Der Stein der Weisen - Floria Don - E-Book

Der Stein der Weisen E-Book

Floria Don

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Beschreibung

In einer uralten Abtei im Süden von Rom wird ein mysteriöser Stein aus einem Mosaik gestohlen, dem die Mönche die Kraft nachsagen, Menschen von den Toten zu erwecken. Als ein grausam ermordeter Zisterzienser gefunden wird und der Stein verschwindet, stellen die Carabinieri fest, dass das Juwel Thomas von Aquin gehört haben soll. Aquin hatte einst die Theologie begründet und den Beweis für die Existenz Gottes erbracht. Ausserdem sagt man ihm nach, dass er den Stein der Weisen besessen habe... Eine spannende Jagd nach Mörder und Stein beginnt. Die berauschende Atmospäre der mittelalterlichen Abtei im Süden Italiens, ein dräuender Sturm und der wahre Tatsachenhintergrund machen dieses Buch einen Page-Turner. "Fesselnder Italien-Krimi." "Ein Mystery-Thriller vom Feinsten und wie immer bei Ringuer auf echten Tatsachen beruhend." "Exzellent recherchiert und mit geübter Hand geschrieben." "Spannend wie 'Da Vinci Code' oder 'Name der Rose'."

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Rom im Jahr 1167

Priverno im Latium, heute

Feuersbrunst

Erschütterung

Der tote Mönch

Die Gräfin von Belcastro

Avelardo

Im Kloster

Der Stein und seine Geschichte

Im Refektorium

Die Nachricht der Ahnen

In der Kälte der Nacht

Déjà-vu

Die Raunachtsgöttin

Der erste Beweis Gottes

Das geheime Grab

Ad Sanctum

Die rätselhafte Nachricht

Nokturne

Geber

Streng geheim

Vigil

Matutin

Im Wahn

Das Ende der Welt

Morgengrauen

Epilog

Nachwort

Impressum

Dieses Buch beruht auf wahren historischen Tatsachen. Seine Handlung ist fiktiv.­

Er hat eine Farbe wie Wein, wie zartes Weinrot, und es ist, wie wenn das blendende, leuchtende Weiß des Schnees in das helle Weinrot eindringt und dabei doch das Rot beherrschend bleibt. Dieser Edelstein glänzt stark und es heißt, er habe einst sogar bei Nacht geleuchtet; doch das tut er in unserer Zeit nicht mehr. Wohl aber wird gesagt, dass er die Ehre des Reiches bewahre.­

Albertus Magnus über den Stein, den man den ‚Waisen‘ nennt, Buch der Mineralien, 1256­

Rom im Jahr 1167

Das Sonnenlicht spiegelte sich auf den Fluten des Tiber, an dessen Ufern die mächtigen Platanen reglos in der Augusthitze verharrten. Hinter ihnen thronten die Kirchen und Tempel Roms, so wie sie es schon seit tausenden von Jahren getan hatten: Mit Fassaden aus Marmor und, wenn man sie nicht gestohlen hatte, Fenstern aus farbigem Glas. Hier hatte Hadrian sein Grabmal errichten lassen und Nero seinen Wahnsinn besungen. Und hier herrschte nun der Vertreter Gottes auf Erden, der Papst, Nachfolger des großen Peter, den man einst in den Mauern der heiligen stinkenden Stadt gekreuzigt hatte.­

Er versuchte es jedenfalls.­

Der Herr des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der große Friedrich Barbarossa, hatte dem zitternden Vertreter Gottes mit Feuer und Schwert den Weg zurück in die Stadt erkämpft. Aber er brachte den falschen Papst.­

Sagten die Leute.­

Und so sagte auch Gott.­

Nicht der verzeihende liebende Allmächtige des neuen Testaments, sondern der wütende, rachespeiende Gott des alten Judäa, der sich nicht von dem Betrüger vertreten lassen wollte.­

Die Leute des Kaisers Barbarossa, die an der leoninischen Mauer lagerten, bekreuzigten sich und beteten seit Tagen, dass die Rache Gottes an ihnen vorübergehen möge. Die Rache für die Anmaßung ihrer Herrn.­

Aus der Küche des Lagers drang dabei der betäubende Geruch einer Suppe aus Fleisch, Wein und Gewürzen in ihre Nasenflügel. Er füllte die Gassen und haftete wie Klebstoff an den Innenwänden der Atemwege, so dass Passanten sich würgend die Gesichter mit Tüchern bedeckten, um ihn nicht einzuatmen. Es war der betörend süße Duft eines Gerichts, das keiner jemals zu essen bereit sein würde.­

Was auf den Eichentischen zugeschnitten wurde, war weder Schwein noch Rind. Es hatte Fingernägel und gepflegtes Haar. Was man zerhackte, waren menschliche Gliedmaßen.­

Der Erzbischof von Köln hatte nur in kleinen Stücken in den Kessel gepasst. Sein Torso schaute noch aus dem fauchenden Topf, während man schon seinen Bruder hereintrug, um ihm das gleiche Schicksal zuteilwerden zu lassen. Am Ende sollte der Koch fünfzehn Bischöfe und Prinzen gekocht haben. Gekocht, bis die Knochen weiß und rein waren, getrennt vom Fleisch der toten Sünder.­

Wenn es begann, zu riechen wie ein Festmahl, zog er die Knochen aus dem Wasser und warf sie in getrennte Eimer. „Erzbischof Rainald von Köln. Fertig zur Auferstehung.“­

Der Mos teutonicus, die deutsche Sitte, befahl es den Reichen und Mächtigen, ihre Gebeine nach Hause oder aber nach Jerusalem tragen zu lassen, um dort bei der Wiederkehr des Erlösers wiederaufzuerstehen. Die einfachen Soldaten und die in diesen Tagen zu tausenden an Malaria und Typhus krepierenden Einwohner Roms dagegen warf man in Massengräber. Niemand trug ihre Gebeine auch nur bis zum nächsten Kirchhof. Sollte sich Gott um ihre Auferstehung kümmern. Nur hohe Herren köchelte man fürs Paradies.­

Kaiser Barbarossa, so sagte man, kümmerte das Sterben seiner Edelleute weniger als das Brummen von schweißigen Fliegen. Er sei vor der Ruhr, der Malaria und selbst der Rache Gottes sicher. Der Priesterkönig Johannes, so hieß es, habe ihm aus dem Morgenland einen Zauber geschickt. Einen heiligen, schützenden Edelstein. Das Geschenk, das die drei Weisen einst dem Christus gegeben hatten, in jener Nacht, als sie ihn als Heiland in Bethlehem grüßten.­

Der rotbärtige Kaiser habe den Stein in seine Krone gesetzt und führe ihn seitdem mit sich herum, sicher seines Heils und der Auferstehung.­

Priverno im Latium, heute

Der Malvasier stand gut in diesem Jahr. Die Trauben hingen voll in den grünen Blättern der Reben, die die Weinhänge von Priverno bedeckten, und die Sonne spielte in der nachmittäglichen Hitze mit Schwärmen von Mücken.­

Dem athletischen Mann mit den glänzend schwarzen Haaren und den dunklen Augen, der zwischen den Weinstöcken kniete, war der Anblick der prächtigen Früchte jedoch egal. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und langte statt nach Wein nach einer Flasche Wasser, die er unter einem Stein abgelegt hatte. Seine muskulösen Arme waren bis zum Ellenbogen mit Staub bedeckt und sein sonnenverbranntes Gesicht erschöpft. Selbst die hochgekrempelten Ärmel seines Leinenhemdes waren schmutzig. Trotzdem lag ein Glühen in seinen Augen, das Entschlossenheit hinter seinem grimmigen Murren erahnen ließ.­

Ein grauhaariger untersetzter Mann stand über ihm in den Reben und beobachtete ihn und die weiter unten arbeitenden Assistenten. In den Hügeln bei der Kleinstadt Priverno, unweit von Rom, hatten einst die Volsker ihre mächtige Stadt gebaut. Soweit er sehen konnte, beschränkte sich das, was der Mittvierziger dort unten aus dem staubigen Boden gekratzt hatte, jedoch auf kahle Mauern und kärgliche Mosaikreste. ‚Cariello hat sicher gehofft, Wunder und Meisterwerke zu finden, als er nach den ersten Entdeckungen hierher zurückgekehrt ist‘, dachte er seufzend. ‚Aber von solchen Funden wie den Kaiserstatuen im Vatikan ist er sichtlich weit entfernt. Unser Herr Professor wird übler Laune sein.‘­

Cariello, der staubige Ausgräber, den der Besucher beobachtete, befand sich in einem ungewohnt schlimmen Zustand. Seine gewellten Haare klebten an der schweißbedeckten Stirn und obwohl er sonst so viel Wert auf gute Kleidung und Sauberkeit legte, war er in verschmutzte Arbeitskleidung gehüllt, bedeckt von Dreck und Kletten. Seine Schuhe waren aus teurem braunen Leder gefertigt, aber hatten an diesem Nachmittag die Farbe von Sand angenommen.­

Auch dem korpulenten Beobachter war in seinem grauen Sommeranzug heiß, aber zu seiner Erleichterung zwang ihn sein Amt nicht, Löcher in den Staub zu kratzen. Er kniff die dunklen Bulldoggenaugen zusammen und stieg mit behäbigen, breitbeinigen Schritten den Pfad hinunter. Die Kiesel gaben unter seinem Tritt nach und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Er schlug nach den Mücken. „Wie geht es Ihnen, Professor? Ich sehe, Sie haben viel zu tun.“­

Cariello hob den Kopf. „Camarata! Wie kommen Sie hierher?“­

„Sie hatten wohl nicht erwartet, so einen alten, fetten Staatsdiener wie mich hier in Ihren teuren Ruinen begrüßen zu dürfen?“­

„Nein, mit einem hochdekorierten Kolonel der Carabinieri hatte ich nicht gerechnet. Mit mehr teuren Ruinen als diesen kärglichen Mauern hier zugegeben schon.“ Cariello stand auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Er hinterließ dabei einen Dreckstriemen im Schweiß. „Wollen Sie zu mir oder sind Sie zufällig hier?“­

Camarata steckte die Pranken in die Taschen seiner abgetragenen Anzughose und blinzelte in die Sonne. Er fühlte sich wohl auf dem Land und war froh, Cariello zu sehen. „Irgendwo hier bei der Stadt soll ein Kloster liegen, in dem ein Mosaik beschädigt wurde. Man hat mich herbeordert, weil es wertvoll ist. Man erwartet von mir, den Übeltäter zu enttarnen und das in Eile. Heute ist Maria Himmelfahrt und der Diebstahl stört die Festlichkeiten. Da habe ich gesehen, dass Sie in der Gegend arbeiten, und dachte, Sie könnten mich begleiten. Ich verstehe nämlich nichts von mittelalterlichen Mosaiken.“­

Lachfältchen schlichen sich in Cariellos Augenwinkel. „Das geht mir ebenso. Ich grabe sie nur ab und an aus.“­

Camarata schob behäbig seinen Bauch voran. Cariello erheiterte ihn. Er hatte seine Eitelkeiten. Trotz seiner kühlen Art liebte es der hochgewachsene Akademiker, zu beeindrucken und war mehr als empfänglich für Schmeicheleien. „Sie haben mir regelmäßig bewiesen, dass Sie mehr wissen als ich, Professor. Sie, die Quelle aller Weisheit und wandelnde Enzyklopädie.“­

Cariello grinste. Er wischte sich mit einem Tuch die Hände ab. „Wenn das von einem Brummbär wie Ihnen kommt, heißt das, Sie wollen etwas mehr von mir als einen touristischen Ausflug …?“­

Camarata lachte. „Ich will Sie als allwissenden Wissenschaftler rekrutieren.“­

„Und ich gehe davon aus, dass Sie nichts zahlen?“­

„Hätten wir jemals gezahlt?“­

In Cariellos Züge schlich sich ein amüsiertes Funkeln, das die Furchen in seinen staubbedeckten Augenwinkeln vertiefte. Er machte seinen Assistenten, die weiter unten zwischen den Reben arbeiteten, ein Zeichen. „Ich fahre kurz weg.“ Sein warmer Bariton hallte über den Weinhang und jagte einen Schwarm Spatzen auf, der durch die dichten Blätter aufflog und lärmte.­

Ein junger blonder Mann antwortete ihm. „Kommen Sie nachher noch hierher zurück, Professor?“­

„Ich weiß nicht. Notfalls treffen wir uns in der Unterkunft. Aber lasst nicht wieder alles rumliegen.“­

Cariello zeigte hangaufwärts und ging Camarata nach oben voran, wo die Fahrzeuge geparkt waren und sich ein Picknickplatz mit Bank befand. Auch Camarata hatte seinen alten Wagen dort im Schatten stehen lassen.­

Er folgte Cariello, begleitet vom Knarren der Zikaden und benommen vom Geruch wilder Minze, die er unter den Füßen zertrat. Er tat es ächzend, belastet vom Übergewicht und seinen sechsundfünfzig Jahren, die sich zunehmend bemerkbar machten. Er beneidete Cariello um seine sportliche Form. Seit einigen Jahren litt er an Lungenproblemen, nachdem er sich in unterirdischen Gängen am Vesuv eine Infektion zugezogen hatte. Sein Atem rasselte hörbar als er den Hang hinaufstieg.­

Oben angelangt, hielt er schnaufend inne, die Brauen zusammengezogen und die Stirn aus Ärger über seine eigene Unzulänglichkeit in Falten gelegt. Seine Frau Laura hätte ihm fürsorglich geraten, langsamer zu gehen, im Blick Cariellos lag jedoch nur spöttische Kritik.­

„Weniger Essen, mehr zu Fuß gehen“, schmunzelte er.­

„Weniger Essen ist was für Junggesellen. Meine Frau liebt mich und sie zeigt es mit Kochen“, schnaufte Camarata. „Wenn ich nichts esse, denkt sie, unsere Ehe ist in Gefahr.“­

Cariellos Landrover befand sich unter einer Eiche, die sich zwischen die Schirmpinien gezwängt hatte. Er war grau-gelb vom Sand der Weinhänge und selbst der Schlüssel, den Cariello aus der Tasche zog, um ihn zu öffnen, war verdreckt. Camaratas alter Wagen wirkte daneben frisch und neu.­

Camarata fühlte sich verlegen, ohne Gegenleistung von Cariello zu profitieren. Er realisierte, dass er noch nicht einmal gegrüßt hatte. Pflichtschuldigst versuchte er, Smalltalk einzuschieben, auch wenn er sich bewusst war, dass er dabei eine lausige Figur machte. „Wie geht es Ihnen ansonsten, Professor? Ich habe von Ihren letzten Arbeiten im Norden Neapels gelesen und die Presse war enthusiastisch. Es scheint, Sie sind ein Star.“­

„Noch mehr Schmeicheleien? Wie viele Tage muss ich Ihnen opfern?“­

Camarata grinste. Er mochte Cariellos trockenen Humor. „Ich sage nur, was ich in der Zeitung gelesen habe.“­

Cariellos Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich war auch enthusiastisch, an Cäsars Villa in Baia herumzugraben, bis ich den Verwaltungskram gesehen habe, den meine großen Errungenschaften nach sich zogen.“ Ein Schatten von Ärger verjagte das Lächeln von seinem Gesicht. „Die Obrigkeit der Universität zieht es vor, uns Herren und Damen Professoren stumm und bescheiden in vergessenen Büros verschimmeln zu sehen, anstatt bei Interviews im Fernsehen zu glänzen. Erfolg bringt nichts als Neid.“­

Camarata nickte. „Mittelmaß mag halt nur Mittelmaß.“ Er verstand Cariello. Ihm ging es nicht anders und auch deshalb war er froh, für ein paar Tage aus dem üblichen Trott in Neapel herauszukommen. Er fühlte sich in der Hitze der ländlichen Umgebung besser als in seinem Büro, auch wenn er an diesem Nachmittag ungewohnt nervös war, so als käme ein Gewitter oder ein Sturm. Oder so, als stünde jemand hinter ihm.­

Entgegen jeder Vernunft wandte er sich um. Sie waren allein.­

Camarata ließ den Blick vom Hügel über die Häuser gegenüber den Weinbergen schweifen. Priverno war eine Kleinstadt, ruhig und jetzt im August menschenleer. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Azurhimmel auf ihre hochbetagten Mauern und nur am Horizont zeigten sich anthrazitfarbene Schatten.­

Die Abtei, zu der man ihn zitierte, lag im Tal. Vom Hang aus konnte er die Klosterkirche sehen. Ihr wie aus einem Block gehauenes Gemäuer lauerte steingrau am Fluss, umgeben von der Aura der wortlosen Macht der Zisterzienser, die Fossanova einst bevölkert hatten. Vorn lag die uralte Kirche, an ihrem hinteren Ende ein achteckiger Glockenturm und zu dessen Rechter das mittelalterliche Kloster mit dem gotischen Kreuzgang.­

Die Stadt thronte hoch darüber, geprägt von kantigen Mauern und verfallenen Palästen. Sie sah aus, als habe sie die Füße eingezogen und kauere sich auf die Spitze des Hügels, bedacht, nichts mit der Abtei und deren rotverputzten Gesindehäusern zu tun zu haben.­

Cariello räusperte sich. „Wollen Sie die Gegend genießen oder mir hinterherfahren, Kolonel?“­

Camarata klopfte sich auf den feisten Bauch. „Ist ja schon gut. Wenn Sie sich hier auskennen, folge ich Ihnen. Ich denke, das Kloster, zu dem wir wollen, liegt dort unten am Fluss.“­

„Ich weiß. So viele Klöster gibt es hier nicht. Es ist mir im Übrigen ganz recht, hinzufahren. In seinen Archiven soll sich ein Text über die ersten Ausgrabungen der Ruinen hier befinden.“­

Camarata nickte, aber legte erneut die Hand an die Augen, um zur Abtei zu sehen. Nach allem, was er gelesen hatte, schien sie ein eigenartiges Gemäuer zu sein. Seine Frau hatte gespottet, sie sei betroffen, dass er ins Kloster gehe und er solle doch für ihr Seelenheil beten. Aber seine schwatzhafte Nachbarin hatte auf den Namen Fossanova anders reagiert. Sie hatte ihm mit vor Sorge gerümpfter Nase ein paar Zeitungsartikel herbeigeholt.­

Man schrieb in einem der Papiere, dass sich in den letzten Jahren eigenartige Dinge in den Klosterhallen zutragen würden. Man höre Geräusche in der Nacht und Gruppen von Auswärtigen kämen und gingen, ohne dass man wisse, warum.­

Die Abtei war zudem, so hieß es, Gegenstand so zahlreicher Legenden von Geistern, Heiligen und Kriegen, dass sie schon fast übernatürlich wirke. Ihre geheimnisvolle Ausstrahlung werde verstärkt durch die abgelegene Lage, die Mächtigkeit ihrer rohen Steinwände und den jahrhundertealten Eichenwald, der sie umgab.­

‚Aber was soll das mit einem beschädigten Mosaik zu tun haben?‘, dachte Camarata und seufzte. ‚Vielleicht hat einer der Besucher ein paar Steine als Andenken mitgehen lassen?‘ Bei näherem Überlegen kam ihm das absurd vor. Das Mosaik sollte sich über dem Kirchenportal befinden. ‚Aber wer weiß, was manchen Leuten in den Sinn kommt‘, dachte er.­

Die örtlichen Carabinieri würden ihn ins Bild setzen. Mit seinem Grad als Kolonel waren sie seine Untergebenen.­

Cariello machte ihm ein Zeichen und stieg in seinen Wagen. Camarata murmelte: „Ich komm ja schon.“ Er hievte sich in sein abgegriffenes Fahrzeug, dessen Fahrersitz ächzend unter ihm nachgab. Besser, er ließ Cariello nicht warten. Er fuhr ohnehin schneller als er.­

Mit im Kies durchdrehenden Reifen folgte er Cariellos Rover. Er war erleichtert, dass er Cariello hatte überreden können, mit ihm zu kommen. Er hatte ihm schon mehrfach ‚Nein‘ gesagt, ohne mit der Wimper zu zucken. Camarata war sich nie sicher, ob er mit dem elitären Akademiker befreundet war oder ihn nur kannte. Cariello war unterhaltsam und stechend intelligent, aber konnte er auch distanziert und zynisch sein. ‚Bekanntheit und Anerkennung verursachen auf die Dauer eine gewisse Arroganz‘, dachte Camarata stoisch.­

Schon nach einem Kilometer Fahrt hinter dem Wagen Cariellos fand Camarata sich in einem grünen Dschungel wieder. Der Weg zum Kloster war weiter, als er nach dem Blick vom Weinhang gedacht hatte. Die Straße führte durch dichte Wälder ins Tal und entlang des Flusses. Eichen stritten sich mit Kiefern und Buchsbaum um den Platz und wucherten bis auf die enge Straße hinaus. Blätter waren auf den Fahrweg geweht und zum Teil war er nicht asphaltiert.­

Cariellos Landrover wirbelte Staubwolken vor ihm auf. Er zitterte lediglich, als er über eine Reihe unregelmäßiger Pflastersteine donnerte. Camaratas Wagen seufzte hingegen wie ein sterbender Hund hinterher und er fühlte jeden einzelnen der Brocken durch das ausgesessene Polster seines Sitzes.­

Die Tatsache, dass er sein Fahrzeug am Morgen durch die Waschanlage gejagt hatte, hatte die abgenutzten Stoßdämpfer nicht repariert. Dafür hätte er ein höheres Gehalt gebraucht oder einen Gewinn in der Lotterie. „Meine Frau wird sich freuen“, knurrte Camarata. „Sie wird mich gleich wieder in die Reinigung schicken, wenn ich zurückkomme.“ Er hätte auch gern einen Landrover gehabt. Mit silbernen Verkleidungen und Ledersitzen. Als Kind hatte er reich werden wollen. Wie weit war er jetzt, unweit der Rente, gekommen?­

Das Licht des heranbrechenden Abends blendete Camarata und er faltete die Schutzklappen herunter. Es half wenig. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne brachen sich im Blätterdach und füllten sein Fahrzeug mit einem moosgrünen Licht, das in seiner Helligkeit unwirklich schien.­

Er kniff die Augen zusammen und erahnte den Weg ins Tal mehr, als dass er ihn fand, benommen von dem smaragdenen Schleier, der ihn umgab. Schottersteine knallten gegen seine Karosserie und er begann, um seine Windschutzscheibe zu fürchten. Vielleicht sollte er doch in einen neuen Wagen investieren … ‚Oder mich von eigenartigen Urwäldern wie diesem fernhalten.‘­

Als sie an einem Bach über eine hölzerne Brücke fuhren und deren Latten unter seinen Rädern knarrten und ächzten, fühlte er sich vollends wie in einer anderen, archaischeren Welt angekommen. ‚Meine Herren, wie im Dschungel!‘­

An der Biegung der Straße angelangt, die zum ersten Mal den Blick auf das Kloster freigab, hielt er an und parkte für einen Augenblick an der Zufahrt auf einem Grasstreifen.­

Er hatte gelesen, dass die Abtei im neunten Jahrhundert von Benediktinern gegründet worden war. Papst Gregor IV. war einer ihrer ersten Mönche gewesen, bevor er den Petersthron bestiegen hatte. Bezahlt hatte den Bau des mächtigen Gebäudes jedoch die Familie der Grafen von Aquino, jener berühmten Grafen, die die deutschen Kaiser in die Schlacht um das Heilige Römische Reich und um Jerusalem begleitet hatten. Einer der Ersten in ihrer Ahnenreihe war die rechte Hand des legendären Friedrich Barbarossa gewesen, der 1190 auf dem Weg in den Kreuzzug in einem Fluss in Armenien ertrunken war. Seine Nachkommen hatten auch den zweiten der Friedriche, den Enkel Barbarossas, in den Kampf um Sizilien und Palästina begleitet.­

Aber der Ruf, der dem Gotteshaus anhing, und der Camarata innehalten ließ, war dem jüngsten der streitbaren Brüder geschuldet. Der Berühmteste der Familie, Thomas ‚der engelsgleiche Heilige‘, war hier in der Abtei gestorben, angeblich auf dem nackten Steinboden ausgestreckt und mit einer Erklärung des Gesangs der Gesänge auf den Lippen, kaum fünfzig Jahre alt und überzeugt, dass seine Unsterblichkeit nahe sei. Umgeben vom Geruch nicht nur der Heiligkeit, sondern auch mystischen Legenden, die daher rührten, dass er angeblich Alchemist gewesen war. Aquin hatte der Welt die Existenz Gottes bewiesen und trotz seines frühen Todes den Weg zu ewigem Ruhm gefunden. Die Überbleibsel seiner sterblichen Hülle füllten seitdem diverse Reliquienschreine.­

„Kreuzritter und Gralssuchende …“, brummte Camarata. „Und ein Heiliger, dessen Knochen über ganz Italien und Frankreich verstreut liegen … Was für ein Ort … Ich hätte mich im Sarg umgedreht, wenn man meinen kahlen Schädel verziert mit Rosen in der Öffentlichkeit ausgestellt hätte, einen kleinen Zettel auf der Stirn mit Namen und Sterbetag.“­

Beim Anblick der Abtei war er jedoch fast bereit, die Versprechen von Paradies und Ewigkeit zu glauben. Sie wirkte wie ein grauer Fels in ihrer asketischen Gewichtigkeit.­

Ihre Mauern waren aus weichem Travertin getrieben und die Fassade zerstückelt von Spuren eines nicht mehr vorhandenen Portikus. Er erinnerte sich dunkel, gelesen zu haben, dass ein Mann, der noch mehr von Sagen und Legenden umwoben war als der heilige Thomas, fast den Verstand verloren hatte vor Trauer und Staunen, als er von dessen Ableben erfuhr.­

Albertus Magnus.­

Der viel beschriene, rätselhafte Weise und Alchemist. Camarata erinnerte sich nicht daran, warum Albertus so sehr erschüttert gewesen war, aber der Name weckte eine Erinnerung von Gespenstern und Historien in ihm. ‚Magnus‘, der Große …­

Hätte er dem Namen einen Geschmack zuordnen sollen, dann wäre es der nach Schwefel, Blei und Staub gewesen.­

Glocken begannen zu läuten und die Töne krochen durchdringend in Camaratas Wagen. Er ließ sich ablenken. Brummend schaltete er den Motor wieder an und versuchte, sich der bedrückenden Ausstrahlung des Ortes zu entziehen. Es erzeugte ein flaues Gefühl in seinem Magen, das er aus Sonntagsgottesdiensten in Kindheitstagen kannte. Die grauen Haare der Matronen mit ihren schwarzen Schleiern und ausladenden Busen geisterten noch immer durch seine Erinnerung. Sie hatten ihn an ihre Brüste gedrückt und ihn ‚piccolino‘ genannt. Er rieb sich die Nase, als täte sie ihm noch immer weh.­

Als Camarata in den Parkplatz neben der Abtei einbog, wich er im letzten Moment einem blauen Bus mit Touristen aus, der ihm entgegenkam. Es war der fünfzehnte August und die Festlichkeiten hatten das Gotteshaus, sein Kloster und seinen Gourmetladen mit Besuchern gefüllt. Der Parkplatz war noch immer voller Fahrzeuge.­

Pärchen mit Kinderwagen und lachende Gruppen von Rentnern blockierten die wenigen freien Plätze. An einem beweglichen Fuhrwerk, das sein Besitzer in schreiend gelben Farben bemalt hatte, verkaufte man Panini und Pizza. Ein wandernder Händler mit Luftballons in Tierform stand vor dem Eingang zur Abtei in der Hoffnung auf Familien mit Kindern.­

Das Abendlicht beschien die Szenerie mit einem dunstigen Goldschimmer und ließ Camarata die Menschen als dunkle Silhouetten wahrnehmen. Leuchtende Insekten spielten im Licht zwischen den Bäumen und Schatten von Rauchschwalben jagten ihnen nach.­

Er fragte sich, wie die Fahrzeuge den engen Weg mit der Holzbrücke und dem Dickicht zurückfahren sollten. ‚Hoffentlich zerbrechen sie die Brücke nicht. Ich will nicht im Kloster übernachten‘, schoss es ihm durch den Kopf.­

Cariello hatte seinen Rover bereits unter einer der Pinien neben einem Bus geparkt und machte ihm Zeichen, sich daneben zu rangieren. Er wirkte unerwartet düster, wie er dort bei der alten Mauer stand, die den Kirchgarten abgrenzte, die Stirn in Falten gelegt und die Lippen schmal. „Seien Sie so gut und legen Sie Ihr Carabiniere-Zeichen in meine Windschutzscheibe, Kolonel. Ich will nicht abgeschleppt werden und habe kein Kleingeld eingesteckt.“­

„Irgendeinen Vorteil muss der Beruf ja haben.“ Camarata schälte sich ächzend aus dem Wagen. „Sie schauen drein, als quäle Sie der Zweifel, Professor.“­

Cariello zog eine Grimasse und seine tiefschwarzen Brauen trafen sich fast über der Stirn, so sehr zog er sie zusammen. „Dieses alte Mauerwerk erinnert mich an etwas. Es erzeugt ein Déjà-vu als wäre ich schon einmal hier gewesen.“­

„Und, waren Sie?“­

„Ich bin mir sicher, dass ich die Abtei zum ersten Mal sehe. Manchmal betrügt einen das eigene Hirn und Gerüche von Weihrauch und Popcorn erzeugen nicht vorhandene Erinnerungen.“­

‚Na, es scheinen keinen tollen Erinnerungen zu sein.‘ Camarata ließ ein ermutigendes Basslachen hören. Er wollte vermeiden, dass Cariello schlechte Laune bekam und ihn hängen ließ. „Bah. Diese Kloster sehen doch alle gleich aus. Das hier ist nur ein bisschen größer, ein bisschen düsterer und ein bisschen zusammengestückelter als andere. Es steht laut Werbeschreiben auf einer römischen Villa. Das müsste Sie doch interessieren. Haben Sie die Eiche dort gesehen? Sie muss ein paar hundert Jahre alt sein und wenn ich es richtig sehe, liegen darunter antike Kanalbögen.“­

Cariello runzelte nur die Stirn und reagierte nicht auf den Köder.­

Sie wandten sich zur Kirche. Der Haupteingang war eingerüstet und durch ein rot-weißes Band gesperrt. Sie umrundeten daher die Mauer des Parkplatzes und begaben sich zum Seiteneingang des Abteigebäudes, noch immer umgeben vom Läuten der Glocken. Cariello ging voran und Camarata behäbig hinterher.­

‚Cariello muss immer der Erste sein, selbst wenn ich ihn zu einer Ermittlung einlade‘, dachte Camarata kopfschüttelnd.­

Gesang klang ihnen aus den offenen Türen entgegen. Der Chor wirkte zugleich vergänglich und ewig in der Transzendenz von hunderten Kinderstimmen. Zwei Männer in weißen Kutten traten begleitet davon aus der Pforte und gingen an ihnen vorüber. Ein Hauch von Kälte und dem modrigen Geruch alter Steine drang in Camaratas Nase. Sie wirkten auf ihn mit ihren ergrauten Köpfen und bleichem Teint eher wie Universitätsprofessoren als wie Mönche.­

Cariello blieb stehen. „Haben Sie das gesehen?“­

„Was?“­

„Die Kutten der beiden waren nur ausgeliehen.“­

Camarata drehte sich um und stellte fest, dass Cariello recht hatte. Die Kuttenträger entledigten sich ihrer Umhänge und darunter kamen zivile Anzüge zum Vorschein. Er rieb sich das Kinn. „Ich habe gelesen, dass das Kloster nach seiner Gründung von den Benediktinern zu den Zisterziensern übergetreten ist, den schweigenden Mönchen. Aber ich hatte gedacht, dass die Leitung der Abtei heute einer Gruppe bibelversessener Laien übertragen worden sei.“­

„Die beiden sehen nicht danach aus“, meinte Cariello trocken, die Augen noch immer auf die Männer gerichtet. Sie stiegen in einen der weißen Busse mit Schweizer Kennzeichen und die Türen schlossen sich hinter ihnen.­

„Nun gehen Sie schon in die Kirche, Cariello“, brummte Camarata. „Es wird spät.“­

Bevor sie die Treppen zum Eingang hinunterstiegen und in den Vorraum traten, klopfte sich Cariello die Arbeitshosen ab und straffte sein Hemd. Das Kloster war so sauber, dass selbst der Staub an seinen Schuhen anklagend hervortrat. Camarata wischte sich nur erneut den Schweiß von der Stirn. Ihm fehlte Cariellos Selbstverliebtheit. Er war froh, aus der Sonne zu kommen und die Türen der Abtei zu durchqueren, bevor man sie schloss.­

Im Eingangsbereich brummte eine Klimaanlage und angenehme Kühle schlug ihm entgegen. Es roch nach Bienenwachs und alten Mauern. Die Glocken waren verstummt.­

Eine blonde Frau in weißem Kleid stand zur Linken in einer Nische an einem Tisch und schickte sich an, sie zu begrüßen. Sie wurde jedoch aufgehalten.­

„Adalgiso?“ Ein riesiger Mönch in weiß-schwarzer Kutte trat hinter Cariello und ließ ihm die Pranke auf die Schulter sinken.­

Cariello wandte sich um. Er runzelte die Stirn.­

Der Ordensbruder trug einen weißen Bart, der seinen breiten Brustkorb bedeckte. Graue Augen, umgeben von dichten Wimpern, schauten unter den buschigen Brauen hervor. Sein wettergegerbtes Gesicht erinnerte an Schaljapin als Boris Godunov. In seinen Augen lag etwas, das misstrauisch, aber auch erhaben wirkte. Er war ein Mann, der selbst im Alter noch attraktiv war, oder vielleicht gerade da. Seine Hände wirkten derb und abgearbeitet und die Füße steckten in den klobigen Ledersandalen des Bettelmönchs.­

Cariello sah ihn mit gehobenen Brauen an. „Fra Guglielmo! Sie! Sie sind in Ihr Stammkloster zurückgekehrt!?“­

Die Pranke des Mönchs fasste ihn hart an der Schulter und Camarata fühlte sich, als störe er.­

Der Mönch raunte heiser: „Ich bin zurück, aber es ist kaum noch ein Zisterzienser hier. Ich bin fremd geworden in meinem eigenen Kloster, ein alter Mann, vergiftet von Verdacht und Argwohn. Wäre ich nur geblieben, wo ich war … Es geschieht so viel Schlimmes.“ Er warf Camarata einen misstrauischen Blick zu, offensichtlich nicht froh darüber, einen Zeugen für sein Gespräch mit Cariello zu haben. „Sie sind ein Freund?“­

Camarata fühlte sich überflüssig, aber war nicht bereit, seinen ‚allwissenden Wissenschaftler‘ an den Mönch abzutreten. „Camarata, Kolonel der Carabinieri.“­

Die vom Alter fahlen Augen des Mönchs wurden düster und sein Gesicht verschloss sich. Er räusperte sich mit einem harten, rasselnden Husten. „Vielleicht schickt euch der Himmel oder vielleicht solltet ihr besser so schnell wie möglich gehen. Wie auch immer, kommt.“ Er wies mit einer heftigen Geste in die Mitte der Hauptkirche.­

Cariello lachte auf, bemüht, trotz der rüden Begrüßung gelassen zu bleiben, auch wenn Camarata sah, dass ihn etwas verstörte. „Was heißt das, Fra Guglielmo? Machen Sie sich Sorgen um mich, nur weil ich durch Zufall Ihr Kloster besuche? Es freut mich, Sie zu sehen … Es muss Jahre her sein …“­

„Zufall?“ Der Mönch musterte ihn und Unruhe klang in seiner rauen Bassstimme mit. Sein Bart bebte.­

Camarata entschloss sich, sich auf sein eigentliches Ansinnen zu berufen. „Es ist nicht die Vorsehung, die uns schickt, Pater, sondern die Superintendenz der Region. Es scheint, ein Mosaik wurde beschädigt.“­

Der Geistliche atmete schwer. Dann nickte er. „Ich weiß. Das dort!“ Er zeigte erneut stumm voraus.­

Camarata kam sein Verhalten bizarr vor, aber er machte gehorsam ein paar Schritte voran, um zu sehen, auf was er deutete. ­

Das Hauptportal der Abtei lag vor ihnen. Teile der Fassade waren innen und außen eingerüstet und die Türflügel standen offen. Camarata hatte viel über das Tor gelesen, aber jetzt, da er zum ersten Mal die Höhe der Kirchenfassade sah, traf ihn der Anblick wie eine Naturgewalt. Er fühlte sich wie ein Kind, das ein Wunder betrachtet, von dem es gehört hat, aber an dessen Existenz es nicht geglaubt hat, so überraschend monumental war sie. Wie aus einem Block gehauen.­

Ein Werk im Stil der Kreuzzügler des Mittelalters. Ein Meisterstück der Gotik mit einer blendend erleuchteten Rosette aus hellem Stein, die hoch oben unterm Dach die Sonnenstrahlen hereinließ und sie in vielfarbigen Bündeln durch das Kirchenschiff sandte.­

Ohne Zeit mit Erklärungen zu verlieren, ging der Mönch ihnen voran zum Portal und durch den Torbogen ins Freie. Von dort kletterte er die außen am Gebäude anliegende Leiter hinauf. Camarata folgte ihm verdutzt, begleitet von Cariello.­

Das Gerüst war aus einfachen Aluminiumstangen zusammengefügt und mit hellgrünen Planen vor den Blicken der Besucher und der Sonne geschützt. Seine Stangen zitterten unter den Schritten des fast zwei Meter großen Ordensbruders, der sie mit entschlossenen, kraftvollen Bewegungen erklomm und ihnen grob bedeutete, ihm zu folgen. Wind fuhr in die Planen und sie schlugen wie bizarre Flügel gegen die Stangen, während er nach oben verschwand.­

Camarata fühlte sich unwohl. ‚Wie bin ich hierher geraten?‘, fragte er sich. ‚Jetzt klettere ich mit einem mir völlig unbekannten Mönch eine wackelige Leiter hinauf. In meinem Alter und mit meinem Bauch. Und Cariello zieht ein Gesicht, als bereue er, mich begleitet zu haben.‘­

Die Bewegung der Planen am Gerüst wirkte wie ein Omen. Es war seit Tagen windstill gewesen und jetzt schlugen sie umher, als käme ein Sturm. Camarata biss die Zähne zusammen und stieg auf die Leiter, bemüht, nicht durch die aus Gittern bestehenden Stufen nach unten zu sehen. Größere Höhen waren nichts für ihn. Das schmale Gestänge reichte bis hinauf zur Rosette, schwindelnd weit oben unter dem Dach, aber sie stiegen zu seiner Erleichterung nicht so weit. Die Stangen wankten.­

Am oberen Teil des Kirchenportals angekommen, hielt der alte Mönch inne und winkte ihnen, zu ihm zu kommen.

---ENDE DER LESEPROBE---