Der Sohn der Kellnerin - Ellen Heinzelmann - E-Book

Der Sohn der Kellnerin E-Book

Ellen Heinzelmann

4,8

Beschreibung

Das Leben der Studentin Hannah nimmt eine überraschende Wendung. Unerwartet wird sie schwanger und ein schwerer Schicksalsschlag trifft sie. Doch tapfer stellt sie sich dem Leben mit ihrem Kind, einem ganz besonderen Jungen. Bald stellt sich nämlich heraus, dass der Kleine anders ist, als andere Kinder seines Alters. Er zeigt klare Merkmale eines Genies. Was eigentlich Anlass zu großen Erwartungen und Hoffnungen sein könnte, fordert die junge Mutter auf nicht alltägliche Weise heraus. Sprachlosigkeit und Verwirrung bestimmen ihr Leben. Es gibt sogar Zeiten, da hegt sie Zweifel und fragt sich, wo wohl die Grenze zwischen Genialität und Irrsein zu ziehen sei.

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Das Buch

Das Leben der Studentin Hannah nimmt eine überraschende Wendung. Unerwartet wird sie schwanger und ein schwerer Schicksalsschlag trifft sie. Doch tapfer stellt sie sich dem Leben mit ihrem Kind, einem ganz besonderen Jungen. Bald stellt sich nämlich heraus, dass der Kleine anders ist, als andere Kinder seines Alters. Er zeigt klare Merkmale eines Genies. Was eigentlich Anlass zu großen Erwartungen und Hoffnungen sein könnte, fordert die junge Mutter auf nicht alltägliche Weise heraus. Sprachlosigkeit und Verwirrung bestimmen ihr Leben. Es gibt sogar Zeiten, da hegt sie Zweifel und fragt sich, wo wohl die Grenze zwischen Genialität und Irrsein zu ziehen sei.

Die Autorin

Ellen Heinzelmann, Fachfrau für Marketing und Kommunikation, wurde 1951 im Kreis Waldshut geboren. Während ihrer langjährigen beruflichen Tätigkeit – zuletzt als Marketing- und PR-Verantwortliche in einer Organisation des öffentlichen Rechts in Basel – übersetzte sie Texte vom Deutschen ins Französische und Englische, wirkte als Dolmetscherin bei Vertragsverhandlungen in Paris. Auch wirkte sie als Lektorin und als Ghostwriterin. Die geschriebene Sprache hatte schon in früher Kindheit große Faszination auf sie ausgeübt. Nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben, ist sie ihrer Berufung schließlich gefolgt. Mit dem vorliegenden Debütroman »Der Sohn der Kellnerin«, eine nicht alltägliche Geschichte, startete sie 2011 ihre Schriftstellerlaufbahn und nahm ihre Leser gleich mit auf eine emotionale Reise.

www.ellen-heinzelmann.de

Inhalt

Teil 1 1990 - Hannah

Kapitel 1 bis

9

Teil 2 1996 - Alexander (Kindheit)

Kapitel 10 bis

16

Teil 3 2005 – Alexander (Teenager- und Erwachsenenzeit)

Kapitel 17 bis

20

Mein Dank

geht an meine Familie, die mich bei meinem Buchvorhaben tatkräftig unterstützt hatte, sei es durch die hilfreichen Tipps und Ideensammlung, durch Lektorieren oder durch Umschlagsgestaltung, der eine Fotosession mit meinem Enkel Oliver vorausging.

Teil 1

1990

Hannah

1

Sie stand am Fenster und schaute dem munteren Schneetreiben zu. Ihre Augen, deren Farbe fast nicht definierbar war – die Farbe mutete an wie das Innere einer blauen Muskateller-Weintraube – blickten seltsam entrückt.

Es war ein schöner, munterer Tanz der Schneeflocken. Wenn man lange genug hineinschaute, konnte man fast hypnotisiert werden. Plötzlich schreckte sie aus ihrer Versunkenheit. »Hannah?« Der Ruf war nicht sehr laut. Dennoch, in diese Stille hinein, die sie total umfing, war er wie ein Donnerschlag. Sie drehte sich um und blickte zu Alexander. Dieser saß auf der Couch, seine Füße lagen überkreuzt auf dem Couchtisch. Auf den Oberschenkeln lag aufgeschlagen das Buch Klausurenkurs zum BGB.

*

Hannah lernte Alexander an der Ludwig-Maximilians-Universität in München kennen. Sie beide begannen dort vor knapp zwei Jahren ihr Jurastudium. Er fiel ihr sofort auf. Er war ein gut aussehender, hochgewachsener Mann mit sportlicher Figur. Seine dunkelbraunen Haare trug er kurz geschnitten, seine dunkelbraunen Augen strahlten Zuversicht und Wärme aus. Sie fühlte sich von ihm angezogen. Ihm schien es mit Hannah mit ihren großen, farblich undefinierbaren Augen und ihrem zu einem Pferdeschwanz zusammen gebundenen Haar, das trotz ihrer halbitalienischen Abstammung strohblond war, nicht anders ergangen zu sein. Denn es dauerte nicht lange, bis sie sich zusammen eine kleine 35-qm große möblierte Studentenwohnung in Garching nahmen. Hier in Garching waren die Wohnungen nicht so teuer wie in München und trotzdem hatten sie es nicht weit mit Bus und U6 zur Uni in München.

*

»Was gibt's?«, fragte Hannah. Die Frage kam ein bisschen krächzend heraus. Doch das war immer so, wenn sie lange nicht gesprochen hatte. Er lächelte und meinte: »Du stehst nun schon mindestens eine Stunde wie eine Steinsäule am Fenster und starrst hinaus. Ich wollte dich einfach mal aus deinem Grübeln herausholen und fragen, ob du nicht vielleicht Lust auf einen kleinen Snack hättest.« Es war ihr nicht wohl. Sie musste ihm unbedingt etwas sagen, aber es fiel ihr schwer. Alexander sah so zufrieden aus, schien unbeschwert. Fast ein bisschen spitzbübisch wirkte er, wenn er lachte und sich feine Grübchen in die Wangen gruben. Sie liebte ihn über alles.

»Na?«, sagte er fordernd, denn er wartete noch immer auf eine Antwort. Sie lächelte, strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz löste, hinters Ohr. »Wollen wir ein paar Schritte um den Block gehen? Es gibt nichts Schöneres, als durch den jungfräulichen Schnee zu stapfen«, schlug sie stattdessen vor.

Alexander zog seine Stirn kraus, was wohl andeutete, dass der Vorschlag ihm nicht gerade entgegenkam.

»Ich verspreche Dir, wenn wir zurück sind, koche ich uns etwas Leckeres«, versuchte sie ihn für ihr Ansinnen zu begeistern.

»Na ja, etwas frische Luft kann uns ja nicht schaden«, gab er widerwillig nach, denn er hatte alles andere, als Lust darauf, jetzt in die Kälte hinauszugehen. Er fügte deshalb auch gleich hinzu: »Dann lass es uns hinter uns bringen, denn Du hast mir mit den Aussichten auf ein leckeres Essen schon den Mund wässrig gemacht.«

Hannah lächelte: »Lass dich überraschen.«

Und bald sah man sie Arm in Arm durch den Schnee stapfen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Luft. Es war zwar erst Nachmittag, aber die schweren Wolken, die den Himmel durchgehend bedeckten, sorgten für eine schummrige Dämmerung. Es war eine ganz besondere Stimmung, die das dämmrige Licht in Verbindung mit dem hell leuchtenden Schnee zauberte. Hannah liebte diese Atmosphäre, schon als Kind. Sobald es schneite, drängte es sie hinaus und sie tanzte mit den Schneeflocken. Hannah schmiegte sich näher an Alexander, der einen Arm um ihre Schulter legte. ›Wie schmal sie ist‹, dachte er, ›fast ein wenig zerbrechlich‹. Ja, man hätte beim Anblick dieser schönen blonden Frau nicht vermutet, dass sie in Wirklichkeit sehr zäh und äußerst willensstark war, die sich, wenn es um für sie wichtige Belange ging, sehr gut durchsetzen konnte. Sie sprachen nicht viel. Jeder hing seinen Gedanken nach. Eigentlich hatte Hannah sich vorgenommen, jetzt mit Alexander zu besprechen, was ihr schon lange auf dem Herzen lag. Doch sie konnte es nicht; noch nicht. Die Stimmung war zu romantisch, als dass sie mit ihrem Anliegen hätte hineinplatzen können. Und Alexander machte sich Sorgen, weil seine Freundin seit ein paar Tagen sehr bedrückt wirkte. Ihr feines ebenmäßiges Gesicht wirkte ernst, ihre Augen schienen ihm dunkler denn je. Was war nur los mit Hannah? Er hielt sie noch fester umschlossen, als wolle er sie vor allen möglichen Unbilden des Lebens schützen. Nach einer guten halben Stunde kehrten sie wieder nach Hause zurück. Ach wie tat die Wärme drinnen gut.

Hannah machte sich gleich an die Arbeit und Alexander leckte voll Vorfreude die Lippen. »Kann ich dir helfen?«, fragte er.

»Du kannst den Tisch schon mal aufdecken. Ich komme hier alleine zurecht.«

Er schaute Hannah über die Schultern, während er ihre Hüften umschlang und in Richtung der zwei dampfenden Töpfe schnupperte und meinte: »Riecht phantastisch«, und mit einem Kuss auf ihren Hals löste er sich schließlich von ihr.

Hannah kochte sein Lieblingsgericht: Spaghetti Vongole à la création Hannah. Er setzte sich an den Tisch und beobachtete Hannahs letzte Handgriffe. Den Wein hatte er schon eingeschenkt, überall brannten die Kerzen, die Hannah aufstellte. Hannah liebte Kerzenlicht. Eine warme, gemütliche Stimmung erfüllte den Raum.

»Wie immer ausgezeichnet das Essen«, lobte Alexander, als er die letzte Gabel mit Genuss in den Mund geschoben hatte und anschließend genießerisch mit der Zunge über die Lippen fuhr.

»Bei der guten Küche muss ich aufpassen, dass ich nicht irgendwann wie eine Tonne durch die Gegend rolle«, fügte er schmunzelnd hinzu.

Er wollte Hannahs Weinglas noch mal nachfüllen, doch sie legte die Hand auf das Glas. »Nein«, sagte sie, »keinen Wein mehr.«

Es herrschte eine entspannte, man könnte fast meinen, wenn Alexander es nicht besser wüsste, eine friedliche Stille. Hannahs Blick entfernte sich nämlich wieder und schien durch alles hindurchzugehen. Es war wieder diese Abwesenheit, wieder diese gespenstische Ruhe um Hannah, die Alexander schon seit geraumer Zeit mit besorgter Aufmerksamkeit verfolgte.

»Woran denkst du, meine Liebe?«, fragte er.

Doch es kam nicht die Antwort, die Hannahs Bedrücktheit erklärte … die ihn endlich verstehen ließ.

»Ach, ich war in Gedanken gerade in die Zeit zurückversetzt, als wir noch in Florenz lebten und ich mich im zarten Alter von sechs Jahren in den Nachbarsjungen Mario verliebte und ihm ewige Treue schwor.«

»Oh«, Alexander zog die Augenbrauen hoch und fragte mit gespielter Eifersucht, »kann ich mit Mario mithalten?«

»Du wirst es nicht glauben«, lächelte Hannah, »er sah aus wie du – Alexander im Kleinformat.«

»Na, dann ist es wohl kein Wunder, dass wir uns begegnet sind. Du wolltest, dein Versprechen auf ewige Treue einlösen und wenn es nur bei Marios Double ist«, lachte er amüsiert.

»Ja schon möglich«, gab sie ihm recht.

»Und du? Hattest du damals auch schon so schöne lange blonde Haare wie heute?«

»Sie waren noch heller, fast weißblond, ja und auch lang.«

»Muss wunderschön ausgesehen haben, wenn du im Sommer schön braun warst. Deine sonnengetönte Haut im Kontrast zu den hellen Haaren. Ich stelle es mir richtig plastisch vor«, schwärmte er.

*

Hannah stütze ihr Kinn in ihre Hand und lächelte. In der Tat. Sie, die nichts im Hause hielt, sobald die Sonne hervorlugte, war immer schön goldbraun getönt. Sie war eine richtige kleine Puppe.

Ja, Hannah hatte eine glückliche Kindheit. Sie fühlte sich von ihren Eltern geliebt, geborgen und verstanden. Ihr Vater, Daniele, war Italiener und die Wurzeln ihrer Mutter, Simone, eine nordische Schönheit, waren in Deutschland. Die ersten Lebensjahre verbrachte Hannah im Heimatort ihres Vaters, Florenz, bevor sie siebenjährig nach Stuttgart kam. Ihren ersten großen Schicksalsschlag erlebte Hannah, als sie zwölfjährig ihre Mutter verlor. Ihre Mutter war erst vierzig Jahre alt, als sie an Krebs verstarb. Ihr Vater konnte den Tod seiner Frau nie richtig verschmerzen. Sicher, er war auch nach diesem herben Verlust ein treusorgender Vater, der es Hannah an nichts fehlen ließ. Aber er war vergrämt und baute physisch und psychisch immer mehr ab. Es war der Anfang einer schweren psychischen Erkrankung.

Als Hannah 16 Jahre alt war, wurde er mit einer schweren Depression in die Psychiatrie eingewiesen. Die Ärzte erklärten Hannah, es bestünde akute Suizidgefahr. Ein Jahr nach dessen Einweisung starb ihr Vater. Es fehlte ihm der Wille weiterzuleben, hatte man Hannah erklärt, als man ihr die Todesnachricht überbrachte. Für Hannah brach eine Welt zusammen. Dank der fürsorglichen Liebe ihrer Tante Sophia, die jüngere Schwester ihres Vaters, die kinderlos geblieben war, und Onkel Robert, beide lebten ebenfalls in Stuttgart, konnte Hannah diese schweren Schicksalsschläge einigermaßen verarbeiten.

Tante Sophia war der warme, liebevolle und tröstende Teil, Onkel Robert, der etwas jünger als Tante Sophia war, war genau ihr Gegenstück. Irgendwie fand Hannah, dass sie in ihrem Onkel das Kind im Manne entdeckte. Mit niemandem konnte sie so unbeschwert lustig sein, manchmal sogar richtig blödeln. Besonders er trug mit seiner nicht gespielten fröhlichen Jungenart sehr viel zu Hannahs Trauerbewältigung bei. Er schaffte es, wenn sie still vor sich hin sinnend dasaß, sie aus ihrem lethargieähnlichen Zustand herauszuholen. Hannah liebte beide sehr. Sie waren für sie echter Elternersatz. Und sie selbst machte ihnen viel Freude, nicht nur weil sie eine gute fleißige Schülerin war und so lieb und anschmiegsam sein konnte. Sie war so gut erzogen, so höflich und sie machte ihren Pflegeeltern nie Ärger. Sie war ein Mädchen, wie Eltern sie nur wünschen konnten.

Dafür, dass Hannah ein bisschen ernster und nachdenklicher als früher war, hatten sie volles Verständnis. Denn womit das Kind fertig werden musste, war schon ein gewaltiger Einschnitt in dieses junge Leben. Doch sie setzten auf die barmherzige Zeit, die bekanntlich Wunden allmählich heilen ließ.

*

»Was ist los, Hannah?«, bohrte Alexander wieder.

»Hm?«, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch.

»Ich sehe doch, dass dich seit Tagen etwas bedrückt. Willst du es mir nicht sagen? Es macht mich traurig, erstens dich so zu sehen und zweitens noch mehr, dass du so wenig Vertrauen hast, um mit mir über deine Sorgen zu sprechen.«

»Nein, nein. Es ist nur …« Sie stockte. Was für ein blöder Anfang, um mit Alexander über ihre Bedrücktheit zu sprechen. Aber, wie sollte sie es ihm sagen? Sie war im dritten Monat schwanger und hatte keine Ahnung, wie eine ihr Leben so stark verändernde Nachricht bei Alexander ankommen würde. Würde er wütend sein? Würde er einfach nur niedergeschlagen sein? Würde er ihr Vorwürfe machen und sie womöglich zur Abreibung drängen? Dass er sich freuen könnte, wagte sie gar nicht zu hoffen. Sie wusste ja selbst nicht einmal, ob sie sich über das Tropi-Kind, so nannte man Kinder, die trotz Pille entstanden, freute. Ihr Studium würde sie für eine Weile oder gar für immer an den Nagel hängen müssen. Sie hatte im ersten Moment sogar erwogen, das winzige Etwas, das in ihr heranwuchs, wegmachen zu lassen. Das jedoch war nur ein kurzer Gedanke bei der Alternativensuche, wie es nun weitergehen sollte. Sie wusste schon in dem Moment, als sich dieser Gedanke einschlich, dass sie es niemals übers Herz bringen würde.

»Es ist nur …?«, hakte Alexander ungeduldig nach. Hannah schaute ihm tief in die Augen, um jede kleine Regung in ihm aufzufangen, während sie sagte: »Wir beide bekommen ein Kind.«

Er erstarrte für einen Moment. ›Das war es also das Geständnis, das so lange in der Luft hing und eine Bedrücktheit verbreitete‹. Er war einfach nur sprachlos. Es fiel ihm schwer, das soeben Erfahrene zu kommentieren. Es war, als würde ihm jemand den Hals zuschnüren.

Die Gedanken überschlugen sich. Er war 22, Hannah 21 … wie sollten sie das Leben bewältigen … mit einem Kind. Sie steckten beide mitten in der Ausbildung. Ihre erste Zwischenprüfung nach dem vierten Semester stand bevor. Sie hatten Pläne. Sie träumten von einer Gemeinschaftskanzlei. Hannah wollte sich auf Familien-, Erb- und Scheidungsrecht spezialisieren, während er, Alexander, die Gebiete Handels- und Gesellschafts- sowie Arbeitsrecht abdecken wollte. Sollte das alles jetzt plötzlich wie eine Luftblase zerplatzen? Alle ihre Pläne? Wie konnte es passieren? Hannah nahm doch die Pille.

Ein bleiernes Schweigen hing zwischen ihnen beiden. Alexander blickte zu Hannah und sah, dass Tränen in ihren Augen standen.

Tonlos fragte er: »Wann… wann ist es soweit?«

Hannah stand auf, schnäuzte sich ihre Nase, ging zur Tür. Sie war so aufgewühlt. Sie wollte am liebsten davon laufen. Einfach weg.

Dann drehte sie sich wieder zu Alexander um, mit dem Rücken an den Türrahmen gelehnt, sagte sie mit fast erstickter Stimme: »Anfang August.«

»Hannah … ich …«, stammelte Alexander, »ich … ich bin im Moment überfordert. Alles schlägt über mir zusammen. Es ist … es ist, als wäre ich in ein tiefes schwarzes Loch gefallen ... als müsste ich ertrinken. Ich weiß nicht …«

Verdammt noch mal. Warum konnte er nicht in Worte fassen, was er fühlte. Noch nie zuvor blieben ihm die Worte einfach so weg, als steckten sie im Hals fest … um ihn dort zu ersticken. Er stand auf und ging zu Hannah, nahm ihr Gesicht in beide Hände. Er spürte, dass sie zitterte.

»Ich weiß einfach nicht, wie es nun weitergehen soll«, brachte er nur mühsam hervor. Sie senkte ihren Blick.

»Wirst du mich verlassen?«, fragte sie ohne Umschweife.

»Um Gottes Willen, Hannah, nein! Nein …, das ist es nicht. Ich will dich doch nicht verlassen. Dafür liebe ich dich zu sehr. Nur … ich muss erst mal einen klaren Gedanken fassen.«

Der traurige Blick, mit dem Hannah ihn anschaute, schmerzte ihn.

»Komm mein Kleines«, sagte er, jetzt bedeutend ruhiger, und zog sie an sich. Sie ließ sich in seine Arme sinken und legte ihr Gesicht auf seine Schulter. Er spürte ihren zarten Körper und die Wärme, die von ihr ausging. Sie wirkte so zierlich, so verletzbar. Wie so oft, wurde sein Beschützerinstinkt wieder geweckt und mit warmer, ruhiger Stimme sagte er: »Wie könnte ich das tun? Es ist doch auch mein Kind.«

Es war ihm, als würde er die Bedeutung der Aussage ›Wir beide bekommen ein Kind‹ erst jetzt richtig begriffen haben. Ein Geschöpf, dessen Existenz mit dem Tage der Verkündung für den Rest seines Lebens ein Teil desselben sein würde. Eine Verantwortung, in die er erst hineinwachsen musste.

»Wir müssen jetzt einfach nur überlegen, wie es weitergehen soll.«

Hannah schaute zu ihm auf. Sie nahm ihn durch den Schleier ihrer Tränen nur verschwommen war:

»Weißt du, ich könnte in Joeys Treff kellnern. Joey wäre sicherlich froh, wenn er hört, dass ich immer arbeiten könnte, nicht nur sonntags und in den Semesterferien oder zwischendurch mal abends. Das Restaurant ist sehr gut angelaufen. Es hat sich herumgesprochen, dass man dort sehr gut essen, gemütlich sitzen und gelegentlich musikalische Darbietungen genießen kann. Er müsste früher oder später noch Personal einstellen. Ich denke er könnte Unterstützung jetzt sehr gut gebrauchen. Und du arbeitest ja auch in den Semesterferien. Außerdem hast du ja noch das Geld auf dem Bankkonto, das dir dein Vater einrichtete und das uns gut über die Runden helfen würde.«

»Ja sicher. Das hört sich alles sehr schön an. Aber was ist mit deiner Zwischenprüfung?«

»Ich kann doch später, wenn du ein erfolgreicher Rechtsanwalt bist, mein Studium wieder aufnehmen. Ich bin doch noch jung«, insistierte sie mit einem leichten Anflug von Euphorie, »jetzt geht es doch nur darum, dass wir einigermaßen gut über die Runden kommen. Alles Weitere sehen wir dann.«

»Komisch«, sinnierte Alexander mehr zu sich selbst als zu Hannah, »ganz plötzlich löst sich ein eben scheinbar unlösbares Problem fast wie im Nichts auf.«

Voll Vertrauen, von dem noch Minuten zuvor nichts, aber auch gar nichts zu spüren war, streichelte er ihren Bauch und lächelte: »Wir packen das, Hannah! Wir packen das!«

2

Die Natur war längst aus ihrem Winterschlaf erwacht und verwandelte sich allmählich zu einem einzigen großen Blumenstrauß. Es roch so herrlich. Hannah kam gerade von der Arbeit bei Joey und war auf dem Weg nach Hause. Sie nahm einen Umweg, um das wunderbare Gefühl noch möglichst lange auf sich wirken zu lassen.

*

Joey war ein kräftiger urwüchsiger Bursche. Er war 35 Jahre alt, groß und breitschultrig. Ein ganzer Kerl eben und lebte seit fünf Jahren in einer Beziehung mit dem zwei Jahre älteren Thomas, ein begnadeter Koch. Joeys dunkelblondes dickes, unzähmbares Haar, umrahmte sein Gesicht und gab diesem Hünen ein etwas jungenhaftes Aussehen. Doch das Jungenhafte verlor sich, angesichts seiner grünen Augen, die einen sehr kritischen manchmal nachdenklichen Ausdruck hatten. Man hätte ihm bei der ersten Begegnung niemals diese ruhige, besonnene und dennoch herzliche Art, die sein Wesen bestimmte, zugetraut.

Als Hannah ihm erzählte, dass sie ihm ab sofort als feste Mitarbeiterin zur Verfügung stand, war er hoch erfreut. Dennoch fragte er etwas besorgt: »Ja, und was ist mit deinem Studium?«

Die Nachricht von Hannahs Schwangerschaft jedoch ließ ihn diese zierliche Frau vor lauter Freude wie ein Kind brüsk in die Höhe heben. Er herzte sie vor Überschwang.

*

Am meisten jedoch hatte sie sich vor der Beichte bei ihren Zieheltern gefürchtet. Schließlich waren Onkel und Tante stolz auf ihre Hannah; stolz, dass sie ihr Mädchen, nach den herben Schicksalsschlägen, mit ihrem elterlichen Einfühlungsvermögen auf einen guten Weg bringen konnten. Stolz, dass Hannah das Zeug hatte, zu studieren.

Hannah wählte die Nummer in Stuttgart und hatte Tante Sophia an der Strippe. Als sie nach der ersten freudigen Begrüßung allmählich mit ihrer Neuigkeit herausrückte, war es einen Moment ganz still. Hannah spürte, dass ihre Tante enttäuscht war. Sie vernahm, wie Onkel Robert im Hintergrund ganz ungeduldig fragte, was eigentlich los sei. Ihre Tante legte wohl die Hand auf den Hörer, denn wie durch einen Filter gedämpft, hörte sie, wie sie dem Onkel in aller Kürze von Hannahs Schwangerschaft erzählte.

»Was?«, hörte sie ihn rufen und schon hatte er Tante Sophia den Hörer aus der Hand genommen, »wir werden Großeltern? Hannah! Oh mein Gott Hannah!«

Konnte es sein, dass das ein freudiger Ausruf war? Hannah war sich noch nicht ganz sicher.

»Na ja«, meinte er, »zugegeben, der Zeitpunkt ist nicht gerade gut gewählt, ich meine so mitten in der Ausbildung, aber … wenn's halt passiert ist. Man kann das kleine Wesen doch deshalb nicht gleich verdammen, oder!«

Hannah fiel ein Stein vom Herzen. Wahrscheinlich hatte sie diese Einstellung ihres Onkels der Tatsache zu verdanken, dass sie beide ungewollt kinderlos geblieben waren. Er musste es als großes Glück empfunden haben, wenn andere ihr Schicksal der Kinderlosigkeit nicht teilen mussten.

*

Hannah atmete die herrlich würzige Frühlingsluft tief ein. Sie liebte den Frühling. Es war ein Sprießen und Drücken. Alles drängte, sich zu entfalten gleich einer Explosion. Sie verglich dieses Erwachen der Natur mit ihrem jetzigen Zustand. Sie schaute lächelnd an sich herunter und strich sich über ihren sich schon deutlich abzeichnenden Bauch. Wenn es ein Junge würde, würde sie ihn Simon nennen, nach ihrer Mutter Simone. Den Mädchennamen, Daniela, nach Hannahs Vater Daniele, hatte Alexander von sich aus vorgeschlagen. Es war ganz in Hannahs Sinn, obwohl sie ihn nicht selbst vorgeschlagen hatte. Sie wollte die Wahl des Mädchennamens Alexander überlassen.

Sie ließ sich Zeit, lief ganz langsam, nahm diesen wunderbaren Augenblick ganz bewusst wahr. Alexander würde jetzt gerade über seiner Klausurarbeit sitzen, und da wollte sie ihn nicht stören. Wenn er in dieser Halbzeit erfolgreich war, konnte er in zweieinhalb Jahren sein Studium abschließen. Sie war sich sicher, alles würde gut werden. Alexander freute sich mittlerweile auf das Kind und er schmiedete jetzt schon wieder Pläne. »Man muss flexibel sein«, sagte er zu Hannah, »und sich verändernden Verhältnissen anpassen können. Schließlich geht das Leben ja weiter.« Alle anfänglichen Sorgen waren wie weggeblasen. Es galt hier nur noch die Freude über ihr gemeinsames Kind, ein Kind der Liebe.

Es war schon drei Uhr am Nachmittag als sie nach Hause kam. Alexander saß, wie vermutet, über seinen Büchern. Auf der Küchentheke standen noch die Reste des Mittagessens des Vortags, das er sich aufwärmte. Hannah kochte am Abend immer so viel, dass es für den nächsten Tag reichte, weil sie ja arbeitete. Gegen Abend musste sie nämlich wieder in Joeys Treff, um für die abendlichen Gäste zu kellnern. Sie war bei den Gästen sehr beliebt und verdiente ziemlich gut Trinkgeld.

Alexander war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er Hannah erst gar nicht bemerkte, als sie hereinkam. Erst, als sie sich daran machte, die Küche aufzuräumen, wurde er ihrer gewahr. »Ach, du bist da? Habe dich gar nicht kommen hören.« Er stand auf, ging zu ihr, umarmte sie, küsste sie und streichelte ihren gewölbten Leib. »Komm, lass das, ich räume meine Reste selbst weg! Und du ruhst dich aus.« Sie lächelte: »Es ist ja nur eine Kleinigkeit. Das mache ich mit einem Handstreich.« Er strich Hannah nochmals zärtlich über die Wange, »du bist eine wunderbare Frau«, und machte sich wieder über seine Bücher.

Plötzlich schoss ihm sichtlich etwas durch den Kopf. »Ach Hannah, fast hätte ich es vergessen. Tante Sophia hat angerufen. Es schien dringend und sie bittet, dass du sie gleich zurückrufst.«

»Hatte sie etwas gesagt, worum es geht?«

»Nein. Es hörte sich nur einfach sehr wichtig an. Zumindest schien sie sehr aufgeregt.«

Hannah ging zum Telefon, wählte die Stuttgarter Nummer und schon nach dem zweiten Klingelton vernahm sie Tante Sophias fragendes »Hallo?«

»Ich bin's, Hannah. Du hast angerufen Tante Sophia?«

»Ja, gut dass du gleich zurückrufst. Doch zuerst, wie geht es dir? Läuft alles gut mit der Schwangerschaft? Ist der Arzt zufrieden? Kommt Alexander gut voran mit seiner Arbeit? Geht es dir auch wirklich gut?«

Hannah lachte und meinte: »das waren eine Menge Fragen gleich auf einmal. Ja, Tante Sophia, es geht mir gut, die Schwangerschaft verläuft bilderbuchgemäß, mein Arzt ist mehr als zufrieden und Alexander kommt mit seiner Arbeit gut voran. Auch in meinem Job bin ich sehr zufrieden. Joey ist ein richtig lieber Kerl. Er mag mich. Er passt gut auf mich auf, will nicht, dass ich mich übernehme. Er sieht sich fast ein bisschen wie Papa Nr. 2, denn er redet immer von ›unserem Kind‹.«

»Na, ich weiß nicht. Ist der Kerl nicht schwul?«

»Tante Sophia!!«, sagte Hannah mit gespielter Empörung, »du bist doch von dieser Welt. Es ist doch heutzutage nichts mehr Außergewöhnliches, wenn jemand homosexuell ist. Joey und Thomas sind ganz nette, gute Freunde, auf die Verlass ist. Die beiden sind das perfekte Team. Sie haben das Restaurant, das Joey in herunter gekommenem Zustand übernommen hatte, innert kürzester Zeit auf Erfolgskurs gebracht. Und, was mich betrifft, ich bin froh dass ich in Joeys Treff arbeiten darf.«

»Na ja, vielleicht hast du recht. Wahrscheinlich bin ich halt doch ein bisschen altmodisch.«

»Aber sag Tante Sophia, das Thema Joey war doch nicht der Grund, warum ich anrufen sollte. Alexander sagte mir, es sei äußerst dringend.«

»Ach was, äußerst dringend ist etwas übertrieben.«, widersprach sie betont gleichgültig, als wäre die Angelegenheit nicht von solcher Bedeutung, wie Alexander antönte, »es ist nur … na ja, es gibt da bei uns eine gewichtige Änderung.«

»Aha, also doch immerhin ›gewichtig‹«, stellte Hannah leicht ironisch fest.

»Roberts Bruder braucht unsere Hilfe«, brachte Tante Sophia schließlich ohne weitere Umschweife hervor.

*

Onkel Roberts Bruder, Paul, war zehn Jahre älter als Robert, also 52 Jahre alt, und wanderte vor knapp dreißig Jahren nach Neuseeland aus. In Auckland eröffnete er einen Gebrauchtwagenhandel. Die Geschäfte liefen zwar nicht schlecht, aber es fehlte einfach noch etwas und so erweiterte er sein Geschäft um den Zweig Autovermietung. Nach relativ kurzer Zeit hatte er ein florierendes Geschäft, das er nach und nach vergrößerte. Er war auch verheiratet, doch die Ehe ging nach fünf Jahren auseinander. »Wir sind einfach zu verschieden«, sagte eines Tages seine Frau Jennifer ganz unerwartet. Paul war wie vor den Kopf gestoßen, konnte es gar nicht richtig fassen. Es stimmte, sie waren verschieden, aber zogen sich Gegensätze bekanntermaßen nicht eher an, als dass sie ein Hindernis darstellten? Jenny ging gerne aus, genoss das Leben, wollte tanzen, feiern, während er eher ein Familienmensch war. Er hatte sein Geschäft, das bestens lief, eine süße kleine Tochter, eine hübsche Frau, was wollte er mehr. Doch das war Jenny nicht genug und Paul wurde klar, dass es nicht diese Gegensätze waren, die zusammenschweißten. Geraldine, die Jenny bei Paul ließ, ist heute vierzehn Jahre alt und Paul ist stolz, dass sich seine Tochter auch ohne Mutter sehr gut entwickelt hatte.

*

»Und wie soll die Hilfe aussehen?«, fragte Hannah jetzt schon etwas ungeduldig.

»Paul ist krank, sehr krank. Er fürchtet, dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, bis seine Tochter alt genug ist, um auf eigenen Beinen zu stehen und das Geschäft zu übernehmen. Er fragte uns, ob wir es uns vorstellen könnten, nach Auckland zu kommen, und uns seiner Tochter und seines Geschäfts anzunehmen. Alles würde natürlich vertraglich gut abgesichert werden, so dass wir keine Angst zu haben bräuchten.« Tante Sophia machte eine kurze Pause, um Hannah Zeit für eine Reaktion einzuräumen, doch die war zu sprachlos, nur einen Pieps hervorzubringen.

»Hannah, bist du noch da?«

»Ja, ich bin noch da. Ich höre.«

»Nun dieser Vorschlag kam für uns etwas plötzlich. Ich meine, damit konnten wir doch überhaupt nicht rechnen – oder? Mit einem solchen Gedanken, auszuwandern, hatten wir uns im Traume nie auseinandergesetzt. Und nun werden wir so ganz beiläufig angefragt, als ginge es um eine alltägliche Sache, wie … wie … na ja, wie ein Wocheneinkauf. Wir sollten gerade mal so eben eine Entscheidung treffen, die unser ganzer Leben verändern würde.«

»Und, habt ihr sie getroffen?«, drängte Hannah, um endlich zu erfahren was Sache ist.

»Nun, wir baten Paul um eine Bedenkfrist. Und er meinte dann, dass er auch nicht gleich mit einer Antwort gerechnet habe. Er wisse schließlich, dass ein solcher Entschluss reichlich überlegt sein müsse. Er versicherte uns auch, dass er es uns nicht verübeln würde, wenn wir uns zu einem solchen Schritt nicht durchringen könnten. Er dachte an uns, da ihm halt wichtig war, dass Geraldine versorgt sein würde. Die Tatsache, wie wir für dich, Hannah, Vater und Mutter mit Liebe und Fürsorge ersetzten, mache ihn zuversichtlich, dass Geraldine gut aufgehoben sein würde. Er habe so großes Vertrauen in uns und wäre überglücklich, wenn wir auf seinen Vorschlag eingingen.«

Tante Sophia, machte erneut eine kurze Pause, und da sie von der anderen Seite der Leitung immer noch nichts hörte, fuhr sie weiter: »Und da saßen wir nun, Robert und ich. Robert meinte dann, dass es schon wert sei, sich mit der Vorstellung einer Auswanderung auseinanderzusetzen. Schließlich ist sein Arbeitgeber gerade dabei, der schleppenden Geschäfte wegen, Mitarbeiter zu entlassen. Sicher sei im Moment gar nichts, und erst recht nicht der Job. Wir überlegten hin und her, diskutierten oft bis tief in die Nacht. Ich kann dir sagen, Hannah, es kostete mich manche Stunde Schlaf. Und dann sagte Robert ziemlich entschlossen, dass er Paul diesen Gefallen nicht ausschlagen könne. Immerhin sei Paul sein Bruder, der nicht mehr lange zu leben habe und nun ihn um seine Hilfe anflehte. Wie könnte er seinem einzigen Bruder seinen, sagen wir mal, letzten Wunsch ausschlagen. Zweitens wisse er nicht, wie es mit seinem Job hier weitergehen würde und drittens, reize es ihn, nochmals ganz etwas Neues anzufangen. Er ist immerhin erst 42 Jahre alt und Neuseeland wollte er immer schon einmal kennenlernen. Außerdem …«. Tante Sophia stockte abermals.

»Außerdem …?«, hakte Hannah unverzüglich nach.

»Na ja, er meinte, du seiest ja jetzt selbständig, hast bald deine eigene Familie und bist auf uns nicht mehr so angewiesen … zumindest nicht so, wie Paul und Geraldine«, beendete sie den begonnenen Satz.

»Das bedeutet also, dass ihr euch entschieden habt?«

»Ja.«

»Aha«, antwortete Hannah, die sich durch diese überraschende Nachricht im Moment etwas überfahren fühlte, oder wie man so schön sagt … sie fiel aus allen Wolken. »Und, wann wollt ihr Deutschland verlassen?«

»Anfang Juli. Wir waren natürlich inzwischen schon aktiv, haben ziemlich viel in die Wege geleitet. Robert hat gekündigt und arbeitet noch bis Ende Juni. Tja, und dann geht's ab nach Neuseeland.«

»Ui, so weit seid ihr schon mit der Planung und Organisation? Ich bin sprachlos.« Hannah holte erst mal tief Luft. Die beiden würden ihr fehlen, aber auf der anderen Seite, war es deren Leben und … nun, die kleine Geraldine würde eine große Chance erhalten. Und so fügt sie hinzu: »Ich denke, ihr habt es euch wirklich reiflich überlegt und, na ja, ihr werdet mir zwar fehlen, aber es wird wohl das Richtige sein. Können wir uns noch mal sehen, bevor ihr abfliegt?«

»Ja, auf jeden Fall. Es wäre natürlich schön, wenn du nach Stuttgart kommen könntest.«

Hannah überlegte einen Moment. Joey würde ihr sicher ein paar Tage frei geben, damit sie nach Stuttgart reisen konnte. Sie würde dann am Mittwochnachmittag fahren und am Montag um die Mittagszeit wieder in München sein.

»Ich werde versuchen Ende Mai für vier Tage zu euch zu kommen, muss aber erst noch mit Alexander und Joey sprechen. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich mich definitiv entschieden habe, ja.«

Sie verabschiedeten sich voneinander und Hannah blieb einen Moment bewegungslos sitzen. Das war ein bisschen viel auf einmal. Eine ganz neue, unbekannte Situation. Doch sie tröstete sich. Es gab ja Telefon. Was sie von München nach Stuttgart bewerkstelligen konnte, konnte sie doch auch von München nach Auckland. Regelmäßig gesehen haben sie sich ja seit sie ihr Studium aufgenommen hatte sowieso nicht.

3

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