Der Verlorene Da Vinci - Floria Don - E-Book
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Der Verlorene Da Vinci E-Book

Floria Don

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Beschreibung

Als er eintrat, war die Stille im Schloss erdrückend. Kein Laut war zu hören. Er wusste, dass der Wächter erst viel später seine Runde machen würde, wenn die Sonne sich hinter den Wäldern erhoben haben würde und war erleichtert, auch wenn ihm die Ruhe unheimlich erschien. Noch lag alles dunkel und das Schloss gehörte ihm. Es war sein und ihm ausgeliefert, um endlich das Geheimnis zu lüften, dem er schon so lange auf der Spur war. Der schlanke Mann in Schwarz durchquerte entschlossenen Schrittes die Galerie. In seinem Eifer hörte er nicht, dass sich hinter ihm die Tür der Galerie zum zweiten Mal öffnete und er nicht mehr allein war. *** Im Schloss der Könige Frankreichs, im berühmten Fontainebleau, wird ein ermordeter Kunsthändler aufgefunden. Es scheint, er war zwei verschwundenen Gemälden von Da Vinci und von Michelangelo auf der Spur. Die verlorenen Gemälde wecken Begehrlichkeiten und rufen geheime Kräfte auf den Plan. Sein Ableben bleibt nicht das Einzige. Wie auch nicht? Träumt nicht jeder davon, einmal ein bedeutendes Kunstwerk von unschätzbarem Wert in einem uralten Schloss aus dem Mittelalter zu entdecken? Eine fesselnde Jagd nach verlorenen Gemälden und Geheimnissen der Geschichte beginnt. Die dunklen Wälder und das rätselhafte Schloss von Fontainebleau, dem schon Schiller seine Verse widmete, bieten dabei einen Hintergrund voller dichter Atmosphäre für eine Geschichte, die auf wahren Tatsachen beruht. … Ein fesselndes Buch für Liebhaber der Geschichte und düsterer Morde und spannender Charaktere. "So spannend wie Dan Brown!" "Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen." "Ich liebe Cariello."

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Fontainebleau bei Paris

Florenz, Italien

Schreckliche Entdeckung in Fontainebleau

Fremdes Paris

Sturlini

Eine Wand im Palazzo Vecchio

In der Tiefe eines Verlieses

Hitziges Abendessen

Eine Nacht in Florenz

Verbündete

Die Treppe unters Dach

Bizarre Linien

In Paris

Unermesslicher Reichtum

Ein weiterer Mord

Das geheime Atelier

Blutige Hommage

Im Kloster

Das Geheimnis von Fontainebleau

Zeichen an der Wand

Die Präsidentin

Auf dem Weg nach Paris

Im Louvre

Wiedersehen in Paris

In der Galerie

Der geheimnisvolle Gegenstand

Im Türkischen Kabinett

Marie-Antoinette sinnt auf Mord

Der Plan des Schlosses

Entführung

Spuren

Lefebvre mischt sich ein

Im Verlies

Das Geheimnis der Königin

Verborgene Dokumente

Das Notizheft

Die Suche nach Therese

Der Milliardär

Warten im Sturm

Im Aquädukt

Andreotti sucht etwas

Unter der Erde

Die Präsidentin

Im Verlies

Im Theater

Befreiung

Nackte Angst

Verhaftung

Im Kellergeschoss

Vergiftet

Sturlini

Benoit

Nachwort

Impressum

Dieses Buches basiert auf realen Umgebungen und historischen Begebenheiten. Seine Handlung ist erfunden.­

„Dass ich erkenne, was die Welt,­

Im Innersten zusammenhält.“­

Johann Wolfgang von Goethe,­

Faust I­

Fontainebleau bei Paris

Das bleiche Gesicht des unzeitlichen Wanderers war schweißbedeckt vom langen Weg und der Hast. Seine Lippen zitterten und er keuchte. Immer wieder warf er Blicke über die Schulter zurück. Alte Legenden erzählten, dass Le Grand Veneur, der Wilde Jäger, Heinrich IV. in diesen Lichtungen erschienen sei, um ihm den Tod durch die Klinge Ravaillacs zu verheißen, so wie er schon immer den Königen in den Forsten um Fontainebleau ihr Schicksal verkündet hatte.­

Hier, mitten in der Nacht, konnte er verstehen, wie die Mär von Geistern und Gespenstern entstanden war. Auch ihm schlug das Herz bis zum Hals. Bei jedem Knacken eines Astes, der unter seinem Fuß zerbrach, zuckte er zusammen. Die Wälder waren labyrinthisch und totenstill. Eisige Kälte stieg vom Boden der dunklen Haine auf, wie Finger von Phantomen, die nach ihm griffen – ihm, der es wagte, sich zu mitternächtlicher Stunde in ihr Unterholz zu verirren.­

Als es lichter wurde zwischen den Eichen, beeilte er sich, hinaus ins Freie auf die Wiesen zu gelangen, weg aus dem Forst.­

‚Endlich!‘ Er hatte befürchtet, sich zu verlaufen. Vom Waldrand sah er die hohen, dämmrig-gelben Fenster des Palastes der französischen Könige herüberschimmern. Der Nebel, der sich aus den laublosen Büschen hob, gab dem Gebäude mit den zahlreichen Türmen das Aussehen eines Märchenschlosses.­

Er hatte sein Ziel erreicht und das Rauschen des Adrenalins in seinen Adern machte stiller Entschlossenheit Platz. Wie ein Erstickender holte er Luft. Den langen Weg durch den Wald hatte er gewählt, um auf keiner Kamera und keinem Foto zu erscheinen. Er hatte trotz aller Bedenken recht gehabt.­

Aus der Ferne klang der Ruf eines Kauzes zu ihm und ein Rascheln im Gebüsch ließ ihn zusammenschrecken. Er setzte sich hastig erneut in Bewegung.­

Keine Menschenseele war zu sehen. Als er über einen flachen Graben sprang, legte er die Arme trotzdem über sein Gepäck, um das Klappern seines Inhalts zu vermeiden. Er hatte zur Sicherheit Brecheisen und Dietriche mitgenommen. Wenn alles gut ging, würde er sie nicht benötigen. Bevor es Morgen war, würde er zurück in Paris sein.­

Als er sich dem Gemäuer näherte, zog er seine schwarze Parka fester um sich und stülpte die Kapuze über. Gebückt durchquerte er den Garten vor dem Schloss, den Geruch nach Tau und Buchsbäumen in der Nase. Er wählte den Weg im Schatten, dort wo das Licht der Laternen nicht hingelangte und erreichte schon bald die Gebäude, die den mittelalterlichen Hof umgaben. Eine gepflegte, von Raureif bedeckte Rasenfläche trennte Forst und Palast. Er vermied sie, um keine Fußabdrücke darauf zu hinterlassen. Seine Körper- und Schuhgröße waren durchschnittlich, aber besser er hinterließ keine Spuren – noch nicht einmal durchschnittliche.­

Die berühmte Renaissance-Galerie, die die Reste der ursprünglichen Burg mit den neueren Flügeln des Schlosses verband, lag ruhig. Ihre Fensterbögen, die sich über einem gepflasterten Vorhof erhoben, glichen einander wie ein Ei dem anderen. Nichts regte sich.­

Er zählte lautlos die Bögen. ‚Es ist das dritte Fenster von links.‘ Die Nachricht, die ihm die Hand seines Verbündeten zugesteckt hatte, besagte, dass der Schlüssel unter den Anfangsbuchstaben Heinrich IV. links am Rahmen befestigt sei. Er stieg über kahle Rosenbüsche und fand das H da, wo man es ihm beschrieben hatte. Ein braunes Stück Klebeband hielt das zeigefingergroße Objekt auf seinem Platz. Er musste auf den Rahmen klettern, um ihn zu erreichen. Sein Metall war eisig.­

Mit vor Kälte und Aufregung bebenden Fingern löste er den Schlüssel und brachte ihn zum abgenutzten Messingschloss der nahen Seitentür. Ihr verwittertes Holz war erstaunlich gebrechlich für einen Zugang zu dem bedeutenden Gemäuer. Er ließ den Blick über den rauen Stein des Türbogens gleiten, aber sah nirgends eine Kamera. Trotzdem fasste er so vorsichtig nach dem goldenen Türknauf, als läge Strom darauf. Er drehte ihn. Nichts tat sich. Kein Schlag, kein Heulen von Sirenen. Er atmete auf und drehte auch den Schlüssel herum. Die Tür öffnete sich ohne Widerstand.­

Im Inneren war es totenstill. Es roch nach alten Steinen und Moder. Er wusste, dass der Wächter erst viel später seine Runde machen würde, wenn die Sonne sich hinter den Wäldern erhoben haben würde. Er hatte gehofft und erwartet, allein zu sein. Jetzt jedoch erschien ihm die Ruhe unheimlich. Alles lag dunkel und bedrückend leer. Ein Hauch von Kälte wehte ihm in den Nacken und ließ ihn erschauern. Unwillkürlich wanderte sein Blick erneut zurück über seine Schulter. Es war das wohl hundertste Mal in dieser Nacht.­

‚In deinem Alter und mit deiner Erfahrung solltest du dich nicht so einfach verunsichern lassen‘, redete er sich Mut zu. ‚Das Schloss gehört dir und das mit aller Zeit, die du benötigst, um das Geheimnis zu lüften, dem du schon so lange auf der Spur bist.‘ Der Welt würde einer der größten verlorenen Schätze wiedergegeben werden und er würde reich sein. ‚Unermesslich reich‘, dachte er mit hämmerndem Puls und ließ die Fingerspitzen über die raue Sandsteinwand gleiten. Trotz aller Zuversicht lief ihm erneut eine Gänsehaut der Panik über den Rücken.­

Er holte eine Taschenlampe aus der Jacke und stieg in ihrem Licht die Treppe zu den Räumen der Wache und dem königlichen Schlafzimmer hinauf. Dort stieß er die geschnitzte Tür zur Galerie auf.­

Der Prachtkorridor breitete sich düster und haselnussfarben vor ihm aus. Ein Geruch nach Parkettwachs und Staub schlug ihm entgegen. Es war, als ob er an Mysterien und Rätseln riechen könne und als ob sie sein Gehirn zu umnebeln versuchten. Er hatte es nicht für möglich gehalten, einmal allein in dieser berühmten Halle zu stehen und die Macht zu haben, darin zu tun und zu lassen, was er wollte. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren fühlte er sich noch jung und kräftig, aber trotzdem … es hatte lange gedauert, bis er an diesem Punkt in seinem Leben angekommen war. Seine Panik machte Begeisterung Platz.­

Die italienischen Fresken, die den Ruhm dieses Raums in die Welt getragen hatten, lagen im Halbdunkel und nur der verblassende Mond malte silberne Lichter über die Formen von Helden und Nymphen. Ein weißer Elefant glänzte vor ihm im Dämmerschein und schien ihn gleichmütig zu mustern.­

Der schlanke Mann in Schwarz wischte die Kapuze vom Kopf und strich sich die grauen Haare aus der Stirn. Er durchquerte die Galerie in Richtung des Haupteingangs, wo wie verabredet eine Leiter stand, die ihm erlauben sollte, das darüber hängende Bild zu erreichen. Sein Herz begann im Jubel zu hämmern, als er sie sah und er vergaß seine Vorsicht.­

Er hörte in seinem Eifer nicht, dass sich die Tür der Galerie hinter ihm zum zweiten Mal öffnete und er nicht länger allein war.­

Als er sich umwandte, um nach seinen Werkzeugen zu greifen, stand er jedoch plötzlich vor einer Person, von der er in der Dunkelheit nur die Umrisse erahnen konnte. „He? Wer ist da?“ Seine eigene Stimme klang rau und panisch in seinem Ohr. „Wer sind Sie?“­

Die Person trat ins Mondlicht, so dass er sowohl ihr Gesicht sehen konnte als auch das Skalpell in ihrer Hand.­

„Sie? Was tun Sie hier? Das war nicht ausgemacht.“ Er wollte schreien, aber ein scharfer Schmerz ließ ihn verstummen.­

Erstaunt verspürte er ein eigenartiges, fließendes Gefühl an der Kehle und verstand erst als er fiel, dass es sein Blut war, dass ihn in einem warmen Schwall verließ.­

Eine Hand legte sich fest über den Schnitt. „Wenn Sie mir sagen, woher Sie das mit dem Bild über der Tür wissen, lasse ich meine Hand auf Ihrer Halsschlagader. Wenn nicht … tut es mir leid für Sie.“­

Florenz, Italien

Der Dom von Florenz leuchtete in den Strahlen der Morgensonne, die sich durch die Regenwolken stahl. Tauben flogen in weiten Bögen um die roten Kuppeln Brunelleschis, begleitet vom Duft nach nasser Erde und Wärme.­

Eine junge blonde Frau mit schmalen Zügen und hellgrauen Augen lehnte an einem Arkadenpfeiler in der nahen Piazza, das Gesicht in die Sonne gelehnt. Sie trug ein helles Wollkleid unter einem kamelfarbenen Mantel und sah aus, als ob sie fröre.­

Thereses Zug war vor einer halben Stunde in den Bahnhof Santa Maria Novella eingefahren und sie war froh, trotz der noch kühlen Luft von der heiteren Stimmung zu profitieren. Bis zur gefürchteten Konferenz im Palazzo Vecchio war noch Zeit. Sie hatte ihre Reisetasche auf den Boden gestellt, auch wenn er feucht war. Die Müdigkeit und die Sorgen der Nacht saßen ihr noch in den Knochen. Ihre dichten Locken lösten sich aus der Spange im Nacken und sie schob sie verärgert zurück. Als sie den Blick wieder hob, zuckte sie zusammen. Hastig trat sie in den Schutz der Arkaden.­

Ein schwarzhaariger, athletischer Mann in navy-blauem Maßanzug schritt an ihr vorbei durch die Gasse. Er sah nicht auf und beachtete die beschwingte Atmosphäre nicht. Seine dunklen Augen waren düster unter den scharfen Brauen und sein markantes Gesicht verschlossen. Seine Stirn war trotz des Wetters und der luxuriösen Kleidung in Falten gelegt. Er ging mit gesenktem Kopf vom vornehmen Savoy Hotel in Richtung Arno, vorbei an der weiß-grünen Domfassade, deren Pracht er kühl ignorierte.­

Therese fühlte einen Stich in der Brust.­

Cariello sah sie nicht. Ihm war nicht nach Frühling und Besichtigungen zumute und sie wusste, warum. Er war seit dem Vorabend in Florenz, herbeizitiert von einem allmächtigen Minister, um im Streit über zwei der bedeutendsten Maler der Welt zu entscheiden. Der kürzlich benannte Giovanni Scopino erwartete von ihm, als neutraler Schlichter zwischen akademischen Hitzköpfen zu wirken.­

Cariello hatte sie beschworen, ihn zu begleiten.­

Sie hatte sich geweigert.­

Cariello war Professor der Archäologie und kein Kunsthistoriker. Der Minister suchte lediglich einen Sündenbock und wählte den flamboyantesten und bekanntesten Wissenschaftler des Landes, um ihn den Wölfen der Presse vorzuwerfen. Andere zur Tagung geladene Professoren, wie der Venezianer Faveri und die Mailänderin Ricciarelli, waren in der Geschichte der Kunst wesentlich bewanderter als er.­

Über ihren Vater kannte Therese Faveri und auch Ricciarelli und fürchtete sie. Sie hatte Cariello gewarnt, aber er war trotzdem in die Falle getappt. ‚Aus Eitelkeit, Geltungsbedürfnis, und Größenwahn‘, hatte sie ihm geschrieben. ‚Ein teurer Anzug und brillante Reden werden Sie nicht retten.‘ Sie hatte recht, ihn zu kritisieren, aber es machte sie beklommen, ihm trotz seiner Bitte nicht beizustehen …­

Es ging um ein vielleicht hinter einer Mauer verborgenes Da-Vinci-Gemälde und angesichts des Aufsehens ließ jedermann die eigentlich gebotene Zurückhaltung fallen. Artikel und Interviews füllten die Medien und das Publikum ergötzte sich an der aufgeheizten Debatte, lüstern nach Sensationen und öffentlichen Beleidigungen.­

Cariello hatte sicher alles gelesen, was über Da Vinci geschrieben worden war. Trotzdem fürchtete sie, dass auch er am Ende des Tages der öffentlichen Häme zum Fraß vorgeworfen werden würde. Es hatte bereits angefangen. Ein Kritiker hatte in der Morgenzeitung gehetzt, Cariello sei auf ‚Effekthascherei‘ aus. Er hatte ihn als arroganten Exzentriker beschrieben, der leidenschaftslos und kalt wäre, zynisch und ironisch und zu allem Überfluss, verachtenswert egozentrisch. Cariellos bekanntes Raubvogelgesicht war gefürchtet und er konnte mit seiner Autorität den Eindruck erzeugen, hochmütig zu sein. Aber Therese hatte ihn auch anders kennengelernt. Introvertiert, verletzlich und überraschend hilfsbereit, wenn man ihn brauchte.­

Sie seufzte. Kurzentschlossen nahm sie ihre Tasche und folgte Cariello, darauf bedacht, ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Sie wollte nicht, dass er wusste, dass sie in der Stadt war und weigerte sich weiterhin, ihm zu helfen. Nicht, weil sie ihre Reputation schützen wollte - es ging um die ihres Vaters. Belasco Urquiola war bis vor kurzem einer der bekanntesten Kunsthistoriker Europas gewesen. Ein Schlaganfall hatte ihn vor mehreren Monaten gelähmt. Sie konnte seinen Namen nicht missbrauchen. Ihr Vater hätte Cariello vielleicht den Rücken gestärkt. Ihr zuliebe. Aber er erkannte sie noch nicht einmal mehr.­

Cariello ging durch die Fußgängerzone der Via Proconsolo zum Arno. Als Therese hinter ihm den Fluss erreichte, drang der Duft von Algen und Feuchtigkeit zu ihr herauf. Ein Traktor bearbeitete die grasigen Ufer, um die Bisamratten zu vertreiben, die sich in Scharen im Wasser tummelten. Der Geruch erinnerte sie an düstere Tage im Regen, an Stunden der Einsamkeit und Verlassensein. Er schien ihr seltsam passend für diesen Tag. Passender als die strahlende Frühlingssonne.­

Die verstaubten Universitäten Neapels, an denen Cariello lehrte, hatten ihn seit Wochen mit Langeweile und Widerwillen erfüllt und ihn in Versuchung geführt. Er hatte trotzdem geschrieben, er fühle sich wie ein Hochstapler, als er den Zug nach Florenz genommen hatte. Seine letzte Nachricht datierte vom Vorabend.­

Cariello drehte sich ab und Therese folgte kaum zehn Schritte hinter ihm. Er hatte auf dem ganzen Weg nicht einmal aufgesehen. Er richtete seine Schritte zum Rathaus. Der Palazzo Vecchio thronte mit seinen Zinnen und dem Turm, der sich wie ein Uhrzeiger in die Wolken reckte, auf einem mit Steinplatten belegten Platz. Die Konferenz, zu der man Cariello erwartete, würde erst in einer Stunde beginnen, aber er beschloss wohl, den Raum zu besichtigen, in dem sie stattfinden sollte. Der Da Vinci sollte eingemauert in einer seiner Wände verborgen liegen. Er richtete seine Schritte zu den Pforten des braunen Palazzo und Therese ließ sich zurückfallen.­

Sie war unschlüssig, was sie tun sollte. Ihre Reisetasche drückte auf ihre Schulter, aber sie konnte sich nicht dazu entscheiden, ein Hotel zu beziehen. Vielleicht sollte sie doch wieder abreisen. Sie hatte Angst, dem Spektakel der öffentlichen Vernichtung Cariellos zuzusehen.­

‚Manchmal ist die Vergangenheit beneidenswert‘, dachte sie. ‚Renaissance. - Wenn man Leute denken lässt, was sie wollen, tut das, so scheint es, der Weisheit gut.‘ Auch Cariello hätte Freiheit gutgetan. Dann wäre es nicht so weit gekommen … Er hatte sich seit Wochen mit einer Handvoll Kollegen der Universität von Neapel in den Haaren, insbesondere einem langjährigen Professorenkollegen, Fasani. ‚Das nächste Mal sollte er besser den Mund halten und Raum lassen für Kleingeister und Inkompetente. Sie sind in der Überzahl …‘­

Und jetzt hatte Cariello es mit Da Vinci zu tun. Dem Da Vinci. Er, zum ersten Mal der Inkompetente  …­

Therese schüttelte den Kopf. Trotz der Arbeiten ihres Vaters war sie nur mit Da Vincis Gemälden und Apparaturen vertraut. Am Vorabend hatte sie daher in Büchern über ihn geblättert. Charismatische Zeichnungen gehäuteter Toter hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. ‚Der Tod fasziniert jeden, da er jeden von uns erwartet‘, war es ihr durch den Kopf gegangen und sie hatte an ihre Mutter denken müssen, die gestorben war, und an ihren Vater, der nicht mehr er selbst war. Sie hatte Stunden so dagesessen und hatte auf diese Bilder gestarrt. In Gedanken.­

Die Zeichnungen verklärten das makabre Werk des Sensenmannes mit denen sie seit Monaten konfrontiert war. Sie zeigten nackte Muskeln, die sich unter noblen Gesichtern wanden, als seien sie Skulpturen. Da Vinci hatte versucht, den Menschen zu ergründen bis zur nächtlichen Dissektion von in den Straßen verendeter Obdachloser und erhängter Verbrecher. Er hatte sie aufgeschlitzt, um den göttlichen Atem in ihren mageren Überresten zu finden. Da Vinci hatte keine Konservierungsmittel und keine Desinfektion gehabt, nur Kerzenlicht und die Leichen von Mördern, die gefoltert und hingerichtet worden waren. Da Vinci schuf, umgeben von bestialischem Verwesungsgeruch, Meisterwerke in Hommage an das Wunder Mensch.­

Es war Vasari gewesen, der der Zeit dieser großen Neugier den Namen Wiedergeburt - Renaissance gegeben hatte. Jener Vasari, dessen Werk man heute zugunsten eines hypothetischen Da Vinci zerstören wollte …­

Therese verjagte ihre Gedanken und sah erneut über den Platz. Ihr Blick blieb an einem schmalen Mann hängen. Er trug einen bis zu den Füßen reichenden grauen Mantel und ignorierte wie Cariello die frohe Stimmung der Gassen.­

Sie hatte ihn schon am Dom in einer Nische lungern gesehen und auch hier, am Rathaus, zwängte er sich in den Schatten. Er kam ihr bizarr vor. Eine Kapuze war so tief über seinen Kopf gezogen, dass sein Gesicht verborgen blieb. Sein Kinn war von einer der Hygiene-Masken verdeckt, die seit dem Beginn einer Viruswelle im Vorjahr allerorts zu sehen waren und er stand gebeugt wie ein Greis, ohne dass es ersichtlich war, welches Alter er tatsächlich hatte. Das Funkeln der Augen darüber bescheinigte ihm jedoch Intelligenz.­

An sich hätte Therese der Kapuzenträger egal sein können, aber er beobachtete ganz offensichtlich Cariello. Mehr noch, es sah aus, als habe er ihn verfolgt. Was konnte der Mann wollen? Es sah nicht aus, als ob es etwas Gutes wäre, sonst hätte er es nicht nötig, sich zu verstecken. Sie beschloss, sich den Mann anzusehen.­

Nicht, dass sie beunruhigt war. Cariello war grösser als eins-achtzig, ein eindrucksvoller Mann mit Noblesse. Der Kapuzenträger war nur halb so groß wie er. Trotzdem – er hatte einige hundert Meter den gleichen Weg wie Cariello genommen, und hielt nun an einer Straßenecke inne, um ihn, genau wie Therese, ziehen zu lassen. Warum?­

Sie tat so, als wolle sie einen Aushang lesen und trat im Schutz der Arkaden von hinten an ihn heran. Sie konnte den Petroleumgeruch seines Ölmantels riechen, so nah war sie ihm schließlich. Sie musterte ihn.­

Der Mann schaute auf den Strom der Touristen um sich herum, die steife Haltung gezeichnet von Verachtung. Die Cellini-Statue des Perseus in der Loggia gegenüber dem Palazzo Vecchio zog Fremde an wie ein Magnet. Mit zusammengezogenen Brauen und glühenden Augen verfolgte er ihren Weg. Er schrak erst aus seiner Unbeweglichkeit, als ihn jemand am Arm berührte.­

Auch Therese zuckte zusammen und drückte sich tiefer in den Schatten.­

Ein schlanker, mittelgroßer Mann hatte sich dem Kapuzenträger genähert. Dieser griff in seine Tasche und holte ein abgestoßenes Pergament hervor. Therese versuchte, mehr zu erkennen, aber sah nur Zeichnungen, die aussahen, als stammten sie aus dem Mittelalter. Sie fragte sich, woher er ein so altes und scheinbar wertvolles Schriftstück hatte.­

Der Mann reichte das Pergament dem Neuankömmling, den er erwartet zu haben schien. Therese konnte das Gespräch der beiden Männer hören, so nahe stand sie noch immer bei ihnen.­

Sie gaben sich keine Mühe, zu flüstern. „Pass gut darauf auf und lass das niemanden sehen. Niemanden, hörst Du? Auch nicht den Offizier.“­

„Aber er glaubt mir nicht … Was soll ich tun, um ihn zu überreden?“­

„Ich werde ihn heute Nachmittag anrufen und ihm etwas erzählen, was ihn seine Meinung ändern lassen wird. Spätestens morgen müssen wir soweit sein. Wir müssen durch die Wand brechen. Kein Aber mehr ...“­

Der graue Mann im Mantel nickte seinem Gegenüber zu, warf noch einmal einen Blick auf den Rücken Cariellos, der in diesem Moment den Eingang des Palazzo Vecchio durchschritt, dann wandte er sich um und verschwand im morgendlichen Dunst der Gassen.­

Therese wunderte sich. Wer war der Mann und warum interessierte er sich für Cariello?­

Schreckliche Entdeckung in Fontainebleau

Das rissige Nussbaum-Parkett der Galerie Franz I. im Schloss von Fontainebleau knirschte, als der diensthabende Wächter sich den Türen näherte, um sie zu öffnen. Er gähnte, rieb sich über die faltige Stirn und zerraufte sich das graue Haar. Der alltägliche Morgenstau hatte ihn für eine Stunde im Verkehr aufgehalten und er verfluchte die Überbevölkerung von Paris. Die noch immer geltenden Ausgangssperren der ausklingenden Corona-Virus-Seuche hatten die Verkehrsprobleme noch verschlimmert.­

Er stieß an einen der roten Samtstühle, die an der Wand aufgestellt waren und dieser fiel krachend zu Boden. Er stellte ihn eilig zurück an seinen Platz. Die ersten Besucher würden erst nach zehn ins Schloss gelassen werden, aber die Putzkolonne musste durchkommen. Der übliche Sicherheitscheck war ebenfalls vorgesehen. Er massierte sich die Brauen und die müden Augen, in Gedanken schon beim morgendlichen Kaffee, der ihn im Pausenraum erwartete.­

Die große Galerie, der Prunkkorridor des illustren Königs Franz, erwachte im Licht der Kronleuchter aus ihrem Schlaf.­

Seit sie zum ersten Mal für den weihnachtlichen Besuch Kaiser Karl V. von Spanien geöffnet worden war, war sie der Mittelpunkt des Schlosses. Italienische Künstler hatten sie mit rosé-farbenen Fresken verziert, deren Bedeutung den meisten verschlossen blieb. Nackte Leiber und bizarre Tiere wanden sich auf den Wänden mit den Schnitzereien und dem hellen Stuck. Sie gaben ihnen eine überbordende Opulenz der bizarren Art.­

Trotz der ursprünglichen Pracht waren über Jahre Teile des Palastes verfallen. Die teuren Gewebe, die die Wände bedeckten, waren verblichen, die Dächer eingestürzt. Paris hatte zu viele Schlösser und der Touristenstrom ergoss sich nach Versailles, nicht nach Fontainebleau, auch wenn das Schloss in den Wäldern im Süden von Paris früher das Zentrum des französischen Reiches gewesen war. Der wahre Sitz der Könige. Ort der Kindheit Ludwig des XIV. und der Jugend Marie-Antoinettes.­

Der korpulente Wächter seufzte und klopfte sich auf den Bauch. ‚Für mich bleibt Fontainebleau das schönere Schloss. Schon weil der große Franz es gebaut hat, der König des magischen Salamanders. - Fontainebleau - Immenser und einsamer Wald. Diese Gärten. Diese Rosenhaine. Welches Eden voller Glanz. Verdi, Don Carlo. … Die Zeiten werden schon wieder besser werden.‘ Er war stolz darauf, das Zitat zu kennen.­

Die Präsidentin des Schlosses, die vor einem Jahr ernannt worden war, hatte Geld bei diversen Mäzenen, Stiftungen und selbst in Abu Dhabi erbettelt. Das hatte neben Millionären und Scheichs auch eine Schar eigenartiger Personen ins Schloss gespült, aber jetzt waren zumindest mehrere Seitenflügel von Gerüsten bedeckt. Wenn die Corona-Pandemie nicht gewesen wäre, die die Kassen und die Museen geleert hatte, hätten sie Hoffnung schöpfen können.­

Trotzdem, diese Präsidentin war eine eigenartige Wahl. Sie sprach mit Akzent und bei all ihrem Engagement war sie so autoritär und distanziert, dass es dem Personal schwerfiel, sie zu mögen. Wenn er ehrlich war, hatten sie alle im geheimen Angst vor ihr. Nicht, dass sie ihnen etwas getan hätte, im Gegenteil. Aber sie hatte eine schneidende Brillanz, die manchmal wahnhaft wirkte …­

Er ging weiter und legte den General-Schalter um, der auch den Rest der Galerie erhellen würde. Eine Sekunde später zerriss sein Schrei die Stille.­

In der Mitte der berühmten Halle lag ein Mann.­

Sein Blut war über den Boden gespritzt und es war so unnatürlich rot, dass der Sicherheitsmann an der Realität der Szene zweifelte. Dann begriff er, dass man dem Unbekannten die Kehle durchgeschnitten hatte. Das Blut war über das Parkett geschossen und besudelte es in weiten Kreisen. Noch die Bänke und Stühle waren bedeckt vom karminfarbenem Lebenssaft, der aus den großen Adern am Hals gesprudelt war.­

Als der Wächter sich zitternd an die holzverkleidete Wand lehnte, huschte sein Blick nach oben.­

Und dann erklang zum zweiten Mal sein Schrei.­

Fremdes Paris

Kolonel Francesco Camarata, Chef der Kunstschutzabteilung der Carabinieri in Neapel, war zu einem Arbeitsaustausch zur Police Judiciaire nach Paris entsandt worden. Der bejahrte Carabiniere mit den breiten Schultern und den griesgrämigen Zügen drückte sich daher nur eine halbe Stunde nach dem Ereignis in Fontainebleau in das Polster eines französischen Polizeiwagens. Das Fahrzeug gehörte der OCBC, der Abteilung, die in Frankreich Kunstdiebstähle verfolgte. Es roch aufdringlich nach einem Moschus-Wunderbaum, den der Fahrer an den Rückspiegel gehängt hatte und war Camarata so fremd, als säße er in einem Luftschiff auf dem Weg ins All. ‚Was tue ich hier? Mitten in Paris …‘, rumorte es in ihm.­

Er hatte sich einen warmen Wintertrenchcoat angezogen und einen dicken Schal um den Nacken geschlungen, den er auch im Fahrzeug nicht abnahm. Mit seiner korpulenten Statur und der kurzatmigen Lunge wollte er sich nicht erkälten. Er fror, seit er vor ein paar Tagen aus dem Flugzeug gestiegen war. In den wenigen Minuten des Wartens auf den Dienstwagen waren seine Haare zudem im Nieselregen nass geworden und Tropfen eisigen Wassers schlichen sich in seinen Kragen. Sein faltiges Gesicht mit den schwarzen Bulldoggenaugen und den hängenden Wangen voller grauer Bartstoppeln war dementsprechend missmutig. Er hustete von Zeit zu Zeit in die Faust seiner mit einem Lederhandschuh bedeckten Hand und seine Lunge klang nicht gut dabei. Mit dem Zeigefinger lockerte er die blaue Krawatte unter dem Schal und blickte grimmig schweigend nach draußen. Alles an ihm strahlte schlechte Laune aus. Die derben Lippen, die buschigen Brauen und die Falten auf der breiten Stirn.­

Der hoch aufgeschossene, jugendliche Kommissar, der vor ihm in Zivil neben dem uniformierten Fahrer saß, hatte ihn vor Tagen bei seiner Ankunft in Orly abgeholt und sich dabei als Bastien Brago und Leiter einer der Einheiten der OCBC vorgestellt. Er war der Sohn von Immigranten, schlank und von der typischen Blässe der Portugiesen in Frankreich, denen die Sonne der Heimat fehlt. Brago hatte Camarata erst seine Unterkunft und später sein Büro gezeigt. Seitdem hatte sich Camarata in beiden eingerichtet und gelangweilt. Man hatte ihn mit Präsentationen, Versammlungen und Kennenlernkaffees unterhalten und er hatte sich gefragt, wozu er dazu wochenlang in Frankreich verweilen musste.­

Erst jetzt, fast eine Woche später, war Brago in der Tür erschienen und hatte ihn ohne nähere Erklärung, aber mit feierlichen Respektbezeugungen zu diesem ‚Einsatz im Süden von Paris‘ eingeladen. Mit seinem dunkelbraunen, lichter werdenden Lockenkopf und den intelligenten kastanienfarbenen Augen wirkte er älter, als er war. Laut der Webseite des OCBC war Brago erst fünfunddreißig. Nach dem Maßstab des weit über fünfzigjährigen Camarata ein Teenager …­

Camarata war an sich nicht böse, etwas zu tun zu bekommen, aber er war gestresst von der ungewohnten Umgebung, den neuen Kollegen und der fremden Sprache. Sein Französisch war im besten Falle zum Gebrauch im Kaffeehaus geeignet und er fragte sich, was man von ihm erwartete. Eine Erklärung erhielt er vorerst nicht.­

Brago saß vor ihm, und drehte sich nur ab und an zu ihm und erläuterte in haarsträubendem Italienisch die Details der Gegend, durch die sie fuhren. „Sehen Sie dort, Kolonel. Das ist die Abfahrt zur A 10. Und wenn wir jetzt etwas weiterfahren, kommen wir zur A6.“­

„Ehem.“­

„Wir fahren nach Fontainebleau. Wissen Sie, dass Napoleon dort den italienischen Papst gefangen hielt?“­

„Nein.“­

„Der Papst nahm ihm das so übel, dass er neunzehn Monate lang nicht aus seinem Appartement herauskam.“­

„Aha. Hoffentlich hatte er eine Toilette.“­

„Dort wurde auch die IUCN, die internationale Naturschutzorganisation gegründet.“­

„Hm.“­

„… und für eine Weile war das Schloss Nato-Hauptquartier.“­

„Wirklich?“­

Bragos Augenlider zuckten nervös, ob der Einsilbigkeit Camaratas. Er stand erst am Anfang seiner Karriere und war von Camaratas Ruf und seiner beleibten Al Capone Statur beeindruckt. Das Objekt seiner Bewunderung schaute jedoch nur mit grimmiger Bulldoggenmiene auf die belebten Straßen, die an ihm vorbeiflogen, und die trotz des noch immer vorherrschenden Winterwetters überfüllten Cafés, die nach der Corona-Pandemie erst seit Kurzem wieder geöffnet hatten.­

Camarata blieb trotz der Bemühungen des Jüngeren in Gedanken versunken, überwältigt von den Eindrücken, die ihn umgaben, und erfüllt von verborgener Verunsicherung. Vor dem Fenster machten die weitläufigen Boulevards der Hauptstadt Vororten, Autobahnen und Wäldern Platz. Paris schien ihm riesiger, übersättigter und feindseliger als seine Heimatstadt Neapel.­

Die Straßen waren breit und trotzdem voller Stau. Die Metros waren zu jeder Tageszeit vollgepfercht. Wo immer er sich hinwandte, traf er auf Schlangen oder Menschenmengen. Paris war ein Moloch ohne Ende und Ordnung. Zwölf Millionen Menschen, hineingepresst in eine seelenlose Stadt, die geprägt war von der Angst vor Viren und Terrorismus und geplagt von Eigensucht, stinkenden Bussen und verstopften Häuservierteln.­

Das möblierte Appartement, das man ihm gegeben hatte, lag im dritten Stock eines Hausmannschen Mietshauses. Es war hoch und weiträumig, mit verschnörkelten Verzierungen vor den schmalen Balkonen, aber einer kühlen Ausstrahlung. Es hatte keine Wäsche vor den Fenstern und keine Nachbarn, die er seit dreißig Jahren kannte, wie sein Zuhause in Neapel. Das Bett war nicht seins und die Küche wie neu. Sie würde es bleiben… Camarata konnte nicht kochen und das Fernsehen hatte keine italienischen Kanäle. Seine Frau war zudem schmerzlich weit entfernt. Er würde so viel Zeit wie möglich anderswo verbringen als in seiner neuen Bleibe und wenn es in der Bar mit der Aufschrift ‚Bistrot Au Chien‘ an der Straßenecke sein würde. ‚Hoffen wir, dass sie mir dort trotz des befremdlichen Namens etwas Besseres als Hundefutter verkaufen‘, dachte er bissig.­

Mit all dem, was man ihm schon zugemutet hatte, wurde ihm die einschüchternde Metropole nun noch unvorhersehbarer, als sie sich auf einmal in Urwälder voller steinalter Eichen verwandelte. Immer mehr Bäume flogen vor dem Fenster des Wagens an ihm vorbei, nur belebt von krähenden Raben und dem Wind, der in blattlose Äste fuhr. Schneeregen peitschte gegen die Scheiben und lief in Strömen an ihnen herab. Er zog den Mantel fester um sich.­

Camarata hätte in diesem Augenblick lieber zu Hause in Neapel bei sich am Küchentisch gesessen, beim Lesen der Fußballergebnisse und mit einem Kaffee in der Hand. Neben seiner Frau Laura und belästigt von den Fragen seiner Kinder. Er mochte keine Ausflüge, keine fremden Sprachen und Regen erst recht nicht. Man hatte ihn nach Paris abgeordnet, weil es ein Minister in Rom so gewollt hatte. Scopino. Wer schon so hieß … Ein neuer Besen, der gut kehrte. Man hatte ihn gedrängt und komplimentiert, bis er nachgegeben hatte. Er hatte es bereits bereut, als er in Neapel ins Flugzeug gestiegen war. Politik war ihm zuwider, Politiker noch mehr und Gefälligkeiten, die fremde Leute zu seinem Nachteil anderen fremden Leuten taten, erst recht.­

Als der Dienstwagen nach einer guten Stunde seine Fahrt verlangsamte, beugte er sich nach vorn. Er sah ein mächtiges Gemäuer vor sich auftauchen. Es schimmerte im Glanz der Sonnenstrahlen, die durch dunkle Regenwolken brachen und seine Renaissance-Fassade in ein fast ätherisches Licht hüllten. Camarata spähte ächzend durch die Scheibe. Er hatte in der Umgebung von Paris kein derartiges Märchenschloss erwartet. Es war weitläufig, mit grauen Dächern und cremefarbenen Mauern. Dichte, von Felsen durchbrochene Forste umfassten es, wie die Arme von Waldriesen.­

Eingeschüchtert von seinen einsilbigen Antworten gab Brago den Versuch auf, Italienisch zu sprechen, und redete in Französisch weiter. Er deutete auf das Gebäude. „Willkommen in Fontainebleau, dem Stammsitz der Könige. Kommen Sie, mein lieber Kolonel. Man erwartet uns. Ich fürchte, unser Ausflug wird ab hier trotz der Renaissance-Pracht dieses edlen Gemäuers eher unangenehm.“­

Sie parkten im Innenhof, stiegen aus dem Wagen und näherten sich der Freitreppe, die in das Hauptgebäude führte. Techniker der Spurensicherung waren fast gleichzeitig mit ihnen eingetroffen. Sie packten Materialien aus weißen Transportwagen, die neben den weitläufigen Stufen standen, und wirkten ebenso eingeschüchtert von der mystischen Aura des Ortes wie Camarata. Ihre Gesichter waren blass und missmutig. Sie grüßten nur mit einem Nicken. Zu Camaratas Überraschung hatten sie Hunde mitgebracht, die sich bellend und heulend gegen die beschlagenen Fenster der Wagen drückten und deren Speichel an den Scheiben herabran. Ein Schäferhund knallte unmittelbar vor ihm gegen das Glas und er sah die gebleckten Reißzähne vor sich. Er machte einen Schritt rückwärts, beeindruckt von der großen Kreatur und seiner geifernden Drohung.­

Noch bevor er nach dem Grund für die Anwesenheit der Hunde fragen konnte, kam ihnen ein Uniformierter entgegen.­

Er wandte sich an Brago. „Da sind Sie endlich. Wir haben Sie erwartet. Der Tote liegt in der Galerie.“ Der füllige Uniformierte schnaufte und warf auch Camarata ein grüßendes Nicken zu, bevor er weiter mit seinem Kollegen sprach. „Zum Glück haben wir Donnerstag. Es sind weder Schulferien noch Wochenende, die Anlage ist ruhiger als sonst und es ist ja auch noch früh. Wir haben alles geschlossen und sind dabei, die ankommenden Besucher wegzuschicken. Die Leute von der Mordkommission sind schon am Werk, aber Sie wissen ja … Halais besteht darauf, dem OCBC in solchen Fällen die Führung zu überlassen.“­

Camarata ließ Brago diskutieren und warf einen Blick auf das nahe Kassengebäude. Eine Handvoll Rentner und Touristen stand konsterniert davor. Er fühlte sich ebenfalls wie ein desorientierter Tourist. Für ihn lag dieses Schloss Lichtjahre entfernt vom Zentrum von Paris, auch wenn ihm Brago auf der Herfahrt gesagt hatte, dass die meisten der Menschen im Ort in der Metropole arbeiteten.­

Brago bemerkte seinen Stupor nicht und griff schließlich respektvoll nach seinem Arm. Er brachte ihn hinter seinem Kollegen zu einem der Seiteneingänge, wo man ihnen Schutzanzüge reichte. Brago kümmerte sich dienstbeflissen um Camaratas Umkleideaktion, aber seine schmalen Lippen arbeiteten. Er war in Gedanken bereits bei dem, was ihn erwartete. „Ich habe Sie noch nicht aufgeklärt, warum wir hier sind, mein lieber Kolonel. Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie mit einem interessanten Fall überraschen. Sozusagen als Einstand. Die Kollegen vom Morddezernat haben uns wegen der Beschädigung eines Gemäldes hinzugezogen und warten drinnen auf uns. Sie haben mir am Telefon gesagt, dass sie noch keine Ahnung haben, warum es zerschnitten wurde und warum ein Mann tot davor liegt. Das Schloss hier liegt zwar nicht auf der üblichsten der Touristenrouten, aber es ist normalerweise gut bewacht.“­

Camarata brummte. Er mochte die französische Militäranrede ‚mon cher colonel‘ nicht. Er kam sich dabei veralbert vor. Er verstand auch nur bedingt das schnelle Pariserisch Bragos. Er sah an den Mauern des Gemäuers empor. Im Schimmer der aus den Wäldern heraufziehenden Morgennebel wirkte es beeindruckend. Ein geheimnisvolles Schloss aus uralten Zeiten, bestehend aus zahllosen Räumen, Türmen und Galerien.­

Brago bemerkte seinen Blick. „Fontainebleau ist das historisch wichtigste Schloss Frankreichs. Nicht Versailles … Wir werden unter dem Feuer der Presse arbeiten.“­

Camarata krauste die derben Lippen. „Gibt es hier Gespenster?“­

Brago lachte. „Die Legende spricht gleich von mehreren.“­

Camarata fragte sich, wozu Ludwig XIV. Versailles gebraucht hatte. Das Schloss, das vor ihm lag, besaß tausende von Zimmern.­

Brago ließ ihm keine Zeit für Überlegungen und zog ihn mit sich ins Innere. „Die Besiedlung dieses Ortes geht in die graue Urzeit zurück. Erst befand sich hier ein Gallo-Romanisches Dorf, dann wurde im 11. Jahrhundert eine Festung und ein Kloster darüber gebaut. Und schließlich hat man in der Renaissance alles abgeändert und ein Palais erschaffen.“ Er dämpfte seine helle Tenor-Stimme, da sie in dem leeren Treppenhaus verstörend widerhallte. Seine neuen, schwarz gewienerten Schuhe führten seinen Versuch der Diskretion ad absurdum und knirschten laut auf den breiten Steintreppen, die sie emporgingen.­

„Die Galerie, in der das Opfer liegt, ist ursprünglich eine Brücke gewesen, die die Festung und das heute nicht mehr existierende Kloster verband. Auch sie ist nach und nach überbaut worden. Man hat erst eine Überdachung darauf, dann Bäder darunter und schließlich Appartements und Terrasse daneben gebaut. Seit den Zeiten Franz I., also um das 16. Jahrhundert herum, sind jedoch zumindest Galerie und Fresken weitgehend original bewahrt worden. Die Gemälde darin sind für ihre mysteriösen Darstellungen bekannt. Ich selbst habe bei einer Mysterien-Sendung im Fernsehen zum ersten Mal davon gehört. Mögen Sie Rätsel?“­

„Hm.“­

„Die Gemälde sind eine Mischung aus Esoterik und geheimnisvollen Zeichen, gemalt von einem rothaarigen Florentiner, der sich unter noch mysteriöseren Umständen das Leben genommen hat, kaum dass die Bilder fertig waren …“ Brago machte mit dem Daumen einen imaginären Schnitt über den Hals und begleitete die Geste mit einem „Krk.“ Er zwinkerte Camarata zu, fügte seinen rätselhaften Worten jedoch keine weiteren Informationen hinzu, sondern betrat mit ihm über eine breite hufeisenförmige Treppe die Galerie.

---ENDE DER LESEPROBE---