen Schnee. In einer langen Reihe zottiger Gestalten bewegten sie sich langsam über den Gletscher und suchten nach einem Weg, vom Ufer des Fjords aus aufzusteigen. Schließlich stieß Vidar einen lauten Ruf aus und deutete auf eine schmale Lücke in der Eiswand, wo eine zerklüftete Felsformation aus dem Steilhang herausragte. Die Marschreihe arbeitete sich bis zu der vielversprechenden Stelle hinauf, ehe sie Mann für Mann außer Sicht geriet.

Die Abenddämmerung verdunkelte bereits den Himmel, als der Kapitän Vidars vertrauten roten Bart am Rand des Eisfeldes entdeckte. Er kam durch die Scharte, gefolgt von den Bogenschützen. Als Vidar das Ufer erreichte, gab er dem Kapitän mit einem kurzen Kopfnicken ein Zeichen, und die beiden Männer begaben sich zum Schiffsheck, wo sie sich ungestört beraten konnten.

»Wir sind weit vorgedrungen, haben jedoch nichts als Eis gefunden. Nicht einmal einen Vogel haben wir gesehen.«

»Was habt ihr von der Umgebung erkennen können?«

»In der Ferne waren auf beiden Seiten hohe Berge zu sehen. Ich vermute, unsere einzige Chance besteht darin, morgen bis dorthin zu gelangen. Wo das Gelände eisfrei ist, werden wir sicherlich auf Lebewesen stoßen. Und wenn wir Glück haben, können wir vielleicht erfolgreich auf die Jagd gehen und unsere Beute hierherschaffen.«

Der Kapitän ließ sich die Worte seines Bootsmanns durch den Kopf gehen.

»Na schön. Bilde beim ersten Licht des Tages zwei Gruppen. Jeweils vierzig Männer. Du führst die eine Gruppe, ich die andere. Wir trennen uns dann und marschieren in entgegengesetzten Richtungen über das Eis. Damit erhöht sich die Chance, dass eine der beiden Gruppen etwas Essbares findet. Die restlichen Männer bleiben beim Schiff.«

Am folgenden Tag brachen die Männer im Morgengrauen auf, eine lange Kolonne tapferer Krieger, bereit, den Kampf gegen keinen anderen Gegner als die Kälte und den Hunger aufzunehmen. Sobald sie auf dem Gletscher standen, legte der Kapitän Vidar eine Hand auf die Schulter und umarmte ihn.

»Viel Glück. Mögen eure Jagdtaschen am Ende des Tages wohlgefüllt sein«, sagte er.

»Das Gleiche wünsche ich Euch. Wenn wir erlegt haben, so viel wir tragen können, kehren wir zum Schiff zurück.«

Der Kapitän nickte und blickte Vidar tief in die Augen. Beide Männer wussten, dass ihre Zukunft ungewiss war und wahrscheinlich nichts anderes auf sie wartete als Not und Hunger. Aber sie waren Wikinger und würden sich vorankämpfen, bis niemand mehr von ihnen übrig war. Der Kapitän fasste einen fernen Berggipfel ins Auge und deutete mit ausgestreckter Hand in seine Richtung. Seine Stimme klang nun fest und entschlossen.

»Vorwärts, Männer! Uns winken Ströme von klarem, frischem Wasser und fette Elche. Lassen wir sie nicht zu lange warten!« Und nach diesen Worten machte er die ersten langen Schritte in Richtung der fernen Berge. Dabei bewegte er sich mit der Eleganz einer Raubkatze. Wie stets war er der Anführer, erfüllt von dem unerschütterlichen Selbstvertrauen, wie es denen eignete, die von Geburt an für diese Aufgabe ausersehen waren.

1

CARTAGENA, SPANIEN, GEGENWART

Die Bermudez wiegte sich träge in der leichten Dünung der azurblauen See und zerrte an ihrer Ankerkette wie ein kaum zu bändigender Jagdhund an einer kurzen Leine. Das zweiunddreißig Meter lange Expeditionsboot mit seinem stählernen Rumpf war deutlich robuster als die meisten Schiffe dieser Größe und erschien äußerlich eher wie ein kommerzieller Fischtrawler als wie ein meeresarchäologisches Forschungsschiff. Ein kleiner rot-weißer Tauchwimpel tanzte fünfunddreißig Meter hinter ihrem Heck auf den Wellen.

Platzende Luftblasen erzeugten auf der Wasseroberfläche nicht weit von der ungewöhnlich großen ausladenden, achtern gelegenen Tauchplattform einen kleinen Schaumteppich, als Remi Fargo aus der Tiefe aufstieg. Wasser rann an ihrem schwarzen Nasstauchanzug herab, während sie die teilweise untergetauchte Leiter hinaufkletterte. Sie schob sich die Tauchmaske auf die Stirn und genoss die warmen Strahlen der Sommersonne auf ihrem Gesicht. Ins Wasser zurückgleitend, schlüpfte sie aus der Weste, die den Auftrieb regulieren sollte. Sam Fargo kam über das Deck und die Stufen zur Plattform herunter, wo er für einen Moment innehielt, um sie mit einem Ausdruck des Wohlgefallens zu betrachten, ehe sich seine Miene zu einem Grinsen verzog und er sich bückte und die Hände ausstreckte, um ihr beim Abstreifen der Schwimmflossen und der restlichen Tauchausrüstung behilflich zu sein.

»Wer mag wohl diese Erscheinung außerordentlicher Lieblichkeit sein, wie sie da aus dem Meer auftaucht? Eine Meerjungfrau vielleicht? Oder eine Sirene?«, fragte er neckend.

Sie musterte ihn argwöhnisch und schlug ihm mit der flachen Hand auf die nackte Brust. »Führst du irgendwas im Schilde?«

Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, eine Schmeichelei kommt immer gut an.«

»Machen Sie nur so weiter, junger Mann. Dann haben Sie eine rosige Zukunft.«

Sam hob die Tarierweste mit einem starken, leicht sonnenverbrannten Arm hoch, wobei sich die klaren Konturen seiner Muskeln durch die Last des vierzig Pfund schweren Gurtsystems kaum veränderten. »Hast du noch etwas anderes gefunden?«

»Nein. Ich glaube, wir haben alles katalogisiert.« Erneut zerplatzten Luftblasen dicht vor der Tauchplattform, und ein weiterer Kopf schoss aus dem Wasser. »Wie ich sehe, ist Dominic auch schon angekommen.«

Der zweite Taucher zog sich auf die Plattform und legte Atemflasche und restliche Ausrüstung ab. Kurz geschnittenes schwarzes, grau meliertes Haar bedeckte den Kopf über seinem schmalen, dunkelhäutigen Gesicht. Er lächelte Sam und Remi an und zeigte mit hochgerecktem Daumen ein Okay-Zeichen.

»Ich denke, das war’s, oder?«, sagte er. Dies war eher eine Feststellung als eine Frage. Aufgrund seiner Position als Kapitän des Schiffes und Leiter des spanischen Taucherteams, das die Universität von Sevilla zur Erforschung des Schiffswracks in fünfundvierzig Metern Tiefe engagiert hatte, lag die Entscheidung bei Dominic. Aus Höflichkeit seinen beiden amerikanischen Kollegen gegenüber, international bekannten Schatzsuchern, hielt er sich zurück. Ursprünglich hatten sie das Wrack entdeckt und der Abteilung für Schifffahrtsgeschichte des spanischen Kultusministeriums gemeldet. Sams und Remis Untersuchungen hatten ergeben, dass es sich wahrscheinlich um ein Frachtschiff aus dem siebzehnten Jahrhundert handelte, das während eines Wintersturms gesunken war. Es lag, von Schlamm bedeckt, am Rand eines Felsvorsprungs, unter dem der Meeresboden steil abfiel. Das Wrack hatte sich als Schiffstyp aus der fraglichen Epoche entpuppt. Eine Gruppe von Tauchern und Meeresarchäologen war zusammengestellt worden, um unter Mitwirkung der Fargos seine historische Bedeutung zu bestimmen.

»Es sieht tatsächlich so aus, als sei unsere Arbeit hier abgeschlossen«, gab Remi zu, während sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, das im Sonnenlicht bronzefarben schimmerte, während es zu trocknen begann. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Tauchanzugs, und ihre Hand tastete automatisch nach dem kleinen goldenen Skarabäus, der an einer Lederschnur hing, die um ihren Hals geschlungen war. Es war ein neuer Glücksbringer, den ihr Dominic mit einer feierlichen Geste überreicht hatte, als sie an Bord gekommen waren. Er hatte ihnen tatsächlich Glück gebracht – trotz der großen Tauchtiefe war es ein relativ problemloses Unternehmen gewesen: eine Woche in idyllischer Umgebung, in der sie hatten tun können, was ihnen am liebsten war. Der Kapitän war reizend und die Mannschaft zuvorkommend und kompetent. Wenn ihre Abenteuer doch immer so ungezwungen verliefen, dachte sie und wandte sich an Sam. »Wo kann sich hier ein Mädchen frisch machen?«

»Deine Kabine wartet schon. Der Champagner ist eisgekühlt, die Schokolade liegt auf dem Kopfkissen«, erwiderte Sam mit einer knappen Verbeugung.

»Wie ich dich kenne, hast du den Champagner getrunken und das Betthupferl verputzt«, hänselte sie ihn.

»Ich bin ein offenes Buch für dich, nicht wahr? Was hat mich verraten?«

»Der braune Schmierfleck am Kinn.«

Das dumpfe Dröhnen von PS-starken Dieselmotoren drang über das Wasser zu ihnen. Sie wandten sich um und konnten verfolgen, wie eine große, weiße Privatjacht die Maschinen drosselte, während sie sich ihnen bis auf zweihundert Meter näherte. Remi blickte prüfend auf den Heckspiegel, aber der Name der Jacht und ihr Heimathafen wurden durch eine Batterie von Tauchflaschen verdeckt, die in einem speziellen Gestell aufgereiht waren.

»Noch ein wenig näher, und wir können uns gegenseitig in die Töpfe schauen«, sagte Sam, während sie weiter das andere Schiff beobachteten.

»Ziemlich groß, der Kahn, nicht wahr?«, meinte Remi.

»Wahrscheinlich mehr als fünfzig Meter lang.«

»Sie haben viele Flaschen an Bord. Sieht so aus, als planten sie eine regelrechte Tauchexpedition.«

Ein Mannschaftsangehöriger ging zum Bug des Luxuskreuzers, und Sekunden später war das Rasseln der langen Kette zu hören, als der Anker ins Meer rauschte. Zweieinhalb Meilen entfernt ragte die zerklüftete Küstenlinie in den Sommerhimmel. Ein wenig näher erhob sich die Isla de Las Palomas aus dem Meer, umschwärmt von ihrer Flotte aus Vergnügungsbooten und kleinen Jachten, die aus nahe gelegenen Marinas stammten und für Tagesausflügler gedacht waren. Ein schneeweißer Passagierdampfer tastete sich behutsam in den Hafen von Cartagena, eine beliebte Zwischenstation für viele Mittelmeer-Kreuzfahrten.

»Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, Dominic, dass ein Schiff so nahe bei dem Schiffswrack vor Anker geht?«, fragte Sam.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Dominic. »Zahlreiche Bootsführer ziehen es vor, hier in Sichtweite anderer Boote zu übernachten – für den Fall, dass sie irgendwelche Hilfe brauchen.«

»Trotzdem sind wir von den üblichen Routen ziemlich weit entfernt, meinen Sie nicht?«, sagte Remi.

»Vielleicht sind sie nur genauso neugierig und wollen wissen, was wir hier zu suchen haben«, meinte Sam. »Schließlich liegen wir schon eine ganze Woche hier, und der Tauchwimpel ist weithin sichtbar.«

»Das dürfte der Grund sein. Neugier liegt nun mal in der menschlichen Natur«, erklärte Dominic, offensichtlich unbesorgt.

Remi überschattete die Augen mit einer Hand, während sie beobachtete, wie noch mehr Ankerkette ausgebracht wurde. »Ich hoffe nur, dass sie das Schiffswrack nicht entdecken und sich an den Artefakten vergreifen, ehe die Regierungsvertreter hier eintreffen.«

»Deswegen würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen«, wiegelte Dominic ab. »Die meisten Taucher sind klug genug, sich nicht in ein Schiffswrack zu wagen, das so tief im Schlick vergraben liegt wie dieses. Niemand hat Interesse daran, in eine Falle zu geraten. Es käme einem Todesurteil gleich …«

»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Remi drehte das Gesicht in die spätmorgendliche Sonne und schloss die Augen. Dann schlug sie sie wieder auf und sah Sam fragend an. »Warst du nicht gerade dabei, mich mit Schokolade und Champagner zu verführen?«

»Das war eher eine versteckte Drohung.«

»Du solltest wissen, dass man mir so leicht keine Angst einjagen kann, ganz gleich ob mit versteckten oder offenen Drohungen.«

Sie begaben sich zu ihrer Kabine, nachdem sie ihre Ausrüstung verstaut hatten. Die Räumlichkeiten waren, gemessen an dem Standard, wie er auf Schiffen üblich war, großzügig bemessen. Mit Mahagoni getäfelt, das im Laufe der Jahre nachgedunkelt war, aber immer noch erlesenen Luxus verströmte. Sam setzte sich an den kleinen Einbautisch in der Nähe eines der beiden Bullaugen der Kabine, während Remi im Bad verschwand. Wenig später rauschte die Dusche, begleitet von Dampfwolken, die durch den Türspalt drangen.

»Glaubst du, das Boot ist harmlos?«, fragte Remi aus der Duschkabine.

»Ich sehe keinen Grund, das Gegenteil zu vermuten.«

»In dem Schiffswrack befindet sich immerhin einiges an wertvoller Bildhauerkunst«, rief ihm Remi in Erinnerung. Das Handelsschiff war mit seiner gesamten Besatzung gesunken und sollte Gerüchten zufolge unbezahlbare Antiquitäten von Griechenland nach England geschmuggelt haben, wo ein umfangreicher Markt für derartige Fundstücke existierte, auf dem sich Adlige und Angehörige der Oberklasse bedienten. Ihre sorgfältige Inventur des Wracks hatte den Jahrhunderte alten Verdacht bestätigt, und in den Frachträumen befanden sich bislang unbekannte und nie erwähnte griechische Altertümer im Wert von einigen Millionen – gewiss eine völlig andere Art von Schatz als der übliche Gold- und Juwelenschmuck, aber auf jeden Fall ein Schatz.

Man hatte gehofft, die bemerkenswerte Entdeckung so lange geheim zu halten, bis die Regierung eine fachgerechte Bergung der Kunstwerke aus dem Meer in die Wege leiten konnte. Es herrschte eine allgemeine Sorge, professionelle Schatzsucher könnten angelockt werden und den Fundort beschädigen, wenn sie versuchten, ihn zu plündern, obgleich die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall gering war.

»Das trifft auf jeden Fall zu«, räumte Sam ein. »Ich bin sicher, dass es das spanische Volk nicht so gerne sieht, wenn sich jemand mit seinem Eigentum aus dem Staub macht.« Sam und Remi pflegten die Praxis, alles, was sie entdeckten, der jeweiligen Landesregierung zu übergeben – eine Verfahrensweise, die zur Folge hatte, dass sie bei zahlreichen der interessantesten Unternehmungen dieser Art überall auf der Welt als aktive Teilnehmer herzlich willkommen waren. Sie beteiligten sich an diesem Spiel, weil der Akt des Entdeckens sie reizte und nicht das Geld, das sich mit derartigen Fundstücken verdienen ließ, zumal Sam dank des Verkaufs seiner Firma an ein Unternehmenskonsortium einige Jahre zuvor über ein umfangreiches und sicher angelegtes Vermögen verfügte.

»Dominic macht sich offenbar keine Sorgen. Und er kennt diese Gewässer wie seine Westentasche.« Das Rauschen der Dusche verstummte, und die Tür der Kabine schwang auf. Remi erschien, wickelte sich in ein flauschiges Badetuch und trocknete vor dem Badezimmerspiegel die Haare mit einem zweiten, während Sam die Tastatur des Laptops, der auf dem Tisch stand, bearbeitete.

»Das ist richtig.«

»Ich glaube, wir sollten dieses Boot im Auge behalten.«

»Aye, aye, Skipper.« Sams Blick wanderte vom Computerbildschirm zum Badeingang, durch den er Remi zur Hälfte sehen konnte, während sie sich die Zotteln aus ihrem kastanienbraunen Haar bürstete. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass du einfach umwerfend aussiehst?«

»Nicht annähernd oft genug. Und – wo bleiben Champagner und Schokolade?«

»Möglicherweise habe ich ein wenig zu dick aufgetragen, um dich unter Deck zu locken.«

»Es hat aber funktioniert. Ich hoffe, du hast eine angemessene Alternative in petto.«

Sam schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu.

»Dazu fällt mir tatsächlich etwas ein …«

2

Als Sam und Remi aufs Hauptdeck zurückkehrten, warfen sie einen Blick zur zweiten Ebene hinauf, wo sich die Mannschaft um einen Kartentisch versammelt hatte, der mit Bierflaschen übersät war. Die Männer lachten und warfen Geldmünzen in den Pott, während sie ihre Karten studierten und selbst gedrehte Zigaretten pafften, deren Rauch sich himmelwärts kräuselte und von einer leichten Brise über ihren Köpfen zerfasert wurde. Die Expedition war beendet, und nun galt es, sich zu entspannen und dem Nichtstun zu frönen, eine Beschäftigung, die die Spanier ausgezeichnet beherrschten.

Remi verfolgte amüsiert, wie einer der Männer dem Chef des Taucherteams lautstark vorwarf, beim Spiel zu betrügen. Die voraussehbare Reaktion des Beschuldigten auf die Anklage – heftige Entrüstung und verletzter Stolz – wurde mit einer Runde von Trinksprüchen angemessen besänftigt, mit denen seine Mitspieler ihm sein vollkommen integres Verhalten bestätigten. Remi drehte sich zu Sam um, doch der war mittlerweile zum Heck gegangen und blickte zum Horizont. Ein schwacher Südwind spielte mit seinen Haaren und ließ sein weißes Leinenhemd flattern. Remi gesellte sich zu ihm, und gemeinsam beobachteten sie, wie vier Taucher auf der geheimnisvollen Jacht ihre Tauchkombinationen anzogen, die Atemgeräte schulterten und sich ins Wasser fallen ließen.

»Denkst du das Gleiche?«

»Dass wir möglicherweise verraten wurden?«, fragte Remi.

»Eigentlich kam mir in den Sinn, dass dies ein schöner Nachmittag ist, der sich für einen gemütlichen Tauchgang geradezu anbietet.«

»Allzu tief kann ich nicht hinuntergehen. Ich brauche noch etwas Zeit über Wasser.«

»Ich glaube nicht, dass du diese Zeit brauchst. Ich will mich nur ein wenig umschauen und vergewissern, dass unser Verdacht unbegründet ist.«

»Dass du ein wenig paranoid bist, bedeutet nicht, dass sie es im Fall des Falles nicht auf dich abgesehen haben.«

»Genau. Also, was denkst du?«

»Dass es Zeit wird, in unsere Kabine zurückzukehren und Badezeug anzuziehen? Du bist mir nach dem letzten Tauchgang noch einige Wellness-Sitzungen schuldig.«

»Du weißt, dass ich dich begleitet hätte, hätte ich es verantworten können. Die Dekompressionstabellen lügen aber nicht.«

»Was bedeutet, dass Ihre Tauchzeit ebenfalls begrenzt ist, Mr. Cousteau«, warnte sie, während ein besorgter Ausdruck über ihre Miene glitt.

»Jawohl, Ma’am. Wie Sie meinen, Ma’am.«

»Nun, das klingt schon viel besser.«

Fünf Minuten später waren sie bereit. Die Mannschaft war noch immer in ihre Freizeitaktivität vertieft und bemerkte nicht, dass sich Sam und Remi zur Tauchplattform begaben.

»Sichtweite nach wie vor etwa zwanzig Meter?«, fragte Sam, der seine Tauchmaske aufsetzte und zurechtrückte.

»Ungefähr. Vielleicht ein wenig mehr.«

»Dann brauchen wir uns nicht allzu lange auf dem Grund aufzuhalten. Also wird es nur ein Tauchgang, rein zum Zeitvertreib.«

»In Wracknähe natürlich.«

»Ich wüsste nicht, wo sonst, oder?«

»Was ist, wenn wir entdeckt werden?«

»Wir suchen uns eine Bahn, auf der wir so lange wie möglich durch den Rumpf der Bermudez gedeckt werden«, erklärte Sam.

»Außerdem dürften sie, wenn ich mit meiner Vermutung richtigliege, nicht nach oben blicken. Du weißt ja, wie es beim Wracktauchen ist. Man hat üblicherweise einen Tunnelblick.«

Remi nickte zustimmend. »Der Plan gefällt mir.«

Sie ließen die schwere Edelstahlleiter von der Plattform ins Wasser und stiegen – anstatt sich ins Meer fallen zu lassen – vorsichtig auf ihr abwärts, bis sie vollständig untergetaucht waren. Sam gab Remi das Okay-Zeichen, und sie signalisierte auf gleiche Weise, dass sie bereit war.

Etappenweise gingen sie bis auf zwanzig Meter hinunter und bewegten sich dabei wie verabredet auf einem indirekten Kurs auf das Wrack zu. Als sie vierzig Meter davon entfernt waren, gab Sam Remi mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie sich nicht von der Stelle rühren solle. Er selbst schwamm weiter, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde, die mit zunehmender Tiefe anwuchs. Zehn Minuten verstrichen, und als sie begann, sich Sorgen zu machen, erschien Sam wieder und überprüfte die Angaben auf seinem Tauchcomputer. Er deutete in Richtung Tageslicht.

Als sie die Wasseroberfläche erreichten, war die große weiße Jacht nur fünfzehn Meter von ihnen entfernt. Er spuckte den Lungenautomaten aus.

»Erwischt. Zwei Taucher haben sich innerhalb des Rumpfs befunden, die beiden anderen warteten außerhalb. Ich konnte ihre Arbeitslampen erkennen«, berichtete er. »Und dann kamen fünf weitere aus dem Wrack. Sie hatten Statuen im Schlepptau. Demnach waren die vier, die wir beobachtet hatten, nur ein kleiner Teil der Bande. Durchaus möglich, dass zehn oder noch mehr Männer im Wrack waren.«

»Aber wie denn? Woher konnten sie es gewusst haben?«

»Offensichtlich sind sie vorbereitet hierhergekommen.«

»Was die Fragen aufwirft, wer sie sind und wer die Information weitergegeben hat.«

»Jeder, der von dem Wrack wusste, kann ihnen die Koordinaten genannt haben. Und die Liste der spanischen Offiziellen, die die Position kannten, ist ziemlich lang.«

»Das denke ich auch. Und was die Identität der Piraten betrifft …«, setzte Remi zu einer weiteren Frage an.

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du denkst doch nicht etwa ernsthaft …«

»Angriff ist die beste Verteidigung.«

»Wäre es nicht besser, die Behörden in Kenntnis zu setzen?«

»Meinst du dieselben Behörden, die diesen Kerlen vielleicht die entscheidenden Tipps gegeben haben? Um was willst du wetten, dass uns das keinen Deut weiterbringen würde?«

Remi seufzte. »Ich nehme an, das Ganze ist für deinen Geschmack bisher viel zu glatt gegangen. Ich hätte es wissen müssen.«

»Nun komm schon. Lass uns nachschauen, wie die andere Hälfte der Menschheit lebt.«

»Wir sind die andere Hälfte.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja, Sam. Ich befürchte ernsthaft, dass ich es weiß.«

Sie näherten sich der Jacht der Störenfriede in fünf Metern Tiefe, und Sam tippte einen Wegpunkt in sein Tauch-GPS, als sie sich direkt unter dem Boot befanden. Nach einem letzten Blick zum Wrack deutete er nach oben zum Heck der Jacht, und Remi antwortete mit dem Signal, dass sie bereit war. Gemeinsam stiegen sie zur Tauchleiter hinauf, die von der Schwimmplattform herabhing. Sam zog sich hinauf, dicht gefolgt von Remi.

»Wir sollten unsere Tauchausrüstung hier zurücklassen. Wir sehen genauso aus wie die anderen Taucher. Falls sich jemand für uns interessiert, wink ihm einfach zu.«

»Ich weiß nicht, Sam. Vielleicht habe ich deutlicher ausgeprägte Kurven als der technische Durchschnittstaucher.«

»Was nur einer der zahlreichen Gründe ist, weshalb ich dich liebe.«

»Wenigstens kann ich die Sorge streichen, dass du mit einem anderen Taucher durchbrennst.«

»›Durchbrennen‹ klingt irgendwie anstrengend, vor allem mit Schwimmflossen an den Füßen.«

Remi versetzte ihm einen Klaps.

Nach einer schnellen und unauffälligen Überprüfung des menschenleeren Unterdecks in der Nähe des Heckspiegels benutzten sie die Treppe, um dort hinaufzugelangen. Die Jacht hatte vier Etagen über dem Rumpf. Leise Jazzmusik drang vom Deck der zweiten Etage zu ihnen herab.

»Das klingt, als sei da oben eine Party im Gange«, flüsterte Remi.

Sam nickte. »Die Frage ist, ob wir daran teilnehmen wollen.«

»Die Vernunft verlangt, vorsichtig zu sein.«

»Also lassen wir sie platzen?«

Sie sah ihn vielsagend an. »Wenn ich nein sage, kann dich das aufhalten?«

»Eher nicht. Komm, lass uns raufschleichen, um zu sehen, mit wem wir es zu tun haben.«

»Schleichen? In einem Nasstauchanzug? Auf einer Luxusjacht?«

»Ich habe nicht behauptet, dass der Plan schon perfekt ist und keine Feinabstimmung nötig hat«, gab Sam zu.

Sie grinste. »Geh vor, großer Jäger.«

Er zog sich auf das zweite Zwischendeck hinauf und sah sich zwei extrem gebräunten jungen weiblichen Schönheiten gegenüber, die mit wenig mehr bekleidet waren als mit einem einladenden Lächeln. Sie lagen auf Chaiselonguen, die um einen Whirlpool arrangiert waren. Eine von ihnen blickte auf und musterte Sam mit unverfrorenem Blick, dann schob sie die Sonnenbrille ein Stück nach unten, um sich einen besseren Eindruck zu verschaffen.

Vier beträchtlich ältere Männer saßen an einem großen Teakholztisch, der mit lukullischen Genüssen und Champagner beladen war. Der Rauch ihrer Zigarren verlieh der abendlichen Brise ein kräftiges Aroma. Ein fünfter und deutlich jüngerer Mann stand an der Backbordreling und hatte ein Fernglas auf die Bermudez gerichtet. Sam betrachtete die gemütliche Runde, da erhob sich einer der Männer – eine Achtung gebietende Erscheinung, bekleidet mit einem hellfarbenen Robert-Graham-Oberhemd, einer elfenbeinfarbenen Armani-Hose aus einem Leinen-Seiden-Gemisch und Prada-Mokassins. Sam lächelte und sah ihm direkt in die Augen. Für ein paar Sekunden verzerrte sich das Gesicht des Mannes in tiefem Schock, wechselte jedoch schnell zu einem einstudierten Lächeln, das so affektiert war wie der cremefarbene Panamahut, der salopp auf seinem Kopf saß.

»Sam und Remi Fargo. Was für eine nette Überraschung. Wie schön, dass Sie sich blicken lassen«, sagte er mit unüberhörbar englischem Oberschichtenakzent.

Sam spürte Remi hinter sich. Ohne sich zu ihr umzudrehen, trat er mit einem ebenso freundlichen Lächeln an den Tisch, um eine Champagnerflasche aus einem der mit Kondenswasser beschlagenen silbernen Eiskübel zu nehmen. Er warf einen sekundenlangen Blick auf das Etikett und ließ die Flasche wieder ins Eis fallen.

»Nun, wenn das nicht der gute Janus Benedict ist. Wie ich sehe, trinkt er noch immer am liebsten Billecart-Salmon 1996«, sagte Sam.

»Ich sehe keinen Grund, die Pferde zu wechseln, nachdem ich bereits einen Sieger gestellt habe. Darf ich fragen, wem oder welchem Umstand wir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zu verdanken haben?«

»Wir waren drüben auf diesem Schiff, haben Ihre Jacht entdeckt und uns gefragt, ob Sie uns ein Glas Grey Poupon borgen könnten.«

»Ah, eine Kostprobe des berüchtigten Fargo-Humors. Gut gekontert«, erwiderte Janus in einem Tonfall vornehmer Gelassenheit, der seinen ergrauten bleistiftdünnen Schnurrbart ausgezeichnet ergänzte.

Die anderen drei Männer, die am Tisch saßen, fanden offenbar Gefallen an dem Intermezzo und betrachteten die Fargos mit einem Ausdruck verhaltener Belustigung – für jeden am Tisch war es offensichtlich, dass Janus und die Fargos einander schon seit langem in herzlicher Abneigung zugetan waren.

Der jüngere Mann kam an den Tisch, beugte sich zu Janus herab und murmelte ihm ins Ohr: »Janus? Was tust du? Wirf sie raus … auf der Stelle. Oder noch besser …«

Janus brachte ihn mit einer abrupten Geste zum Schweigen. Er winkte ihn beiseite und zog seinen Kopf herunter, bis sich das Ohr in Höhe seines Mundes befand. »Reginald«, zischte er, »lass das. Hör sofort auf. Man sollte stets die Nähe seiner Gegner suchen, um besser zu verstehen, was in ihren Köpfen vorgeht.«

»Das ist verrückt.« Reginald griff mit einer Hand hinter sich, wo eine Pistole in seinem Hosenbund steckte und von seinem weit geschnittenen Oberhemd verhüllt wurde.

»Reginald, du magst zwar mein Bruder sein, aber wenn du dafür sorgst, dass diese Angelegenheit auf meinem Schiff eskaliert, dann kann es verdammt teuer werden. Denk nach. Nur eine Sekunde. Wenn du eine Waffe ins Spiel bringst, bleiben uns keine weiteren Optionen mehr. Also lass es sein, sofort, verzieh dich in dein stilles Kämmerlein und pflege dein Ego, während die Erwachsenen wichtige Dinge zu besprechen haben.« Janus ließ ihn los und wandte sich wieder seinem Überraschungsbesuch zu. »Bitte, ich bestehe darauf. Ein Glas Champagner. Und Remi, darf ich bemerken, dass Sie so hinreißend aussehen wie eh und je …«

Remi hatte ihre Tauchhaube abgestreift und den Reißverschluss ihres Tauchanzugs geöffnet. »Immer noch der silberzüngige Teufel, nicht wahr, Janus?«

»Ich müsste aus Stein sein, um von Ihrer Schönheit nicht beeindruckt zu werden, liebste Lady«, sagte Janus, dann ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und schnippte mit den Fingern. Ein Steward in weißer Leinenhose und weißem kurzärmeligem Oberhemd mit schwarzen Epauletten kam aus dem Salon auf dem darüberliegenden Deck.

»Bringen Sie noch zwei Stühle für meine Gäste und außerdem anständige Gläser. Und beeilen Sie sich«, befahl Janus.

»Jawohl, Sir.«

Wie Kaninchen, die aus einem Hut gezaubert wurden, erschienen zwei weitere Stewards mit Stühlen und Champagnerflöten. Sam und Remi nahmen am Tisch Platz. Der kleinere der beiden Stewards füllte beide Gläser mit Champagner, der im Sonnenschein wie sprudelndes Gold funkelte.

Janus deutete mit einer ausholenden Geste auf seine Gefolgschaft. »Gestatten Sie mir, alle Anwesenden miteinander bekannt zu machen. Pasqual, Andrew, Sergei, begrüßt Sam und Remi Fargo – für einige gelten sie als die erfolgreichsten Schatzsucher auf dem ganzen Planeten. Oh, und der Gentleman dort drüben, der Ihr schönes Schiff bewundert, ist mein jüngerer Bruder, Reginald.«

Die Männer nickten den Fargos zu.

Sam schüttelte den Kopf. »Von Schatzsuchern kann kaum die Rede sein, Janus. Wir werden lediglich von einer unstillbaren Neugier getrieben und befinden uns manchmal in günstigen Momenten am richtigen Ort.«

»Ja, natürlich – ganz sicher werden Sie vom Glück begünstigt. Aber dem Mutigen gehört die Welt, heißt es doch so schön.« Janus hob sein Glas. »Auf günstiges Wetter und gute Fahrt.«

Remi hob ihr Glas, um mit ihm anzustoßen. Sam lächelte nur.

»Was verschlägt Sie an die spanische Küste, Janus? Diese Gegend hier ist doch gar nicht Ihr Jagdrevier, oder?«, fragte Sam.

»Nur die Arbeit und nicht der Müßiggang, mein Lieber.« Janus’ Blick streifte die dreifache liegende Weiblichkeit am Whirlpool. »Ich bin auf ärztlichen Ratschlag hier. Die salzhaltige Luft und die Sonne tun mir gut. Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit ihm noch bleibt.« Er hielt inne. »Und was hat Sie hergeführt?«

»Wir müssen denselben Arzt haben. Er hat uns fast genau die gleichen Anweisungen gegeben«, warf Remi ein.

»Na, schön. Große Geister denken oft das Gleiche.«

Sam beugte sich vor. »Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass Sie auf diesem Schiff einen regelrechten Tauchladen betreiben.«

Janus zuckte mit keiner Wimper und reagierte mit einem müden Lächeln. »Einige meiner Gäste sind wahre Tauchenthusiasten. Das ist eine der Kehrseiten, wenn man es mit denen, die einen besuchen, besonders gut meint. Ich habe die Ausrüstungen angeschafft, damit sie hier alles vorfinden, was ihr Herz begehrt.«

»Dem leeren Flaschenregal nach zu urteilen haben wir sie anscheinend verfehlt.«

»Haben Sie das? Auf einer Jacht wie dieser ist es nicht so einfach, immer zu wissen, was jeder gerade treibt. Aber es überrascht mich nicht, dass sie offenbar alle einen Tauchgang unternehmen. Schließlich ist das eine ihrer gemeinsamen Leidenschaften. Sie sind sogar ganz versessen darauf.«

»Wie groß ist das Schiff? Vierzig Meter?«, fragte Remi.

»Du liebe Güte, nein. Eher fünfzig und etwas mehr. Ich habe vergessen, wie viel genau. Diese Jacht ist nur eine von vielen in meinem Schuppen, wissen Sie. Nicht ganz einfach, sie in Schuss zu halten, und nicht gerade billig, aber weshalb reißen wir uns ein Bein aus, wenn nicht, um unseren Luxus zu genießen.«

Die nächsten zwanzig Minuten verbrachten sie mit teils versteckten, teils offenen gegenseitigen Sticheleien, umkreisten einander wie Gladiatoren in einer verbalen Arena, stets auf der Suche nach dem Hinweis auf eine verwundbare Stelle des jeweiligen Gegenübers. Aber Janus war zu gewieft, seine Deckung sinken zu lassen. Obgleich Sam und Remi sein Spiel kannten und Janus sich darüber im Klaren war, dass sie Bescheid wussten, gab es nichts, was an Bord seiner Jacht hätte unternommen werden können. Als Sam des Geplänkels überdrüssig wurde, empfahlen er und Remi sich, dankten Janus für seine Gastfreundschaft und kehrten zur Tauchplattform zurück.

»Er hinterlässt einen Geschmack wie nach verdorbenem Essen, nicht wahr?«, meinte Sam, während sie ihre Ausrüstung anlegten.

»Oder nach faulem Haifleisch.« Remi streifte sich die Haube über den Kopf. »Aber er ist aalglatt, oder? Dabei tut er so, als könnte er kein Wässerchen trüben.«

»So war er doch schon immer. Erinnerst du dich an das letzte Mal?«

Sam und Remi waren Benedict schon einmal begegnet, und zwar anlässlich einer Suchexpedition, um eine verschollene spanische Galeone vor der Küste der Normandie zu lokalisieren. Die Suche war am Ende von Erfolg gekrönt gewesen, aber erst nachdem sie sich mit verdächtigen Ausrüstungsdefekten hatten herumschlagen müssen, die, wie sie annahmen, von Janus’ Gehilfen ausgelöst worden waren. In gewissen Kreisen fiel sein Name regelmäßig in Verbindung mit gestohlenen Artefakten sowie in seinem Hauptgeschäftszweig, dem Waffenhandel mit einem Who’s Who der afrikanischen Despoten und Strohfirmen, die Rüstungskartellen angehörten. Dank seiner weitreichenden Beziehungen und einer enormen finanziellen Macht war er bisher noch nicht einmal wegen Falschparkens belangt worden. Sein Netzwerk aus Banken, Versicherungsgesellschaften und Investmentfirmen sicherte seine Stellung als feste gesetzestreue Institution im Gesellschaftsleben des Vereinigten Königreichs. Er war schon in mehr Palästen zu Gast als die meisten Karrierediplomaten und bewegte sich in den trügerischen Gewässern der Macht mit der natürlichen Eleganz und Wendigkeit eines Barrakudas.

»Wir müssen die Universität und die Regierung davon in Kenntnis setzen, Sam. Wir dürfen nicht zulassen, dass er unbehelligt damit durchkommt. Wir beide wissen, dass das Wrack vollständig ausgeweidet sein wird, wenn er davon ablässt«, flüsterte Remi.

»Ja, du hast recht. Aber ich befürchte, dass er wenigstens einige hochrangige Funktionäre hat kaufen können, sodass der Schaden für das spanische Volk, wenn sie eintreffen, um den Fund zu sichern, keinen Deut geringer ist.«

Remi überprüfte den Sitz ihrer Tarierweste und wandte sich dann zu Sam um. »Ich kenne diesen Tonfall. Was beabsichtigst du zu tun?«

»Wir nutzen die zuständigen Kanäle, aber möglicherweise müssen auch noch einige eher unkonventionelle Überlegungen angestellt werden, um zu gewährleisten, dass er nicht als Erster den Zugriff hat und sich mit irgendeinem Objekt aus dem Staub macht.«

»Und du bist genau der Richtige für solche Überlegungen … und dafür, sie in die Tat umzusetzen«, sagte sie und hob eine Augenbraue.

»Und mir gefällt der Gedanke, dass ich für dich mehr bin als nur ein hübsches Gesicht.«

»Na ja, deine Rückenmassage ist nicht übel.«

»Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?«, fragte Sam, während er über den Rand der Plattform ins Wasser unter ihnen schaute.

»Du bist ein richtiger Schnellmerker. Das mag ich.«

Sie ließ sich ins Meer fallen, und Sam wartete, bis ihr Kopf nicht sehr weit entfernt an der Wasseroberfläche auftauchte, ehe er ihr Gesellschaft leistete. Dabei suchte sein Geist bereits nach Möglichkeiten, Janus gleich an Ort und Stelle einen Strich durch die Rechnung zu machen, auch wenn seine Mannschaft deutlich in der Überzahl war.

3

Dominic ging im Ruderhaus auf und ab, während Sam und Remi mit vor der Brust verschränkten Armen auf eine Antwort des spanischen Ministeriums für Antiquitäten warteten. Sie hofften, auf diesem Weg zu erfahren, welche Maßnahmen das Ministerium ergreifen wollte, um das Schiffswrack vor einer Plünderung zu schützen. In hilfloser Verzweiflung sah Sam auf die Tageszeitanzeige seines Anonimo-Professionale-CNS-Tauchcomputers, den Remi ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatten darauf bestanden, die Meldung von der Bedrohung per Funk zu übermitteln, als niemand auf ihre Telefonanrufe reagiert hatte – an einem Freitag vor einem Feiertagswochenende nicht gänzlich unerwartet.

Dominic brach seine ziellose Wanderung ab und wandte sich zu Sam und Remi um. »Meine Freunde, wir haben alles getan, was wir tun konnten. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich irgendetwas höre.«

»Gibt es denn niemand anderen, mit dem wir uns in Verbindung setzen können? Die Polizei? Oder vielleicht die Küstenwache?«, fragte Remi.

»Ich benachrichtige gerne alle und jeden, aber es steht in den Sternen, wie viele dieser Institutionen reagieren werden. Sie dürfen eines nicht vergessen: Während diese Angelegenheit für uns von äußerster Wichtigkeit sein mag, rangiert sie beim Rest der Welt auf der Prioritätenliste ziemlich weit unten. Das Beste für uns wird sein, so lange abzuwarten, bis sich jemand von der Universität oder von der Regierung meldet.«

»Bis dahin können sie sich mit den meisten, wenn nicht gar allen antiken Fundstücken wer weiß wohin abgesetzt haben«, warnte Sam.

Dominic zuckte die Achseln. »Ich kann Ihren Frust nachempfinden. Mir geht es genauso. Deshalb warte ich und rufe weiter jeden an, der mir einfällt.«

Sam legte eine Hand auf Remis Arm, und sie wechselten einen vielsagenden Blick. Sam nickte und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich denke auch, wir müssen uns an das herrschende System halten. Wenn es niemand für nötig befindet zu antworten, können wir es nicht erzwingen. Und wir dürfen auf keinen Fall Benedikts Boot versenken. So gern ich es tun würde.«

Remi sah ihn düster an. »Sam …«

»Ich sagte, dass ich es nicht tue.« Sam sah Dominic fragend an. »Sie geben uns Bescheid, wenn Sie etwas hören?«

»Natürlich. Sobald ich etwas erfahre.«

Sam ging voraus aufs Deck zurück, wo das Grillfest der Mannschaft im Laufe des Tages an Lautstärke zugenommen hatte. Raues Gelächter empfing sie, begleitet von gespielten Zornesausbrüchen am Tisch, an dem das nicht enden wollende Kartenspiel andauerte. Auf der Wasseroberfläche rund um die Bermudez tanzten goldene Blitze, während die Sonne unter dem Horizont versank. Bald würde die Abenddämmerung einsetzen. Sam und Remi wussten, dass die Chancen auf Maßnahmen, über die von den Behörden zu entscheiden war, im gleichen Maße sanken, wie der matte Glanz der Sonne verblasste.

In ihre Kabine zurückgekehrt, ließ sich Remi aufs Bett sinken und blickte zu Sam hoch, der an einem der Bullaugen stehen geblieben war und Janus Benedicts Jacht beobachtete.

»Du weißt, dass sich bis frühestens Montag niemand melden wird«, sagte sie.

»Das ist unglücklicherweise richtig. Ganz gleich, ob es daran liegt, dass Benedict dafür bezahlt hat, dass niemand erreichbar ist, oder daran, dass wir in Spanien Freitag haben.« Sam machte eine kurze Pause. »Ich glaube, ich weiß, wie sie mit den Statuen das Weite suchen, ohne das Risiko einzugehen, dass jemand das Schiff betritt und sie verhaftet, obwohl ich mir nicht hundertprozentig sicher bin. Sie werden nichts ins Boot laden.«

»Wie wollen sie dann die Artefakte stehlen?«

»Hm. Einmal mit einem kleinen Taschenspielertrick, und dann, indem sie auf Mutter Natur vertrauen, dass sie ihre Spuren verwischt.«

»Für Rätsel ist es schon etwas spät am Tag, Sam.«

»An ihrer Stelle würde ich warten, bis es dunkel ist. Was meinst du, wie lange würde es dauern, den Frachtraum zu leeren?«

»Nur die Statuen herauszuholen, ohne darauf zu achten, dass das Wrack nicht beschädigt wird? Mindestens einen ganzen Tag. Aber dabei könnten einige Stücke auf der Strecke bleiben«, sagte Remi.

»Richtig. Ihr größtes Problem wird sein, alles vom Meeresboden nach oben zu holen. Das schaffen sie nicht, ohne dass es offensichtlich wird. Daher vermute ich, sie werden bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und die Schiffswinden benutzen.«

Remi runzelte die Stirn. »Du hast doch gerade eben gemeint, dass sie die Fundstücke nicht einladen.«

»Nicht in die Jacht.«

Irritiert starrte sie ihn an, ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen, und dann begann sie zu lächeln. »Du bist ein ganz Raffinierter, nicht wahr?«

»Wenn man einen Dieb fangen will, muss man genauso denken wie einer«, erklärte Sam. »Sie könnten es in sechs bis sieben Stunden schaffen, wenn sie sich beeilen – was sie, worauf du dich verlassen kannst, tun werden. Die Arbeitslampen werden den Mangel an Tageslicht mehr als wettmachen. Ich vermute, dass sie eine Nachtschicht einlegen und dafür sorgen, im Morgengrauen abzudampfen, wenn nicht noch früher. So stell ich mir das vor.«

»Aber wir werden ihnen einen Schraubenschlüssel ins Getriebe schmeißen«, sagte Remi.

»Darauf kannst du wetten. Ich bin ein Spezialist im Schraubenschlüssel-Werfen. Auf dem College war das mein Nebenfach.«

»Ich dachte, das wäre Biertrinken gewesen.«

»Man muss seine Prioritäten setzen. Und sie schließen einander nicht aus.«

»Was meinst du denn, wann wir in die Party einsteigen sollen?«

»Ich würde sagen: um vier Uhr morgens. Besser früh als zu spät.«

»Möchtest du mir nicht verraten, wie wir sie aufhalten sollen?«

»Ich dachte schon, du würdest mich nie danach fragen.«

Verschlagen grinste der Mond zwischen verstreuten Wolken hervor. Sein kaltes Licht lag wie ein unwirkliches Schimmern auf der geriffelten See, während Sam und Remi zur Tauchplattform hinabstiegen. Das restliche Archäologenteam hatte sich längst zur Ruhe begeben und schlief den sorglosen Schlaf der Berauschten. Remi öffnete eins der wasserdichten Aufbewahrungsfächer und holte zwei klobige, mit integrierten Nachtsichtgeräten ausgestattete Tauchmasken hervor – eine Errungenschaft, die Sam seinen guten Kontakten zum Verteidigungsministerium verdankte. Sie hatten sie erfolgreich im Rumpf des Schiffswracks eingesetzt, wo ihre Optik die winzigsten Lichtspuren so weit verstärkte, dass der gesamte Bereich wie in helles Licht getaucht erschien.

»Ich hoffe, dass alles so klappt wie geplant«, flüsterte Remi, während sie gegenseitig ihre Ausrüstung überprüften.

»Es ist das Beste, was wir versuchen können. Aber, hey, wie finde ich denn das?«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Schädel. »Deine Ausrüstung ist okay.«

»Deine auch.« Er reckte sich. »Die Nachtsichtgeräte entsprechen dem neuesten Stand der Technik. Schlimmstenfalls benutzen wir eine der Stablampen, sollten wir eine kleine Lichtquelle brauchen. Wenn wir vorsichtig sind und den Strahl ständig auf den Schiffsrumpf richten, dürfte niemand etwas bemerken.«

Sie ließ den Blick über die leichte Dünung schweifen. »Hab ich eigentlich schon gesagt, wie romantisch ich es finde, mitten in der Nacht im kalten Meer zu tauchen?«

»Ich hatte gehofft, mit diesem Vorschlag offene Türen bei dir einzurennen.«

»Du kennst mich wie deinen eigenen Herzschlag.«

Sie erstarrten beide, als auf dem oberen Deck ein verräterisches Knarren erklang. Sam spitzte die Ohren und lauschte auf einen Hinweis, der auf eine Bewegung schließen ließ. Aber nach ein paar Minuten vollkommener Stille entspannten sie sich – wahrscheinlich waren es nur die hölzernen Decksplanken, die sich zusammenzogen, während sie nach der Hitze des Tages abkühlten.