Der Staat der Historiker - Gabriele Metzler - E-Book

Der Staat der Historiker E-Book

Gabriele Metzler

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Beschreibung

Die Bundesrepublik entwickelte sich im Laufe ihres Bestehens zu einem liberalen Rechts- und Sozialstaat nach westlichem Muster. Historiker trugen dazu bei, indem sie Orientierungswissen lieferten und als public intellectuals diese Entwicklung kritisch begleiteten. Sie erinnerten, imaginierten und kritisierten spezifische Staatsvorstellungen beziehungsweise reflektierten die Krisen von Rechts- und Sozialstaatlichkeit seit den 1970er Jahren. Und auch heute sind Historiker an der Neukonzeption von Staatlichkeit im Kontext von Globalisierung und europäischer Integration beteiligt. Gabriele Metzler erzählt eine Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis heute durch das Prisma ihrer zeithistorischen Erforschung.

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Seitenzahl: 588

Veröffentlichungsjahr: 2018

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3Gabriele Metzler

Der Staat der Historiker

Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung

I

. Prägezeiten. (Zeit-)Geschichte und Staat vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

1. Die Tradition des Historismus

2. Revisionswissenschaft: Zeitgeschichte in der Weimarer Republik

3. »Kämpfende Wissenschaft«?Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus

(Zeit-)Geschichte als Legitimationswissenschaft

II

. Geschichte schreiben in der Zusammenbruchgesellschaft

1. »Stunde null« in der Geschichtswissenschaft? Personelle und institutionelle Kontinuitäten

2. »Die deutsche Katastrophe« als Leitnarrativ

3. Preußentum oder Abendland? Alternativen im Konservatismus

4. Aufbruch in die Bundesrepublik – Perspektiven des Neubeginns

Zeitgeschichte als defensive Wissenschaft

III

. Den neuen Staat denken

1. Ein Staat auf der Suche nach Sinn und die Institutionalisierung zeithistorischer Forschung

2. Frühe Forschungen zum Nationalsozialismus: Widerstand und »totaler Staat«

3. Souveränität und Supranationalität

4. Die DDR als blinder Fleck

5. Zu viel Demokratie? Spiegel-Affäre und das Ende der Weimarer Republik

Zeitgeschichte als Stabilisierungswissenschaft

IV

. »Umgründung der Republik« – Auf dem Weg zum liberalen Staat

1. Fischer-Kontroverse und moderne Sozialgeschichte

2. Parteienstaat und Notstandsrecht: Neue Kontroversen um Weimar

3. Vom Antitotalitarismus zur Kritik am Antipluralismus: NS-Forschung in den 1960er Jahren

4. Erfolgsgeschichte? Erste Studien zur Geschichte der Bundesrepublik

5. Neue Ostpolitik und die DDR

Zeitgeschichte als Reformwissenschaft

V

. Staat in der Krise? Die 1970er Jahre

1. Staatshistoriographie von links: Stamokap und »Restauration«

2. »Organisierter Kapitalismus«

3.

NS

-Forschung zwischen Politisierung und »Entpolemisierung«

4. »Moderne Politikgeschichte«

5. Bedrohte Demokratie? Die Bundesrepublik und die Frage der Legitimation

6. Staatshistoriographie von rechts?: Das Problem der »Unregierbarkeit«

Zeitgeschichte als polarisierte Wissenschaft

VI

. Ein ganz normaler Staat?

1. Geschichte ohne Staat – Geschichte »von unten«

2. Noch einmal Preußen: Die »Preußen-Renaissance« der 1980er Jahre

3. Das »stolze Staatsschiff« Bundesrepublik

4. Deutschland, Europa und der Marshallplan

5. Eine »normale Nation«? Historikerstreit,

NS

-Geschichte und der transatlantische Kontext

6. Ambivalenzen der Moderne

7. Die Entdeckung der

DDR

Zeitgeschichte als pluralistische Wissenschaft

VII

. Zeitenwende, Zeitgeschichtswende? Der Umbruch von 1989/1990

1. Rückkehr zum Nationalstaat? 1989/1990 als Herausforderung für die Zeitgeschichte

2. Wie weiter mit der

DDR

-Geschichtswissenschaft?

3. Diktaturenvergleich und Verflechtungsgeschichte: Die

DDR

in der zeithistorischen Forschung

4. Lange Wege nach Westen

5.

NS

-Geschichte als Konsensgeschichte

Zeitgeschichte als Konsenswissenschaft

VIII

. Vom Ende der großen Gewissheiten. Aktuelle Herausforderungen des demokratischen Rechts- und Interventionsstaats

1. Das Politische ohne Staat? Die »Kulturgeschichte der Politik«

2. Staat und »Zivilgesellschaft«

3. Staat »nach dem Boom«

4. Staat und »Sicherheit«

5. Legitimationsfragen europäischer Staatlichkeit

6. »Neue Staatlichkeit«: Das innovative Potential der aktuellen NS-Forschung

Zeitgeschichte als suchende Wissenschaft

Schluss

Dank

Literaturverzeichnis

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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9Einleitung

Die Bundesrepublik entwickelte sich seit ihrer Gründung zu einem modernen, westlich geprägten Staatswesen, das Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit in sich vereinte. Das war keine selbstverständliche Entwicklung – manche haben gar von einem »Demokratiewunder« geschrieben[1] –, und es war auch keine, die schon mit der Staatsgründung von 1949 abgeschlossen gewesen wäre. Vielmehr brauchte es rund zwei Jahrzehnte, bis ein historisch-politischer Lernprozess in Westdeutschland wirklich Wurzeln geschlagen hatte, ein Lernprozess, in dessen Verlauf die Westdeutschen sich ein neues Verständnis von Demokratie, Freiheit und Staat aneignen mussten. Traditionell war das deutsche Staatsdenken seit dem 19. Jahrhundert hegelianisch geprägt gewesen, der Staat galt weithin als getrennt von der Gesellschaft, als ihr übergeordnetes, vorgeordnetes sittliches Prinzip: als die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«.[2] Zudem hatte spätestens mit dem Neohistorismus die Nation bzw. der Nationalstaat sich als Fluchtpunkt historischen Denkens fest etabliert. Dieses Koordinatensystem war nach 1945 unwiderruflich zerbrochen. Die deutsche Nation gab es in Zeiten der Teilung nicht mehr, und das deutsche Staatsdenken sah sich unter den Umständen des Kalten Kriegs und der kulturellen Hegemonie der USA ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Die Westdeutschen lernten, sich in einer von anglo-amerikanischen Staatsvorstellungen geprägten politischen Ordnung einzurichten; sie lernten, soziale Konflikte als ›normal‹ anzuerkennen und das »Gemeinwohl« als Ergebnis eines deliberativen Prozesses zu begreifen und nicht als etwas, das von vornherein bestand und ›nur‹ erkannt zu werden brauchte. Sie erfuhren aber auch, dass der Staat umstritten, überfordert oder in seiner Bedeutung in Frage gestellt wurde. Wie Zeithistoriker an diesem Lernprozess teilhatten, wie sie 10ihn mit vorantrieben, wie sie ihrerseits aber auch aufnehmend an ihm teilnahmen, davon soll dieser Essay handeln.

Die Staatsvorstellungen von Zeithistorikern sind gleich aus mehreren Gründen spannende und lohnende Gegenstände historischen Fragens: Erstens bilden (Zeit-)Historiker eine Deutungselite, die Geschichtsbewusstsein sowie historisches Denken in der Gesellschaft maßgeblich prägt und auf diese Weise immer auch zur historischen Legitimation – oder Delegitimation – des Gemeinwesens beiträgt. Denn jedes politische Gemeinwesen benötigt auch historisch begründete Legitimation, soll es auf Dauer gestellt werden und nicht bloß für eine Übergangssituation existieren. Für den jungen westdeutschen Staat galt dies in ganz besonderem Maße, denn seine Gründung 1949 brach mit der nationalstaatlichen Tradition. Der Staatsaufbau hatte zuallererst den Katastrophen des »Zeitalters der Extreme« (E. Hobsbawm) Rechnung zu tragen. Der Erste Weltkrieg, das Scheitern der Demokratie 1933, die NS-Diktatur und die Massenvernichtung, der »totale Krieg« sowie die totale Niederlage von 1945 bildeten Erfahrungsbestände, die in den Aufbau des neuen Staates unmittelbar einflossen. Der anbrechende Kalte Krieg setzte schließlich den Rahmen, der die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmte. Wie Zeithistoriker diese Erfahrungen zu historischem Wissen umformten – auch ihre eigenen persönlichen Erfahrungen –, ist aufregend zu beobachten und steht zugleich exemplarisch für eine ganze Gesellschaft, die sich in einer neuen Welt einzurichten hatte.

Zweitens ist das Thema aus historiographie- und wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel von Interesse. Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftliche Subdisziplin institutionalisierte sich in Deutschland erst nach 1945, also zu genau der Zeit, als (Zeit-)Historiker als Deutungselite besonders gefragt waren. Innerwissenschaftlich galt es lange Zeit keineswegs als ausgemacht, dass man Zeitgeschichte als gegenwartsnahe Geschichte nach wissenschaftlichem Maßstab überhaupt betreiben konnte. Wie sollte es denn möglich sein, so ließe sich mit Ranke fragen, »sein Selbst gleichsam auszulöschen«, um zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«?[3] War 11dies schon zu Rankes Zeiten eher als Wunsch und Postulat denn als Beschreibung tatsächlichen historischen Arbeitens formuliert gewesen, so musste dies umso schwieriger oder gar unmöglich erscheinen, wenn es um die wissenschaftliche Erforschung der »Epoche der Mitlebenden«[4] ging. Weil sie in der Gegenwart verwurzelt waren, deren unmittelbare Vorgeschichte sie selbst miterlebt hatten, so der Vorwurf, konnten Zeithistoriker gar nicht wissenschaftlich arbeiten. Wir haben es also immer auch mit Kämpfen um Selbstbehauptung einer jungen Disziplin zu tun, die heute ganz selbstverständlich in den Geschichtswissenschaften verankert ist, wenn sie nicht gar den Ton angibt. Zeithistoriker waren im Übrigen keinesfalls allein, wenn es um Deutungen der jüngeren Vergangenheit und der Entwicklungsperspektiven des neuen Staates ging: Staatsrechtslehre, Soziologie und vor allem die neu begründete Politikwissenschaft[5] erwiesen sich bald als harte Konkurrenten um die Deutungshoheit. Teils wurden sie von den Historikern rezipiert, teils schrieben die Politologen selbst Studien, die wir heute als »zeithistorisch« kategorisieren würden (etwa: Karl Dietrich Bracher, Wilhelm Hennis, Hans Peter Schwarz, Arnulf Baring).

Wer sich mit der Geschichte der ›Zeitgeschichte‹ als historischer Subdisziplin nach 1945 befasst, kann auf eine ganze Reihe substantieller Studien zurückgreifen. Gerade in den letzten Jahren erlebte die Historiographiegeschichte nach 1945 einen veritablen Boom, der meinem Nachdenken über das Verhältnis von Historikern und Staat sehr zugutegekommen ist.[6] Merkwürdige – im Wortsinne – 12Kontinuitäten haben diese Studien zutage befördert, gerade auch im Hinblick auf das Innovationspotential einer NS-affinen (jedoch nicht nationalsozialistischen) Geschichtswissenschaft. Auch mit der frühen zeithistorischen NS-Forschung in der Bundesrepublik geht die aktuelle zeithistorische Forschung hart ins Gericht.[7] Für die Frage nach den geschichtspolitischen Dimensionen zeithistorischer Debatten verfügen wir ebenfalls über substantielle Arbeiten.[8] Profitieren kann diese kleine Studie auch von Arbeiten, die zur Geschichte der Staatsvorstellungen in den Nachbardisziplinen erschienen sind, insbesondere zum Wandel der Staatsrechtslehre.[9] Als gleichermaßen instruktiv erwiesen sich Studien zu den Veränderungen der Gesellschaftsvorstellungen und -theorie.[10]

So erfreulich die Literatur zur Historiographiegeschichte der 1930er bis zu den frühen 1960er Jahren angewachsen ist, so misslich ist die Forschungssituation für die späteren Dekaden. Aus den Quellen gearbeitete Monografien etwa zur Geschichte der neomarxistischen Geschichtsschreibung, zur Alltagsgeschichte oder, erst recht, zur Geschichte der feministischen Zeitgeschichte stellen Desiderate der Forschung dar.

Dieses Buch zielt auf eine Historiographiegeschichte in gesellschaftsgeschichtlicher Absicht. Es handelt von Debatten in der historischen Subdisziplin Zeitgeschichte – und zugleich immer auch von der Geschichte der westdeutschen Gesellschaft, der inneren und internationalen Politik, der Kultur. Das kann jeweils nur knapp umrissen werden, anders wäre ein Handbuch und kein Essay entstanden. Aber ich will doch zeigen, dass historisches Räsonnement und gesellschaftlich-kultureller Wandel in einer Wechselwirkung miteinander standen; dass das zeithistorische Argument, die Diskussion eines zeithistorischen Themas immer auch einen Beitrag leisteten zu tagespolitischen Auseinandersetzungen, 13wenn nicht gar zu politischen Grundsatzdebatten. Und umgekehrt wirkten gesellschaftliche Veränderungen auf die Wissenschaft zurück – wie konnte es auch anders sein in Zeiten, in denen sich die traditionelle deutsche Universität grundlegend wandelte, öffentlich kritische Fragen formuliert wurden, Formen des Politischen sich veränderten?

Zeithistoriker schreiben selten »Staatsvorstellung«, wenn sie »Staatsvorstellung« meinen. Aufsätze oder gar Monografien der hier behandelten Zeithistoriker zum Thema »Wie ich mir den Staat vorstelle« sind nicht überliefert, gelegentlich finden wir immerhin explizite tagespolitische Stellungnahmen. Theorien formulieren sie nicht, gerade Zeithistoriker sind im Gegenteil eher als theorieavers zu charakterisieren. Das Medium, in dem Zeithistoriker ihre Staatsvorstellungen, ihre politischen Leitideen und ideologischen Affinitäten verhandeln, sind Studien zu historischen Themen. Deshalb ist es notwendig, ihre Darstellungen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik oder des Nationalsozialismus sehr genau und gleichsam »gegen den Strich« zu lesen, um in Erfahrung zu bringen, was westdeutsche Zeithistoriker über ihren Staat, die Bundesrepublik, zum jeweiligen Zeitpunkt dachten, zumal die zeithistorische Forschung zur deutschen Geschichte nach 1945 im Grunde erst ab Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre einsetzte.[11] Entsprechend fließen hier auch Debatten über den Ersten Weltkrieg und seine Vorgeschichte, ja sogar über Preußen mit ein, die man eigentlich nicht zu klassischen Themen der Zeitgeschichte rechnen würde. Aber es waren Debatten, in denen auch Zeithistoriker das Wort ergriffen und die nicht nur auf die Neuere Geschichte ausstrahlten, sondern die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik insgesamt mit beeinflussten. Sie aufzuarbeiten kann nur über einen Zugriff auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten erfolgen, 14die als exemplarisch für bestimmte Stränge dieser Debatten gelten können. Die Literatur vollständig zu erfassen, wäre spätestens ab den späten 1950er Jahren eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Schließlich sei noch vorausgeschickt, dass es über lange Jahre tatsächlich »Zeithistoriker« waren, die den Ton angaben, Frauen haben bis vor kurzem im Fach nur vereinzelt eine Rolle gespielt, wie Karen Hagemann jüngst gezeigt hat. 1964 wurde überhaupt erstmals eine geschichtswissenschaftliche (althistorische) Professur an einer westdeutschen Universität mit einer Frau besetzt, doch in der »für die Ausformulierung der nationalen ›Meistererzählungen‹ besonders wichtigen Neueren und Neuesten deutschen Geschichte« spielten Historikerinnen noch für viele weitere Jahre keine prägende Rolle.[12]

Überlegungen dazu, wie ›die Zeitgeschichte‹ nach 1945 Staatlichkeit erinnert bzw. imaginiert hat und wie Zeithistoriker Staatlichkeit für ihre je eigene Gegenwart konzipiert haben, müssen zunächst die wirkmächtigen Traditionen deutscher Geschichtsschreibung seit dem Historismus in den Blick nehmen. An ihnen arbeiteten sich die Historiker der nachfolgenden Generationen ab, sie bildeten den Maßstab, an dem historiographische Arbeit sich messen lassen musste, gerade die sich neu etablierende zeithistorische Forschung. Demgemäß beginne ich mit einem kurzen Rückblick auf die historistischen Staatsvorstellungen, und ebenso kurz handle ich ihre Fortführung, Umdeutung, Aktualisierung während der Weimarer Republik und während der NS-Zeit ab. Einen ersten Schwerpunkt bilden dann die Neuansätze nach 1945, als es darum ging, die Deutschen gegen die Vorwürfe einer »Kollektivschuld« zu verteidigen, gleichwohl aber die »Katastrophe« des Nationalsozialismus verstehend zu erklären. Dann aber war es den führenden Zeithistorikern darum zu tun, die entscheidenden Weichenstellungen zur »doppelten Staatsgründung« (C. Kleßmann) zu verteidigen. Der Mainstream der westdeutschen Zeitgeschichte lebte sich überraschend zügig ein in die neue Republik, die in vielem doch so anders war als ihre Vorläuferin von Weimar.

Seit den 1960er Jahren bekam das offiziöse Geschichtsbild – 15und damit die Staatsvorstellungen der Zeithistoriker – zunehmend Risse. Zeithistoriker, zumal die jüngeren, positionierten sich als aktive Teilhaber einer »kritischen Öffentlichkeit«, die seit den späten 1950er Jahren das Ende der Ära Adenauer einläutete. Zugleich pluralisierte sich die zeithistorische Forschung zunehmend, was Themen, aber auch bald theoretische Prämissen, Methoden und politische Intentionen anbelangte. Kontroverse Debatten der Neueren Geschichte, vor allem über »moderne Sozialgeschichte«, haben die zeithistorische Forschung weniger berührt, als gemeinhin angenommen wird. In der Folge von 1968 bietet die Zeitgeschichte der 1970er Jahre ein diffuses, ja zutiefst gespaltenes Bild, gerade wenn es um die Frage nach Staatsvorstellungen der Zeithistoriker geht. Erst im darauffolgenden Jahrzehnt lassen sich die Frontstellungen wieder besser überblicken, ehe seit 1990 im Kontext von deutscher Wiedervereinigung, zugleich aber auch fortschreitender Globalisierung überkommene Vorstellungen von »Staat« und »(National-)Staatlichkeit« grundsätzlich in Frage gestellt werden.[13]

16I. Prägezeiten. (Zeit-)Geschichte und Staat vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

Im »langen« 19. Jahrhundert etablierte sich die Geschichtswissenschaft zeitgleich mit dem modernen Staat. So wie sich das Denken über den Staat im Kontext von Aufklärung und Französischer Revolution veränderte, so wandelten sich auch die Vorstellungen von Geschichte.[1] Beides war im deutschen Fall auf das engste miteinander verwoben. Die Historiker vermochten es, sich als Deutungs- und Sinnstiftungselite zu positionieren, ohne die sich die Zeitgenossen die Integration der Nation als »imaginierter Gemeinschaft« (B. Anderson) schlechterdings nicht vorstellen konnten. In der Tat figurierte die Geschichtswissenschaft im Kaiserreich als staatstragende Disziplin. Männlich und protestantisch geprägt,[2] vermochte sie es, dem neugegründeten Staat geschichtliche Tiefe und historisch begründete Legitimation zu beschaffen.

Nicht nur war 1870/1871 das jahrzehntelange Ringen um »Einheit und Freiheit« vorerst zugunsten der Einheit entschieden, es bildete sich nun zudem ein Verfassungsstaat heraus, in dem sich Rechts- und Sozialstaatlichkeit verbanden, der sich aber auch, spätestens ab den frühen 1880er Jahren, machtvoll nach außen wandte und eine zentrale Rolle in der internationalen Politik anstrebte. Darüber, ob das eine mit dem anderen zu tun hatte, sollten die Historiker nachfolgender Generationen, vor allem ab den 1960er Jahren, heftige Kontroversen untereinander ausfechten. Als Sozialstaat zählte das deutsche Kaiserreich zu den Pionieren in Europa und darüber hinaus; an politischen Freiheiten und Möglichkeiten bürgerlicher Partizipation waren ihm indes andere überlegen. Zu einer echten Parlamentarisierung kam es in der »kryptoabsolutistischen Hohenzollernmonarchie«[3] erst in den letzten Kriegsjahren.

17Weil die Interessen der europäischen Staaten immer weniger in Einklang zu bringen waren, mündeten ihre vielfältigen Konflikte 1914 in den Ersten Weltkrieg. Der Krieg erwies sich für die Geschichte moderner Staatlichkeit in Deutschland als eine erste nachhaltig wirkmächtige Wegmarke. Denn im und durch den Krieg erhielt der interventionistische Staat denkbar starke Impulse; die Systeme sozialer Sicherung mussten an neue Notwendigkeiten angepasst, die Kriegswirtschaft gesteuert und die Gesellschaft für den Kriegseinsatz, gerade auch an der vielbeschworenen »Heimatfront«, diszipliniert werden. Nicht durchgängig gelang dies; im Gegenteil erodierte der gesellschaftliche Konsens mit fortwährender Dauer des Krieges zusehends, am Ende implodierte der monarchische Staat.

Mit der Epochenschwelle 1918/1919 sahen sich die deutschen Historiker vor neuen Herausforderungen. Nach wie vor stand für die überwiegende Mehrheit von ihnen außer Frage, dass Geschichtsschreibung und staatliche Legitimation zusammenhingen; andere geschichtsmächtige Größen als den Staat konnten sie sich vorerst kaum vorstellen – zugleich nahmen sie jedoch den Weimarer Staat als kraftlos, ja am Ende der Republik als vollkommen handlungsunfähig und illegitim wahr. Autoritäre Alternativen zeichneten sich am Horizont ab, denen die Historiker ebenso wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft wenig entgegenzusetzen hatten.

1. Die Tradition des Historismus

Die Französische Revolution veränderte alles: wie die Menschen sich in ihrer Welt wahrnahmen, welchen Gewissheiten sie folgten, und auch, wie sie über Geschichte dachten. Eine »erhabene Rührung« habe »geherrscht«, schrieb – viel zitiert – Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »alle denkenden Wesen [hätten] diese Epoche mitgefeiert«, denn: »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.«[4] Der souveräne menschliche Wille hatte, so schien es für einen historischen Augenblick, glück18lich über die ehernen Gesetze der Geschichte gesiegt. Umso härter musste es diese Zeitgenossen treffen, als die Revolution scheiterte: als die Jakobiner ihre Gewaltherrschaft im Namen der Vernunft errichteten; als die Zeitgenossen die Kriege, die aus der Revolution hervorgegangen waren, zu erleiden hatten, die mannigfachen Unsicherheiten des Lebens, die das alltägliche Fortkommen ebenso erfassten wie überkommene Ordnungen, an deren Stelle das Neue erst noch treten und sich verfestigen musste. »Wie kehrten sich die Ideen«, schrieb der Historiker Leopold von Ranke, »die Europa als heilsbringend, menschlich, befreiend begrüßt hatte, vor seinen Augen plötzlich in den Greuel der Verwüstung um!«[5] Aus dieser Krisenerfahrung erwuchs der Historismus.[6]

Der Zukunftsgewissheit und dem Gestaltungswillen der Aufklärung setzte der Historismus die Überzeugung entgegen, dass jede Ordnung geschichtlich gewachsen war. Nicht der selbstgewisse Eingriff der Menschen in die Entwicklung von Staat und Recht, sondern deren geschichtliche Gewachsenheit bildete das Zentrum des historistischen Denkens,[7] dessen Fixpunkte gesellschaftliche Stabilität und Revolutionsabwehr als Projekt des Bürgertums waren.[8] Für die Geschichtswissenschaft brachte der Historismus entscheidenden Wandel mit sich, ja, in gewissem Sinne begründete er die Verwissenschaftlichung der Geschichte überhaupt erst. Denn erstmals fielen Objektivitätsansprüche, grundsätzliche Vorstellungen von Geschichte und Anerkennung der Historischen Methode in eins, um Geschichte – wie andere empirische Wissenschaften – als eigenes Feld zu etablieren: Zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen« – Ranke formulierte das Grundprinzip historischer Forschung, das fortan an die Stelle geschichtsphilosophischer Abstraktionen treten sollte.[9] Gewiss, die Behauptung einer Geschichte als 19Wissenschaft hatte ihre Wurzeln in der Spätaufklärung; doch der »idealistische Historismus« spitzte seit Anfang des 19. Jahrhunderts die aufklärerischen Prinzipien zu, verengte sie gleichzeitig jedoch auch, indem er durch die individualisierende Methode die universell ausgreifende Aufklärungshistorie verdrängte.[10] Damit einher ging ein Prozess der Professionalisierung und Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten, in deren Folge sie zur »Leitwissenschaft des [19.] Jahrhunderts« wurde.[11]

Für unser Interesse am Staatsdenken deutscher (Zeit-)Historiker nach 1945 ist der Historismus als wirkmächtige Traditionslinie von eminenter Bedeutung. Mit ihm verband sich eine bestimmte Ausrichtung historischer Forschung und ein bestimmtes Staatsverständnis, und beides blieb gleichermaßen bis weit über die Schwelle des Jahres 1945 hinweg prägend. Ein präzises Verständnis von »Zeitgeschichte« im disziplinären Sinne existierte im 19. Jahrhundert noch nicht, doch Historiker, die sich mit der gegenwartsnahen Geschichte befassten, gab es durchaus: Leopold von Ranke beispielsweise beriet gar den preußischen König,[12] und Heinrich von Treitschke oder Heinrich von Sybel scheuten auch vor aus der Geschichte abgeleiteten Argumenten zugunsten ihrer politischen Positionen nicht zurück.[13] Einschränkend muss man freilich sagen, dass eine genuine Geschichtsschreibung der eigenen Zeit, eine Zeitgeschichtsschreibung, aufgrund methodischer Standards und des historistischen Distanzgebots keine »Eigenbedeutung« erlangen konnte.[14] Kurz, mochte auch der Begriff und die disziplinäre Aner20kennung für Zeitgeschichte noch fehlen, so zögerten die Historiker doch nicht, in ihren Forschungen gegenwartsrelevante Fragen mit zu erörtern, und für ihr Staatsverständnis galt dies allemal.

Die Französische Revolution brachte nicht allein Geschichtsvorstellungen im Allgemeinen ins Wanken, sondern sie erschütterte auch das Denken von Historikern über Staat und Politik nachhaltig. Noch fünf Jahrzehnte später wurden das Erstaunen (und das Erschrecken) angesichts der neuen Geltung des Prinzips der Volkssouveränität erkennbar, als einer der führenden deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, Johann Gustav Droysen, 1844 vom »neuen vulkanischen Staatsbegriff« schrieb, der hier offen zutage getreten sei.[15] Dagegen wie auch gegen naturrechtliche und kontraktualistische Staatsideen setzten die Historiker des Historismus eine Staatskonzeption, die hegelianisch geprägt war und den Staat als Verwirklichung der sittlichen Idee fasste. »Der Staat entsteht nicht aus Individuen«, erteilte Droysen vertragstheoretischen Konzeptionen eine Absage, »noch entsteht er durch deren Willen.«[16] Die »Staatsgemeinschaft«, schrieb Heinrich von Sybel wenige Jahre später, »ist nicht eine willkürliche Erfindung der einzelnen Menschen, sondern sie ist die angeborene nothwendige Form jedes menschlichen Daseins«.[17] Nur durch den Staat konnte sich Menschsein verwirklichen.[18]

Dabei hatte das individualisierende Prinzip auch für Staaten zu gelten. Die politische Diskussion im und über den Staat hatte sich idealerweise historisch zu entwickeln, andernfalls sei sie umso »verderblicher, je mehr sie sich auf Doctrinen, auf idola theatri, fori, specus, tribus gründet«.[19] Dies wiederum hebe die Bedeutung des Historikers heraus, sei er doch wie kein anderer dazu berufen, »dem Staat, dem Volk, dem Heere u.s.w. das Bild seiner selbst [zu] 21geben«.[20] Strategisch lässt sich zur Professionalisierung und Etablierung der modernen Geschichtswissenschaft kaum ein besseres Argument denken.

Tatsächlich positionierten sich die Historiker des 19. Jahrhunderts bald als öffentliche Wahrer einer besonderen Dignität des Staates, den sie, zumal nach der ernüchternden Erfahrung der gescheiterten Revolution von 1848/1849, in der Folge Rankes als kleindeutschen Nationalstaat deuteten. Preußen schrieben sie einen »Beruf für das Ganze« zu.[21] In dieser borussozentrischen Nationalisierung der Geschichtsschreibung durch den Historismus wird seine Abkehr von der Universalgeschichte der Aufklärung, durchaus aber auch von der Rankeanischen Orientierung auf eine »Einheit der europäischen Menschheit und Staatenwelt«,[22] besonders deutlich erkennbar. Nicht umsonst hat die historiographiegeschichtliche Forschung darin lange Zeit den Anfang deutschen Sonderwegsdenkens erblickt.[23] Mögen jüngere Forschungen den Historismus längst als europäisches Phänomen identifiziert haben,[24] so ist die besondere Staatsfixiertheit der deutschen Historiker doch schwerlich zu relativieren: Denn während die britische Geschichtsschreibung die Verfassung als zentralen Fluchtpunkt hatte und die französischen Historiker an das Erbe der Revolution von 1789 und den Republikanismus anknüpften, liefen die dominanten Deutungen der deutschen Geschichtswissenschaft auf den (National-)Staat zu.[25]

Dies galt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße. Den mit der einsetzenden Hochindustrialisierung verbundenen Wandel der Staatsaufgaben und die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Sozialisten subsumierten die führenden deutschen Historiker unter einen Konflikt zwischen einem »stets fesselloseren Individualismus« der »Fanatiker der Freiheit« und den 22»Fanatikern der Gleichheit«. Beide freilich übersähen, so Heinrich von Sybel, dass allein »Gemeinschaft Herrscherrecht über die einzelnen« haben könne. Gemeinschaft ermögliche Freiheit überhaupt erst, und zwar die wahre Freiheit

zu leben, wie es der eignen Natur entspricht, […] also die Selbstbestimmung zum sittlichen Leben. Das sittliche Leben aber […] ist für den Menschen nur unter der Leitung der Gemeinschaft erreichbar, und so entwickelt sich für ihn die Freiheit nur innerhalb der Entwicklung der Cultur und des Staates. Der Zweck des Staates ist Verwirklichung der Freiheit durch die Macht der Gemeinschaft.[26]

Nicht Freiheit vom Staat, wie es der angloamerikanischen Freiheitsidee entsprochen hätte, sondern Freiheit durch den Staat: Diese Vorstellung bildete den Kern des Staatsverständnisses deutscher Historiker im späten 19. Jahrhundert, des geschichtswissenschaftlichen Mainstreams zumal, mochten auch die ›Außenseiter des Historismus‹ noch länger an den aufklärerischen Traditionen des Liberalismus festhalten.[27]

Obendrein imaginierten sie den Staat immer stärker als Machtstaat. Schon in seiner Historik von 1868 hatte Droysen Staat und Macht in eins gesetzt: »Nur der Staat hat die Befugniss und die Pflicht, Macht zu sein. Wo das Recht, die Wohlfahrt, die Gesellschaft, und gar die Kirche, das Volk, die Gemeinde an die Stelle der Macht tritt, ist das Wesen des Staats entweder noch nicht gefunden oder in Entartung verloren.«[28]Nota bene: Den Historikern war es nicht um einen unumschränkten Machtstaat zu tun, sondern sie sprachen dem Recht durchaus die Funktion zu, Macht vernünftig einzuhegen. Hinter das erreichte Maß an Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit mochten auch sie nicht zurückfallen, zumal dies, wie Fritz Ringer in seiner klassischen Studie schrieb, ihren Status als akademische »Mandarine« entscheidend mit fundierte.[29] Aber sie gingen davon aus, dass es einen von Recht unberührten Kern von Staatlichkeit gab, in dem sich die sittliche Idee verwirklichte und der nicht beschränkt werden durfte.

23Die Vorstellung von staatlicher Macht »zu Schutz und Trutz im Innern und nach außen«[30] mochte man als Leitidee neuzeitlicher Staatsbildung überhaupt verstehen, sie ließ sich aber auch aggressiver fassen. Für die Neo-Rankeaner nach der Reichsgründung war zwar einerseits eine Rückkehr zum Gebot der Objektivität angebracht, das ihrer Meinung nach durch die Parteinahme ihrer ›borussisch-kleindeutschen‹ Vorgängergeneration der Droysen, Sybel und Theodor Mommsen für die Nationalstaatsgründung ›von oben‹ vernachlässigt worden war. Andererseits jedoch trieben sie die etatistische Orientierung der deutschen Geschichtswissenschaft energisch weiter voran und gingen dabei deutlich über Ranke hinaus. Denn während sich jener für die Beziehungen zwischen den Staaten und die Wirkmechanismen der Staatenbeziehungen interessiert hatte, deuteten seine wilhelminischen Epigonen: die Treitschke, Lenz und Marcks, den »Primat der Außenpolitik« »in folgenschwerer Weise naturalistisch und sozialdarwinistisch« um.[31] Nun erst setzte sich die Überzeugung vollends durch, Geschichte sei die Geschichte von Machtstaatlichkeit, wie sie ›große Männer‹ durch ihr Handeln vollzogen. »Die kulturelle, soziale oder ökonomische Dimension historischer Prozesse ging demgegenüber weitgehend verloren«, beurteilen Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen diese Wendung.[32]

Ganz unverhohlen beschrieb Heinrich von Treitschke die Macht als »Princip des Staates, wie der Glaube das Princip der Kirche«[33] sei. Die Souveränität des Staates sah er als unbeschränkt an.[34] Zwar zählte Treitschke die Sorge für Kultur, Bildung, Rechtspflege und – in Maßen – soziale Fürsorge zu den Aufgaben des Staates, könne er doch, über der Gesellschaft stehend, »Gerechtigkeit und gegenseitige Schonung in diese Welt der socialen Kämpfe hineinbring[en]«.[35] Im Kern freilich galt: »so ist also für seine Macht zu sorgen die höchste sittliche Pflicht des Staates«.[36] Damit ging Treitschke so24wohl über Ranke hinaus als auch über Hegel, von dessen Staatsbegriff im Grunde nur die Idee des Staates als sittliche Macht blieb, welche die gesellschaftlichen Kräfte zusammenhalte. Hegels »Gedanke, dass der Staat in seiner historischen Entwicklung und in seiner inneren Struktur vernünftig ist«, ging Treitschke hingegen vollkommen ab.[37] Dies galt auch für andere Neo-Rankeaner der Wilhelminischen Zeit wie etwa für Max Lenz, aus dessen Sicht es »das oberste Princip des Staates [sei], sein Wille, die Unabhängigkeit, seine Stellung in der Welt zu behaupten«.[38]

Die großen methodischen Grundlagendiskussionen, welche um 1900 alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen erfassten, strahlten durchaus auch auf die Geschichtswissenschaft aus.[39] Die Staatsvorstellungen deutscher Historiker jedoch blieben davon im Wesentlichen unberührt. Friedrich Meineckes »wertbetonter, substantieller Staatsbegriff«, der staatliche Legitimität davon abhängig machte, wie weit Freiheit der Bürger und soziale Gerechtigkeit gewährleistet waren, war die Position eines Newcomers, der vor 1914 nicht zu den tonangebenden deutschen Historikern zählte.[40] Seine Überlegungen zur Verständigung von ›Weltbürgertum und Nationalstaat‹ fanden beim Mainstream der Historiker seiner Zeit wenig Widerhall, eher schon seine Abgrenzung deutschen politischen Denkens und politischer Kultur von den revolutionären Traditionen Frankreichs.[41] Auf das bedeutsame Erbe der preußischen Reformer mochten sich die deutschen Historiker durchaus einigen. Karl Lamprecht wiederum, dessen kultur- und sozialgeschichtliche Überlegungen historistische Grundpositionen am radikalsten herausforderten, arbeitete keine systematisch angelegte alternative 25Staatskonzeption aus.[42] Zwar fasste er, anders als Treitschke oder Lenz, den Staat als »Genossenschaft« und lehnte sich damit an Konzeptionen Otto von Gierkes oder des Sozialliberalismus Naumannscher Prägung an. Auch akzentuierte er die sozialintegrative Bedeutung staatlicher Sozialpolitik weitaus stärker als andere Historiker, denen der sich entfaltende Sozialstaat entweder Anathema war oder die Sozialpolitik bloße Funktion des nationalen Machtstaats.[43] Jedoch galt auch für Lamprecht der individualistische Liberalismus westlicher Prägung als unpassend für deutsche Verhältnisse, und ganz außer Frage stand für ihn, dass der Staat »als genossenschaftliche Persönlichkeit, […] als ein ausgesprochenes und mit jeglichem Mittel einheitlicher Tätigkeit ausgestattetes Individuum ein[trete] in den Kampf der Nationen«.[44]

Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 wurden, so scheint es, ohnehin alle Diskussionen über Staatskonzeptionen hinfällig. Die deutschen Gelehrten machten mobil, in zahllosen Denkschriften, feuilletonistischen Beiträgen und öffentlichen Vorträgen suchten sie dem Krieg Sinn zu geben. Klaus Schwabe zufolge waren fast zwei Drittel aller Geschichtsprofessoren publizistisch in diesem Sinne aktiv. Sie dürften damit zahlenmäßig im Vergleich zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, namentlich der Philosophie, im Durchschnitt gelegen haben,[45] mochten auch deren Beiträge zum »Kulturkrieg« weiter reichende Wirkung entfaltet haben.[46]

26Einigkeit bestand unter den Historikern weithin darüber, dass das Deutsche Reich angegriffen worden sei und sich in einem gerechten Verteidigungskrieg befinde, eine Ansicht, die selbst die gemäßigteren unter ihnen teilten.[47] Andere jedoch sahen, weit darüber hinausgehend, das Deutsche Reich in einen Kampf zwischen deutscher »Kultur« und westlicher »Zivilisation« verwickelt, in dem die »Ideen von 1914« gegen die »Ideen von 1789« stünden.[48] Diese Scheidung sollte weitreichende ideengeschichtliche Wirkungen zeitigen und auf die Geschichtsschreibung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ausstrahlen. Sie beinhaltete die Vorstellung, es gebe eine spezifisch deutsche Kultur und mit ihr eine spezifisch deutsche politische Tradition, die mit westlichen Leitvorstellungen nicht nur nichts gemein habe, sondern diesen entgegengesetzt, ja überlegen sei. Vor diesem Hintergrund ließ sich der Krieg deuten als fundamentaler Konflikt zwischen »idealistischem (= deutschem) und utilitaristischem (= englischem) Staatsdenken (z. B. W. Wundt und J. Haller), zwischen ›deutscher Freiheit‹ und materialistischer Willkür (F. Toennies, A. O. Meyer)«.[49] Der Nationalökonom Werner Sombart brachte diesen grundsätzlichen Gegensatz in der schlichten dichotomischen Formel von den (englischen) »Händler[n] und [deutschen] Helden« auf den Punkt.[50]

Was nun offen zu Tage trat, war das lange empfundene Unbehagen daran, dass sich mit der industriellen Gesellschaft der Hoch27moderne pluralistische Interessen herausgebildet hatten. Dafür hatte das Staatsverständnis der Historiker keinen Raum gelassen. Wie euphorisch beschworen daher deutsche Gelehrte das »Augusterlebnis«! Der mit der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten erwirkte »Burgfrieden«, die allseits wahrgenommene (faktisch außerhalb bildungsbürgerlicher Kreise gar nicht vorhandene) Begeisterung für den Krieg und die nationale Einheit, die der Kriegsausbruch gestiftet hatte: Wer mochte sich dem entziehen? Selbst besonnene Gemüter wie der Physiker Max Planck oder, bleiben wir bei den Historikern, Friedrich Meinecke hatten dem nichts entgegenzusetzen: Sie priesen die »gemeinsame heroische Anstrengung für den Staat«, das »wundervolle Gleichmaß von Staatswillen und reifem Volkswillen«.[51] Das konnte man positiv wenden und daraus ableiten, dass die Partizipationsansprüche der Arbeiterschaft mehr als berechtigt waren;[52] daraus ließ sich freilich auch herauslesen, dass die Nation sich unter dem Banner des Imperialismus zusammengefunden hatte.[53]

Sowenig wie die nationale Einheit des »Burgfriedens« über die – von allen nicht erwartete lange – Dauer des Krieges hielt, so wenig lassen sich die staatspolitischen Positionen der deutschen Historiker gegen Ende des Krieges auf einen Nenner bringen. Überhaupt offenbarten sich 1918 Spannungen zwischen den Annexionisten auf der einen Seite, die bis kurz vor Kriegsende am Ziel einer »Angliederung« Lothringens festhielten und einen »Siegfrieden« noch für realistisch hielten, in jedem Fall aber Verhandlungen mit US-Präsident Wilson als ein Zeichen der Schwäche betrachteten, und den Gemäßigteren auf der anderen Seite, die einem Verständigungsfrieden einiges abgewinnen konnten, auf maßvolle innere Reformen setzten und sogar an eine Abdankung des Kaisers dachten, wenn sich dadurch die Monarchie retten ließe.[54] An der Rassenlehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts orientierten Konzeptionen eines radikalen Nationalismus und einer streng berufsständischen Form politischer Partizipation für eine eng verstandene deutsche 28Volksgemeinschaft (u. a. Dietrich Schäfer, Georg v. Below) standen liberalere Vorstellungen eines »Volksstaates« gegenüber, in dem die Monarchie konsequent parlamentarisch eingehegt war (u. a. Friedrich Meinecke). Das hätte in der letzten Phase des Krieges zumindest in Ansätzen eine gewisse Angleichung des deutschen Staatsdenkens und der deutschen Staatsordnung an die zeitgenössischen westeuropäischen Staaten mit sich gebracht, blieben auch »deutsche Eigenheiten« zentrale Ausgangspunkte des politischen Denkens.[55] Aber dafür war es ohnehin zu spät.

2. Revisionswissenschaft: Zeitgeschichte in der Weimarer Republik

In seiner Erzählung Unordnung und frühes Leid von 1925 lässt Thomas Mann seinen Protagonisten, einen Professor der Geschichte, beim Abendspaziergang die Zeitläufte und seinen Blick darauf reflektieren:

Er [der Gelehrte] weiß, dass Professoren der Geschichte die Geschichte nicht lieben, sofern sie geschieht, sondern sofern sie geschehen ist; daß sie die gegenwärtige Umwälzung hassen, weil sie sie als gesetzlos, unzusammenhängend und frech, mit einem Worte, als ›unhistorisch‹ empfinden und daß ihr Herz der zusammenhängenden, frommen und historischen Vergangenheit angehört.[56]

Mit dieser Skizze hatte Mann das Lebensgefühl und das Geschichtsbild weiter Kreise der deutschen Historikerschaft prägnant wiedergegeben. Denn kaum einer von ihnen vermochte dem tiefgreifenden politischen Wandel, der durch das Kriegsende und die Revolution 1918 angestoßen worden war, etwas abzugewinnen, zumal ihre eigene soziale Situation und ihr Status durch die Vermögen vernichtende Inflation der frühen 1920er Jahre prekär geworden war. Allerorten sprach man von »Krise«.[57] Unvermindert freilich blieb der 29Einfluss »autoritäre[r] Universitätsstrukturen und ein[es] konservativen Ordinarienkartell[s]«, die dafür sorgten, dass linksliberale oder sozialdemokratisch gesonnene Historiker nur in Ausnahmefällen auf Lehrstühle gelangten. Die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1918 blieb »eine Domäne nationalgesinnter Männer«[58] und war auch weiterhin maßgeblich protestantisch geprägt.[59]

Indes: Mochten die Historiker auch die Geschichte »nicht, sofern sie geschieht«, so betätigten sich doch eine stattliche Zahl von ihnen als Zeithistoriker, die die gegenwartsnahe Geschichte erforschten – wenn sie sich nicht gar am »Kampf der Akten« beteiligten und der unter dem Dach des Auswärtigen Amts angesiedelten und dort dem Kriegsschuldreferat zugeordneten Aktenedition zuarbeiteten, die den Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages entkräften sollte.[60] Einigkeit bestand unter den Historikern darin, eine Schuld des Deutschen Reiches am Kriegsausbruch 1914 kategorisch abzulehnen, zum Teil erhofften sie eine Reetablierung des deutschen Machtstaates.[61] Tatsächlich entfaltete sich die zeithistorische Forschung in den Weimarer Jahren aus dem Geist der »Kriegsunschuldforschung«.[62]

Mochte die Kritik am Versailler »Schmachfrieden« die Zunft 30noch einen, so gingen in der Frage, wie es in der Gegenwart mit Staat und Politik weitergehen und wie sich die historische Forschung nunmehr positionieren sollte, die Meinungen doch deutlich auseinander. Allenfalls zu einem gewissen Grad lässt sich dies aus einer generationellen Perspektive erklären, wie sie Ernst Schulin entwickelt hat; im Hinblick auf die Staatsvorstellungen der Historiker muss seine Systematik jedoch relativiert werden.

Schulin hat drei Generationen von Historikern unterschieden, deren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verschieden waren und die entsprechend nach 1918 verschiedenen wissenschaftlichen Programmen folgten:[63] Zunächst benennt er eine Generation der »älteren Historiker«, die, vor 1880 geboren, den Krieg nicht als aktive Soldaten erlebt hatten. Hatten sie bereits vor 1914 Geschichte hauptsächlich als Geschichte von Staaten und ihren Machtkämpfen geschrieben, so hatte sie das Erleben des Krieges in ihrer Perspektive bestärkt und kulturgeschichtliche Ansätze, wie sie namentlich von Karl Lamprecht entwickelt worden waren, vollends an den Rand drängen lassen. Angesichts der Niederlage hatten sie ihre idealistische Grundhaltung revidiert, pessimistischere Deutungen nahmen nun breiteren Raum ein. Im Staat erkannten sie vor allem den Garanten nationaler Einheit, eine Einsicht, die die Gemäßigten unter ihnen, allen voran Friedrich Meinecke, immerhin zu »Vernunftrepublikanern« werden ließ. Schon während der Revolution sah er einen »demokratischen Volksstaat«[64] als zeitgemäße Form von Staatlichkeit an. Auf eine Restauration der Monarchie gab er, spätestens nach 1922, nichts, stattdessen schwebte ihm nun das Ideal einer »Volksgemeinschaft« vor, in welcher der Staat die aktive Partizipation breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen und auf diese Weise integrierend wirken sollte.[65] Freilich sollte dieser 31»Volksstaat« unbedingt von einer starken Staatsspitze in Gestalt eines vom Volk direkt gewählten Präsidenten angeführt werden, der als »Vertrauensmann, [als] Volkstribun der Gesamtheit, der Wächter ihres Gesamtinteresses gegenüber den Ausartungen, zu denen eine vielköpfige und vielfach gespaltene Versammlung [scil. Parlament] immer neigen wird«, fungieren sollte.[66]

Zwar blickte Meinecke kritisch auf die Gefahr einer »falschen Vergötterung des Staates«. Dennoch löste er sich damit keineswegs zwangsläufig von der Fixiertheit auf den Staat: »Für ihn [den Staat]«, schrieb Friedrich Meinecke mit beträchtlichem Pathos,

der alle Heiligtümer der Nation umfaßt und schützt, zu leben und zu sterben, an seiner Vergeistigung zu arbeiten, das eigene persönliche Dasein mit ihm zu verweben und es dadurch innerlich zu steigern, diese hohen Forderungen, die seit der Zeit der deutschen Erhebung den deutschen Geist geleitet haben, gelten heute, wo der deutsche Staat von fremden und eigenen Händen geschändet am Boden liegt, erst recht. Der Staat soll sittlich werden und nach der Harmonie mit dem allgemeinen Sittengesetze streben […].[67]

Der Staat galt »als sittliche Anstalt zur Förderung der höchsten Lebensgüter [..], bis schließlich der triebhafte Lebens- und Machtwille einer Nation übergeht in den sittlich verstandenen Nationalgedanken, der in der Nation das Symbol eines ewigen Wertes sieht. In unmerklichen Übergängen veredelt sich so die Staatsräson der Herrschenden und wird zum Bindeglied zwischen Kratos und Ethos.«[68]

Fritz Ringer deutete Meineckes Bekenntnis zur Demokratie als Staatsform bei gleichzeitigem Festhalten an der Hegemonie einer elitären »Kulturschicht« als Rückzugsgefecht eines »modernistischen Mandarins«.[69] Tatsächlich bemühten sich Meinecke und seine Mitstreiter, darunter etwa der sozialdemokratische Staatsrechtler Gustav Radbruch, um eine Liberalisierung der Stimmung an den Universi32täten, wo sie freilich einer rasch erstarkenden und sich bald radikalisierenden Rechten unter den Studierenden gegenüberstanden.[70]

Andere, sehr viel stärker deutschnational gesinnte Historiker dieser Generation, wie etwa Max Lenz (geb. 1850), Dietrich Schäfer (geb. 1845), Georg von Below (geb. 1858) oder Justus Hashagen (geb. 1877), hingegen »verharrten in massiver Abwehrhaltung gegenüber der neuen Realität.«[71] Mochte Letzterer auch für ein Bemühen der Historiker um Objektivität plädieren,[72] so drückte sich in ihren Schriften doch eine merkliche Distanz zur Republik aus.

Von Meinecke und seinen Altersgenossen unterscheidet Schulin die zwischen 1880 und 1899 geborenen Angehörigen der »Frontgeneration« des Ersten Weltkriegs, die das militärische Geschehen aus eigener Anschauung kannten. Zu ihr zählten Gerhard Ritter (geb. 1888), Hans Rothfels (geb. 1891), Franz Schnabel (geb. 1887), Hermann Aubin (geb. 1885), Siegfried A. Kaehler (geb. 1885), Hans Herzfeld (geb. 1892), Wilhelm Mommsen (geb. 1892), Egmont Zechlin (geb. 1896), Otto Brunner (geb. 1898) oder auch Percy Ernst Schramm (geb. 1894), jene Historiker also, die nach dem Zweiten Weltkrieg und dann besonders in den 1950er Jahren tonangebend wurden. Schon in der ersten Nachkriegszeit begannen sie ihr Bild vom nationalen Machtstaat zu revidieren und standen damit im Einklang mit »jungkonservativen« Leitideen.[73] Bismarck wurde nun weniger aufgrund seiner militärischen Leistungen als vielmehr wegen seiner Diplomatie und geschickten Friedenssicherung gewürdigt.[74] Der Weimarer Republik standen sie in aller Regel ablehnend gegenüber; zumindest sahen sie die Republik als 33schwach und instabil an, als positives Gegenbild brachte dann etwa Fritz Hartung den »festen staatlichen Bau des brandenburgisch-preußischen Staates« in Stellung, der die Reichseinigung und den Aufstieg zur Großmacht ermöglicht habe.[75] Für Gerhard Ritter war 1919 gar die deutsche Geschichte an ihrem Ende angelangt – »mit einer schlechten Parteikomödie«.[76] Die häufig geübte Kritik an den Parteien verband er wie viele andere mit der Hoffnung auf eine stärkere Exekutive,[77] die »das Staatsganze im Auge zu halten« vermochte.[78] Statt des »Parteienstaates« favorisierten sie »eine autoritäre Präsidialregierung«, welche die Weimarer Republik »ablösen« sollte.[79] Derlei antipluralistische Positionen waren vollkommen typisch für den Mainstream der Weimarer Historiker, die, voller Verachtung für die »Massen«, die parlamentarische Demokratie als »kulturelle Nivellierung« wahrnahmen.[80] Vor allem aber, so die Einschätzung dieser Historikergeneration, passte die parlamentarische Demokratie nicht zur deutschen Staatstradition,[81] während die Sozialstaatlichkeit – mit starken berufsständischen Elementen – mit der »Reformtradition der preußischen Bürokratie« problemlos in Deckung zu bringen war.[82]

34Dass die Historiker weder in ihrer politischen Überzeugung noch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit den Veränderungen von Staatlichkeit zurechtkamen, wie sie durch die Weimarer Reichsverfassung, den im Krieg einsetzenden und nun sich weiter verstärkenden Staatsinterventionismus, die expandierende Sozialpolitik und veränderte politische Partizipationschancen herbeigeführt wurden, verwundert bei Lichte betrachtet kaum. Denn nach wie vor blieben das methodische Instrumentarium wie auch die theoretischen Prämissen des Historismus bestimmend: Der Staat wurde weiterhin als Kollektivindividualität betrachtet, die für die meisten Historiker im Zentrum des Forschens stand, er war ihnen »ein individuelles Gebilde mit eigentümlicher Lebensidee«,[83] »der Sammler aller geistigen und physischen Energien der Träger der Wirtschaft und das ›Gefäß‹ aller Kultur«.[84] Das Wachstum von Staatsaufgaben ließ sich darunter problemlos subsumieren, könne doch »auf einer gewissen Stufe geschichtlicher Selbstbesinnung (praktisch gesprochen seit der Übernahme zahlreicher Kulturaufgaben der Kirchen auf den Staat, also bei uns seit der Reformation) auch die Verwirklichung von ›Kulturgütern‹ zum Inhalt des staatlichen Willens werden«, und damit empfange »der Staat in den Augen der Menschen eine neue, ihm vorher immerhin nicht eigene sittliche Würde«.[85] Auf bloßen Rechtspositivismus, wie er beispielsweise die Weimarer Staatsrechtslehre kennzeichnete, mochten sich die Historiker nicht einlassen.[86] Die fortdauernde Dominanz des Individualitätsaxioms verhinderte zudem, dass methodische Anregungen aus der Soziologie aufgenommen wurden, und vergleichende Perspektiven, die den Blick auf allgemeine Wandlungsprozesse moderner Staatlichkeit gelenkt hätten, wurden kaum jemals angewandt.[87]

35Eine bemerkenswerte Einzelposition vertrat in dieser Alterskohorte Franz Schnabel (geb. 1887), der als Ordinarius an der Technischen Hochschule Karlsruhe freilich auch keinen der wichtigen Lehrstühle innehatte. Anders als seine Zunftkollegen – und anders auch als der »Vernunftrepublikaner« Meinecke – erkannte er die republikanische Staatsform und die parlamentarische Verfassung Weimars als historische Chance an. Die parlamentarische Demokratie galt ihm als ein angemessenes Instrument zur Integration der deutschen Gesellschaft, einer autoritären Präsidialherrschaft stand er ablehnend gegenüber. Ein leidenschaftlicher Streiter für den Föderalismus und die Selbstverwaltung in der Tradition des Freiherrn vom Stein, war er am Ende der Weimarer Republik ein Außenseiter, mit seinem Protest gegen die Reichsexekution gegen Preußen 1932 stand er in der Zunft weitgehend allein.[88] Viele seiner Zunft- und Altersgenossen (u. a. Hashagen, Rothfels) begrüßten die mit dem »Preußenschlag« der Regierung von Papen verbundene Unitarisierung und erkannten darin wie auch in der »Befreiung ›von der Vorherrschaft der Parlamente‹« einen richtigen Schritt aus der Krise.[89] Freilich hatte auch Schnabels Republikanismus nur wenig Berührungspunkte mit westlichen, anglo-amerikanischen Staats- und Verfassungsideen. Er hielt stattdessen die »germanische« Prägung des deutschen Parlamentarismus hoch, die Genossenschaftsidee in der Nachfolge eines Otto von Gierke, und schließlich eine katholisch-abendländische Konzeption von Europa.[90]

Es waren Angehörige der »Frontgeneration«, die sich als eigentliche Innovatoren erwiesen und die neue historiographische Impulse mit ihrem beruflichen Aufstieg verbinden konnten. Sie prägten auch ihre Schüler, Angehörige der »Kriegsjugendgeneration« der Geburtsjahrgänge 1900 bis 1909 mit, zu denen beispielsweise Theodor Schieder (geb. 1908), Werner Conze (geb. 1910) oder Karl Dietrich Erdmann (geb. 1910) zählten.[91] In der zeithistorischen 36Forschung hat es im Umfeld des Historikertages von 1998 eine heftige Kontroverse darüber gegeben, inwiefern die »Volksgeschichte« dem nationalsozialistischen Expansionsprogramm den legitimatorischen Boden bereitet habe; besonders die Königsberger Gruppe um den älteren Hans Rothfels stand hier im Mittelpunkt des Interesses. Für unseren Zusammenhang braucht diese Kontroverse nicht in extenso referiert zu werden,[92] lediglich die Verschiebungen im Staatsverständnis, wie sie die »Volksgeschichte« entwickelte, sind hier von Belang.

Diese Historiker, deren Karrieren in den 1920er Jahren begannen (Rothfels etwa wurde 1926 an die Universität Königsberg berufen), nahmen den Weimarer Staat als »politisch unfähig« wahr, und hier hatte ihre Sehnsucht nach einem Führer ihren Ursprung.[93] In ihrem Konzept einer »Volksgeschichte« setzten sie als historisches Subjekt das Volk an die Stelle des Staates. Unverkennbar eingebettet in die Revisionspolitik gegenüber dem Versailler Vertrag, gleichzeitig aber auch holistische, lebensphilosophische Strömungen und Impulse der Jugendbewegung in sich aufnehmend, präsentierte die Volksgeschichte ein Gegenprogramm zum Historismus.[94] Gerade in der politisch aufgeheizten Atmosphäre in Königsberg entstanden Überlegungen, wie der ethnisch heterogene Raum Ostmitteleuropas staatlich gestaltet werden könne, wobei die Führungsrolle des (auslands-)deutschen Volkes für die Historiker außer Frage stand.[95]37Auch anderswo, namentlich in Leipzig und Bonn, etablierten sich Zentren einer ethnologisch und strukturgeschichtlich ausgerichteten Volkstumsforschung.[96]

Prägnant äußerte sich Otto Hintze, einer der älteren Stichwortgeber der ›Volksgeschichte‹, zum Staatsgedanken:

Wie wir unter ›Staat‹ das Volk als handlungsfähige Einheit verstehen, so verstehen wir unter ›Gesellschaft‹ dasselbe Volk in der Mannigfaltigkeit seiner Privatinteressen, insbesondere in der darauf beruhenden Gliederung nach Ständen und Klassen. Staat und Gesellschaft sind also immer verbunden durch das gleiche lebendige Substrat des Volkes; aber die Art dieser Verbindung ist sehr verschieden, und sie ist maßgebend für die Entwicklungsstufe der Zivilisation.[97]

Die Zeiten des liberalen Staates, so argumentierte Hintze in der spannungsreichen sozialen Atmosphäre der Weltwirtschaftskrise, seien unwiderruflich vorüber:

Die große politische und soziale Krisis der Gegenwart scheint zu einem neuen Zustand hinüberführen zu wollen, in dem diese staatsfreie Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft aufgegeben werden muß, der ›liberale‹ Staat muß, wie Carl Schmitt es ausgedrückt hat, zum ›totalen Staat‹, das heißt: zu einem das ganze Volksleben ergreifenden Staat werden; er muß sich aber zugleich, wie ich besonders betonen möchte, mit den gesellschaftlichen Interessen und Gegensätzen durchdringen und also ›sozialisieren‹.[98]

Der Grundidee eines »nationalen Staates« der »Volksgemeinschaft«[99] standen auch andere, aus dem Umfeld der Volksgeschichte kommende Historiker während der großen Krise am Ende der Weimarer Republik nahe. Nur eine »starke und autonome Staatsgewalt« konnte etwa für Hans Rothfels und Siegfried Kaehler den Weg aus der Krise bahnen, und der Übergang zu den Präsidialkabinetten 38nach 1930 galt ihnen als ein erster richtiger Schritt in diese Richtung, womit sie Staatsrechtlern wie Ernst Forsthoff, wenn nicht Carl Schmitt sehr nahe kamen.[100] Auch für Rothfels und seine volkskonservativen Mitstreiter war der liberale Staat gescheitert, besondere Loyalität schuldeten sie ihm nicht mehr.[101]

Gleichsam ›quer‹ zu den nach Generationen identifizierbaren Historikern des Mainstreams verläuft die Geschichte der Außenseiter der Zunft. Sie, die in den einschlägigen historiographiegeschichtlichen Darstellungen gerne übersehen werden, wiesen im Grunde jenes liberale und liberalisierende Potential auf, das in der Weimarer Geschichtswissenschaft neue Akzente hätte setzen können – wenn sie hätten reüssieren und Lehrstühle erobern können. Zu ihnen zählte beispielsweise Eckart Kehr, der lange vergessene und in den 1960er Jahren von Hans-Ulrich Wehler wiederentdeckte Sozialhistoriker. Seine Deutung des wilhelminischen Reiches als eines demokratisch defizitären »Klassenstaates, der sich hinter den ausgehöhlten Formen des Nationalstaates zu verbergen suchte«, stieß auf einhellige Ablehnung der Zunft,[102] und auch Arthur Rosenbergs Studie zur »Entstehung der deutschen Republik« konnte sich gegen den Mainstream nicht durchsetzen.[103] Kehr verwies auf die ökonomischen Grundlagen staatlichen Handelns und beschritt damit auch methodisch neue Wege in der Analyse von Politik. In eine ähnliche Richtung ging der junge George W. F. Hallgarten, dessen Imperialismusbuch Anfang 1933 abgeschlossen war, infolge des ausgesprochen republikanischen Profils seines Verfassers nach der nationalsozialistischen Machtübernahme jedoch nicht mehr erscheinen konnte.[104] »Über nichts [gebe] es drolligere Ansichten« als 39über den Staat, konstatierte er in einer methodologischen Vorbemerkung, und »besonders beliebt« sei »die Gegenüberstellung von ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ als angeblichen Gegensätzen«.[105] Hallgartens soziologisch informierte, an Max Weber geschulte Analyse hingegen sah Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als engstens miteinander verflochtene Entitäten, deren machtpolitischem Zusammenspiel keine Partei und kein Parlament etwas entgegenzusetzen gehabt hätten. Dieser von wirtschaftlichen Interessen durchdrungene Machtstaat sei schließlich auch von den Sozialdemokraten mitgetragen worden. Nach dem Krieg hätten sie es überdies nicht vermocht, eine stabile und starke Demokratie aufzubauen und die »alldeutschen Ideen« an ihrer erneuten Ausbreitung zu hindern.[106] Freilich, auch Hallgarten beurteilte die Chancen parlamentarischer Demokratie in Deutschland skeptisch, wenn er schrieb: »Ihr [der opponierenden alldeutschen Bourgeoisie, G.M.] Haß wandte sich gegen das Parlament, gegen eine Regierungsform, die bei der sozialen und territorialen Zerrissenheit Deutschlands oft nicht viel mehr war als die organisierte Anarchie.«[107] Als er dies schrieb, Anfang 1933, hatten die Nationalsozialisten mit der vollständigen Entmachtung der parlamentarischen Demokratie bereits begonnen.

3. »Kämpfende Wissenschaft«?[108]Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus

Die nationalsozialistische Machteroberung bedeutete für die Universitäten einen tiefen Einschnitt. Auf der Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom April 1933 wurden jüdische Gelehrte bzw. Gelehrte jüdischer Herkunft wie auch politisch nun missliebige Professoren aus den Universitäten vertrieben. Von den 89 Inhabern eines historischen Lehrstuhls 40(Stand 1933) verloren bis 1939 siebzehn ihre Posten.[109] Manch einer, wie etwa Franz Schnabel, wurde zwar aus seiner Professur entlassen, konnte aber begrenzt weiter publizieren.[110] Andere mussten das Land verlassen, wenn sie sich rassischer Verfolgung ausgesetzt sahen, wie etwa Hans Rothfels.[111] Die Universitäten wurden ›gleichgeschaltet‹, das ›Führerprinzip‹ trat an die Stelle der bestehenden Universitätsverfassung.

Die Aktivisten unter den Historikern suchten nun auch die Wissenschaft selbst ›gleichzuschalten‹. Ihren institutionellen Ausdruck fanden diese Bemühungen in der Gründung des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland«, das 1935 die sieben Jahre zuvor etablierte Historische Kommission ersetzte. An die Spitze des Reichsinstituts trat Walter Frank, ein seit seiner Jugend in völkischen Kreisen aktiver Historiker, 1935 gerade einmal dreißig Jahre alt.[112] Auch die bereits etablierten Institutionen der Geschichtswissenschaft suchten die Nationalsozialisten zu durchdringen. So übernahm 1935 der nationalkonservativ geprägte, freilich früh mit den Nationalsozialisten in engen Kontakt gekommene Karl Alexander von Müller die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift. Der Verband der Historiker bestand zwar weiter, geriet aber ebenfalls unter NS-Einfluss; ab 1940 fand sich seine Führung auch an leitender Stelle im »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« wieder.[113] Der Geschichtswissenschaft wurde von den führenden NS-Historikern nun eine neue, klar politisch ausgerichtete Rolle zugewiesen, wie der neue Herausgeber der Historischen Zeitschrift 1936 schrieb: »Vor andern ist sie [die Geschichtswissenschaft] heute verpflichtet, den neuen Geist, der in unserm Volk lebendig wird, auch auf der Walstatt der wissenschaftlichen Kämpfe voranzutragen, mitzubilden am Antlitz des Deutschtums für die kommende Zeit.«[114]

41Emphatisch begrüßten die den Nationalsozialisten nahestehenden Historiker die »Revolution« von 1933, die nun endlich die »unreinen und unvermögenden, die staatszerstörenden und volksfremden Gewalten der parlamentarischen Regierungsweise« beseitigt habe.[115] Im NS-Staat erkannten sie die historische Verwirklichung des völkischen Gedankens, den Staat der »Volksgemeinschaft«, der stark und handlungsmächtig war und die historische Mission der deutschen Rasse nachdrücklich verfolgte. Ein solches Staatskonzept ließ sich sowohl innenpolitisch verwenden als auch für die Legitimation der nationalsozialistischen Expansionspolitik und schließlich des Krieges nutzen, wobei nach außen die Konturen des »Volksstaates« verschwammen und die Übergänge zu Vorstellungen einer völkisch begründeten Restauration des Reiches oder zu Utopien von einem deutsch beherrschten »Mitteleuropa« fließend waren. Nicht die staatliche Ordnung als gewaltenteiliges Zusammenspiel von Institutionen stand hier im Vordergrund, sondern die staatliche Aufgabe, Macht und Herrschaft für das deutsche Volk zu erobern und zu sichern.[116]

So bot das NS-Regime auch für diejenigen, die nicht glühende Nationalsozialisten, sondern eher nationalkonservativ, bündisch geprägt waren, attraktive Chancen für wissenschaftliche Arbeiten, Karrieren und öffentlichen Bedeutungsgewinn. Die zeithistorische Forschung hat in den vergangenen Jahren das komplexe Beziehungsgefüge zwischen NS-Wissenschafts- und Vernichtungspolitik sowie der Selbstmobilisierung der Geisteswissenschaften deutlich herausgearbeitet und insbesondere auf die Affinität der Volksgeschichte zum Nationalsozialismus verwiesen, wenn sie nicht gar 42von der NS-Ideologie »durchtränkt« war.[117] In der Tat passten die volkshistorischen Prämissen eines – deutsch dominierten – Kulturraums vor allem in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa mit der Expansionspolitik des Regimes beinahe nahtlos zusammen. So nimmt es nicht wunder, dass die Volksgeschichte massive Förderung erfuhr, wie generell humanwissenschaftliche Experten sich wohlwollender Unterstützung durch die NS-Forschungspolitik gewiss sein durften.[118] Für den Staat interessierten sich Volkshistoriker nur insoweit, als er als Zusammenschluss von Völkern konzeptualisiert werden konnte. Leitendes Axiom blieb auch für die nicht dem innersten Kern der NS-Historiker angehörenden Volkshistoriker das »Volk«.[119] Den liberalen Staat des 19. Jahrhunderts hielten sie für überwunden – zu Recht, wie etwa der an der Danziger Universität lehrende Erich Keyser meinte, hätte dieser Staat doch der »Rassenmischung« und der Frauenemanzipation Tür und Tor geöffnet.[120] Als »Vordenker der Vernichtung«[121] lieferten manche ›Volkshistoriker‹ und andere Experten Gutachten zu Bevölkerungspolitik und Recht – oder legitimierten und befürworteten Umsiedlungsmaßnahmen im Osten Europas mit historischen Argumenten,[122] während die »Westforscher« Unterschiede im Staatsaufbau und im Staatsdenken Deutschlands und Frankreichs aus ethnischen Differenzen und kruden »Blut und Boden«-Axiomen abzuleiten und 43auf diese Weise die deutsche Besatzungsherrschaft in Westeuropa historisch zu rechtfertigen suchten.[123] Indem sie gegenwartsnahe Themen bearbeiteten, öffneten die Volkshistoriker eine Tür zur Etablierung der Zeitgeschichte, die dann nach dem Krieg eigene subdisziplinäre Konturen daraus entwickeln konnte.[124]

Die lautstarke NS-Propaganda einer neuen, völkisch orientierten Geschichtswissenschaft darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine genuin nationalsozialistisch geprägte Geschichtsauffassung sich unter der Mehrheit der deutschen Historiker nicht durchsetzte. Zwischen dem Mainstream des Fachs und der völkisch geprägten Richtung der Volksgeschichte spielte sich eine »strenge Arbeitsteilung« ein,[125] und bei den meisten deutschen Historikern stieß erst recht der »evolutionäre Naturalismus« der nationalsozialistischen Geschichtstheorie auf historistisch geprägte Vorbehalte. Institutionell blieb das Reichsinstitut nur »eine Randerscheinung im Wissenschaftsbetrieb«.[126] Dies wiederum soll nicht bedeuten, dass die Mehrheit der deutschen Historiker in Distanz zum Nationalsozialismus gestanden oder gar Widerstand geleistet hätte. Im Gegenteil, die meisten von ihnen begrüßten 1933 die Machtübernahme durch die NSDAP und affirmierten insbesondere die aggressive Außenpolitik der neuen Machthaber, die den Versailler »Schandfrieden« nun offensiv bekämpften und – bis 1938 erfolgreich – zu revidieren suchten. Mit nachgerade »dröhnendem Schweigen«[127] reagierten die meisten deutschen Historiker auf die Vertreibung ihrer Kollegen. »Trotz des spürbaren Aderlasses« arbeitete die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1933 »bemerkenswert unerschüttert weiter«, urteilt Karen Schönwälder und erklärt dies aus der Dominanz rechtskonservativer Kräfte in der deutschen Historikerschaft vor 1933, die verhindert hatte, dass sich demokratische und liberale Historiker in der Weimarer Republik überhaupt 44in nennenswerter Zahl an den Universitäten hatten etablieren können.[128]

Die historistische Prägung der Geschichtswissenschaft blieb auch in den 1930er und frühen 1940er Jahren erkennbar, ja, aus dieser Tradition wurde ein Hauptargument historiographischer ›Normalwissenschaft‹ mit ihrer Strenge der Historischen Methode und der Quellenkritik gegen das Verlangen nach politisch-völkischem Ordnungswissen in Stellung gebracht. Mochte man auch das »Volk« – oder »die Völker« – als geschichtliche Akteure anerkennen, so ließ sich daraus nicht ohne weiteres ableiten, dass die Geschichtswissenschaft als völkische Wissenschaft zu etablieren sei.[129]

Der fortdauernden Wirkmächtigkeit des Historismus entsprach es auch, dass die deutschen Historiker mehrheitlich am Staat als historischem Akteur festhielten.[130] Ihn verteidigten sie gegen die »Berauschung und Konfusion der Massen«.[131] Freilich lagen die Ursachen hierfür auch darin, dass die nationalsozialistische »Revolution« und die ihr folgende radikale Umgestaltung der staatlichen Ordnung eine Eigendynamik gewann, die immer schwerer kontrollierbar erschien. Geradezu beschwörend nehmen sich Formulierungen Hans Rothfels’ aus, der in seiner letzten Publikation, die vor der erzwungenen Emigration in Deutschland erscheinen konnte, den preußischen Staatsmann Theodor von Schön zum Vordenker der preußischen Volkstumspolitik im Osten stilisierte. Zugleich erblickte er in ihm den Advokaten eines »Königtums« und eines Staates, in dem »auf allen Stufen« der »kategorische Imperativ« Richtschnur des Handelns sei. In der Verwaltung, so schrieb Rothfels, wollte Schön den Garanten »moralische[r] Gesundheit und innere[n] Zusammenhalt[s] eines Staates« sehen.[132] Rothfels’ Biograph Jan Eckel erkennt hierin zu Recht eine stärkere Akzentuierung der »etatistischen Elemente« in dessen Geschichtsvorstel45lung.[133] Andere, wie Siegfried Kaehler, waren bereits im Sommer 1933 von der »elementaren Wucht des revolutionären Verlaufs mehr als 1918 aus dem Gleichgewicht gebracht« und deuteten Kritik an der »Menschenschicht« an, »die heute mit elementarer Gewalt in den Staat eingedrungen ist«.[134]

Besonders augenfällig ist die Spannung zwischen Distanz zum Nationalsozialismus, nationalkonservativer Anschauung und methodologischem Konservatismus in der Wissenschaft bei Gerhard Ritter.[135] Mochte er auch für Hitlers Außenpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg und in der Phase der »Blitzsiege« ein hohes Maß an Sympathie empfinden und daraus nationalpsychologische Schlüsse ziehen – insbesondere die überraschend schnelle Niederlage Frankreichs sah er als Folge französischer Dekadenz, aus der er Raumordnungskonzepte für den Oberrhein ableitete –, so zeigte er sich gegenüber der zusehends restriktiveren Innenpolitik und der Umgestaltung der politischen Ordnung zurückhaltender in seinem Urteil. Dabei war es ihm nicht um eine Rückkehr zum liberalen Staat des 19. Jahrhunderts zu tun, den er wie die meisten seiner Historikerkollegen für historisch überlebt hielt, sondern ihm schwebte der Entwurf einer zeitgemäßeren Staatsräson vor. Sie sollte eine »Selbstbeschränkung des ›Politischen‹« unabdingbar in sich einschließen.[136] In einem kleinen Aufsatz vom April 1933 verdichtete Ritter bereits seine Überlegungen zur Gestalt des neuen Staates nach der »Machtergreifung«. Mit markanten Strichen skizzierte er die Staatsideen seit der Antike, arbeitete die Differenz zwischen englisch-germanischen Traditionen und dem romanischen Entwicklungspfad nach der Französischen Revolution heraus, um schließlich eine Kritik des Weimarer Parteienstaates, den er als Ausfluss der Herrschaft der Masse diffamierte, zu entfalten. Vor allem aber war es ihm darum zu tun, die Idee des Rechtsstaats aus germanisch-lutherischem Gedankengut herzuleiten und daraus eine Selbstverpflichtung der neuen Machthaber (die er nicht offen ansprach) zu folgern. »Aus dem Chaos entfesselter Massenenergi46en« erwachsen, müsse der neue Staat nun »als echter Volksstaat« konsolidiert werden,

aber in germanisch-christlichem Sinn, d. h. als ein Staatswesen, in dem geführt und gehorcht wird, doch ohne Vernichtung freien Eigenlebens, ohne uniformierende, geistlose Gewalt. […] Aus dem Erbe unserer deutschen Geschichte sollten wir den Nationalstaat der Zukunft gestalten: als eine Vereinigung des von Stein Gewollten mit dem von Bismarck Geschaffenen: als einen Staat, in dem eine starke autoritäre Führung freiwillige Gefolgschaft findet, weil sie das ewige Recht und die Freiheit zu achten weiß.[137]

Seine gründlichste Auseinandersetzung mit einer neuen Staatskonzeption erfolgte im Buch Machtstaat und Utopie,[138] von manchen gar als »eines der mutigsten Zeugnisse des geistigen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus« gedeutet.[139] Abgesehen von der erstaunlichen Langlebigkeit des Buches – es erschienen in rascher Folge neue Auflagen, mit geringfügigen Änderungen erlebte es 1947 die fünfte und 1948 die sechste Auflage –, ist bemerkenswert, wie anschlussfähig Ritters Thesen und Argumente sowohl an den Nationalsozialismus als auch an den Antikommunismus der Nachkriegszeit waren. In Machiavelli und Morus erkannte er die Protagonisten zweier höchst unterschiedlicher Typen von Staatlichkeit, kontinentaler Machtstaatlichkeit hier, insularer Wohlfahrtsstaatlichkeit dort.[140] Freilich redete er nicht einem ungezügelten Machtstaat das Wort – opportunistischere Geister hätten dieser Versuchung 1940 wohl weniger widerstanden –, sondern Ritter suchte nach einer Überbrückung der Kluft zwischen Macht und Moral. Im Ziel einer »friedlichen Dauerordnung«, die zu schaffen er geradezu als zentrale »Verpflichtung des Staates« begriff, grenzte sich Ritter vom aggressiven Expansionismus des NS