Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde - Angélique Beldner - E-Book

Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde E-Book

Angélique Beldner

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Beschreibung

Für die SRF Tagesschau-Moderatorin Angélique Beldner war es lange undenkbar, sich öffentlich zu Rassismus zu äußern, nicht weil sie ihn nicht erfahren hätte, sondern weil sie nicht wollte, dass die Farbe ihrer Haut eine Rolle in ihrem Leben spielte: So hat sie lange geschwiegen, rassistische Äußerungen entschuldigt, weggesteckt und so versucht, sich dem Schmerz zu entziehen. Doch dann kam der Sommer 2020, und ihr wurde klar: Es reicht!In Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde begibt sich Angélique Beldner gemeinsam mit dem Schriftsteller Martin R. Dean auf die Suche nach einer Sprache, in der über und gegen Rassismus gesprochen werden kann. Vor dem Hintergrund ihrer Biographien stellen sie entscheidende Fragen: Wo steht die Schweiz beim Thema Rassismus? Welche Perspektiven, welche Haltungen gibt es? Für wen steht was auf dem Spiel? Angélique Beldner und Martin R. Dean entschieden sich gegen das Wegschauen und das Schweigen und für das Sprechen - miteinander, in der dialogischen Form dieses Buches, und zum Lesepublikum, das dazu eingeladen ist, zuzuhören, hinzusehen und die eigenen Positionen zu hinterfragen.

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Angélique Beldner | Martin R. Dean

Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde

atlantis

Vorwort von Angélique Beldner

Fast mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich nie über meine Hautfarbe[1] gesprochen. Ich wollte als Individuum wahrgenommen werden, als Schweizerin. Ich wollte, dass die Farbe meiner Haut keine Rolle spielt, weder im Guten noch im Schlechten. Ich wollte meine Ziele erreichen, nicht trotz der Hautfarbe und schon gar nicht wegen ihr, sondern mit ihr.

 

Mit dieser Strategie bin ich gut gefahren. Ich nahm das Leben, wie es kam. Rassismus war für mich weit weg. Nicht, weil ich ihn nicht erlebt hätte, sondern weil ich ihm keinen Raum geben wollte. Das ist mir gut gelungen. Ich hätte viel darauf gewettet, dass ich niemals in einem Film oder einem Buch meine eigenen Rassismuserfahrungen vertiefen würde. Das war für mich etwa so abwegig wie die Vorstellung, mich ohne Fallschirm irgendwo runterzustürzen.

 

Bis zum Sommer 2020, der alles veränderte. Am 25. Mai 2020 starb in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd durch brutale Polizeigewalt. Er hatte sich mit einer mutmaßlich gefälschten 20-Dollar-Note eine Schachtel Zigaretten gekauft. Zwei Mitarbeiter des Ladens folgten ihm auf die Straße und verlangten die Zigaretten zurück. Floyd weigerte sich, was ihm zum Verhängnis werden sollte. Er hatte in seiner Vergangenheit bereits negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht und war zunächst nicht kooperativ. Die Polizisten hatten bereits negative Erfahrungen mit anderen Schwarzen gemacht und waren nicht zimperlich. Nein, sie waren gewaltsam. Einer der Polizisten kniete neuneinhalb Minuten lang auf Floyds Nacken, obwohl Floyd mit den Händen auf dem Rücken bereits in Handschellen lag, sich nicht wehren konnte und um Luft rang. Die anderen anwesenden Polizisten schauten zu und schritten nicht ein. Floyd starb schließlich auf dem Bauch liegend, nachdem er etwa dreißig Mal folgenlos »I can’t breathe« gehaucht hatte, »ich kann nicht atmen«.

 

Dieser gewaltsame Polizeieinsatz eines weißen US-Polizisten gegen einen Schwarzen Mitbürger war nicht der erste. Doch es war der Vorfall, der die ganze Welt aufhorchen und schließlich auf die Straße gehen ließ. Es war der Sommer, in dem auch die Schweiz protestierte. Gegen die Gewalt gegen die Schwarze Bevölkerung in den USA, aber auch gegen den immer noch vorhandenen Rassismus an vielen anderen Orten dieser Welt, auch in der Schweiz. Es war der Sommer, in dem das Thema allgegenwärtig war. In den Medien, auf der Straße, in der Kantine und abends am Familientisch. Es war der Sommer, in dem ich meine Hautfarbe auf einmal nicht mehr ignorieren konnte. Es war der Sommer, in dem ich schmerzlich erfuhr, wie viele Menschen immer noch viele Dinge abstreiten oder kleinreden, die aus Sicht jedes und jeder Schwarzen in diesem Land schlicht Realität sind. Es war der Sommer, in dem sich all diese Reaktionen wie Nadelstiche in mich bohrten. Es war der Sommer des großen Schmerzes. Im eigenen Land, in meiner Heimat, da, wo ich glücklich war und es bleiben wollte, da stieß ich auf einmal auf so viel nicht eingeforderte Unterstützung, aber gleichzeitig auch auf viel Unverständnis. Es war der Sommer, in dem ich merkte, dass ich selbst alles immer kleingeredet und jegliche Diskriminierungserfahrung verdrängt hatte. Es war der Sommer, in dem alles hochkam und ich merkte: Wenn alle so schweigen würden wie ich, wird sich niemals etwas ändern. Ich beschloss aufzustehen, egal, wie viel Kraft es mich kosten würde. Ich beschloss, mich von nun an zu wehren. Für mich, aber auch für alle anderen, deren Stimmen nicht gehört werden. Dazu gehörte, dass ich zunächst akzeptieren musste, dass ich anders aussehe als die Mehrheit in diesem Land. Ich kann mich benehmen wie die Mehrheit, ich kann sprechen wie die Mehrheit, ich kann mich anpassen, so viel ich will. Etwas an mir bleibt anders. Meine Hautfarbe. Es war der Sommer, in dem ich aufhörte, meine Hautfarbe als Handicap hinzunehmen. Der Sommer 2020 war der Sommer, in dem ich Schwarz wurde.

 

Für mich begann im besagten Sommer eine Auseinandersetzung mit Rassismus im eigenen Land, mit meinen eigenen teils verdrängten, teils beschönigten Erfahrungen. Ich war auf einmal bereit, hinzuschauen und zu reden. Weil mir bewusst wurde, zu was das Schweigen geführt hatte. Ich hatte mich schweigend gut eingebettet und mir Strategien zugelegt, die mich gut durchs Leben kommen ließen. Doch mir wurde auch bewusst, dass ewiges Schweigen keine Option sein kann, weil uns das nicht weiterbringt. Wir können aus unseren Fehlern lernen. Doch erst, wenn wir sie als Fehler erkannt haben. Dazu braucht es uns alle. So entstand im Herbst 2020 der SRF-Dokumentarfilm in der Reihe Reporter mit dem Titel »Rassismus in der Schweiz: Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde«. Nach diesem Film erreichten mich hunderte Rückmeldungen. Unterstützende, verständnisvolle, fragende, bestätigende, kritische, besserwisserische und auch rassistische. Alle diese Reaktionen ergaben ein Bild davon, wo die Schweiz beim Thema Rassismus im Jahr 2020 stand. Daraus entstand die Idee, das Thema in einem Buch zu vertiefen und einen Teil dieser Rückmeldungen darin einfließen zu lassen.

 

Eine Rückmeldung kam von Schriftsteller Martin R. Dean. Er schrieb mir in einer Mail:

»Ihre Sendung hat mich berührt, weil sie auch einen Teil meiner Biografie beschreibt. Als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters bin ich in den fünfziger Jahren im aargauischen Menziken aufgewachsen. Ich habe in einigen Büchern die Erfahrung des Rassismus beschrieben, hatte aber erst dieses Jahr den Eindruck, dass diese Erfahrungen von den Schweizer*innen gehört wurden. Ich habe also vergleichbare Ermutigung durch die Black-Lives-Matter-Bewegung erfahren wie Sie, kenne aber auch die tausendfachen Weisen der Verharmlosung, des Abstreitens, der Leugnung. Vielleicht können wir uns mal kennenlernen. Vielleicht können wir sogar einmal eine gemeinsame Veranstaltung machen. Ein Engagement scheint sehr wichtig zu sein.«

Das war der Anfang einer wertvollen Beziehung. Seit dem Herbst 2020 tauschten wir uns regelmäßig über unsere Identitäten und unsere Erfahrungen aus. Aus seiner Idee einer gemeinsamen Veranstaltung und meiner Idee eines Buches mit Rückmeldungen entstand dieses Buch in Gesprächsform, in dem Reaktionen zum Dokumentarfilm collagenartig eingebaut wurden.

Angélique Beldner, im März 2021

Hinweise

Abgedruckte Rückmeldungen

Alles kursiv und in Anführungszeichen Gesetzte, das keine Quelle aufweist, sind Reaktionen, die mich per Mail, Briefpost, SMS oder als persönliche oder öffentliche Nachrichten über die Social-Media-Kanäle erreicht haben. Der größte Teil sind Reaktionen auf den Film, einige Nachrichten wurden mir unabhängig davon zugestellt. Vereinzelt wurden mir auch Texte zugeschickt, die bereits in der hier abgedruckten oder einer ähnlichen Form andernorts veröffentlicht wurden. Schweizerdeutsch, französisch und englisch geschriebene Reaktionen wurden für dieses Buch ins Hochdeutsche übertragen, Sprachnachrichten auf Hochdeutsch transkribiert. Die Absender*innen der allermeisten Reaktionen sind mir bekannt und haben mir die Erlaubnis gegeben, ihre Zuschriften abzudrucken. Nur einzelne habe ich nicht gefragt. Es sind jene, die mir ihre Rückmeldung anonym zugestellt haben, deren Rückmeldung ich als zutiefst respektlos empfinde, und ganz wenige, die ich zu meinem Bedauern nicht ausfindig machen konnte. Im Buch sind sämtliche Reaktionen anonymisiert. Diese Kommentare zum Thema Rassismus sollen einen Einblick in die Gedanken vieler Menschen in der Schweiz geben. Wir möchten dezidiert darauf hinweisen, dass sie nicht unsere persönliche Meinung abbilden. Wir haben uns bewusst entschieden, die Meldungen nicht zu kommentieren.

Triggerwarnung

Im Buch wird über Erfahrungen berichtet, die Leser*innen verstören können. Es werden zudem Rückmeldungen mit teils rassistischem Inhalt und rassistischen Formulierungen abgedruckt. Die meisten rassistischen Wörter werden dabei ausgeschrieben. Um die Realität abzubilden, war es unvermeidbar, einige dieser Begriffe zu reproduzieren. Die Wörter N* und M*kopf werden jedoch konsequent nicht ausgeschrieben.

Verwendung der Begriffe »Schwarz« und »People of Color«

Dem Thema Begrifflichkeiten widmen wir in diesem Buch ein ganzes Kapitel (»Die Farbe der Wörter«). Wir haben uns entschieden, im Buch von People of Color oder Person of Color, kurz PoC zu sprechen. Der Begriff stammt aus dem Selbstbezeichnungsvokabular rassistisch unterdrückter Menschen. Er wurde im Laufe der sechziger Jahre im Kontext der Black-Power-Bewegung als politischer Begriff geprägt. Auch benutzen wir den Begriff »Schwarz« als politische Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung. Schwarz wird deshalb mit großem S geschrieben.[2]

 

Wir verweisen an dieser Stelle zusätzlich auf das Glossar im Anhang dieses Buches.

»Als Barack Obama zum 44. Präsidenten gewählt wurde, hatte ich Freude und Angst: Freude ›that the change has come‹, Angst vor der Nachricht, er wäre erschossen worden. Als ich dich zum ersten Mal im TV sah, hatte ich Freude und Angst: Freude ›that the change has come‹, Angst, die Anfeindungen würden dich zerstören.«

Black-Lives-Matter-Demonstration in Zürich im Juni 2020 © KEYSTONE/Ennio Leanza

Der Sommer 2020

»Du hast mir die Augen geöffnet und gezeigt, wie wichtig die Black-Lives-Matter-Proteste auch bei uns waren. Ich konnte es nie ganz einordnen, warum die Proteste von den USA aus so stark auf uns ausstrahlten – und ob es gerechtfertigt sei, die Verhältnisse in den USA mit unseren hier gleichzusetzen. Du hast mir zu meiner Beschämung eine klare Antwort geliefert. Dafür danke ich dir sehr.«

Ich: Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd ging es mir am Anfang so, wie den meisten anderen Menschen in unserem Land wahrscheinlich auch. Er bewegte mich, tat mir leid und weh, mit mir zu tun hatte er zunächst aber eigentlich nichts. Es ging um Polizeigewalt, die ich selbst nie erlebt habe, und es ging um die USA. Für mich fühlte es sich erst mal noch ganz weit weg an. Wie war das bei dir, Martin?

 

Martin: Die Bilder des auf Georges Hals knienden Polizisten haben mich empört und gleichzeitig ein mir bekanntes Ohnmachtsgefühl hervorgerufen. Doch dann merkte ich an den Kommentaren, dass sich etwas änderte. Ich redete mit Freund*innen darüber, und eine Zeit lang gingen wir davon aus, dass es sich um eine typisch amerikanische Situation handelte. Doch plötzlich ging mir auf, dass es auch in der Schweiz vergleichbare Situationen gab. Ja, dass ich schon etliche Male von der Polizei angehalten worden war, Gott sei Dank nie so brutal. Und dann versammelten sich die Menschen auf dem Barfüsserplatz in Basel, und ich wusste, ich musste da hin, ich war es meiner eigenen Lebensgeschichte schuldig, dem, was ich seit Kindsbeinen erfahren und auch erlitten hatte. So stand ich dann mit meiner Geschichte bei den anderen, die auch ihre Geschichte hatten, und fühlte, was sie fühlten. Was haben diese Solidarisierungen bei dir ausgelöst?

 

Ich: Was zunächst vermeintlich nichts mit mir zu tun hatte, bewegte mich allmählich sehr. Es geschah etwas mit mir, das ich erst gar nicht bemerkte. Etwas, das dazu führte, dass mir diese Geschichte und alles, was mit dem Schwarzsein und mit Rassismus zu tun hat, immer näher kam. Es kam mir geografisch näher, aber auch emotional. Es hatte damit zu tun, dass die Rassismusdiskussionen nicht mehr aufhörten. Im Gegenteil: Sie wurden lauter und intensiver, und ich begriff allmählich, welche Gefühle und Meinungen in der Gesellschaft vorhanden sind. Ich spürte auf einmal eine große Solidarität, das war schön. Ohne dass ich danach gesucht oder verlangt hätte, tauchten plötzlich Menschen auf, die die gleichen Erfahrungen machen wie ich. Sie erzählen das Gleiche wie ich, sie erleben das Gleiche wie ich. Das war etwas komplett Neues für mich.

 

Martin: Für mich war neu, dass ich auf einmal mit so vielen Menschen darüber sprechen konnte. Früher waren es nur einzelne – meist ebenfalls Betroffene. Das fühlte sich dann jeweils an, wie wenn zwei Kranke sich unterhalten und der eine sagt: »Hast du auch so Kopfweh?«, und dann der andere bestätigt: »Ja, ich hab’ auch so Kopfweh«. Doch hier war es etwas ganz anderes. Der blinde Fleck wich einem Bewusstsein, und Freund*innen und Bekannte sprachen das Thema an. Es gab plötzlich einen Resonanzraum in der weißen Gesellschaft, der mich erschreckte, aber auch begeisterte. Und es gab viele Freund*innen, die zu Kompliz*innen wurden. Man hat dann auch über jene Bücher von mir gesprochen, in denen ich Diskriminierungserfahrungen beschreibe. Kurz: Es gab wie aus heiterem Himmel plötzlich ein Verständnis. Die Demonstrationen, die Berichte und Analysen waren im wahrsten Sinne eine Ermutigung. Warst du auch auf diesen Demonstrationen?

 

Ich: Ich war auf keiner dieser Demos. Ich hatte nicht das Bedürfnis hinzugehen – oder vielleicht muss ich eher sagen: Ich hatte Angst, hinzugehen. Denn ich habe das Thema nicht an mich herangelassen und ich wollte es auch nicht an mich heranlassen. Aber ich habe natürlich die Bilder gesehen, ich habe gesehen, welche Transparente die Demonstrant*innen in die Luft hielten. Und ich dachte: Krass, da steht ja das, was ich denke. Woher wisst ihr das? Ich war mein ganzes bisheriges Leben lang davon ausgegangen, mit meinen Erfahrungen, Gedanken, Empfindungen alleine zu sein. Kaum je habe ich mit jemandem darüber gesprochen. Doch auf einmal sah ich überall Schwarze Menschen und habe mich gefragt: Woher kommt ihr plötzlich? Euch habe ich bisher gar nicht registriert. Schlimm, oder? Ich bin – salopp gesagt – in meiner Kindheit stehen geblieben, in der es in meiner Umgebung kaum andere gab, die so aussahen wie ich. Mit diesen Scheuklappen lief ich 44 Jahre lang durch die Welt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich meine Umwelt längst verändert hatte, dass sie viel diverser geworden war. Diese Erkenntnis hatte etwas Schönes. Aber da war eben auch noch die andere Seite. Das Thema Rassismus war allgegenwärtig. Jede und jeder äußerte sich dazu, hatte eine Meinung. Und viele äußerten sich auf eine Art, die mich verletzte. Als wüssten sie genau, wovon sie sprechen, als wüssten sie genau, welche Probleme bestehen und welche nicht, als wüssten sie genau, was verletzend sein kann und was man »nicht persönlich nehmen« sollte. Es wurde so viel debattiert, dass der Moment kam, wo ich dachte: Ich kann nicht weiter schweigen. Denn im Gegensatz zu den allermeisten Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen begleitet mich das Thema schon mein ganzes Leben. Ich habe dazu wirklich etwas zu sagen.

 

Martin: Es braucht Geschichten, in denen Menschen wie wir unsere Erfahrung anderen zugänglich machen. Und jede Erfahrung, das weiß ich mittlerweile, ist verschieden. Es sind nicht dieselben Blicke, Worte und Gesten am Werk, wenn ein halb-indischer Mann und eine halb-afrikanische Frau ausgegrenzt werden. Auch wenn die Grundmechanismen die gleichen sein mögen. Deswegen braucht es auch die Offenheit der Mehrheitsgesellschaft, uns zu hören und zu sehen. Und diese Bereitschaft hat, durch die Ereignisse in den USA und die Berichterstattung, spürbar zugenommen. Wenn ich zurückblicke, erstaunt es mich, wie sich die Gesellschaft langsam aber stetig verändert hat. Der Umgang mit den »Fremden« in dem oberwynentaler Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist heute um einiges selbstverständlicher und lockerer als zu der Zeit, als ich ein Kind war. Aber er ist noch lange nicht selbstverständlich genug. War dieser Prozess für dich auch eine Befreiung?

 

Ich: Am Anfang war ich noch weit von einer Befreiung entfernt. Es passierte etwas mit mir, doch ich konnte es nicht erklären. Ich konnte nicht damit umgehen. Ich machte das mit mir alleine aus und habe es keinem gesagt. Dann kam der Tag … Ich war bei meiner Mutter zu Besuch, und sie fragte mich, was die aktuelle Debatte eigentlich bei mir auslöse. Ich brach in Tränen aus. Erst in diesem Moment konnte ich mir eingestehen, dass mich das, was sich in unserem Land gerade abspielte, alles andere als kalt ließ. Und dass es sehr wohl viel mit mir und meiner Geschichte zu tun hat. Ich begriff auch, dass es nicht nur mit meiner, sondern genauso mit der Geschichte meiner weißen Mutter zu tun hat. Ich glaube, es war auch das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass sie sich all diese Gedanken, die ich mir ein Leben lang schon gemacht habe, ebenfalls gemacht hat. Sie ist für sich nur nicht zur selben Erkenntnis gekommen. Sie hat – wie ich bis dahin teilweise auch – Rassismus oft beschönigt, entschuldigt. So hat sie mir bis zum Sommer 2020 regelmäßig gesagt, dass das N-Wort ja früher nie böse gemeint gewesen sei und dass sie selbst es als Kind ja auch noch benutzt habe. Immer wenn sie mir das früher gesagt hat, ärgerte es mich. Denn mit dieser Aussage kann man eigentlich alles entschuldigen. In dieser Aussage steckt so viel drin: vor allem aber, dass man Leute nicht verurteilen soll, wenn sie aus Unwissenheit, Ungebildetheit oder Unüberlegtheit rassistisch sind. So jedenfalls habe ich das empfunden, wenn sie damit kam. Widersprochen habe ich nicht. Doch ich hatte den Eindruck, wenn sie mir so etwas über Jahre, ja Jahrzehnte immer wieder runterbetet, dass sie sich beim Thema Rassismus nicht weiterbewegt. Denn sie kann ja unmöglich glauben, dass ich als Schwarze erwachsene Frau noch nie davon gehört habe, dass früher dieses schreckliche N-Wort noch als was anderes gegolten hatte. Es war im Sommer 2020, dass ich ihr das erste Mal gesagt habe, dass mich das stört. Und zwar, weil ich plötzlich Worte dafür hatte. Sie hat es sofort verstanden und seither nie mehr getan. Im Gegenteil: Dieser Prozess, der mit mir im Sommer 2020 begann, war auch ein Neubeginn für meine Mutter und ihre Auseinandersetzung mit mir, ihrem Schwarzen Kind, und mit Rassismus.

 

Martin: Bei mir ist dieses Bewusstsein, das bei dir plötzlich, ja vielleicht etwas schockhaft eingetreten ist, über Jahre gewachsen. Aber trotzdem stand ich im Sommer 2020das erste Mal in meinem Leben auf einer Demo auf dem Barfüsserplatz in Basel. 400 bis 500 Leute. Ich war ganz weit hinten, weil ich dachte, ich könnte so wieder flüchten, wenn’s mir zu viel wird. Was ich dann aber hörte, hat mich sehr beeindruckt – es waren übrigens sehr, sehr viele weiße Menschen, dazu viele afrikanischstämmige Menschen, auch Tamil*innen und Inder*innen da. Auf der Gefühlsebene war mir rasch klar, dass ich nicht alleine bin. Sehr viele jüngere Leute waren gekommen, aber auch ältere – zum Beispiel deren Eltern. Es wurde zu einem großen Gemeinschaftserlebnis, und auf der Sprachebene, weil ich dort am zentralsten funktioniere, habe ich gemerkt – was die sagen, sind Dinge, die ich unterschreiben kann. Die ich, in anderen Worten, auch schon geschrieben habe. Ich habe gemerkt, dass in vielen Reden eine leichte Verschiebung auszumachen war, die von einem Diskurs herrührte, wie er in Amerika geführt wird. Ich hätte es nicht mit dieser Begrifflichkeit gesagt. Aber es zeigte mir, dass das Verständnis größer war als das Fassungsvermögen unserer deutschen Sprache. Wir hatten ja in der Schweiz nie eine Sprache für diese Erfahrungen. Aber was die Demonstrierenden gesagt haben, war voll und ganz mein Text.

 

Ich: Was ist das für ein Text?

 

Martin: »Ich bin sichtbar, ich bin gleichberechtigt. Bitte hört auf, euer Problem zu meinem Problem zu machen.« Ich habe mich immer geschämt, im persönlichen Gespräch meine Hautfarbe anzusprechen. Denn ich ging ja davon aus, dass es »mein Problem« sei. Und zuweilen hat man mir auch zu verstehen gegeben, dass es eben mein Problem sei, nämlich meine »Überempfindlichkeit«. Oder dass ich, wie man es volkstümlich sagt, einen »Komplex« hätte. Die Scham, die ich immer spürte, hatten die anderen Demonstrant*innen auf dem Platz überwunden. Sie waren mutiger als ich. Darüber zu schreiben, war einfacher gewesen, weil mir nie jemand direkt widersprochen hat. Bücher zu schreiben und öffentlich die Stimme auf einem Platz zu erheben, ist nicht dasselbe. Als Demonstrant war ich tief beeindruckt, als ich merkte, hier passiert gerade Geschichte.

 

Ich: Du hast dich offensichtlich schon länger mit deiner Identität als Person of Color auseinandergesetzt. Ich aber habe Rassismus mein ganzes Leben lang verdrängt und ignoriert, genauso wie ich es mit meiner Schwarzen Identität getan habe. Doch dann, im Sommer 2020, ging das plötzlich nicht mehr. Ich prallte mit voller Wucht auf den Boden und landete hart. Es war schmerzhaft. Und ganz bestimmt zu jenem Zeitpunkt noch keine Befreiung.

»Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, in dem meine Mama die einzige Schwarze Frau und damit eine Außenseiterin war. Und ich als ›Mischling‹ war es auch. Meine beste Freundin erzählte in der 2. Klasse mit Stolz, dass ich, ihre Freundin, eine Ausländerin und N*in sei. Dabei hatte ich schon genauso lange im gleichen Dorf gelebt wie sie. Auf dem Spielplatz wurde ständig auf mich gezeigt, als ob ich ansteckend wäre. Noch heute habe ich viele Verwandte, die nicht verstehen, was wohl so schlimm am Wort N* oder N*in ist. Es macht mich immer traurig. Aber ich habe auch nie etwas gesagt. Ich wollte mich immer anpassen.«

 

»Ich merke, ich bin schon noch sehr am Anfang und weiß manchmal nicht, wie ich meine Gedanken ordnen soll. Auch bin ich ja nun über vierzig Jahre auf einem Weg gelaufen und habe mich arrangiert. Und nun soll ich mein Verhalten oder meine Gefühle, welche ich unterdrückt habe, zulassen? Manchmal vergesse ich’s wieder, aber dann kommt plötzlich wieder ein Kommentar und ich merke, dass es nun an der Zeit ist, wirklich persönlich Stellung zu beziehen.«

 

»Heute weiß ich, dass ich damals den Eindruck hatte, dass meine Stimme nicht zählt beziehungsweise sie niemals angehört werden würde, dass es aber ein Verdrängen war. Jetzt war einfach der Punkt gekommen, mich endlich dazu zu äußern.«

 

»Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie beim Reporter Ihr Schweigen gebrochen haben und die ganze Schweiz erfahren ließen, wie es sich für uns anfühlt, uns in einer scheinheiligen Gesellschaft zu unserem ›Schwarzsein‹ zu bekennen. Ihre Erfahrungen und Empfindungen decken sich größtenteils mit meinen eigenen, seien es die Erfahrungen aus der Kindheit oder die Feststellung diesen Sommer, dass man uns noch heute unsere Empfindungen abspricht.«

 

»Meine Hoffnung ist, dass es mit jeder Generation besser wird. Dafür braucht es jede gehörte Stimme. Du sagst es selbst: Schweigen ist keine Option mehr.«

Schwarzes Kind, weiße Welt

»Wir haben unseren Sohn adoptiert, mittlerweile 17 Monate alt. Er ist African American. Eines Tages werde ich ihm Dinge erklären müssen, die ich selber nicht ganz verstehe. Hätte ich lieber ein eigenes Kind? Lieber ein weißes Kind? Nein, er ist perfekt. Mein Ziel ist es, alles dafür zu tun, dass er mit einem starken Selbstvertrauen eines Tages dem Rassismus, mit dem er konfrontiert werden wird, gegenübertreten kann. Ich habe oft gesagt, ich sehe deine Farbe nicht. Aber ich denke, das war falsch. Denn ich sehe deine Farbe, und ich stehe an eurer Seite. Aber ich weiß auch, dass ich noch viel lernen muss diesbezüglich.«

Ich: Meine ersten Erinnerungen ans Anderssein sind die Erinnerungen an Menschen, die meine Haut und meine Haare anfassten. Ich habe Erinnerungen daran, dass man meine Mutter fragte, wo sie denn dieses herzige N*lein herhabe. Ein Mann drückte mir mal einen Fünfliber in die Hand und lobte meine Mutter für ihr großes Herz, weil sie so ein armes Kind aufgenommen habe. Und ich weiß noch genau, wie mir eine wildfremde Frau an einem bitterkalten Wintermorgen ihre Handschuhe schenkte mit dem Kommentar »Jesses, du armes Kind.« Ich hatte meine Handschuhe nur vergessen. Ich begriff schon da, dass mein Aussehen bei vielen Menschen eine Mischung aus Neugier und Mitleid auslöste. Meine ersten Erinnerungen ans Anderssein sind auch Erinnerungen ans Sich-Anpassen. Denn ich spürte früh, dass viele Menschen von mir Dankbarkeit erwarteten. Dankbarkeit dafür, dass sie mich hier aufnahmen und akzeptierten. Ich wurde gelobt, wenn ich mich unterordnete. Das tat ich, so gut ich konnte. Ich konnte es nicht immer gut, weil ich grundsätzlich ein sehr lebhaftes Mädchen war, das viel und laut schwätzte, das gerne schauspielte, sich also eigentlich ganz gerne präsentierte und schon früh verlauten ließ, dass es mal Schauspielerin werden will. Doch gleichzeitig passte dieser Traumberuf nicht zu meinem anderen inneren Wunsch, nämlich dem, nicht aufzufallen, angepasst zu sein. Ich hatte während meiner ganzen Kindheit das Gefühl, mich anpassen zu müssen. Dafür wurde ich belohnt. Indem man von mir sagte, ich sei so nett, spräche die Sprache gut, benähme mich fast wie eine »richtige Schweizerin«. Doch schon als Kind wurde ich den Gedanken nicht los, dass dieses Lob vor allen Dingen ein Eigenlob war. Dass sich die Leute selbst auf die Schulter klopften und zu sich sagten: »Da haben wir ein Beispiel dafür, wie gut wir Schweizer*innen es machen, wie gut wir integrieren können, wie gut man sich hier integrieren kann, wenn man nur will.« Ich wollte mich unbedingt integrieren. Auch wenn ich schon damals nicht verstand, warum ich, die nur diese Sprache spricht und keine andere, die einen Schweizer Pass besitzt und keinen anderen, die immer hier gelebt hat und nie woanders, warum ich mich hier eigentlich noch integrieren muss.

 

Martin: Also warst du eine Art Alibi-Kind für einen guten Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe. Meine Mutter hat in heiklen Situationen zu mir gesagt: »Du bist ein Schweizer und nichts anderes.« Mich hat das schon als Kind genervt, weil ich wusste, dass es nicht ganz stimmt. Aber meine Mutter war damals mit meinem Stiefvater zusammen, der wie auch mein leiblicher Vater indischstämmig war und ich sah, dass sie selbst Probleme hatten in der