Die Mumie in den Alpen - Floria Don - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Mumie in den Alpen E-Book

Floria Don

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Cariello bereut, seinen Kollegen von der Universität Harvard zugesagt zu haben, sie auf den Gorner Gletscher in die Alpen zu begleiten. Mitten im Februar sind die Wetterverhältnisse gefährlich und als einer seiner Männer in eine Spalte stürzt, muss Cariello alles riskieren, um ihn zu retten. Doch dann macht er mitten im Eis eine unglaubliche Entdeckung. Ein Kind liegt seit Jahrtausenden eingefroren am Berg – und es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Kind. Doch bevor Cariello und seine mutige Begleiterin Therese ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgehen können, müssen sie sich erst mit der Schweizer Polizei auseinandersetzen. Ein Bergretter ist am Gletscher verschwunden und man findet ihn ermordet in dem gleichen Spalt, in dem Cariello kurz zuvor geweilt hat. Eine fesselnde Jagd nach Mörder und Geheimnis der Gletscherleiche beginnt. "Atemberaubend" "Ein Cliffhanger mit unerwartetem Ausgang." "Ein aktuelles Buch, das heutige Umweltprobleme in völlig anderem Licht erscheinen lässt. Exzellent recherchiert und packend geschrieben."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Tod in den Bergen

Drohende Gefahr

Verloren im Eis

In letzter Minute

Ein seltsamer Fund

Das Kind im Gletscher

Man findet Adriano

Verschüttet

Plötzlicher Widerstand

Jeder hat Interessen

Abstieg

Bizarrer Hausarrest

Gottseibeiuns

Geister

Streit

Aus dem Nichts

Es gibt Ärger

Sprachlos

Blüten der Diplomatie

Schrecklicher Verdacht

Ein verdächtiges Gespräch

Tochterschicksal

Der Teufel an der Wand

Ahnen

Susan

In Gefahr

Blutige Maske

Katastrophe

Kriegsrat

Giulio

Klimawechsel

Petzold erlebt eine Überraschung

Der alte Martig

Tod im Schnee

Verdacht

Entsetzen in der Nacht

Morgengrauen

Das Rätsel der Lawine

Auf der Jagd

Aufstieg im Wald

Motive

Katzenaugen

Die schreckliche Wahrheit

Epilog

Impressum

Dieses Buch basiert auf historischen Begebenheiten und realen Schauplätzen. Die Handlung ist fiktiv.­

Tod in den Bergen

Das Blut hatte den gleißend hellen Schnee rot gefärbt. Es wirkte surreal auf dem pulverigen Weiß des Gletschers, das kein Fußabdruck und kein Pfad befleckte. Das Gesicht des alten Mannes, der auf dem Eis lag, zeigte einen zornigen Ausdruck. Er schien mitten in all der Pracht der reifbedeckten Berge mit einem Schrei auf den Lippen erstarrt zu sein. Der Eispickel hatte die blaue Kapuze seiner Parka und den Hinterkopf durchdrungen, drei Schläge hatten genügt, ihn zu töten. Die Temperaturen unter null begannen, das Wasser seiner grauen Augen gefrieren zu lassen, obwohl es kaum fünf Minuten her war, dass er aufgehört hatte, zu zittern.­

Behandschuhte Hände zogen den Eispickel heraus. Dann schoben sie die Schneebrille über die erbleichenden Pupillen und stießen den Toten in die Tiefe der Spalte im Gletscher. Sie rafften den blutigen Schnee zusammen und warfen ihn dem Erschlagenen nach. Ein Tritt der Steigeisen trennte den Rand der Kluft ab, so dass sie sich verschloss und das schaurige Opfer vor den Augen der Welt verbarg.­

Die sonnenbeschienen Höhen der Alpen glitzerten, als wären sie von einer Malerhand gezeichnet worden. Erhaben und friedvoll. Das Grau der Felsenhöhen stach rau gegen den azurblauen Himmel ab und alles war so still, als wäre nie etwas geschehen. Der Kompass am Armband des Erschlagenen zeigte nach Norden, in Richtung der Schweiz.­

Drohende Gefahr

Der Wind heulte in den Dachbalken der Baude und Kälte drang durch die undichten Türen des spärlich beleuchteten Saals herein. Die Wände der Alphütte hatten sich von außen meterdick mit Schnee und Reif bedeckt, so dass das Gebäude schon nach wenigen Schritten hinaus ins Freie in dem alles gleichmachenden Weiß nicht mehr zu erkennen war.­

Die Nacht brach herein, vorangetrieben von Sturm und Graupelschleiern, die über die Zinnen des Colle Gnifetti, den die Walliser Signalkuppe nannten, herüberzogen. Die Gipfel des Monte-Rosa-Massivs erschienen ab und an, umgeben von einem surreal roten Licht, in den Wolkenlöchern, gespenstisch beleuchtet von der schnell sinkenden Sonne.­

Feininger trat vom rudimentären Aussichtsbalkon nach drinnen. Das alte Gebäude ächzte, als er die Tür zuschlug. „Die Lawinengefahr nimmt im Minutentakt zu“, brummte er zwischen den Zähnen hervor, die grauen Brauen besorgt zusammengezogen und das Wikingergesicht bleich im schwachen Licht der Lampen.­

Er hatte sich einen Norwegerpullover über den breiten Brustkorb gezogen und wirkte darin wie ein bejahrter Yeti. Sein weiß-grauer Bart war seit nunmehr zwei Wochen nicht mehr gestutzt worden. Die Menge der Schneeflocken, die sich in dem kurzen Augenblick an der Luft in seinen Haaren verfangen hatte, verhieß nichts Gutes.­

Die Wissenschaftler des amerikanisch-italienischen Teams saßen seit zwei Wochen in der Königin-Margherita-Hütte auf der Grenze zwischen der Schweiz und Italien fest. Feininger war es leid, den Elementen ausgesetzt zu sein, geschüttelt von Wind und Kälte. Seine Haut war sonnenverbrannt und die Wangen blau von Erfrierungen, aber in absehbarer Zukunft würde die Situation nicht besser werden. Sie hatten noch Arbeit zu erledigen und an einen Abstieg war vorerst nicht zu denken.­

Die Hütte lag auf einer Höhe von 4.554 Metern und war damit das höchstgelegene Gebäude des alten Kontinents. Und sie befand sich an einem außerordentlichen Platz in den Bergen, wie geschaffen für das, was sie erreichen wollten.­

Cariello, der am Kamin saß und grübelte, hatte schon bei ihrer Ankunft betont, dass er sich die Ehre, in ihr zu logieren, gern erspart hätte. Die Harvard-Leute hatten auf seiner Anwesenheit bestanden. Große Namen brachten Investoren und Cariello war eine Berühmtheit. Jetzt, bei hereinbrechender Nacht, lehnte der ‚Star‘ kühl und schweigend in seinem Sessel, das scharfgeschnittene, sonnengebräunte Gesicht verschlossen und die schwarzen Haare zerwühlt. Seit er aus Neapel gekommen war, quälten ihn Atemnot und Kopfschmerzen und sie schienen nicht wegzugehen. Es zeigte sich, dass er unerwartet anfällig war für die Höhenkrankheit, und das qualmende Kaminfeuer fraß den raren Sauerstoff zusätzlich aus der Luft …­

Cariello hatte die langen Beine in seiner üblichen Art übereinandergeschlagen und die hageren Hände an die Schläfen gedrückt. Das Feuer vor ihm malte flackernd rote Schimmer über alles und betonte jedes Detail des Raumes in einer Schärfe, die surreal wirkte. Er sah aus, als harre er in der hereinbrechenden Nacht auf ein böses Omen oder lausche wie ein gefangener Wolf in den heulenden Sturm, in dem die Wilde Jagd an der Hütte vorübertobte.­

„Sie sind erstaunlich ruhig, Cariello“, knurrte Feininger. „Die Haare gewaschen und frisch rasiert. Wenn der Sonnenbrand auf Ihrem Gesicht nicht wäre, würde man Ihnen die Entbehrungen der letzten Tage nicht ansehen.“­

Feininger hörte selbst, wie missmutig seine Stimme klang. Cariello war wie eine Katze, die sich in jeder Situation sauber leckte. Eine Sorgfalt, die ihm selbst abging und um die er ihn beneidete. Jetzt jedoch ärgerte ihn seine zur Schau getragene Gleichmut. In Wirklichkeit war Cariello sicher alles, nur nicht ruhig und gelassen. Feininger sah, dass sich die Knöchel seiner Hände weiß färbten, so sehr drückte er sie gegen seinen Kopf. Seine Augen glühten düster.

Cariellos Antwort war trocken. „Ich versuche, so etwas wie Zivilisation aufrechtzuerhalten.“ Er wischte sich die Haare aus dem Gesicht, zog die Daunenweste fester über den grauen Pullover und setzte sich auf.­

Feininger lief von einer Seite des holzverkleideten Aufenthaltsraums der Baude zur anderen und zurück. Er wartete auf eine Reaktion von Cariello, weil er sich selbst nicht entschließen konnte, was zu tun war. „Sie haben nichts gegessen.“­

„Wenn man weniger isst, denkt man besser.“

Feininger versuchte ärgerlich, ihn zu provozieren und seine Stimme grollte tiefer als üblich. „Ich habe noch nie einen solchen Eisklotz wie Sie kennengelernt. Sie sitzen hier herum als wäre nichts und als würden Sie sich langweilen. Und das als Italiener … Man hatte mich gewarnt, Sie seien ein Exzentriker, aber ich gebe zu, es ist das erste Mal, dass ich einen sehe wie Sie.“­

„Ich tue nur so.“­

Feininger knurrte: „Was denken Sie: Werden sie es schaffen?“ Cariellos Kaltschnäuzigkeit trieb ihn in den Wahnsinn.­

Cariello legte die Fingerspitzen aneinander und antwortete im nüchternen Ton des Wissenschaftlers, in dem unterschwellig ein Hauch mühsam beherrschter Erregung mitklang. „Nein. Ich halte das leider für ausgeschlossen. Die Baude wirkt bei gutem Wetter wie ein auf einem Bergvorsprung gestrandeter Eisenbahnwagon, aber jetzt, bei diesem Sturm, wird sie fast unsichtbar. Man weiß erst, wo sie ist, wenn man direkt davorsteht. Es hängt sich zu viel Eis an ihr fest. Wer auch immer sie in seinem Größenwahnsinn auf diesen Grat gesetzt hat, hat eine Dummheit begangen. In der Dunkelheit findet die Hütte keiner und der vorgelagerte Aufstieg macht den Zugang zusätzlich lebensgefährlich. Ihr Flackern mit der Taschenlampe ist ein Staubkorn im Ozean, Feininger.“ Er sprach nicht weiter. Seine Stimme brach und seine Lippen pressten sich aufeinander. Auch er rang mit sich, was zu tun war.­

Nicht nur ihre Kollegen waren dort draußen, ohne Zelt, Sauerstoff und Wärme, sondern auch Therese Urquiola. Feininger hatte bemerkt, dass Cariello und die junge Frau sich näherstanden, als ein Professor und seine ehemalige Studentin sich üblicherweise standen. Ihre Beziehung war konfliktgeladen. Cariello war älter als Therese, bekannter und reservierter. Aber zwischen ihr und ihm bestand mehr als nur freundliches Interesse.­

So wie zwischen Feininger und Susan. Auch Susan war dort draußen im Sturm. Feininger rang die Hände und stampfte auf dem knarrenden Holzboden umher. Er trat gegen einen Stuhl, wischte Papiere vom Tisch und sah erneut zu Cariello auf der Suche nach einer Antwort auf die Situation.­

Cariello holte hörbar Luft, als ob ein eisernes Band um den Brustkorb ihn am Atmen hindern würde. Tom Becker, der Leiter der Forschungsgruppe von Seiten Harvards, hatte zu Feininger gemeint, Cariello ginge nicht mit seinen Gefühlen hausieren. Becker hatte nur teilweise Recht.­

Auch wenn Cariello sich unter Kontrolle hatte, er war genau wie Feininger aufgefressen von Unruhe.­

Seine Augen leuchteten finster und seine markanten Wangen waren unter der Sonnenbräune bleich. Eine tiefe Falte der Sorge hatte sich über seiner Nasenwurzel gebildet. Die schlanke Blondine mit dem Trotz einer Amazone, die dort draußen im Schnee um ihr Leben kämpfte, war ihm nicht egal. Therese und er waren zusammen am Bahnhof in Bozen eingetroffen und kannten sich besser als jeder andere des Teams. Ihre Nähe hatte viel Getuschel ausgelöst. Vor allem Bernstein hatte sich das Maul zerrissen und gemeint, Cariello schlafe mit der hübschesten der weiblichen Team-Mitglieder.­

‚Bernstein ist wie immer ein Schandmaul‘, dachte Feininger. ‚Warum haben wir ihn mitgenommen? Ich wusste, dass er nicht zum Team passt. Ein vom Neid zerfressener Hypochonder. Und mit so einer Last an ihrer Seite müssen Therese und Susan sich hierher zurückkämpfen.‘ Er mochte Bernstein nicht und hatte stattdessen Cariello unerwartet schnell ins Herz geschlossen. Komplizierte Charaktere waren ihm lieber als schwächliche Gemüter.­

Er fragte sich, wie nahe Cariello die Situation ging. So nahe wie ihm selbst?­

Der italienische Klimaforscher, Giulio Arrigazza, der Cariello im Zug begleitete hatte, kannte ihn besser. Vor Jahren hatte er bei ihm Kurse belegt. Er hatte auf Feiningers Frage hin gegrinst und gemeint, dass Cariello Therese vor zehn Jahren zum ersten Mal gesehen habe, als Studentin in einer der Bänke des großen Auditoriums der Universität. Damals sei er noch anderweitig liiert gewesen, aber das schmale Gesicht, die hellen grauen Augen und die eigensinnigen Lippen der jungen Frau waren nicht nur den Studenten, sondern auch dem Professor aufgefallen.­

‚Und jetzt ist die Frau seines Lebens dabei, dort draußen im Sturm umzukommen, so wie neun Jahre zuvor seine Ehefrau umgekommen ist. Und ich bin schuld.‘ Feininger biss sich auf die Lippen. Was sollten sie tun?­

Es wunderte ihn, dass Cariello ihm bisher keine Vorwürfe gemacht hatte. Cariello war immer viel analytischer und kühler als er selbst. ‚Mir ist nach brüllen.‘ Feininger konnte nicht hinter die Fassade des Neapolitaners schauen, aber wenn er in seiner Situation gewesen wäre, hätte er sich selbst lauthals angegriffen.­

Feininger trampelte erneut über die staubigen Holzbalken unter seinen Füßen, gequält von Sorge. „Wir hätten nie hierherkommen sollen.“­

Cariellos Stimme klang eisig. „Sie hatten es so eilig, die Gletscherproben zu nehmen. Der Bergdienst hatte abgeraten, im Februar hier heraufzusteigen.“­

Jetzt kamen sie also doch, die Vorwürfe. Es hatte lange gedauert. Feininger nickte düster. Es war in der Tat seine Idee gewesen, hier auf den Gletscher zu kommen, um darin Bohrungen vorzunehmen. Aber Cariello hatte zugestimmt ...­

Die Firne in den Walliser Alpen zählten zu den ältesten Europas. Ihre Gletscher hatten Schicht um Schicht das Eis der Jahrtausende bewahrt. Sie waren alle erpicht darauf gewesen, in ihrem Kern Antworten auf sonst unbeantwortbare Fragen zu finden. Die Analysen der von ihnen in den letzten Tagen auf dem Gletscher entnommenen Eiskerne hatten ihre kühnsten Hoffnungen übertroffen. Bereits das Vorhandensein eines Gemischs aus vulkanischer Asche und Sand hatte Cariellos vielzitierte Hypothese, dass drei gewaltige Vulkanausbrüche in der Spätantike Asche über die gesamte nördliche Hemisphäre verstreut hatten, bewiesen. ­

Der byzantinische Geschichtsschreiber Prokopius hatte berichtet, dass in den Jahren 535-536 die Sonne die gleiche Helligkeit gezeigt habe wie sonst der Mond. Es habe keinen Sommer gegeben und das Römische Reich sei in Hunger und Elend versunken.­

Feininger trat von einem Fuß auf den anderen. „Wir haben Erfolg gehabt, Cariello. Immerhin das … Wir haben nachgewiesen, dass der Klimawandel für eines der größten Reiche der Geschichte tödlich war.“­

Feininger war ein Experte der Klimageschichte und eine Koryphäe in seinem Fach. In letzter Zeit bedauerte er, seine Spezialisierung gewählt zu haben. Manche Dinge wusste man besser nicht.­

Das Projekt seines Kollegen und Teamleiters Tom Becker bezüglich der Blitzeiszeit in der Antike hatte ihm gefallen, weil es so harmlos war und sich nur mit längst vergangenen Zeiten befasste. Es lenkte seine Gedanken von schlimmeren Dingen ab, denen er sonst hätte nachgehen müssen und die ihm in den letzten Monaten den Schlaf geraubt hatten.­

Cariello antwortete verärgert, auch wenn seine Miene steinern blieb. „Ich hatte recht ‒ aber um welchen Preis, Feininger? Acht Menschen sind da draußen im Schneesturm, verloren in der hereinbrechenden Dunkelheit. Ohne Satelliten-Telefon, weil Sie es den ganzen Tag lang benötigten, um unseren Triumph hinauszuposaunen und das Hüttentelefon Ihnen nicht genügte. Das hätte warten können. … Es hätte warten müssen!“­

„Sie waren genauso froh wie ich, sich den Ruhm zu sichern, Cariello. Sie lieben die Show und den Ruhm, wie wir … Erfolg macht Spaß und Ruhm bringt Investoren. Und mit diesem Wetter hatte keiner gerechnet.“­

Cariello murmelte: „Seit gestern haben wir eine Warnung nach der anderen empfangen. Sie haben es uns verschwiegen, um die anderen zu überreden, hinauszugehen und weitere Bohrungen vorzunehmen. Der Hüttenwirt hat es mir vorhin gesagt, bevor er selbst ins Tal abgestiegen ist.“ Er beäugte ihn grimmig.­

Feininger wusste, dass er von Zeit zu Zeit alles niederwalzte wie ein Yeti, genau wie sein Freund und Kollege Tom Becker. Sie waren keine Leute, die nur redeten, und an sich war das gut. Aber was heute geschehen war, hätte nicht passieren dürfen.­

Die gesamte restliche Forschungsgruppe war dem Schneesturm in die Falle gegangen, während sie hier drinnen wie Eremiten wissenschaftliche Tests vorgenommen hatten, begeistert von kühnen historischen Thesen und ihren Beweisen in Form von Staub und Dreck.­

„Sie sind schlecht gelaunt, Cariello.“­

Mit einem Knallen traf Cariellos Hand die Armlehne. Er sprang auf und baute sich vor Feininger auf, die Stirn in Falten gelegt und die dunklen Brauen zusammengezogen. Sein feingeschnittener Mund zuckte drohend. „Sollte ich gut gelaunt sein?“­

So wie er da vor ihm stand, sah Cariello stattlich aus. Hochgewachsen und muskulös. Ein wütender Panther.­

Feininger machte einen Schritt zurück und starrte einen Moment ins Feuer. „Seien Sie nicht erst so beherrscht, nur um mich dann anzuspringen. Exzessive Südländer ...“ ­

Das Feuer war angenehm wärmend, eine Sicherheit in der tobenden Gefahr der Nacht. Aber Feininger kam nicht umhin, vorzuschlagen, was offenkundig notwendig war. „Ich glaube, uns bleibt keine Wahl. Lassen Sie mich alleingehen oder kommen Sie mit mir?“­

„Ich komme mit Ihnen. Was sonst?“­

Feininger war erleichtert. Er hatte auch nicht wirklich erwartet, dass Cariello tatenlos auf seinem Sessel sitzen bleiben würde, wenn andere um ihr Leben kämpften.­

Als sie Minuten später, eingehüllt in Schals und Daunenjacken und geschützt von Schneebrillen, ins Freie traten, traf sie der Sturm mit Hagel und Eis wie Messerstiche. Es war dunkel geworden und die Temperaturen waren hier, so weit oben, in die Minusgrade gesunken. Feininger sah erst auf das Außenthermometer und dann zu Cariello.­

Cariello zögerte nicht, aber auch er wusste, was sie riskierten. Von jetzt an befanden sie sich in Lebensgefahr. Und es war zweifelhaft, ob sie ihre Kollegen und Freunde ‒ und Therese und Susan ‒ in dem Unwetter lokalisieren konnten.­

Und wenn ja, wie sie den Weg zurück in die Sicherheit finden würden.­

Verloren im Eis

Therese fühlte ihre Finger nicht mehr. Ringsumher waren nur Eis und Nacht. ‚Das alles kann nicht wahr sein‘, dachte sie.­

Wie war sie aus ihrem ruhigen, universitären Leben in Padua in eine so aussichtslose Lage auf einen nächtlichen Gletscher geraten? Sie fluchte, aber es half nichts. Die Realität blieb unnachgiebig und bitter. Der schmale Pfad im Eis war nicht mehr zu sehen und Schnee umtobte sie wie ein undurchsichtiger Malstrom.­

Sie standen inmitten von Gletschern, die durchzogen waren von Rissen und Schluchten, die sich dutzende und zuweilen auch hunderte Meter tief ins Eis schnitten. Ihre Stirnlampen warfen nur lächerliche Punkte von Licht in die höllische Finsternis und sie wussten nicht, wo sie sich befanden und in welche Richtung sie gehen mussten, um zur Hütte zurückzugelangen. Sie waren dreimal umgekehrt und hatten den Weg nicht gefunden, während die Orientierung eine Stunde zuvor noch ein Kinderspiel gewesen war.­

„Sollen wir versuchen, ins Tal abzusteigen?“­

John Abraham, Harvard-Professor und erfahrener Bergsteiger, stand neben ihr im Sturm und sah zu den scharfen Graten der Kammwege, zu den Geröllfeldern und Abgründen. „Aussichtslos. Der Weg zurück zur Baude ist die einzige Möglichkeit, uns in Sicherheit zu bringen. Tom wird ihn finden. In solchen Situationen ist er wie eine Maschine. Vertrau ihm. Wir dürfen nur nicht aufgeben.“­

John klang erschöpft, aber klagte nicht. Sein Knie blutete und färbte seine weiße Skihose. Er hatte sich an einem der Eisbrocken am oberen Teil des Gletschers verletzt und der Schmerz musste beträchtlich sein, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Therese hätte ihn aufmuntern und ermutigen wollen, aber hatte nicht mehr die Kraft dazu.­

„Wir sollten uns beeilen.“ Sie versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Wo war jener enorme, dreistöckige Kasten aus schwarzen Brettern, der ihr beim Tag ihrer Ankunft vorgekommen war, wie eine sich an den Grat zum Abgrund klammernde Arche Noah? Die Baude konnte nicht mehr als einen Kilometer entfernt liegen, vielleicht nur fünfhundert Meter. Aber in welcher Richtung?­

Sie rieb sich übers Gesicht und die Berührung schmerzte. Ihre Finger waren trotz der Daunenhandschuhe steif und ihr Gesicht wundgefroren. Dort, wo die Schneebrille ihre Wangen berührte, hatten sich Eiszapfen gebildet. Sie schob die Brille nach oben, aber korrigierte sich sofort. Es war zwar dunkel geworden, aber der Wind blies schneidend. Sie brauchte eine Minute, bevor sie ihre Augen unter der Brille wieder öffnen konnte.­

Verbissen versuchte sie, in Bewegung zu bleiben. Wer sich nicht bewegte, starb.­

„Hierher, hier.“ John rief wütend mit seiner tragenden Bassstimme in die Nacht und gestikulierte.­

Das Harvard-Team war eng beieinandergeblieben, aber die Italiener der Gruppe waren gefährlich weit abgeschlagen. Giulio und Adriano waren aus Thereses Sichtfeld verschwunden und die Tatsache schockierte sie. Sie realisierte mit Beklemmung, dass es bereits jetzt ausgeschlossen war, dass alle von ihnen heil die Baude erreichen würden. Wenn es überhaupt noch machbar war, den Weg zu finden, dann würden ihn nur einige von ihnen finden. Diejenigen, die zusammenblieben …­

Tom Becker, der Leiter des Teams, schüchterte sie zuweilen mit seiner Bulligkeit ein, aber sie vertraute seiner Tatkraft blind. John hatte Recht. Wenn einer sie wieder zur Baude zurückbringen konnte, dann war es Tom.­

Sie raffte sich auf und stapfte drei Schritte näher zu John. Der hagere, hochgewachsene Wissenschaftler mit den Sommersprossen und der überdimensionierten roten Jacke hatte seine Skibrille abgenommen, aber kniff wie sie eine Minute zuvor die Lider zusammen. Die helle Narbe über seiner Stirn, die er sich laut seiner Kollegen bei irgendeiner unsinnigen Schlägerei geholt hatte, leuchtete rot. Eis bildete sich an seinen Wimpern wie ein Vorhang. Wenn er einatmete, blieben seine Nasenflügel kleben und er rieb sich darüber.­

Therese konnte sich nicht vorstellen, dass ein anerkannter Wissenschaftler wie er sich jemals mit jemandem geschlagen haben könnte. Hier im Sturm wirkte er beherrscht und trotz der Lage erstaunlich gefasst.­

Sie schrie ihm zu, behindert durch das Tosen des Schneesturms: „Die Baude muss gegenüber auf dem Grat sein. Zwischen ihr und uns liegt der Colle Gnifetti. Wir müssen abwärts an den Gletscherfuß steigen, die Senke durchqueren und wieder über das Schneefeld aufsteigen. Wir sollten losgehen, bevor wir vollkommen auskühlen.“­

John schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich zu sprechen. Seine Lippen waren weiß und der Sturm heulte auf wie ein Rudel Wölfe.­

Eine dunkle Gestalt baute sich neben ihnen auf.­

Therese brauchte einen Moment, um Tom Becker zu erkennen. Er war muskulöser als John und gut doppelt so breit wie er. Sein feister Bauch schützte ihn vor der Kälte und er drängte sie damit zur Seite, wie ein Panzer. Tom hatte eine Art Autorität, die keinen Widerspruch duldete.­

Therese hatte in den letzten zwei Wochen mehrfach bemerkt, dass Cariello mit ihm ein Hierarchie-Problem hatte. Das war einer der Gründe gewesen, warum Cariello es vorgezogen hatte, mit Feininger in der Baude zu bleiben und Tests vorzunehmen. Sie bereute es. Die beiden zusammen wären in dieser Situation ein unschlagbares Team gewesen.­

Aber jeder von den beiden beanspruchte die Position des Chefs und jeder von ihnen biss sich immer wieder auf die Zunge, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Sie hatten Mühe, nicht in Konflikt zu geraten. Ein bulliger Gigant wie Tom und ein eleganter Südländer wie Cariello passten schlecht zueinander. Am heutigen Tag hatten sie vorgezogen, sich aus dem Weg zu gehen.­

Susan Martig, die fitnessgestählte ältere Anthropologin, die das Team begleitete, stolperte zu ihnen, behindert von den Eisklumpen unter ihren Steigeisen. „Wir müssen handeln. Wenn wir hier noch ein paar Minuten herumstehen, sind wir verloren.“­

Tom knurrte sie und Therese an. „Es herrschen bereits jetzt bedrohliche Sturmgeschwindigkeiten und Minusgrade. Wenn wir versuchen, dort hinüberzukommen, müssen wir das offene Schneefeld überqueren. Der Wind nimmt zu und auf dem Pass wird es eisig. Wir können uns dort noch nicht einmal aufrecht halten, geschweige denn wärmen. In einer halben Stunde ist es noch schlimmer. Und dann noch mit Johns Knie …“ Er brüllte, um im Sturm gehört zu werden. „Es bleibt nur ein Iglu.“­

Therese schaute sich verzweifelt nach ihren italienischen Kollegen um. „Giulio? Adriano?“ Ihre Stimme verhallte im Nichts. Sie waren nicht mehr zu sehen.­

Panik schnürte ihr die Kehle zu. Die fünf Amerikaner waren beieinandergeblieben. Der italienische Teil der Gruppe hätte das Gleiche tun sollen, aber war kopflos auseinandergestürzt.­

‚Verdammte Disziplinlosigkeit‘, dachte sie. Sie sah erneut zu Tom und schüttelte den Kopf. „Wir können hier keinen Unterstand bauen. Das ist eine Lawinenabgangsschneise. Wir sollten uns sammeln und losgehen.“­

Ihr Kinn war steif und ihre Lippen halb gefroren. Tom schien sie im heulenden Wind nicht zu verstehen oder vielleicht wollte er auch nur wie üblich seinen Kopf durchsetzen. Er drehte sich um und stapfte breitbeinig zu einer Gruppe Felsen am Rand des Gletschers. Tom war in der letzten Stunde der Halt und feste Punkt der Expedition gewesen und auch jetzt ging er voran. Aber diesmal hatte er Unrecht.­

Therese stöhnte laut auf. „Ausgeschlossen, dass ich hier die Nacht verbringe. Wir werden erfrieren und wenn nicht, dann holt uns eine Lawine. Tom. John. Hört mir zu!“ Der Sturm jaulte ohrenbetäubend.­

John reagierte nicht und folgte seinem Kollegen. Therese konnte ihr Zittern kaum noch beherrschen. Eis hing in ihren blonden Strähnen, die sich aus der Kapuze gestohlen hatten, und ihr Naseninneres schmerzte brennend bei jedem Atemzug.­

Tom kniete an den Felsen nieder und begann mit einem Eispickel auf den Gletscherrand einzuschlagen, um Eisbrocken für einen Unterschlupf zu lockern.­

Therese wurde schlecht und zugleich wurde sie auch wütend. Warum ignorierte er sie einfach?­

Sie stapfte ihm nach. „Tom. Tom! Wir können hier nicht bleiben. Das ist eine Lawinenzone.“ Ihr Schreien verhallte wie ein Hauchen im Brüllen des Windes. Sie trat zu ihm und begann, ihn zu schütteln. Seine Schulter wirkte unter ihrer Hand wie die eines Big Foot, groß, breit und fleischig.­

Tom Becker wog gute hundertfünfzig Kilo und enorme Muskeln verbargen sich unter dem feisten Bauch. Als sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie ihn als Armee-Veteran eingeschätzt. Um die fünfzig Jahre alt, glattrasiert, mit kurzen grauen Borstenhaaren, einem breiten Kinn und Schultern wie ein Berg. In der roten Bergsteigerausrüstung wirkte er noch massiger. Seine Steigeisen hatten Schnee unter seinen Füßen angesammelt und machten ihn größer. Nur Feininger war noch gigantischer als er.­

Tom hatte mit seinen Pranken einen enormen Klumpen Eis gelockert und zog daran. Therese beugte sich über ihn, um mit ihrer Stirnlampe seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Strahl fiel auf das Eis und sie schrak zurück.­

An der Gletscherabbruchkante kam eine Hand zum Vorschein. Sie war schmal und braun. Kleiner als ihre eigene. „Dort liegt ein Kind!“­

Tom reagierte nicht.­

Therese griff seinen Arm und zog ihn in Richtung der Finger im Schnee. Sie brüllte, bis ihr Hals wehtat: „Ein Kind!“­

Tom zuckte zusammen. Dann nickte er. Jetzt hatte auch er die schmale Hand im transparenten Hellblau des Eises gesehen. Er griff nach dem Eispickel und hieb um das tote Wesen herum ein paar Klumpen ab. Ein Arm, eine Schulter und dann ein Kopf tauchten auf. Kurze, schwarze Haare kräuselten sich im Schnee.­

„Eine Mumie“, brüllte er Therese zu. „Jetzt ist der falsche Moment. Wenn wir das hier überleben, können wir zurückkommen.“­

Therese schüttelte betroffen den Kopf. „Das Kind hat nicht überlebt.“­

Tom knurrte: „Nein.“ Auch ihn schockierte der Fund. Sie standen über einem Grab, das schon in wenigen Stunden ihr eigenes werden konnte.­

Therese beugte sich zu Tom und formte mit den Händen einen windgeschützten Raum vor ihrem Mund. „Wir können nicht hier übernachten. Das ist eine Lawinenabgangszone. Der ganze Gletscher ist als solche ausgezeichnet. Schau auf die Karten. Bei dem Schneefall ist es gefährlicher hierzubleiben, als den Übergang zur Baude zu versuchen.“­

Tom stöhnte. „Scheiße.“ Er rappelte sich wieder auf die Beine. Dann winkte er mit großen Gesten den anderen, in Richtung Gletscherfuß zu gehen. „Absteigen.“­

Er brüllte es mehrmals, bis alle begriffen hatten. Die Forscher begannen, eine Seilschaft zu bilden, und stolperten voran. Einige glitten auf dem Eis aus, andere versanken im Schnee oder taumelten vor Erschöpfung.­

Therese atmete trotzdem vorerst auf. Zumindest musste sie nicht unter dem Damoklesschwert einer Lawine die Nacht verbringen. Bei solchen Abenteuern waren schon so manche umgekommen.­

Sie blickte ins Schneegestöber und hätte schmerzend gern in ihrem Appartement in Padua sein wollen. Im Warmen. Sicheren. ‚Wenn Cariello wenigstens bei uns wäre. Ihn hätte nichts und niemand aus seiner selbstsicheren Ruhe reißen können.‘­

Cariello fehlte ihr. Er gab ihr oft das Gefühl, sie nicht genug zu beachten und aus seinen Wissenschaftlerhöhen auf sie herabzublicken. Aber wenn es gefährlich wurde, konnte man sich auf ihn verlassen. Sie knirschte mit den Zähnen und verbiss sich die Tränen, so sehr würgte sie die Verzweiflung. Besser, sie dachte an nichts mehr, sonst begann sie zu heulen oder gab auf …­

Therese ordnete sich hinter John ein und stapfte los. Ihre Blicke huschten über die Schneewehen um sie herum, bemüht, ein Anzeichen von Giulio und Adriano zu entdecken. Sie waren nirgendwo zu sehen. Mit mechanischen Bewegungen kämpfte sie sich vorwärts. Ihr wurde immer kälter und sie musste sich bei jedem Schritt überwinden, weiterzugehen. Durchhalten war noch nie ihre Stärke gewesen, und sie verdammte ihre Bequemlichkeit. Ihre Füße wurden zunehmend taub und sie hob sie an, als hätte sie leblose Fässer am Ende ihrer Beine. Der Schnee fiel dichter und dichter, sie musste bei jedem zweiten Schritt ihre Schneebrille freiwischen.­

Ohne es zu wollen, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem toten Lebewesen im Eis.­

Wie war es so hoch heraufgeraten? Sie stellte sich eine Sekunde ein einsames, im Eis alleingelassenes Kleinkind vor, dann verbot sie sich den Gedanken. Die hoffnungslose Situation des Knirpses glich zu sehr ihrer eigenen. Hatten seine Eltern es beweint oder hatten sie es ausgesetzt?­

Und was würde ihr eigener Vater denken, wenn man ihm die Nachricht bringen würde, dass sie erfroren war?­

Sie wollte lieber nicht daran denken. An den Schmerz, den er empfinden würde, wenn sie nicht zurückkäme. An seine Verzweiflung. Ihr Vater kämpfte sich gerade erst nach einem Schlaganfall zurück ins Leben. Ihr Tod wäre auch seiner. Nachdem er ihre Mutter verloren hatte, hatte er Mühe gehabt, sich aus seinen Depressionen zu befreien. Was würde aus ihm werden?­

Therese drängte erneut die Tränen zurück. ‚Sei nicht so ein Waschlappen und lauf weiter!‘­

Sie zuckte zusammen, als John vor ihr zu Boden stürzte. Mit letzter Kraft versuchte sie, ihn aufzuheben, aber er war zu schwer. Mit Schrecken sah sie, dass er sich aus dem Seil klinkte. Sie musste sich vorbeugen, um zu verstehen, was er sagte.­

Seine Lippen sahen schrecklich aus, weiß und rissig. „Geht allein weiter. Ich kann nicht mehr. Mein Bein hält nicht. Ich bringe euch in Gefahr.“­

Unter normalen Umständen hätte Therese niemals zugestimmt. Aber jetzt nickte sie müde, entsetzt, wie schnell ihre Kraft versiegte  …Neben ihr erschienen Schatten. Sie dachte, bei ihr stünde jemand, aber als sie hinsah, war nur Schnee um sie herum. ‚Ich halluziniere‘, observierte sie emotionslos. Die Höhenluft ließ ihr Herz hämmern und raubte ihr trotz der bereits in den Bergen zugebrachten Zeit noch immer den Atem.­

Einen Moment überlegte sie, sich neben John zu legen. Ohne Iglu. Einfach in den weichen Pulverboden. Eine riesige Pranke unterband ihre Überlegung und riss John aus dem Schnee. ­

Es war Tom. „Wir sind gleich da. Nicht kapitulieren.“ Er griff seinem erschöpften Kollegen unter den Arm und schliff ihn grob weiter. „Was war noch mal mit der Lawinengefahr und dem sofortigen Abstieg?“, schimpfte er wütend auf Therese, halb über die Schulter zurückgewandt.­

Therese antwortete nicht, aber war trotzdem von seiner Grobheit betroffen. Stumm stolperte sie hinter ihm her.­

Das Gelände wurde weniger abfallend. Sie mussten den Gletscherfuß mit der Pass-Senke erreicht haben. Der Schnee wurde so tief, dass sie ab und an bis zur Hüfte darin versanken, dann wieder robbten sie über kahles Gestein, das der Sturmwind freigeblasen hatte.­

Hier hatten sie zu Beginn ihres Aufenthalts Proben genommen. Ihre Bohrungen waren hundert Meter tief ins Eis getrieben worden. Therese hoffte, dass die von ihnen kreierten Schächte mittlerweile wieder zugeschneit waren. Die Fahnen, die sie gesetzt hatten, waren nirgends zu sehen und die Löcher waren nicht ungefährlich. Sie konnten einbrechen und sie in die Tiefe reißen.­

Das Unwetter war so stark geworden, dass sie nur gebückt vorankamen. Alles um sie herum war dunkel und nur der Schnee reflektierte fahl das Leuchten der Stirnlampen. Therese vergrub Mund und Nase in ihrem Schal, aber er war von der ausgeatmeten und gefrorenen Feuchtigkeit hart wie ein Brett. Ihr Fuß stieß an etwas und sie langte instinktiv danach. Es war weich. Sie hielt eine Jacke in der Hand.­

Schock weckte sie aus ihrer Taubheit. Dort lag jemand. Sie erkannte die gelbe Daunenjacke. Alle anderen Teammitglieder hatten die dunkelroten Harvard-Jacken angezogen. Giulio war seine zu groß gewesen. „Giulio, Giulio. Steh auf!“­

Giulio rührte sich nicht. Sie zerrte an ihm. Sein Gesicht war weiß und bedeckt von Schnee, wie ein Toter, aber er atmete. Therese zog an ihm, bis er aufstand. Er sprach kein Wort, aber sie sah erleichtert, dass er mit ihr mitstolperte. Sie versuchte ein paar Schritte nach rechts und links zu machen, um auch Adriano zu finden. Aber der Schnee war makellos, tief und anscheinend unberührt.­

Therese fühlte sich, als ob sie trotz aller Erschöpfung und Abstumpfung beginnen würde zu weinen. Sie war dankbar dafür. Noch war sie zumindest nicht so benommen wie Giulio, der stumm vorwärtstaumelte. Der kleine, schwarzhaarige Mailänder war der Clown der Gruppe. Immer heiter, immer zu Scherzen aufgelegt. Jetzt jedoch stapfte er wie ein Wiedergänger durch den Schnee. Erstarrt und seltsam blind hinter der verschneiten Brille.­

‚Lange wird keiner von uns durchhalten‘, dachte Therese. Sie hatte keine Kraft mehr und musste sich mit jedem Schritt erneut überreden, sich nicht in die weiche, weiße Schneedecke sinken zu lassen und zu schlafen. Wie sollte sie da Giulio vorantreiben?­

Sie fühlte nichts mehr und der Schmerz in ihren Wangen und Händen war verschwunden. Sie wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war, aber war trotzdem froh darüber. Fast hätte sie sich selbst verdammt, nicht auf Tom gehört und einen Iglu gebaut zu haben.­

Therese verharrte eine Sekunde, um Kraft zu sammeln.

---ENDE DER LESEPROBE---