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Am berühmt-berüchtigten Nemi-See nahe Rom finden Archäologen einen abgehackten Kopf im Hain einer Tempelruine. Die Frau scheint einer antiken Göttin geopfert worden zu sein. Eine spannende Jagd nach dem Mörder und uralten Geheimnissen beginnt. Schon bald stoßen die Carabinieri auf eine eigenartige Verbindung zwischen dem Mord und zwei gigantischen Schiffswracks des wahnsinnigen Kaisers Caligula. In einer berauschenden Atmosphäre zwischen der Hitze des sommerlichen Roms und dem von uralten Zypressen umwucherten Geistersee von Nemi kochen die Emotionen der Protagonisten hoch. Das Buch beruht auf historischen Tatsachen, die Handlung ist erfunden.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Am Morgen
Überraschung in Castel Gandolfo
Der Weg nach Nemi
Kolonel Camarata
Im heiligen Hain
Der Tag der Göttin
Das Museum der Römischen Schiffe
Wahnträume
Genzano
Chiara Ferro
Caligula
Castel Gandolfo
Beunruhigende Entdeckungen
Villa D‘Este
Das Geheimnis der Schiffe
Im Camp
Die Schrift Caligulas
Paradies
In der Nacht
Das Palimpsest
Auf der Suche nach der Wahrheit
Im Vatikan
Bei Franchetta
Ermittlungen
Ischtar
Im Camp
Der Wahrsager
Der Brand
Der Hausmeister
Trastevere
Verdacht
Anna
Die Museen
Der Altar
Die Wicca
Das Verhör
Hinterrücks
Zefirelli
Am See
Rohonc
Zefirelli Senior
Regicide
Zefirelli Junior
Ein Anruf
Bazzoni
Besuch
Raub
Privatleben
Agnelli
Franchetta
Cariello und Therese
Am Morgen
Verfolgung
Rettung
Ende
Impressum
Dieses Buches basiert auf historischen Begebenheiten und spielt an realen Schauplätzen. Die Handlung ist fiktiv.
Casta Diva, che inargenti queste sacre antiche piante, a noi volgi il bel sembiante senza nube e senza vel ...
Keusche Göttin, die du die heilg‘en alten Bäume mit silbernem Glanz umhüllst, wende uns dein Antlitz zu, ohne Wolken und ohne Schleier …
Anrufung der Mondgöttin,
Norma, Bellini
Aus den Wiesen um den See stieg Nebel auf, als wolle er noch für ein paar Stunden die Abgeschiedenheit des Tals nahe Rom mit seinem Schleier verteidigen und die Gräser der Aue glitzerten im Tau, dankbar für das Nass, das zu dieser Jahreszeit überall anders als in diesem Dickicht rar geworden war. Zwischen den Bäumen, die das Ufer und die Hänge säumten, hing ein letzter Hauch der Kühle der kaum vergangenen Nacht und das fast kreisrunde Wasser des Sees lag wie ein Spiegel im Krater des Vulkans. Nur der Gesang einer Lerche durchbrach die Stille und perlte von der Höhe des azurblauen Sommerhimmels herab.
Eine Eiche stand in der Mitte des verwilderten Hains, von dem Legenden geheimnisvolle Dinge berichteten, der jedoch an diesem Morgen verlassen und einsam in dem durch die dichten Blätter brechenden Sonnenlicht lag.
Der Baum stand auf der Lichtung wie ein Sinnbild der Ewigkeit. Er war riesig, uralt und wunderschön, ein Festkleid aus Efeu umrankte seinen Stamm. Die Rinde war so dick, dass der Nagel sie kaum verletzt hatte, der den Kopf der Toten an sie heftete. Das Blut, das an ihr herabgelaufen war, hatte sie kaum befleckt und nur die Fliegen, die den zermarterten Hals der Verblichenen umschwirrten, störten die Harmonie des mächtigen Baums am Dreiweg im heiligen Hain.
Die Fenster des Hotelzimmers, dessen Einrichtung aus kaum mehr als einem Bett und einem Tisch bestand, waren weit geöffnet. Die Hitze des Sommers um Rom hatte bis weit nach Mitternacht auf den Mauern Castel Gandolfos gelastet. Sie hatte die Kleinstadt erstickt wie der Hauch eines Glutofens, geprägt vom Zirpen der Zikaden und dem Rauch der Waldbrände. Zu dieser Jahreszeit war die Gegend noch heißer und ausgetrockneter als Neapel. Das Gras der Parks hatte sich in Stroh verwandelt und die Gärten der Vororte in staubige Wüsten. Nur der rote Oleander der Straßenränder trotzte der Höllenglut, die jeder neue Tag über die sieben Hügel brachte.
Der Geruch von Kaffee ließ Cariello unterschwellig bewusstwerden, dass der Tag nah war. Der Duft stieg durch die Ritzen der Mauern wie ein Versprechen der süß-herben Freuden von tausend-und-einem Morgen. Er zog das Laken höher, das er über seine Beine gedeckt hatte, und vergrub den Kopf unter den Kissen. Er war zu müde, um aufzustehen.
Die Vorlesung am vorangegangenen Abend hatte lange gedauert und der darauffolgende Streit noch länger. Er wollte nicht mehr daran denken, so wie Tantalus nicht an seine Qualen erinnert werden will. Es gab Momente, da ließ ihn sein Dasein als Universitätsprofessor verzweifeln. Nur die Höflichkeit hatte ihn am Vorabend mit ihren lästigen Klauen auf den Platz gebannt. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte davonlaufen können, irgendwohin, wo es statt Leitungswasser in Plastikbechern roten Wein in Gläsern gab und statt lateinischen Zitaten unbedeutenden Smalltalk.
Ein Hämmern an der Tür riss ihn aus dem Dämmern. Er öffnete die Augen. Das Zimmer lag still. Beruhigt wollte er die Lider erneut schließen, aber zu seinem Bedauern hämmerte es erneut gegen das Holz. Fluchend tastete er nach der Kordel, mit der die Jalousie geöffnet werden konnte, und gleißendes Sonnenlicht schlug ihm entgegen. Er kniff die Augen zusammen. An der Tür stand jemand.
„Was gibt es? Kann das nicht warten?“
Der lange Schlaf am Morgen war einer der wenigen Vorteile seines Universitätsdaseins. Als Professor musste er lange Texte schreiben, die nur wenige lasen. Er musste unwissenden Jugendlichen etwas erzählen, was sie nicht hören wollten. Und wenn man nichts erheiratete oder ererbte, fuhr man im Staatsdienst Zeit seines Lebens zweitklassige Wagen. ‚Wenn man mich schon schlecht bezahlt, dann sollte man wenigstens meinen Schlaf respektieren.‘
Die Schläge an der Tür wurden lauter und eine weibliche Stimme rief seinen Namen.
Cariello wälzte seine Ein-Meter-Fünfundachtzig aus dem Bett, zog einen der Bademäntel des Hotels über und öffnete die Tür. Selbst so früh am Tag schlug ihm eine Woge von Hitze entgegen.
Er blinzelte. Vor ihm stand eine junge Frau. Ihre dunkelblonden Locken waren unachtsam zu einem dicken Knoten im Nacken gewunden und ihr schmales Gesicht war sonnenverbrannt. Sie war außer Atem.
„Therese?“ Er zog den Bademantel fester. Er hatte nicht mit ihrem Besuch gerechnet, aber ihr Anblick versetzte ihm einen Stich, der seine Adern heiß werden ließ. Benommen fragte er sich, warum sie sich in der Gegend von Rom und vor seiner Tür befand. Sie arbeitete wie er in Neapel, auch wenn sie ursprünglich aus Bergamo stammte.
Er wusste, dass ihr Vertrag mit dem Labor von Herculaneum ausgelaufen war und sie Arbeit gesucht hatte. Aber selbst, wenn sie deshalb in der Gegend war, was tat sie in seinem Hotel?
Thereses Wangen waren gerötet und die Lippen aufeinandergepresst. Sie wirkte wie eine Amazone, die in seine bescheidene Absteige hereingaloppierte, getrieben von einer Meute Wölfe. Sie trug ein khakifarbenes Tanktop und eine sandfarbenen Trekkinghose, ihre Füße steckten in festen braunen Einsatzschuhen, die mit Schmutz verkrustet waren. Über ihr, den dunkelblonden Haaren, der gebräunten Haut und der schlanken Figur lag ein Schimmer von Sommer, Licht und Dreck.
Ihre Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung. „Professor, hören Sie mir zu? Verzeihen Sie mir, dass ich Sie ohne Vorankündigung überfalle. Ihr Telefon ist abgeschaltet. Wir brauchen Sie. Hören Sie?“
Cariello musste erst aufwachen. Sein Kopf schmerzte. Therese stand auf dem roten Teppich des Hotelkorridors, die Beine in den Boden gestemmt, sichtlich nicht bereit, zu weichen. Der Blick aus ihren grauen Augen traf ihn wie eine Forderung, und sie schien bereit, ihn notfalls mit Gewalt wachzurütteln.
Mit einer Grimasse rieb er sich übers Gesicht und durch die Haare und spürte dabei ein überwältigendes Verlangen, die Tür zu schließen und zurückzukehren in die Kühle seines Zimmers. Es war erneut die Höflichkeit, die ihn daran hinderte.
„Ich würde Sie ja hereinbitten, Therese, aber …“ Eine Geste erklärte das Offensichtliche. Er war nicht angekleidet. „Wollen Sie unten auf mich warten? Wir können gemeinsam das Frühstück einnehmen. Ich wusste nicht, dass Sie in Castel Gandolfo sind, aber es ist eine Freude, Sie zu sehen.“ Er war sich bewusst, dass sein Ton nicht adäquat klang, aber war zu müde, um sich zu korrigieren.
Therese zog die hellen Brauen zusammen. „Ich will nicht frühstücken. Ziehen Sie sich an und kommen Sie. Es ist etwas geschehen! Etwas … Schlimmes … Es eilt!“ Sie brach die Worte ab.
Cariello bemerkte erst jetzt, dass sie verstört wirkte. Schweiß stand auf ihren Schläfen und ihre Lippen bebten. Er zögerte und nickte dann. „Warten Sie auf mich im Foyer. Ich komme.“
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, starrte er einen Moment auf den messingfarbenen Griff der längst aus der Mode gekommenen Tür, noch immer unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Was war geschehen?
Cariello befand sich aufgrund einer von der US-amerikanischen Princeton University organisierten Konferenz in der Stadt der Päpste, dem berühmten Castel Gandolfo bei Rom. Es gab in ihm nicht viele Unterkünfte und er hatte mit seinem Hotel wie einst Maria und Josef mit dem Stall vorliebnehmen müssen. Hunderte von Wissenschaftlern waren ins Betlehem der Erforschung des alten Roms gepilgert und er hatte sich zu spät entschieden, der Einladung Folge zu leisten.
Seine Bleibe hatte er wegen der weitläufigen Terrasse ausgewählt, die am Hang zum Albanersee lag und den Blick auf grüne Wälder und Hügel freigab. Das änderte nichts daran, dass sie veraltet war und schlecht notiert. Er runzelte die Stirn. ‚Wie hat Therese mich in dieser Absteige von Rentnern und Touristen gefunden?‘ Bei aller Bescheidenheit seines von seiner Universität monatlich überwiesenen Salärs war er nicht arm und sein Geschmack war weit entfernt von dem, was sich ein Archäologe im Staatsdienst normalerweise leisten konnte. Therese wusste das.
Er stammte aus einer Familie von Diplomaten und neapolitanischen Adeligen. Als sein Vater als Botschafter in Washington seinen zweiten Sohn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er gescherzt, die alten spanischen Herren Neapels hätten der Stadt ihren genetischen Fingerabdruck hinterlassen
Cariello war wie seine Mutter schlank, dunkel und schwarzhaarig und schien jetzt, im Erwachsenenalter, anderen Menschen zuweilen reserviert und hochtrabend wie ein spanischer Grande. Er war sich dessen bewusst und hatte die Kritik an seiner Arroganz nur zu oft in den diversen Journalen gelesen. Trotzdem bevorzugte er Luxushotels.
Jetzt fragte er sich, was Therese in Castel Gandolfo tat und wie sie sein Hotel aufgespürt hatte. ‚Sie muss fieberhaft nach mir gesucht haben. Niemand weiß, wo ich logiere.‘ Er hatte Therese seit einer Weile aus den Augen verloren und es freute ihn, sie zu sehen. Aber ihm wäre ein anderer Ort lieber gewesen.
Therese war vor Jahren seine Studentin gewesen und war ihm mit ihrem Charakter einer jungen Löwin selbst in dem von gut fünfhundert Studierenden überfüllten Hörsaal aufgefallen. Er lehrte Archäologie an der ältesten Universität Neapels, Federico II. Das bescherte einem Professor üblicherweise einen Studentenstamm von zwanzig Lernenden pro Jahrgang, aber bei ihm hatte sich eine Ansammlung sensationshungriger Jugendlicher in den Vorlesungen angestaut, die seine Medienauftritte und seine Ironie bejubelten.
Der Ansturm ärgerte ihn mehr, als dass er ihm schmeichelte, aber trotz der Menge der Personen im Saal hatte er Therese damals bemerkt und sie hatte ihm Respekt abgerungen. An diesem Morgen hatte er allerdings nicht mit ihr gerechnet. Nicht mit ihr und erst recht nicht mit der Verkündigung eines ‚schlimmen Ereignisses‘ auf ihren Lippen. Sollte er sich freuen oder ärgern?
Im Moment war er noch zu müde, um etwas anderes zu empfinden als Sehnsucht nach dem Bett, das hinter ihm im Raum stand und nach ihm rief wie die Sirenen nach Odysseus.
Trotzdem duschte er sich, zog sich ein weißes Hemd und einen hellen Sommeranzug an und begab sich zur Eingangshalle.
Therese erwartete ihn, an die mit falschem Marmor verkleidete Wand gelehnt. Ihre Finger trommelten auf ein Fenstersims, hinter dem er den im Morgenlicht glänzenden Albanersee sehen konnte. Die Sonne ging als glühender Ball hinter den kleinen Städten auf den Hügeln auf und tauchte ihre Haut in flüssiges Gold. Sie drehte sich um, als er näherkam. Ihre grauen Augen leuchteten unwirklich.
Cariello hielt inne. Therese hatte abgenommen. Ihr schmales Gesicht wirkte durchscheinend im Morgenlicht, die Schultern waren hagerer geworden und die Finger schlanker. Die Sonne hatte ihre Haut gebräunt und die Augenbrauen gebleicht. Ihr Anblick bannte ihn für Sekunden.
Therese bemerkte sein Zögern nicht. Sie lächelte, halb erleichtert, ihn zu sehen und halb angespannt von unsichtbaren Sorgen. Ihre Stimme klang warm und ruhiger als zuvor. Sie hatte Zeit gehabt, Luft zu holen. „Professor, ich weiß, dass Sie erstaunt sind, mich zu sehen. Ich habe lange nichts von mir hören lassen, aber die Sache ist wichtig. Ich bin seit Beginn des Sommers bei der Ausgrabung des Diana-Tempels am Nemi-See südlich von hier beschäftigt. Wir benötigen dort Ihre Hilfe, es ist dringend.“
Cariello nickte. Er kannte das Heiligtum vom Hörensagen. Es war einst bedeutend gewesen, aber seitdem vollkommen verfallen. In der Antike waren die Arkaden des Tempels von Nemi so angesehen gewesen, wie in der Neuzeit der Petersdom in Rom, aber nach einem Erdrutsch waren sie in Vergessenheit geraten. Ein Engländer hatte im 19. Jahrhundert die Statuen des Tempels geplündert. Seitdem wusste kaum noch jemand, dass er existiert hatte und außer ein paar absonderlichen Legenden in der lokalen Bevölkerung war nicht viel geblieben.
Er war noch nie bei den Mauerresten gewesen. Er wollte etwas erwidern, aber Therese ergriff seinen Arm und zog ihn mit sich. Ihre dunkelblonden Locken wogten dabei eine Sekunde vor seinem Gesicht und der Knoten in ihrem Nacken löste sich. Sie schob ihre Haare unachtsam zurück in die Spange. Die Bewegung ließ ihren schmalen Hals sichtbar werden.
‚Ein schöner Anblick‘, ging es Cariello durch den Kopf und er musste lächeln. Er begann, aufzuwachen und den Morgen in seiner Frische wahrzunehmen. Das Bild seiner verstorbenen Frau huschte ihm im gleichen Moment durch den Kopf und ein beißender Schmerz fuhr ihm in die Schläfen. Seine Vergangenheit ließ ihn selbst in diesem Augenblick nicht los.
Der Geruch von Kaffee drang aus dem Frühstücksraum und er bedauerte, dass Therese ihm keine Zeit ließ, sein Verlangen nach Koffein zu stillen, aber sie machte nicht den Eindruck, als ob sie auch nur eine Minute zu verlieren hätte. Er ergab sich in sein Schicksal und folgte ihr.
Er wartete noch immer auf eine Erklärung, welcher Art die von ihm erbetene Hilfe sein sollte, aber Therese äußerte sich nicht. Notgedrungen ging er davon aus, dass ein archäologischer Fund gemacht worden war. ‚Vielleicht geht es um eine Statue oder ein Tempelrelikt, zu dem man meine Meinung hören will oder die gestohlen wurde. Vielleicht habe ich sogar das Glück, einen verborgenen Raum als Erster erkunden zu dürfen.‘
Das Mysterium der Vergangenheit appellierte an seine Neugier und gewann die Oberhand über seine Müdigkeit.
Im Freien schlug ihm kühlere Luft entgegen und es roch erneut nach Kaffee und frischen Brot. Mit hungrig knurrendem Magen fragte er sich, was die alten Kaiser Roms morgens zum Frühstück getrunken hatten, in Abwesenheit des von ihm bevorzugten Türkentranks. Therese ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
Sie schritt ihm durch die Straßen voran, seinen Ärmel in der Hand, als fürchtete sie, ihn zwischen den wappenverzierten steinernen Mauern und den gefleckte Schatten werfenden Platanen zu verlieren. Tauben, die sich am Wasser eines Brunnens erfrischt hatten, flatterten erschrocken vor ihr auf und sie scheuchte sie von sich weg. Einen Moment taumelten Federn vor Cariellos Gesicht. Eine sommerliche Frau Holle schüttelte ihre Betten in den Strahlen der Morgensonne aus. Er blinzelte. Castel Gandolfo war von schmalen Gassen, hohen alten Gebäuden und Touristencafés geprägt. Rote Geranien hingen vor den noch geschlossenen Fenstern und den Arkadenbögen. Von der Altstadt führten die Straßen bergab.
Seine Mokassins glitten auf den glattpolierten Pflastersteinen aus und er musste sich mit einer hastigen Bewegung ausbalancieren, aber Therese drehte sich nicht um. „Immer langsam“, seufzte er. „Die Ruinen laufen nicht davon. Sie liegen dort schon dreitausend Jahre.“
Therese hörte ihn nicht.
Das Fahrzeug, zu dem sie ihn brachte, war ein alter Fiat Cinquecento, der auf einer Bordsteinkante unterhalb der Altstadt geparkt war. Sie hatte ihn achtlos abgestellt und der Schlüssel steckte im Zündschloss. Die Karosserie war ein Anblick für sich und wirkte wie das Werk eines modernen Künstlers. ‚Duchamp oder Beuys‘, dachte Cariello. ‚Der Morgen verspricht, abenteuerlich zu werden.‘
Der zerrostete Wagen war zerbeult und die Sitze ausgesessen, Staub bedeckte die Polster und das verschlissene Armaturenbrett. Die Reifen waren schmal und abgenutzt und es verwunderte ihn, dass man den Typ noch auf dem Markt erwerben konnte. Er hatte das Gefährt bereits vor einem Jahr kennengelernt und war verblüfft, dass der Methusalem den Weg aus Neapel herauf hinter sich gebracht hatte, ohne in sich zusammenzubrechen. Er hätte die ursprüngliche Farbe als blau eingeschätzt, aber war sich nicht sicher, ob er damit richtig lag.
Er schmunzelte. Therese mangelte es notorisch an Geld. Sie teilte dieses Schicksal mit den meisten jüngeren Archäologen. ‚Und auch mit den meisten Älteren.‘
Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Ihm war klar, was er bedeutete. Sein Anzug riskierte, schmutzig zu werden. Als Italienerin hatte sie ein Gefühl dafür, wie viel der elegant zerknitterte Leinenstoff gekostet hatte, den er trug. Er ließ sich kommentarlos in den verschlissenen Sitz sinken, aber hatte mittlerweile Mühe, seine Mundwinkel im Zaum zu halten. Die Situation erheiterte ihn.
Therese hatte ihn regelrecht mit Gewalt aus seinem Bett und seinen Träumen gezerrt, nur um ihn in einer Konservenbüchse zu verstauen. Seine Knochen trafen unangenehm auf die zersprungenen Federn unter der Sitzfläche und sein Lächeln wurde zugleich deutlicher als auch verkrampfter.
Der trotz der Morgenstunde bereits glühend heiße Wagen schwankte, als sie sich neben ihn in den Fahrersitz sinken ließ. Sie bemerkte seine Erheiterung und seinen Schmerz. Ein gequältes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Ich brauche ein neues Auto.“
Cariello nickte, nach außen noch immer amüsiert, aber im Stillen erstaunt über die Anspannung, die er auf ihrem Gesicht bemerkte.
Therese war blass und zitterte trotz ihres Lächelns. Ihre Hände umklammerten den Knauf der Gangschaltung als wolle sie sich daran festhalten. Die Knöchel waren weiß von dem Druck. Sie hatte Schwierigkeiten, das Gefährt in Gang zu setzen und versuchte mehrfach, zu kuppeln.
Er fragte sich, ob sie wegen ihm nervös war. Therese hatte ihn, ihren distanziert kühlen Mentor, einst angehimmelt, so wie viele seiner Studentinnen für ihn schwärmten. Er war davon ausgegangen, dass die seitdem vergangene Zeit die Ehrfurcht hatte verblassen lassen. ‚Vielleicht bin ich vorhin zu abweisend gewesen und habe sie mit meinem morgendlichen Grimm verunsichert. Oder vielleicht bilde ich mir auch nur etwas ein.‘ Er versprach sich trotzdem, Abbitte zu leisten. Niemand kannte seine Fehler so gut wie er selbst. Laut seinem Bruder konnte er mit dem Zucken seiner Augenbrauen so viel Kälte ausdrücken, dass ein Gletscher in Grönland dagegen erwärmend wirkte. Viele seiner Studenten und auch seiner Kollegen hatten schon vor ihm gezittert, ohne dass er den Effekt absichtlich hervorgerufen hätte.
Avelardo hatte ihn oft dafür kritisiert. Der Gedanke an seinen Bruder traf ihn so wie kurz zuvor der an seine Frau und er versuchte, ihn zu verdrängen. ‚Besser ich denke nicht daran …‘
Therese brachte den aufheulenden Fiat schließlich nach mehreren Versuchen in Gang. Mit weitgeöffneten Fenstern, um das Fehlen der Klimaanlage zu kompensieren, fuhr sie an. Die Straßen der kleinen Städte um Rom waren nicht auf Fahrzeuge ausgelegt. Sie waren eng und wild geparkte Pickups behinderten die Durchfahrt. Therese umschiffte sie mit gewagten Schlangenlinien, die Cariello abwechselnd gegen das Fenster und den Kupplungshebel drückten. Sie fuhr für seinem Geschmack zu schnell und das wollte viel heißen. Selbst unter den gewagt fahrenden Neapolitanern war er ein abenteuerlicher Fahrer.
Nachdem er ihr Zeit gelassen hatte, um den Weg zu finden, brach er an einer roten Ampel das Schweigen. Seine Stimme war nun ernster. „Ich bin jetzt wach, Therese. Wenn Sie mir verraten würden, zu welchem Ereignis wir fahren? Ich muss eingestehen, ich habe vorhin im Hotel nichts verstanden.“
Therese schaute ihn nicht an und ihre Augen fixierten die Straße. Der Ausdruck der Bedrückung, den er schon zuvor bemerkt hatte, erschien erneut auf ihren Zügen. Ihre Stimme bebte. „Ich fürchte, der Anlass ist kein erfreulicher.“ Sie räusperte sich. „Heute Morgen hat einer unserer Helfer in der Anlage des Diana-Tempels den frisch abgetrennten Kopf einer Frau gefunden. Wir haben die Carabinieri gerufen. Der Kopf ist an eine Eiche genagelt worden und rings um ihn stehen Kerzen. Die Szene wirkt wie eine rituelle Tötung. Die Carabinieri haben sie mir gezeigt … Ich habe es bereut, ihnen ins Dickicht bei den Ruinen gefolgt zu sein, statt mich davon fernzuhalten.“
Sie presste die Lippen aufeinander. Für eine Sekunde wurde sie weiß und rang um Fassung. „Die Carabinieri wollten mich wegen des Fundortes konsultieren ... Aber was soll ich dazu sagen? Von abgetrennten Köpfen zu Ehren antiker Götter habe ich nie etwas gehört und ich lege auch keinen Wert darauf, mich damit zu beschäftigen. Das muss ein Perverser gewesen sein. Ein Irrer …“
Ihr Blick huschte zu ihm und sie fügte leiser hinzu: „Ich bin immer noch außer mir. So habe ich mich noch nie gefühlt. Als ob alles in mir wanken würde. Ich habe es vorgezogen, Sie als den besseren Kenner alter römischer Bräuche vorzuschlagen. Ich weiß, dass es auch Ihnen keine Freude machen wird, aber ich brauche Hilfe. Bitte. Ich weiß sonst nicht, wie es mit unserer Arbeit weitergehen soll. Man wird uns Probleme machen. Und wenn das mit dem Kopf erst öffentlich bekannt wird … Ich kann diesen Tempel nicht aufgeben.“
Cariello nickte betroffen. Therese Stimme klang heiser von Emotionen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er kannte sie stark, mit sturem Willen und übermäßigem Stolz. Er kommentierte die Hiobsbotschaft nur mit einem Heben der Brauen und krallte sich ansonsten schweigend an den Haltegriff der Tür. Mit der anderen Hand zog er den abgenutzten Sicherheitsgurt fester.
Er war darauf gespannt gewesen, eine antike Statue zu besichtigen, nicht einen abgehackten Kopf, aber sein Beschützerinstinkt ließ ihn keine Sekunde zweifeln, dass er Thereses Hilferuf nachkommen würde. Dazu war er zu sehr Kavalier, als dass er eine junge Frau in so einer Situation alleingelassen hätte. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei. Ein abgetrennter Kopf …
Thereses klappriger Fiat schoss indessen auf dünnen Rädern den Hang hinunter. Cariello war versucht, angesichts Thereses Fahrstil die Augen zu schließen, aber bewahrte sie angestrengt offen. Die Fahrt war trotz allem weniger erschreckend als die Neuigkeit, die Therese ihm überbracht hatte. ‚Ich hätte statt ihrer fahren sollen. Sie ist außer sich.‘
Sie fuhren zur Szene eines Ritual-Mordes. Was sollte er davon halten und wieso rief man gerade einen Archäologen zu Hilfe?
Vor ihnen eröffnete sich ein tiefgrünes Tal, das von ungewöhnlich dichten Wäldern umgeben war. Es war eine unerwartete Oase majestätischer Zypressen und Pinien in einem Krater unterhalb der mittelalterlichen Mauern einer Kleinstadt mitten in der verstaubten Wüste der Felder um Rom.
Der See in der Tiefe glänzte kreisrund und trotz der Hitze hing ein dichter morgendlicher Nebelschleier über ihm. Das Gewässer war zu groß, als dass man es einen Teich hätte nennen können und zu klein, um es zu mehr zu gebrauchen als für den Ausflug sonntäglicher Angler. Es lag einsam und still. Hoch über dem See thronten alte Festungen, aber unten am Wasser säumte nur eine verstreute Handvoll Ferienhäuser die schmale Straße, die dem Seeufer folgte. Kleine Boote dümpelten an hölzernen Anlegestegen. Das Wasser ruhte silbern und unbewegt unter dem sich in der Sonne rosig färbenden Dunst.
Die Atmosphäre wirkte befremdlich. Es war Cariello auf den ersten Blick unverständlich, warum niemand an dem malerischen Seeufer wohnte, dessen tiefes Grün und erholsame Frische wie geschaffen schienen für Villen oder Ausflugsgaststätten. Auf den zweiten Blick wirkte die Menschenleere beklemmend. ‚Was verjagt die Leute aus diesem Tal?‘
Er setzte sich auf und schaute noch angestrengter aus dem Fenster. Dann begriff er, wo er war. Er war nie an diesem See gewesen, aber hatte über ihn gelesen ...
Was er sah, war der berühmte Nemi-See, der See der Geister und Götter, der verwunschene See des Kaisers Caligula.
Sonne brach durch das Laub der Bäume am Hang und eine Gruppe Fahrradfahrer kam ihnen auf der von Dickicht gesäumten Uferstraße entgegen. Therese schoss mit ihrem Fiat an ihnen und an einem großen, rotbraunen Gebäude am Seeufer vorbei. Sie bog fünfhundert Meter weiter in eine schmale Seitenstraße ab, an deren Rand dichtes Gebüsch mit langen Bändern und Lametta geschmückt war. Ein handgemaltes Zeichen am Wegrand kündigte eine Farm mit Pferdehof an, die jedoch im Dickicht nicht zu sehen war.
Der ächzende Wagen wühlte sich gegenüber dem Anwesen einen ausgewaschenen Pfad empor und schoss lärmend um eine Biegung, an der ein weiteres Holzschild mitten im Gestrüpp einen Parkplatz ankündigte. Therese rollte in das Gesträuch und bremste. Die Motorhaube wurde rauschend von Gräsern und Zweigen begraben. Der Motor erstarb und es herrschte Stille.
Cariello holte überrascht Luft. Er hatte nicht damit gerechnet, so nahe bei Rom in einen Urwald zu geraten. Der Platz, auf den Therese ihn gebracht hatte, war verlassen und verwildert. Es war niemand zu sehen und nur ein paar Fliegen brummten in der Morgensonne. Kein Zeichen wies auf einen antiken Tempel hin. Er schaute aus dem Wagen in dichtes Unterholz. Bevor er etwas sagen konnte, sprang Therese aus dem Fiat und schlug die Tür hinter sich zu. Sie stürmte ihm voran in den verwilderten Hain und bedeutete ihm mit einer hastigen Handbewegung, ihr nachzukommen.
Mit einem Gefühl der überraschten Beklemmung öffnete Cariello die Wagentür und folgte ihr in das bereits von zahlreichen Füßen zertretene Dickicht.
Camarata stand einsam und allein auf dem Flughafen in Rom. Sein Flugzeug war wenige Minuten zuvor gelandet und er war schwitzend und ächzend ausgestiegen. Er war krank und hätte Ferien und Ruhe gebraucht, stattdessen war er hier. Sein Atem rasselte mühsam und seine Brust schmerzte. ‚Warum zum Teufel‘, fragte er sich knurrend, ‚habe ich zugesagt? Weil ich nicht alt werden wollte? Weil ich mir noch etwas zu beweisen habe und von dem Anruf aus Rom geschmeichelt war?‘
Er zog sich den Trenchcoat um die breiten Schultern und über den fülligen Bauch. Er war nicht groß, aber mit seinem südländischen Typ stämmig untersetzt. Seine grau-schwarzen Haare und das unrasierte Kinn gaben ihm das Aussehen eines gealterten Al Capone. Eines Al Capone in Carabiniere-Uniform mit tiefschwarzen Augen, die mit mehr Intelligenz unter den buschigen Brauen hervorschauten, als man bei seiner behäbigen Korpulenz erwartet hätte.
Camarata hatte am frühen Morgen seine Frau Laura und die Kinder allein in die Ferien abreisen lassen und fühlte sich deswegen elend. Er hatte ihren Blick gesehen, die Enttäuschung, den stillen Vorwurf. ‚Ich habe es wieder einmal geschafft, meine gesamte Familie abgrundtief zu enttäuschen. Wie letztes Jahr und das Jahr davor.‘
Privatleben und Berufsleben sollten besser zwei verschiedene Sachen bleiben, das wusste er nur zu gut. Einer seiner früheren Chefs hatte ihm immer wiederholt, dass nicht seine Kollegen an seinem Grab weinen würden.
‚Der Mann hat Recht und ich sollte mir seinen Rat zu Herzen nehmen. Besser, ich erledige diese Sache in Rom so schnell wie möglich und fahre zu meiner Familie ans Meer.‘
Camarata seufzte und suchte sich ein Taxi. Man hatte sichtlich vergessen, ihn abzuholen.
Thereses Worte hatten Cariello nicht auf das Bild vorbereiten können, das ihn erwartete, als er den im Unterholz verborgen liegenden Hain erreichte.
Halb unter der Erde und überwuchert von Efeu lagen die Reste eines antiken Tempels im Wald. Seine marmornen Pfeiler erstreckten sich über hunderte Meter und Grabungsspuren durchzogen wie Wunden den Boden in seiner Mitte. Hohe Arkaden lehnten sich an die steilen Wände des zum See hin abfallenden Hangs. Säulen und Mauern ragten hier und da aus dem Boden und üppige Zypressen und Olivenbäume umgaben sie, überwuchert von Ranken und Gestrüpp. Farbige Absperrbänder waren über die Büsche gezogen worden und ihr leuchtendes Orange durchbrach das Grün.
Einer der Bäume fiel Cariello beim Näherkommen auf. Es handelte sich nicht wie bei den anderen um eine Zypresse, sondern um eine Eiche, die an der Kreuzung dreier Fußpfade stand. Sie war ungewöhnlich ausladend und um sie herum befand sich ein freier grasbedeckter Raum. Der Baum flößte ihm Achtung ein. Er mochte Baumriesen mit rissiger Rinde und Vogelnestern im Geäst, aber dieser hier war anders.
Vor der Eiche hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, die den schwarzen Uniformen nach aus Carabinieri bestand. Sie verharrten wie Statuen in dem kniehohen Gras und bewegten sich nicht. Bis auf ein paar zirpende Grillen war es totenstill. Die Rücken der Wartenden waren Cariello zugekehrt und einen Moment lang schien die Zeit um ihn stillzustehen.
Die Szene erfüllte ihn mit einem Gefühl der Beklemmung. Er stand in einem majestätischen, römischen Tempel, begraben unter Dickicht und Geröll, erfüllt von einer einschüchternden Aura, als wären die heidnischen Götter der Urzeit noch irgendwo in den Erdhügeln und Ranken versteckt.
‚Wie ist es möglich, dass ein so bedeutendes Gebäude verlassen und ungeschützt in diesem Hain liegt und man die Mauern nicht von dem darüberwuchernden Bewuchs gereinigt hat? Und warum stehen die Uniformierten vor der Eiche?‘ Cariello vermisste die sonst üblichen Besucherkioske, Erklärungstafeln und Cafés. Ihre Abwesenheit beunruhigte ihn. ‚Hat das Ministerium Angst gehabt, hier vorbeizukommen?‘
Einer der Carabinieri wandte sich um. Als er ihn und Therese erblickte, kam er ihnen durch das hohe Gras entgegen. Er hob die Beine kniehoch, um die Ranken der Brombeerbüsche zu überqueren.
Der Offizier war Mitte Sechzig und anscheinend der Älteste der Carabinieri. Er trug einen grauen, gestutzten Vollbart und nahm beim Näherkommen eine militärisch aufrechte Haltung an. Mit ernstem Gesichtsausdruck begrüßte er Therese und reichte Cariello dann mit stillschweigender Ehrerbietung die Rechte. Seine Handfläche war trocken und kühl, der Druck seiner Hand fest.
Er sprach leise, so als hätte er Ehrfurcht vor dem Ort, an dem sie sich befanden. „Guten Tag, Professor. Goffredo Buzzati. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich weiß, es ist früh am Morgen, und ich bin beeindruckt, wie schnell Signorina Urquiola Sie hat finden können. Wir haben hier am Tempel einen unerfreulichen Fund gemacht. Es besteht gegenwärtig wenig Zweifel, dass es sich um einen Mord handelt, auch wenn wir das Urteil der Gerichtsmediziner abwarten, um sicher zu sein. Die Spurensicherung und die Kollegen vom Kulturgutschutz sind unterwegs. Einer der dortigen Mitarbeiter kennt Sie und ich habe grünes Licht erhalten, um Sie hinzuzuziehen, im Falle Sie zustimmen. Soweit ich weiß, kennen Sie Kolonel Camarata?“ Die grauen Augen des Carabiniere suchten in Cariellos Augen nach einer Bestätigung.
Cariello nickte. Er kannte und schätzte Francesco Camarata. Der Fall des Raubes eines mysteriösen Papyrusses hatte sie vor einem Jahr zusammengeführt. Camarata war einer der angesehensten Spezialisten, wenn es um Kriminalfälle ging, die mit antiken Ruinen zu tun hatten. Es wunderte ihn jedoch, dass man beabsichtigte, Camarata im Fall des Tempels der Diana hinzuzuziehen. Er war ein hochgradierter Offizier aus Neapel und war nicht im nahen Rom stationiert.
Buzzati erklärte sich nicht und lud ihn mit einer schweigenden Geste ein, ihm zu folgen. Er selbst ging voran, den eben noch so geraden Rücken gebeugt unter einer unsichtbaren Last. Sein Telefon durchbrach die Stille mit einem summenden Vibrieren. Er holte es mit nervösen Fingern aus der Jackentasche und wies Cariello gleichzeitig den Weg in die kleine Menschengruppe, die sich bei seinem Eintreffen teilte.
Es roch nach Minze, Thymian und Morgentau. Irgendwo sang eine Lerche und Zikaden zirpten. Jedes dieser Details wurde Cariello eigenartig bewusst.
Er durchquerte das hohe Gras und fand sich unversehens im Angesicht eines grausamen Spektakels wieder. Nach einem Blick auf die Szene, die sich ihm bot, verstand er das ihn umgebende Schweigen.
Ein abgetrennter Kopf war an dem Stamm der Eiche befestigt worden. Die langen, grauen Haare einer älteren Frau waren um einen großen Nagel geknotet, der aus der Rinde des Baums ragte. Ihre Haut war kalkweiß und ihr karminroter Lippenstift leuchtete so gespenstisch in ihrem Gesicht, dass Cariello sich einen Moment fragte, ob er auf den Kopf einer Puppe schaute. Es erwies sich jedoch, dass das gespenstische Haupt einer lebenden Person gehört hatte. Der Hals der Frau war mit einer Reihe präziser Schnitte durchtrennt worden und Sehnen schauten daraus hervor.
Ihm kam unweigerlich der Vergleich mit dem Werk eines Schächters in den Sinn. Die Schnitte mussten die Halsschlagadern der Frau auf beiden Seiten durchtrennt haben.
Er hätte zurückweichen wollen, aber sein Blick war von der Szene gebannt.
Im Haar der Toten steckten Zweige. Frische Bruchspuren waren an den Ästen der Eiche zu sehen. Die dünnen Stängel waren erst abgerissen und dann ineinander verflochten worden, ohne wirklich einen Kranz zu bilden.
Unter dem Kopf der Leiche hatte eine unbekannte Hand kreisrund Tee- und Grablichter angeordnet. Die letzteren brannten flackernd mit einer verglimmenden Spur von Leben, während die kleineren Kerzen bereits erloschen waren. Bunte Wimpel, die aussahen wie die Gebetsfahnen eines buddhistischen Tempels, waren auf dem Boden ausgelegt worden. Neben dem Baum lehnte eine schmale Spielzeuglanze, die aus verblichener roter Plastik gefertigt war.
Fliegen krochen über die geschlossenen Augen der Toten und umkreisten brummend ihre blutige Kehle.
Cariello runzelte die Stirn. ‚Früher hat man die Köpfe Hingerichteter zur Abschreckung an die Stadttore gehängt. Wie haben die Menschen damit gelebt, so etwas jeden Tag zu sehen?‘ Die schwüle Hitze des anbrechenden Tages und die Stille gaben der Szene vor ihm etwas Urzeitliches. Dazu trug bei, dass auf der Stirn der toten Frau mit kruder Brutalität Zeichen eingeschnitten worden waren. Es handelte sich um einen Kreis, rechts und links flankiert von jeweils einem nach außen zeigendem, tief eingeschnittenem Halbmond. Aus einem davon war Blut ausgetreten und über das Gesicht der Leiche gelaufen. Es hatte eine lange rote Spur gezeichnet und es schien, als wäre das Mal der Frau noch zu Lebzeiten ins Fleisch geschnitten worden.
Was bedeutete es? Cariellos Magen verkrampfte sich beim Anblick der Misshandlung und in seinen Beinen begann sich, ein taubes Gefühl auszubreiten. Er schloss krampfhaft die Augen, um die aufkommende Übelkeit zu verjagen und öffnete sie wieder. Die hohen Säulen des Tempels um ihn begannen zu wanken.
Therese hatte ihn als die berühmte Koryphäe hergeführt, aber das war nicht, wie er sich fühlte. ‚Es hat bessere Momente in meinem Leben gegeben.‘ Er drehte sich auf den Hacken um und wandte sich den Carabinieri zu. Die Militärs sahen aus, als erwarteten sie, von ihm den Namen des Mörders zu hören.
Cariello zuckte mit den Schultern. Er konnte keine Wunder bewirken und war froh, wenn seine Peristaltik ihm gehorchte und er nicht ins Gebüsch stürzen musste. Der majestätisch verwunschene Ort, von dem er so viel gehört hatte, schlug ihm auf den Magen.
„Ist Ihnen bekannt, wer die Frau ist?“
Die Anwesenden schüttelten den Kopf.
Nur der ältere Carabiniere, der ihn begrüßt hatte und der in den letzten Minuten mit seinem Telefon beschäftigt gewesen war, nickte. „Ich habe gerade eine mögliche Antwort auf diese Frage erhalten, Professor. Seit gestern um die Mittagszeit herum vermisst man die Leiterin des nahen Museums von Nemi. Gioconda Agnelli. Sie ist noch nicht lange dort angestellt, daher kennen viele Leute sie nicht, aber man bestätigt mir in diesem Moment, dass die Frau graue, lange Haare hat und karminroten Lippenstift bevorzugt.“
Buzzati räusperte sich und versuchte bei seinen Worten seine amtliche Förmlichkeit wiederzufinden. Auch sein Gesicht war blass, aber er streckte steif die Brust heraus. „Ich weiß, dass Sie Professor der Archäologie und kein Wahrsager sind, aber was denken Sie? Ist der Täter ein Terrorist, ein bizarrer Götter-Anbeter oder ist das hier das Werk eines frustrierten Angestellten, der seine Chefin getötet hat?“
Cariello blickte den Carabiniere konsterniert an. „Ein Terrorist?“
Die Idee schien ihm lächerlich. So ein Fall war ihm noch nicht untergekommen. Er war in der Tat kein Wahrsager, aber der Tempel und die Szene vor ihm verstörten ihn. Was für ein entsetzliches Schauspiel hatte sich in dem antiken Hain abgespielt?
Es schien ihm, an diesem Ort war mehr als nur ein frustrierter Angestellter am Werk gewesen. Und es war dringend, dass sie herausfanden, was wirklich geschehen war. Er drehte sich um und verließ den Hain.
Die Gruppe der Carabinieri, verstärkt durch den inzwischen aus Neapel eingetroffenen Camarata, nahm an einem Plastiktisch im Picknickareal der nahen menschenleeren Pferdefarm Platz. Ratlose Stille lag über ihnen. Buzzati hatte die ersten Schritte der Untersuchungen angeordnet, die Spurensicherung war zusammen mit einer jungen Offizierin eingetroffen und Befragungen in der Nachbarschaft waren veranlasst.
Bisher hatten die Carabinieri jedoch wie Cariello Mühe, sich einen Reim auf das Geschehene zu machen. Der Anblick, der sich ihnen im Dickicht geboten hatte, war schwer zu verarbeiten. Cariellos Magen war noch immer flau und er hatte einen tauben Geschmack auf der Zunge. Der Leichengeruch, der sich in der Hitze zwischen den Bäumen auszubreiten begann, kroch aufdringlich süß wie der Gestank von verrottendem Ahornsirup in seine Nase.
‚Ich hätte nicht herkommen sollen.‘ Der Zypressenhain, der in der Sommerhitze still und einsam dalag, schlug ihn genau wie die Carabinieri in einen bizarren Bann. ‚Als ob der Tempel dort im Gebüsch atmen und fühlen könnte. Fast würde man denken, die Zweige der Bäume kämen aus den Rissen in den Steinen gekrochen und wären dabei, sich um unsere Beine zu schlingen.‘
Sein Blick wanderte nach unten auf den Boden. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Bäume ihm das Blut aus den Adern saugen würden wie in einem alten Schwarzweiß-Film aus den zwanziger Jahren. Schweigend und unheimlich. Das blutige Etwas dort an der Eiche machte die grausame Szenerie nur noch beklemmender als sie ohnehin war. Cariello lehnte sich neben Therese in einen der gebrechlichen weißen Plastikstühle. Er schwieg. Hier in diesem Hain verstand er, warum sie ihn zu Hilfe gerufen hatte. Er musterte sie, die Carabinieri und den Neuankömmling, der Minuten zuvor aus einem Taxi gestiegen war.
Camarata hatte sich mürrisch brummend an die Stirnseite des wackligen weißen Plastiktisches gesetzt, um den sie sich gruppiert hatten. Cariello kannte den gedrungenen Neapolitaner mit den angegrauten Schläfen und seiner derben, brummigen Autorität seit Jahren. Um Camaratas schwarze Bulldoggenaugen zogen sich tiefe Falten. Er hatte einen Mantel über die Schultern seiner schwarzen Carabiniere-Uniform mit den weißen Tressen geworfen, obwohl die Hitze trotz der dichten Baumwipfel über ihnen erdrückend war.
Seine dunklen Pupillen musterten Cariello und die Gruppe seiner Kollegen mit schweigendem Grimm. Seine Lippen waren aufeinandergepresst, während er begann, Dokumente und Karten, die er mitgebracht hatte, auf dem zerbrechlichen Tisch auszubreiten. Seine Hände wirkten dabei wie Bärenpranken und das schlecht rasierte Kinn drückte seine Verstimmung aus.
Er hatte Therese und Cariello mit griesgrämigem Nicken gegrüßt, ansonsten blieb sein Gesichtsausdruck mürrisch. Der grausame Tod der Frau in der Ausgrabungsstätte des antiken Tempels gefiel ihm sichtlich genauso wenig wie Cariello.
Camarata räusperte sich laut und Stille trat ein. Alle Augen richteten sich auf ihn. „Es widerstrebt mir als ortsfremdem Neapolitaner anstelle meiner römischen Kollegen die Verantwortung für den bizarren Mordfall hier zu übernehmen, aber es scheint, zu dieser Jahreszeit sind keine Kollegen der Carabinieri und der technischen Dienste in Rom verfügbar. Sie müssen also mit mir vorliebnehmen. Francesco Camarata, Kolonel. Ich bin vom Kulturgutschutz in Neapel, wenn auch mit jahrelanger Erfahrung im Morddezernat. Man hat mich mit der Leitung dieser Ermittlungen betraut. Seien Sie versichert, dass das nicht mein Wunsch war. Der Fall kostet mich meinen Urlaub. Man hat mich heute Morgen, an Bord der Fähre nach Sizilien stehend, zwangsweise zurück und zum Flugzeug beordert.“
Camaratas schwarze Augen beäugten sein neu übernommenes Team. Niemand sagte ein Wort und er schob das untersetzte Kinn vor und nickte kurz. „Ich will, dass dieser Fall hier schnell gelöst wird. Wir können uns keinen frei umherlaufenden Irren leisten. Jeder sollte sein Bestes tun. Ich will den Mörder umgehend. Auch, damit ich in den Urlaub fahren kann.“
Cariello runzelte die Stirn. Der Verlust seines Urlaubs war mit Sicherheit nicht der einzige Grund für Camaratas Mürrischkeit. ‚Ihm ist dieser grüne Urwald genauso wenig geheuer wie mir‘, dachte er. ‚Verwilderte Haine sind ohnehin schlimme Orte zum Sterben, aber wenn es sich dann noch um so etwas wie ein Menschenopfer für heidnische Götter handeln sollte … Dann rennt in der Tat ein Geistesgestörter oder sogar mehrere frei herum.‘
Camarata seufzte missmutig und schenkte Cariello keine Beachtung.
Cariello war verwundert über den wenig herzlichen Umgang. Camarata schien seit ihrem letzten Treffen gealtert. Soweit er wusste, hatte Camarata sich in einem der Tunnel von Herculaneum eine Histoplasmose zugezogen, eine bei Archäologen gefürchtete Pilzkrankheit, die man seit ihrem ersten Auftreten in den Gräbern der Könige in Gizeh als ‚Fluch des Pharaos‘ bezeichnete. Die Krankheit befiel die Lungen und hatte ihre Spuren hinterlassen.
Camaratas Augenhöhlen waren dunkel, seine Hände knochiger und er hatte einen guten Teil seines vorher beträchtlichen Bauches verloren. Sein kurzgeschnittenes Haar war grauer geworden. Cariello fühlte Sympathie für den brummigen Beamten, den der mit Pilzsporen infizierte Fledermausdung in den dunklen Gängen Herculaneums fast das Leben gekostet hätte, aber dieser schien sie nicht zu erwidern.
Camarata trommelte nur mit der flachen Hand auf den von Blättern und Vogelkot verdreckten Tisch und forderte Cariello mit einer unwirschen Geste zu einer ersten Deutung des Geschehenen auf.
Cariello runzelte die Stirn. ‚Warum werde ich als Erster gefragt zu sprechen und nicht Buzzati? Widerstrebend ergriff er das Wort. „Es freut mich, Sie zu sehen, Kolonel. Es ist eine Weile her, dass wir uns in Neapel gesehen haben, fast ein Jahr, nicht wahr? Tragen Sie es mir nicht nach, aber ich weiß nicht, inwieweit ich Ihnen hier nützlich sein kann. Was wollen Sie wissen?“
Camarata brummte: „Fangen wir von vorn an: Was ist das für eine Ruine?“
Cariello zuckte die Schultern. „Ich denke, dass es für jeden von uns offensichtlich ist, dass wir uns nicht an einem beliebigen Ort befinden. Der Zypressenhain verbirgt trotz seines verwilderten Zustandes ein antikes Heiligtum der Göttin Diana. Das größte Fest dieser Göttin wurde im alten Rom am 13. August begangen. Heute ist der 13. August ...“
Camarata murrte. Er schaltete den Bildschirm seines Telefons an und kontrollierte das Datum. Dann knurrte er mehr, als dass er sprach: „Der Kopf könnte hier platziert worden sein, um die Göttin Diana zu feiern - ist es das, was Sie sagen wollen?“
Cariello wiegte den Kopf hin und her. Er hätte es vorgezogen, sich nicht auf diese Behauptung festzulegen.
Gemurmel breitete sich in der kleinen Gruppe der auf den Plastikstühlen notdürftig platzierten Uniformierten aus, dann trat wieder Stille ein.
Cariello hatte erneut alle Aufmerksamkeit, aber zögerte. Was erwartete man von ihm? Dass er als Archäologe einen Mörder und ein Mordmotiv fand? Ein Vogel kreischte in den dichten Baumkronen über ihm und die Ausdünstung von trockenem Gras und Pferden lag in der Luft. Die Tiere wieherten von einer nahen Uferwiese herüber. Ihr süßlich-erdiger Geruch, der den Leichengestank des Hains überdeckte, war ihm willkommen, auch wenn er ihn daran erinnerte, dass es in der Antike verboten gewesen war, Pferde, die Tiere Poseidons, in den Hain der Diana zu bringen. Er wunderte sich, wie man auf die Idee gekommen war, gerade hier eine Pferdefarm anzusiedeln, aber sprach den Gedanken nicht aus. Die Pferde hatte sicher nichts mit dem Mord zu tun.
Camarata machte eine Geste mit der Hand. „Und weiter, Cariello? Warum hat der Mörder diese eigenartige Kulisse gewählt? Warum hat er den abgetrennten Kopf an die Eiche gehängt?“
Cariello strich seinen Leinenanzug glatt und lehnte sich zu Camarata, sein schärferer Ton spiegelte seinen steigenden Unmut wider. „Ich kann Ihnen keine Erklärung für das hier geben, Kolonel. Ich bin kein Hellseher, sondern Archäologe.“ Es war ihm unangenehm, dass man ihm die Rolle des Experten zuspielte. Er wusste genauso wenig über den Fall, wie die Carabinieri. ‚Therese hätte mich nicht herbringen sollen!‘, dachte er verärgert.
Camarata erwiderte seinen Blick stumm und nüchtern. Er war von seinem Unmut unberührt, vielleicht auch deswegen, weil sein eigener Groll noch größer war.
Cariello fasste sich schließlich ein Herz. „Wenn Sie antike Abbildungen der Göttin Diana ansehen und sie mit dem vergleichen, was man hier im Hain zurechtgemacht hat, wird Ihnen einiges auffallen, Camarata. So wie Jesus heute immer durch das Kreuz, auf das man ihn nagelte, identifiziert wird, trug die Göttin Diana üblicherweise eine Stephane, eine Art Kranz, im Haar und in der linken Hand hielt sie ein Venabulum, eine Stoßlanze zur Wildschweinjagd. Sie haben sicher die Andeutung eines Kranzes in den Haaren der Leiche gesehen und die Spielzeuglanze, die man neben ihren Kopf gestellt hat. Ich denke, sie befanden sich nicht zufällig dort. Man hat die Tote mit Kranz und Lanze drapiert, um eine irre Szenerie zu kreieren oder eine feierliche Huldigung vorzunehmen. Es ist an Ihnen, herauszufinden, welches von den beiden.“
Therese stützte ihre nackten Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich nach vorn. Sie schien sich nach dem Schock vom Morgen wieder gefangen zu haben und Cariello beispringen zu wollen. „Dieser Zypressenhain mag verwildert aussehen, Kolonel, aber unterschätzen Sie ihn nicht. Hier befand sich einst der wichtigste Kultplatz der Göttin Diana im gesamten Römischen Reich und das Zentrum des latinischen Bundes, der zuvor Rom bekämpft hatte. Der Hain fungierte als Asyl für flüchtige Sklaven und sein Zentrum war schon immer eine geweihte Eiche.“
Camarata beäugte Therese. „So wie die, an der der Kopf der Toten hängt?“
Sie nickte. „Der Mörder hat einen Platz mit religiöser Bedeutung gewählt und kannte sich damit aus. Er hätte den Kopf auch an einen Olivenbaum oder eine Zypresse hängen können. Die Eiche steht zudem an einem ‚Dreiweg‘, der Gabelung dreier Wege.“
„Das ist von Bedeutung?“
„Dreiwege waren der Göttin Diana heilig, wie übrigens auch Göttern anderer indo-germanischer Religionen. An solchen Wegkreuzungen verwandelte sich die Mondgöttin Diana in eine Totengöttin und befahl den wandelnden Seelen.“
Für einen Moment sprach niemand. Fliegen füllten die Luft mit ihrem Summen, ansonsten lastete Hochsommerstille auf der Lichtung im Wald. Cariello sah, dass Thereses Augenlider zuckten. Sie schien verlegen darüber, in so einer ernsten Situation vorlaut das Wort ergriffen zu haben.
Die kleine Gruppe der Gesetzeshüter und Archäologen war in dem Gelände allein und jeder von ihnen war sich dessen bewusst. Sie hätten auch allein auf der Welt oder am äußersten Ende der Erdscheibe sein können, so einsam fühlte sich die Lichtung an.
Für Sekunden fügte sich das Geräusch des Kratzens der Stifte der Carabinieri, die sich die Worte der Wissenschaftler in ihren Schreibblöcken notierten, zu dem Gebrumm der Insekten. Dann verharrten die Uniformierten erneut, die Blicke auf Therese, Camarata und Cariello gerichtet.
‚Totengöttin‘ hatte der junge Mann neben Cariello geschrieben, sichtlich beeindruckt von der gespenstischen Umgebung. Cariello las es über seine Schulter hinweg und sah auch die Gänsehaut, die über den Handrücken des jungen Militärs huschte.
Eine hübsche Carabiniere in Uniform mit kurzrasierten Haaren, die zusammen mit der Spurensicherung eingetroffen war und bisher geschwiegen hatte, lächelte ihn schließlich an. Ihr Gesicht wirkte erfrischend im Reigen ihrer bedrückten Kollegen. Ihre schwarzen Augen glänzten freundlich und ihre Zunge stieß charmant gegen die Zähne als sie sprach.
„Darf ich Sie etwas fragen, Professor? Könnte man das Aufhängen des abgetrennten Kopfes als ein der Göttin Diana gewidmetes Menschenopfer verstehen? Am Eingang zum Parkplatz hängen lange Bänder und man hat mir gesagt, sie hingen da schon länger und huldigten Diana … Meinen Sie, wir suchen eine Sekte, die die Mond- oder die Totengöttin anbetet?“
Cariello bewegte sich auf seinem Stuhl hin und her, dessen zerbrochene Plastikstreben ihm ins Bein schnitten. Er musterte die junge Frau mit den extrem kurzen schwarzen Haaren und dem breiten Lächeln. Sie war ein südländischer Typ, dem die androgyne Jungenfrisur eigenartigerweise noch mehr Weiblichkeit verlieh.
Sie stellte die richtige Frage, aber trotzdem zweifelte er. Er war sich nicht sicher, wie weit er sich vorwagen sollte, schließlich war auch er zum ersten Mal in seinem Leben in diesem Hain. „Es überdauern Berichte über eine antike Menschenopfertradition für Diana, aber heutzutage …?“
Die junge Carabiniere sah ihn fragend an. „Was war das für eine Tradition?“
Cariello rieb sich das Kinn. „Die heilige Eiche des Hains von Nemi wurde früher von einem Priesterkönig, dem rex nemorensis, bewacht. Das war der Tradition gemäß ein entlaufener Sklave. Er hatte sein Amt so lange inne, bis es einem anderen Sklaven gelang, ihn als Opfer für die Göttin Diana zu töten, einen Ast von der Eiche zu brechen und seinerseits das gefährliche Amt zu übernehmen.“
„War das auch an anderen Orten so?“
Cariello schüttelte den Kopf. „Die Opferung von Menschen war für die römische Antike unüblich. Bereits die Römer beargwöhnten die barbarische Tradition. Man betrachtete sie als ein Relikt aus vorgeschichtlicher Zeit, die nur dem Wald von Nemi eigen war und ihm eine bedrohliche Aura verlieh. Wer weiß, vielleicht hat sich heutzutage jemand inspirieren lassen …?“
Schweigen legte sich über die Gruppe. Jedermann sah ihn an. Cariello fuhr sich durch die Haare. Seine Hände suchten eine Beschäftigung, wie immer, wenn er zweifelte. Wieviel Verantwortung wollte er mit seinen Vermutungen übernehmen? „Es ist sicher kein Zufall, dass der Kopf an die Eiche und nicht an eine der Zypressen genagelt wurde“, sagte er dann widerwillig. „Es wurden Zweige abgebrochen, wie in der antiken Tradition der Entthronung des Priesterkönigs. Damals setzte man die Zweige der Eiche von Nemi mit dem goldenen Zweig gleich, den Aeneas auf Anweisung der Sibylle abbrach, um Zugang zum Totenreich zu erlangen.“
Camarata unterbrach ihn. „Ich frage mich, ob es in irgendeiner Weise von Bedeutung ist, dass das Opfer die Direktorin eines Museums ist. Man könnte sie mit Fantasie als Königin von Nemi bezeichnen … auch wenn das zugegebenermaßen absurd klingt ...“
Cariello zuckte die Schultern. „Ich sage Ihnen, was ich weiß. Die Fakten müssen Sie prüfen, Kolonel …“
Er ließ den Blick über die Carabinieri wandern. Den älteren Buzzati, den behäbigen Camarata, vier jüngere Männer und die junge Unteroffizierin. Sie alle waren in die schwarze Carabinieri-Uniform mit den roten Streifen an der Hose und dem weißen Schwertgürtel gekleidet. Ihre Hüte und das Barett der Frau lagen auf dem Tisch. ‚Sie sehen aus, als hätten sie sich zu einem formellen Picknick im Wald getroffen.‘ Es fehlte nur das Essen und der Wein. Und der Appetit, der ihnen allen seit Stunden vergangen war.
Cariello richtete sich auf: „Wenn der abgeschnittene Kopf dieser Frau ein Diana-Opfer ist, wäre das die Ausgeburt eines kranken Gehirns. Die wenigen echten Menschenopfer, die man aus römischer Zeit kennt, sind durch das Eingraben von lebendigen Menschen erfolgt, nicht durch Enthauptungen.“
„Charmant.“ Die trockene Anmerkung Camaratas klang feindselig und brutal in die Stille. Cariello fühlte sich brüskiert und verstummte.
Camarata ignorierte seinen Ärger und blätterte in den Papieren auf dem Tisch. Sein südländisches Gesicht mit den strengen Lippen und dem grauschwarzen Dreitagebart wirkte noch immer missvergnügt. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er wischte ihn grob mit dem Ärmel ab.
Verspätet und ohne besondere Achtung deutete er auf die junge Kollegin neben sich. „Maresciallo Chiara Ferro ist mir im Übrigen in diesem Fall vom Morddezernat Rom beigeordnet worden. Sie vertritt ihren Vorgesetzten.“ Seine Geste war kurz und unhöflich.
Die junge Frau mit den kurzgeschorenen Haaren ignorierte tapfer seinen mangelnden Respekt, nur ihre Lippen zuckten. Sie nickte in die Runde und zeigte ein charmantes Lächeln und zwei Reihen schneeweißer Zähne. Als sie Cariellos Blick traf, flatterten ihre Augenlider verlegen und gedemütigt von Camaratas Affront.
Sie fixierte ihn trotzdem. „Professor, keine Sorge. Wir verstehen sehr gut, was Sie meinen. Die Tat kann mit dem antiken Diana-Kult zu tun haben, aber es kann sich auch um die Inszenierung eines Geisteskranken oder eines Nachahmers handeln. Wir werden alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“ Sie schaute auf ihr Telefon und dann in die Runde. „Eine Hundestaffel dürfte in einer Viertelstunde hier sein, bis dahin schlage ich vor, wir machen uns an die Arbeit und helfen der Spurensicherung bei der Durchsicht der umliegenden Büsche und des Hains. Wir suchen den Körper der toten Frau. Taucher sind unterwegs, um im See zu suchen. Ich hoffe, wir wissen bald mehr.“
Cariello mochte ihre klare, offene Art. Sie hatte Camaratas Grimm nicht verdient.
Die Carabinieri erhoben sich und machten sich auf den Weg zurück ins Dickicht, indem sich in den letzten Minuten Gestalten in weißen Schutzanzügen verteilt hatten. Sie wirkten bei ihrem Abgang wie zur Zwangsarbeit verdammt und nicht wie stolze Hüter des Gesetzes.
Cariello blieb mit Therese am Tisch auf dem Gelände der Pferdefarm zurück. Das Quecksilber war inzwischen noch weiter geklettert, es war fast Mittag und es herrschten mehr als vierzig Grad. Er rieb sich die Schläfen, hinter denen Müdigkeit und Schock hämmerten. Ein paar Zikaden schnarrten und Fliegen summten um ihn her. Nach dem Fortgang der Carabinieri war keine Menschenseele mehr auf der Farm zu sehen und der kleine Picknickplatz lag verwaist. Die Besitzer des verwilderten Anwesens waren nirgends zu sehen. Cariello war durstig und müde.
Therese holte Wasserflaschen aus ihrem Rucksack und reichte ihm eine davon. Sie tranken schweigend.
Cariello bemerkte, dass Therese ihn verstohlen musterte. Sie hatte sicher gehofft, ihn umgänglicher vorzufinden, aber sein einsiedlerisches Betragen hielt sie wie schon viele andere vor ihr zurück, zutraulicher zu werden. Vielleicht war sie auch schuldbewusst, dass sie ihn in diese Angelegenheit hineingezogen hatte. Er half ihr nicht. An der Universität war er bekannt dafür, wie ein Eisblock Freundschaftsbezeigungen von sich abperlen zu lassen. Er galt als zynisch, flamboyant und unterhaltsam, aber die extravagante Fassade verbarg kühle Reserviertheit. Er zog es vor, sich abzugrenzen.
Seit seine Frau sich vor vier Jahren das Leben genommen hatte und sein Bruder verschwunden war, mied er zu enge Bekanntschaften. Wenn er ehrlich war, war er auch schon davor verschlossen und eher exzentrisch gewesen. Er fragte sich, ob er von seinen Prinzipien abweichen sollte. Er mochte Therese.
Bevor er sprechen konnte, räusperte sie sich. „Verzeihen Sie, dass ich Sie hierhergebracht habe, Professor. Ich weiß, dass dieser Kopf schrecklich ist. Seit ich die Szene heute Morgen gesehen habe, macht mir der Hain Angst. Was glauben Sie: hat jemand wirklich der Göttin Diana ein Menschenopfer gebracht?“
Cariello lehnte sich in den zerbrechlichen weißen Plastikstuhl zurück. Er wischte mit der Hand ein paar Piniennadeln vom Tisch. „Man hat schon die unsinnigsten Dinge auf dieser Erde gesehen: Leute haben sich freiwillig von anderen verspeisen lassen, verwirrte Verrückte haben ihre eigenen Mütter enthauptet und deren Köpfe durch die Straßen getragen, satanische Kulte haben kleine Kinder geopfert. Alles ist möglich.“
„Aber?“
Er musterte sie. „Aber? Sie wollen wissen, was ich wirklich denke. Humbug, denke ich. Firlefanz! Ein Opfer für Diana, heute, wer hat denn schon mal von so etwas gehört? Hinter diesem abgehackten Kopf verbirgt sich etwas.“
Er stand auf und stapfte Richtung See. Therese griff ihren Rucksack und folgte ihm.
Der gespenstisch stille Hain von Nemi blieb hinter ihnen zurück, durchforstet von immer zahlloser werdenden Gestalten, die mit blaulichtbestückten Fahrzeugen eintrafen und den verwilderten Parkplatz in ein nach Pferden, Tod und Minze duftendes Chaos verwandelten.
Das entfernte Gebäude, zu dem Cariello in der Hitze hinüberging und zu dem Therese ihm folgte, beherbergte das Museum von Nemi, dessen Direktorin das Opfer des Anschlags geworden war. Es befand sich in mehr als einem Kilometer Entfernung vom antiken Tempel in dem nüchternen bordeauxroten Bau, an dem sie bei ihrer Ankunft im Tal vorübergefahren waren. Eine verwilderte Spur von Wanderern führte wie eine geheimer Pfadfinderweg am Ufer zwischen See und Straße zu ihm hinüber.
Cariello war froh, die Szenerie zu wechseln und in bekannteres Terrain zu wechseln. Er kannte sich mit Museen aus, nicht mit Leichen.
Die mächtige Museumsfassade begrüßte ihn mit schmucklosem Beton. Ein grüner Zaun lief davor entlang und hielt das Dickicht des Seeufers im Zaum. Es waren kaum Besucher zu sehen.
Therese blieb stehen und rieb sich die Schläfen. „Mir schmerzt der Kopf. Ich glaube, ich habe einen Sonnenstich und meine Haut ist verbrannt, als hätte man versucht, mich in ein Backhuhn zu verwandeln.“
Cariello sah sie an. Die Sonne und die hohen Brennnesseln hatten ihr auf dem Weg die nackten Arme versengt. Er selbst trug ein langärmeliges Hemd und hatte das Unkraut kaum bemerkt. Er bereute, dem Zustand des Weges keine Beachtung geschenkt zu haben. Er überlegte, ob er Therese seine Anzugsjacke anbieten sollte, aber sie hatten das Ziel des Weges erreicht und es war heiß.
Das Gebäude, dem sie sich durch ein Eisentor näherten, hatte die Anmut eines städtischen Schwimmbads und den faschistischen Charme der vierziger Jahre. Links und rechts lagen jeweils eine große verglaste Halle, die in der Mitte durch nachgeahmte Tempelpfeiler verbunden waren.
‚Museo delle Navi Romane - Museum der römischen Schiffe‘ stand in einem imitiertem lateinischem Schrifttyp darübergeschrieben, der in seiner zackigen Protzigkeit einen Hinweis auf die politische Stimmung zu Zeiten der Erschaffung des Museums gab. Cariello sah mit krausgezogener Stirn an dem Bau empor, der das sonst malerische Ufer entstellte. Faschistische Monumentalbauten waren nicht das seine.
Lachfältchen schlichen sich in Thereses Augenwinkel. Sie war sichtlich trotz der Sonne und des unwegsamen Pfades froh, dem mysteriösen Hain und der Toten entkommen zu sein und ihre Laune besserte sich. „Sagen Sie nicht, Professor, Sie waren noch nie hier? Und das in Ihrem Beruf! Direkt hier im See hat man zwei der berühmtesten Schiffswracks der Welt gefunden, die Schiffe des Kaisers Caligula. Das Museum wurde für sie gebaut und seine Form erklärt sich durch den Zweck. Es ist ein Schiffshangar. Die Bergung der Wracks wurde damals von Mussolini angeordnet und hielt die ganze Welt in Atem.“
Cariello zuckte die Schultern, verärgert durch die Andeutung, er würde etwas nicht wissen, was er hätte wissen sollen. „Es gibt, wie Sie sicher wissen, einen guten Grund, warum ich das Museum noch nie besucht habe, Therese. Ihre berühmten Wracks, deren Bergung die Welt so sehr in Atem gehalten hat, existieren nicht mehr. Von ihnen bleibt nicht einmal Asche und vom Diana-Tempel nur ein paar Steine im Gestrüpp.“
Cariello war bewusst, dass sein Ton eisig klang. Er musste wirken, wie ein arroganter Professor mit übermäßigem Ego und es war ihm recht. Hitze, Hunger und Anspannung fraßen an seiner Geduld. Mit steinerner Miene und dem Gefühl, sich unleidlich zu betragen, trat er zu einer der Seiten des Gebäudes. Er stieß auf eine Reihe großer Basalt-Pflastersteine, die wie eine Unterwanderung unter der Mauer verschwanden.
Thereses freudiger Enthusiasmus wurde von seiner verletzenden Frostigkeit gedämpft. Ihr Gesicht verschloss sich.
Er schämte sich. In seiner Arroganz hatte er angedeutet, dass sie an einem Tempel arbeitete, von dem kaum etwas geblieben war und der der Öffentlichkeit unbekannt war, und das an einem See, dessen archäologische Attraktion vor Jahrzehnten verbrannt war. Unterschwellige Andeutungen konnten mehr verletzen als klare Worte. Er hätte sich ohrfeigen können.
Therese trat neben ihn und ihre Stimme war jetzt reserviert. „Was Sie da sehen, sind Reste der Via Virbia, die sich bei Genzano von der Via Apia abtrennte und zum Diana-Tempel führte. Man hat sie in das Museum eingefügt.“
Cariello seufzte und versuchte, Therese mit einem Lächeln milder zu stimmen. „Die Straße des Virbius, benannt nach dem von Diana von den Verstorbenen wiedererweckten Königssohn, den sie als Untoten im Hain von Nemi versteckte. Noch ein Totengott …“
„Schlimmer. Ein antiker Zombie im Gestrüpp bei den Steinhaufen“, sagte Therese bissig.
Cariello warf ihr einen Blick zu.
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