Der Stoff, aus dem die Freiheit ist - Nathalie Schaller - E-Book

Der Stoff, aus dem die Freiheit ist E-Book

Nathalie Schaller

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Beschreibung

Nathalie Schallers Lebensweg scheint vorgezeichnet: Abitur, Jurastudium, Karriere. Doch dann lernt sie auf Reisen nach Indien und Kambodscha Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution kennen. Das Thema lässt sie nicht mehr los. Welche Perspektive haben die jungen Frauen nach ihrer Befreiung überhaupt? Kann Nathalie irgendetwas tun? Sie entscheidet sich, dem Funken in ihrem Herzen Beachtung zu schenken. Die Vision von einem außergewöhnlichen Modelabel ist geboren: Mit professionellen Designs - aber vor allem fair, nachhaltig und humanitär. Die Idee ist revolutionär! Und natürlich läuft nichts so wie geplant ... Das Buch erzählt vom Träumen, Scheitern, von Ängsten, Kampfgeist und Vertrauen. Als bunte Collage aus Autobiografischem, Hintergrundinformationen und harten Fakten ist es eine packende Inspiration für jeden, der nach seiner Aufgabe im Leben sucht oder davon träumt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

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Für Elisa und Tilly.Und für alle, die (noch) an sich zweifeln.

„Hoffnung ist nicht hauptsächlich eine Sache theoretischer Einsicht und ausreichender Argumente. Es ist eine Qualität des Handelns und des Herzens.“1

Fulbert Steffensky

Inhalt

Check-in Elf Jahre in fünfzehn Minuten

Kapitel 1 Was kann ich eigentlich richtig?

Kapitel 2 Nicht meine Gerechtigkeit

Kapitel 3 Wenn du dein Leben so zum Kotzen findest …

Kapitel 4 Fünf Schritte in die Freiheit

ZwischenstoppKleine Anleitung zum Glücklichsein

Kapitel 5 Lifestyle-Schiffbruch auf der Südhalbkugel

Kapitel 6 Idee trifft Herz

FaktencheckSklaverei im 21. Jahrhundert

Kapitel 7 Feuerprobe und Reifezeit

FaktencheckTextilindustrie vs. faire Mode

Kapitel 8 Das Puzzle setzt sich zusammen

Kapitel 9 Unterstützung aus Washington

Kapitel 10 Good Morning, Mumbai!

FaktencheckFrau sein in Indien – ein Desaster?

Kapitel 11 Entscheidung in letzter Minute

Kapitel 12 Stofftaschen voll Rückenwind und los!

Kapitel 13 Jedes Leben zählt

Kapitel 14 Flagge hissen auf dem Modekontinent

Kapitel 15 Love sells … oder doch nicht?

Kapitel 16 Sophies erschütternde Welt

FaktencheckProstitution und Menschenhandel in Deutschland

Kapitel 17 Goldene Momente

ZwischenstoppEine Hoffnungsgeschichte von vielen

Kapitel 18 Krise in Utopia

Kapitel 19 Ein schmerzvoller Abschied

Kapitel 20 Herzensprüfung

Kapitel 21 Empower your dressmaker

Kapitel 22 Stolz statt Vorurteil

FaktenchekSocial Entrepreneurship – das etwas andere Business

Kapitel 23 Back to Start-up

Kapitel 24 Unterricht im Träumen

Kapitel 25 Ende der Talentsuche

Kapitel 26 Gemeinsam Empowerment-Geschichten schreiben

Kapitel 27 Kein Lockdown für mutige Entscheidungen!

Check-out Von brav zu „brave“

12 Ratschläge für Starter

Nachwort von Ramona Dsouza

Wenn du noch mehr wissen möchtest

Die Autoren

… sagen Danke

Endnoten

Check-in Elf Jahre in fünfzehn Minuten

Ich stehe inmitten von Menschen im Flughafen Marrakesch-Menara. Die Anzeige über mir zeigt „Stuttgart, Abflug in 97 Minuten“. Und wir haben keine Tickets.

Es ist keine Katastrophe. Aber es bringt unnötigen Stress in diese letzten Minuten eines sonst so perfekten Urlaubs. Einen Monat Auszeit haben wir uns nach der Geburt unserer zweiten Tochter genommen. Marokko, Wüste, Strand, Surfspots, bunte Märkte, Kinderlachen, Kinderheulen, ruhige Tage, keine Termine, viele Fotos. Wild unterwegs. Aber jetzt geht es nach Hause.

„Sch*** Billigfluglinien!“, reflektiere ich kurz und still unsere Entscheidung für den billigsten Anbieter. Der Preis hat mal wieder gewonnen. Dafür muss man sich aber auch um alles selbst kümmern. Kapitän und Kerosin ausgenommen … hoffentlich. Und sollte natürlich nicht vergessen, selbst online einzuchecken und sich die Tickets auszudrucken. Willkommen im digitalen Zeitalter!

Dabei ärgere ich mich nicht nur über unsere schwäbische Wahl an sich, sondern vielmehr darüber, was sie mir aufzeigt: dass ich selbst eben auch „Ja“ zum Discount sage, wenn der Rabatt nur groß genug ist und die Fluglinie, zugegeben, quasi vor der Haustür abfliegt. Gerade ich, der ihre Freundinnen nicht mehr getrauen zu sagen, wenn sie mal bei H&M ein Schnäppchen gemacht haben. Ich, die, wenn es um Mode geht, seit Jahren keine Kompromisse mehr kennt. Aber wenn es ums Fliegen und Reisen geht …

Was müssten wir nicht alles ändern, angefangen bei uns selbst, wenn wir wirklich fair sein wollten, auch dem Klima gegenüber? Wo fangen wir an? Wo hören wir auf?

Doch jetzt stehe ich hier, auf Stand-by, und kann gerade gar nichts tun, außer auf meine zwei Töchter aufzupassen und ruhig neben dem Schalter zu warten, wo uns die Angestellte der Fluglinie nett, aber kompromisslos auf den fehlenden Check-in aufmerksam gemacht hat. Simon ist vor zehn Minuten losgelaufen und sucht den ganzen Flughafen ab, um die Standardprozedur, von der wir nichts wussten, nachzuholen und die Tickets aufzutreiben. Und er wird es schon schaffen. Da muss mehr kommen, um mich in echte Unruhe zu versetzen. Zumal die Tiefenentspannung der letzten vier Wochen noch anhält.

Die kleine Tilda, wir nennen sie Tilly, liegt bei mir im Arm. Neben mir, drei Köpfe weiter unten, steht unsere „Große“, Elisa, blickt in ihrer typisch aufgeweckten Art umher, mustert die Fluggäste in den Warteschlangen neben uns.

Ich tue es ihr gleich. Links geht es nach Athen, rechts drängt eine lange Schlange Richtung Paris. Hm, Paris wäre auch mal wieder schön. Gedankenverloren schaue ich mir die Menschenreihe an. Da sehe ich plötzlich ein vertrautes Gesicht, nur fünf Meter entfernt. Groß, dunkle Haare, stahlblaue Augen … den Typen kenne ich doch. Aber woher? Ist das …

„Aaaandrew?! Is that you?!“

Der Mann dreht den Kopf zu mir, sieht mich verblüfft an, doch schon lese ich in seinen Augen den Blick des Wiedererkennens. Seine Augen werden größer und ein kumpelhaftes Lächeln zieht sich über sein ganzes Gesicht.

„Whoa, Nathaly! Unbelievable!“

Unglaublich. Andrew. Zwölf Jahre haben wir uns nicht gesehen und doch erinnert er sich direkt an meinen Namen. Und strahlt gleichzeitig diese Ruhe aus, die ich noch gut von ihm kenne.

Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu, wir umarmen uns über das Absperrband hinweg und ich mache ihn mit Tilly und Elisa bekannt, die ihm schüchtern die Hand gibt. Ringsum nehme ich die freundlichen Gesichter der anderen Passagiere wahr. Sie scheinen sich mitzufreuen über dieses unverhoffte Wiedersehen.

Da sehe ich aus dem Augenwinkel Simon heranspringen. Er winkt mit den Tickets. Halleluja!

„Na, schon wieder am Fremde-Leute-Anmachen?“, flapst er, gleichzeitig mit echter Verwunderung auf der Stirn, läuft aber direkt zum Schalter weiter, um uns einzuchecken. Schnell geben wir unser Gepäck auf und verabreden uns mit Andrew, der seinerseits auf seine Frau wartet, auf einen Kaffee in einer anderen Ecke des Flughafens. Nach wenigen Minuten treffen wir uns dort wieder und die Unterhaltung wird umso feierlicher.

„Das sind Andrew und Sarah“, kläre ich meinen Mann schnell auf. Die Namen sind ihm aus früheren Erzählungen von mir ein Begriff. 2008 hatte ich mich für einige Zeit der Organisation YWAM angeschlossen und unter anderem Australien und Kambodscha bereist. Die beiden, ein Ehepaar aus Kanada, waren die Leiter unserer „Homebase“ an der australischen Ostküste, etwas nördlich von Brisbane, gewesen. Drei Monate hatten wir dort zusammen verbracht, Workshops und Einsätze vorbereitet. Drei Monate, während derer ich die Weichen für mein Leben neu stellen sollte. Und in denen der Zug, von dem ich erzählen werde, ins Rollen kam.

Später hatten Andrew und ich nur noch einige wenige Male über Facebook Kontakt und ich hatte verfolgt, dass die beiden mit ihren Kindern zurück nach Kanada gezogen waren. Wie wir hatten sie Urlaub in Marokko gemacht und traten ausgerechnet heute ihren Rückflug über Paris in die Heimat an.

Noch immer können wir den Zufall kaum fassen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich meine Wege so unvermutet mit denen alter oder wichtiger neuer Freunde kreuzen. Im Gegenteil, wie sehr sind die letzten Jahre von zunächst zufälligen Begegnungen geprägt und sogar abhängig gewesen. Aber in Marrakesch?!

„Nathaly, what are you up to? Wie ist es dir ergangen?“, bringt Andrew das Gespräch in Fahrt. Schließlich beginnt für beide Flüge bald das Boarding und wir müssen alle noch durch die Sicherheitskontrollen. Uns bleiben nur 15 Minuten.

„Und was ist aus deiner Vision geworden?“, setzt er nach. Und wir alle wissen, was er meint.

„Well …“, will ich beginnen, halte aber kurz inne. Wie soll ich diese Fragen in der kurzen Zeit beantworten? Was ist nicht alles passiert in den letzten elf Jahren! 2008 war ich am Ende meines Studiums gewesen, unwissend, dass etwas Besonderes in meinem Leben geschehen, dass irgendetwas Größeres auf mich warten könnte. Was ist alles seitdem geworden? Ein Ring am Finger, ein Mann an meiner Seite, zwei Kinder am Rock. Und ein Modeunternehmen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Elf Jahre in 15 Minuten. Ich nehme einen tiefen Atemzug.

Dann mal los.

Kapitel 1 Was kann ich eigentlich richtig?

Es war schon immer so, dass ich vieles irgendwie gut konnte, aber in nichts hervorstach. Ich spielte klassisches Klavier, ohne Leidenschaft, aber nach Noten. War sportlich, aber nicht besonders engagiert. Notendurchschnitt in der Schule: in fast allen Fächern eine Zwei. Gut, aber nicht sehr gut.

Ich weiß, dass es vielen so geht: Man schafft es nicht, allein anhand der Schulbildung, geschweige denn anhand von Noten, seine wahren Begabungen zu erkennen. Für einen grundsätzlich leistungsorientierten Menschen wie mich war das frustrierend. Ich wollte einmal in irgendetwas richtig gut sein. Doch es steckte noch mehr dahinter: Ich suchte meine Identität, wollte mich zugehörig fühlen zu einer bestimmten Welt, bestimmten Themen, statt überall ein bisschen mitzumischen.

Für mich war zwar klar, ich bin nicht meine Noten. Aber wer war ich dann? Als ich in den späteren Teeniejahren zu überlegen anfing, wo es für mich beruflich hingehen könnte, kamen zwei Richtungen infrage. Zum einen hatte ich in einer AG meines Lieblingslehrers mein Interesse für Psychologie entdeckt. Damals gab es im Fernsehen viele Talkshows, in denen kleine Streitigkeiten geschlichtet wurden. Am Ende hatten sich immer alle lieb. Das fand ich, ein ausgemachter Harmoniemensch, gut und ich hätte in Zukunft gern meinen Beitrag zu gelingenden Beziehungen geleistet.

Zum anderen war da die Kunst. Zwar attestierte mir mein Zeugnis auch hier kein herausragendes, sondern nur ein „gutes“ Talent. Doch schon als Kind hatte ich stunden- und tagelang vor mich hin gemalt, und dieser kreativen Ader wollte ich weiter folgen. Trotz meiner gefühlten Durchschnittlichkeit war also klar: Kunst oder Psychologie, kreativ oder menschlich, bunt oder tief. Ich war froh, zwei Motivationen in mir zu spüren.

Für meine Eltern war es leider ein zweifaches Tabu. Ich komme aus einer Unternehmerfamilie. Finanzielle Unabhängigkeit, wurde mir beigebracht, war das wichtigste Ziel im Leben. Kunst oder Gestaltung als Beruf? Davon konnte man doch nicht leben. Es gab damals in unserem Umfeld noch keine Beispiele, die das Gegenteil belegten. Auch ich selbst hatte keine Vorstellung von der Vielfalt kreativer Berufe, also auch keine guten Argumente. Und wenn ich sagte, dass es mir eben einfach Freude machen würde, hielt mein Vater eisern dagegen mit Totschlagargumenten wie: „Irgendwann wirst du den Spaß daran verlieren“, „Behalte es gern als Hobby, aber als Beruf lernst du was G’scheits, Mädle!“ oder „Wer Psychologie studiert, wird doch irgendwann selbst zum Psycho“.

Als erwachsene Frau frage ich mich heute, warum ich mich von diesen „Argumenten“ habe einschüchtern lassen. Es könnte mich beruhigen, dass wohl in vielen Familien Ähnliches passiert. Je nach Prägungen und Berufstraditionen werden den Kindern eben manche Optionen näher gelegt als andere. Aber muss es so sein? Und wie weit darf das gehen? Müssen Kinderträume wirklich schon an den Regeln und Klischees scheitern, die in der Familie gelebt werden? Werden nicht draußen vor der Tür noch genügend Hindernisse und Entmutigungen warten?

Meine Erfahrung lehrt mich, dass viele junge Menschen nicht das Selbstbewusstsein haben, sich gegen Denkschablonen zu stellen. Es ärgert mich, wenn ich darüber nachdenke, wie viele zarte Wünsche oder nur Erwägungen wohl zerbrechen, nur weil sie nicht in jene Schablonen passen. Kinder und Jugendliche brauchen offene Gespräche, in denen man gemeinsam alle Möglichkeiten durchgeht. Ich hoffe, ich werde das bei meinen eigenen Töchtern schaffen, wenn sie ihre Ideen auf den Küchentisch packen. Ich möchte nicht Richterin sein, sondern Gesprächspartnerin.

Doch zurück zur Verhandlung: Was mich wirklich interessierte, war ein Tabu. Und so waren Tür und Tor dafür geöffnet, dass meine Eltern mir stattdessen ein Jurastudium anpreisen konnten.

Die Idee kam nicht von ungefähr. Als ich auf die Welt kam, studierte mein Vater selbst noch Jura. Er war gerade im letzten Semester, die junge Familie brauchte Geld und so etablierte er sich relativ schnell in unserer Heimatstadt als Anwalt. Als ich zehn Jahre alt war, eröffnete er eine eigene Kanzlei und beschäftigte bald mehrere Fachanwälte.

Die Kanzlei war nicht nur ein Erfolg, sie war ein echtes Familienprojekt. Mein Vater kam damals zu jedem Mittagessen nach Hause und zu fast jedem Mittagessen war seine Arbeit Gesprächsthema. Eine juristische Grundausbildung hatte ich dadurch quasi schon genossen. Und natürlich war mein Platz in der Kanzlei ebenfalls vorgezeichnet.

Aber ein Jurastudium hat so gar nichts mit Psychologie oder Kunst zu tun, hielt am Anfang noch eine Stimme in mir dagegen. Doch ich bekam Angst, was passieren würde, wenn ich, die ja keinen Plan hatte, einfach nur meinen Intuitionen statt dem Rat meiner Eltern folgen würde. Ich fühlte mich mitverantwortlich für das Familienprojekt. Außerdem wollte ich nicht undankbar sein. Dass ich versuchte, nicht meine, sondern die Ängste meiner Mutter zu besänftigen – nämlich die um meine Sicherheit –, und dass ich mich nicht mehr für meine Träume verantwortlich fühlte, sondern für die meines Vaters, war mir damals noch nicht bewusst.

Zwei Schuljahre lang debattierten wir die Vor- und Nachteile eines Jurastudiums hoch und runter, am Ende gewannen die Argumente meiner Eltern: „Die Juristen sitzen überall. Die ganze Welt steht dir offen. Und wenn du willst, kannst du später als Anwältin die Kanzlei übernehmen und gutes Geld verdienen.“

Vermeintlich große Freiheiten, finanzielle Sicherheit und eine klare Perspektive – sehr logisch, sehr deutsch, sehr schwäbisch. Was will man mehr als junge Frau? Und meine Eltern hatten ja mehr Erfahrung als ich. Sie mussten doch wissen, was gut für mich war, oder?

Kapitel 2 Nicht meine Gerechtigkeit

Eine der renommiertesten juristischen Fakultäten in Deutschland lag direkt vor unserer Haustür. Also zog ich in eine überteuerte, kleine Einzimmer-Studentenwohnung in Tübingen, nur zwanzig Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Yeah, yeah, yeah! Das Haus lag nur drei Minuten zu Fuß von der Fakultät. Und es war voll mit Juristen und BWL-Studenten. Hier also würde ich die nächsten vier Jahre meines Lebens verbringen – wenn es schnell ging. Und das wollte ich: nur schnell durch hier. Von gespannter Vorfreude auf die Vorlesungen keine Spur.

Einen kleinen Funken Hoffnung hatte ich allerdings mitgebracht: Ich hatte herausgefunden, dass man in Jura auch Vorlesungen in Mediation wählen konnte, also Streitschlichtung, das war ja quasi Psychologie. Schön wäre es gewesen, damit tatsächlich einen grünen Zweig zu haben, an dem ich mich durch einen der anstrengendsten Studiengänge, den deutsche Unis zu bieten haben, hätte hangeln können. Doch schon bald, als ich die erste Vorlesung in Mediation besucht hatte, musste ich mich von diesem Notanker verabschieden. Hier ging es nicht um persönliche Beziehungen wie damals in den omnipräsenten Talkshows, sondern um Rechtslagen. Auf juristischem Gebiet helfen Mediatoren, einen Mittelweg zwischen den Positionen zu finden und damit vor allem teure Urteile zu vermeiden, also Kosten zu sparen. Im besten Falle vermeiden Leute dadurch langwierige Schlammschlachten, aber es geht überhaupt nicht darum, dass sie sich als Menschen wieder annähern.

Das war nicht die Mediation, die ich mir naiverweise vorgestellt hatte. Schon sah ich mich die nächsten Jahrzehnte Interessen verwalten, statt den Menschen dahinter wirklich weiterzuhelfen, wenn ich auf diesem Dampfer weiterfuhr. Denn war es nicht das, was ich eigentlich wollte? Menschen zu helfen, auf eine unbürokratische, lebensnahe, vielleicht sogar coole Weise?

Stattdessen arbeitete ich mich, nun endgültig desillusioniert, von Semester zu Semester durch öde Gesetzeswüsten und Vorlesungen, die mich nicht interessierten, immer Ausschau haltend nach etwas, was mich doch noch für den Beruf als Juristin begeistern könnte – schließlich würde ja auch nach meinem Studium nichts anderes auf mich warten.

Aber nichts an Jura traf meinen Nerv. In den Vorlesungen nahmen wir die Dinge des täglichen Lebens auseinander, Kaufverträge, Schadensersatzansprüche, Grundstücksverhältnisse. Es ging um kleine Gerechtigkeiten, wenn man so will. Ich hörte mein Herz leise schlagen, aber nicht im Takt. Es schlug für eine größere Gerechtigkeit.

Was mich noch mehr störte als die „kleinen“ Rechtsgegenstände, war das Rechtsverständnis, das unseren täglichen Falldiskussionen zugrunde lag. Was gilt als gerecht? Ein gewichtiges Dogma hinter den Rechtswissenschaften ist der Rechtsfrieden, den es zwischen den Parteien herzustellen gilt. Es geht, knapp ausgedrückt, darum, dass eine Sache einfach zur Ruhe kommt und Ordnung hergestellt wird. Und wie schon bei der Mediation erschien mir der Weg zu diesem Rechtsfrieden oft nicht mehr als ein einziger Kuhhandel.

Innerhalb des Rechtssystems war das zwar wichtig, mir aber zu wenig. Mir ging es darum, was ich als richtig empfand, um die Maßstäbe, nach denen wir auf dieser Welt miteinander leben wollen, und ich wusste, es gibt genug, das nicht recht und richtig läuft.

Die Gerechtigkeit, an der mir etwas lag, hatte also nicht viel mit Jura zu tun. Das war eine harte Erkenntnis. Am Weltethos-Institut wäre ich besser aufgehoben gewesen … ach, ich hätte im Eine-Welt-Laden Bananen verkaufen können und wäre glücklicher gewesen. In den juristischen Berufen hingegen, so meine Erfahrung, ist es sogar hinderlich, ein zu starkes Gerechtigkeitsempfinden zu haben. Man darf – paradoxerweise – nicht ständig nach dem Recht oder gar Frieden in einem höheren und tieferen, gar emotionaleren Sinne fragen. Bist du zu sensibel für diese Fragen, gehst du ein als Anwältin oder Richterin. Das heißt nicht, dass es mehr Eisschränke unter Juristen bräuchte. Aber man muss locker bleiben, um am Gesetz entlang handeln zu können. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich je als Anwältin arbeiten sollte!

Ich war wohl etwa fünf Jahre alt, als mich meine Kindergärtnerin nach dem Beruf meiner Eltern fragte und ich antwortete: „Mein Papa geht in die Rechtsverwandlung und lügt, damit er Geld verdient.“ Noch Fragen?

Kinder nehmen eben kein Blatt vor den Mund. Und manchmal sollten wir ihnen dankbar dafür sein. Ich kenne meinen Vater zwar nur als rechtschaffenen Menschen, aber das war die Definition von seinem Beruf, die ich mir zusammenreimen konnte. Und so kindlich diese Überzeugung war, sie änderte sich auch in den nächsten zwei Jahrzehnten in ihren Grundzügen nicht. Mein Vater brachte ja tagtäglich Fälle mit nach Hause an den Küchentisch. In meinen Augen ging es dabei stets um Interessenvertretung, nicht darum, Wahrheit zu finden und wirkliche Gerechtigkeit herzustellen. Wirkliche Gerechtigkeit brauchte irgendwie mehr als Urteile, Vergleiche, Strafen und Ausgleichszahlungen.

Meine Haltung weichte zwar ein wenig auf durch Praktika und Begegnungen mit Richtern und anderen Juristen, die allesamt einen sehr guten Job machten. Doch selbst im Gerichtssaal herrschte nach meinen Beobachtungen nicht das Interesse, dass alles wahrheitsgemäß auf dem Tisch lag, sondern nur, wie jeder die meisten Vorteile – im Rahmen des Rechtsfriedens – für sich herausholen konnte. Nein, vor Gericht zu ziehen, war nichts, was mein Herz höherschlagen ließ. Bis heute nicht.

Und so suchte ich weiter verzweifelt meinen Platz auf einem Gebiet, auf dem ich mich umso fremder fühlte, je länger ich es studierte und Einblicke in die Praxis sammelte. Egal ob beim Richter, beim Anwalt oder in der Verwaltung, ich erkannte mich in keinem der Berufe wieder, fühlte mich nirgends richtig, konnte mir nichts auf Dauer vorstellen. Ich wollte, aber es passte einfach nicht.

Ich trieb dahin. In einem Strom mit Hunderten anderen Jurastudenten. Und ich beneidete sie alle. Sie strahlten aus, dass sie wussten, was sie machen wollten. Und genau das brauchst du, um dieses Studium durchzuhalten: ein Ziel. Du musst wissen, warum du dir Jahre des Büffelns, Paukens und Ellbogenausfahrens antust. Ich war gefühlt die Einzige, die es nicht wusste, und merkte, dass mich das zu einem Automaten machte, der völlig emotionslos seinen Befehl ausführte: Jurastudium, Examen, Gehorsam.

Wie viele Diskussionen hatte ich mit meinen Eltern! Wie oft klagte ich, dass ich mich in den klassischen Juristenberufen nicht sah. Und wie oft ließ ich mich beschwichtigen. „Das Studium ist eben hart. Mach erst einmal den Schein. Danach kannst du weiterschauen. Weißt du, die Juristen sitzen doch überall.“

Wenn sie gewusst hätten, wo ihre Juristin in zehn Jahren sitzen würde und dass ich „überall“ wörtlicher nehmen würde, als ihnen lieb war …

Leider waren meine Leistungen nicht so schlecht, dass sie mein Deplatziertsein glaubhaft abgebildet hätten. Es war verrückt, mit wie wenig Aufwand ich Ergebnisse erzielte, für die andere Kommilitonen geradezu hohldrehten. Das war keine gute Argumentationsbasis, weder gegenüber meinen Eltern noch für mich selbst. Ich war ja irgendwie gut in Jura. War es also nicht doch das Richtige? Lagen hier nicht doch auch meine „Talente“? Könnte ich meine „Scheißemotionen“ nur abstellen, begann ich zu denken, vielleicht könnte aus mir die begnadetste und erfolgreichste Juristin werden.

Drei Jahre lange quälte ich mich so durchs Studium. Nicht einen Tag überlegte ich nicht abzubrechen. Denn wenn du nichts keimen spürst, stellst du auch den Boden infrage, auf dem du tagtäglich ackerst. Doch immer, wenn ich dabei war, Kraft für eine kleine Rebellion zu sammeln, zog sich in mir etwas zusammen und sagte: „Ich darf nicht, denn sonst habe ich eine Lücke im Lebenslauf.“

Ein Freund meiner Eltern, der bei einem großen Konzern in der Personalabteilung arbeitete, hatte ihnen noch zu meiner Schulzeit eingeflüstert, dass ein lückenloser Lebenslauf alles sei auf dem Arbeitsmarkt und – warum sagen wir es nicht gleich? – im Leben. Wer einmal irgendetwas abgebrochen hatte, kam für nichts mehr infrage, ließen sich meine Eltern überzeugen. Und bei den ganz Großen musste man es ja wissen, oder?

„Wenn du dich für einen Weg entscheidest, musst du ihn dann auch bis zum Ende gehen“, hatten sie mir diese beunruhigenden Einsichten daraufhin mehrfach zu Linsen und Spätzle aufgetischt. Ich bekam Angst. Würde aus mir wirklich ein Sozialfall werden, wenn ich einmal etwas abbrechen müsste, weil es vielleicht nicht ganz das Richtige war?

Lebenslauf – der Lauf des Lebens, welche Poesie, was für ein Flow! Wie schön wäre es, wir würden wirklich mit dieser Idee vom Leben aufwachsen, dass es im Fluss ist und sich tausend Wege suchen kann, ähnlich einem großen Flussdelta, dessen viele Wasserarme am Ende doch in den einen, selben Ozean münden. Wie viel Freiheit und Lebendigkeit stecken eigentlich in diesem Wort und was für ein bürokratischer, drückender Begriff wird doch für so viele daraus. Ich denke, viele in meiner Generation können – und werden auf ihre alten Tage noch – ein Lied davon singen: ein Requiem auf das wahre Leben, an dem man an so vielen Stellen vorübergeschwommen ist, weil der Lebenslauf wichtiger schien.

Kapitel 3 Wenn du dein Leben so zum Kotzen findest …

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was auch immer ich auf dem Herzen hatte, das Studium war dafür kein guter Nährboden. Aber mein Herz gab mir auch keine andere Richtung vor.

Dazu kam eine weitere Baustelle: Seit drei Jahren war ich mit einem wirklich netten, tollen Kerl zusammen. Mein Freund hatte ein anderes Gymnasium in meiner Stadt besucht und wir waren uns auf einer Abiparty begegnet. Er studierte Wirtschaftsrecht, war ein super Typ, gutaussehend, anständig, sich seiner Ziele bewusst; meine Freundinnen fanden, er sei ein Traummann. Eigentlich ein Volltreffer.

Doch schon seit geraumer Zeit war mir klar: Das ist nicht für immer, das wird nicht der Mann für mein Leben. Ich war nicht glücklich und eigentlich wusste ich, dass ich mich von ihm trennen musste. Doch ich zögerte. Hatte ich das Recht, ihn so zu verletzen?

Ich fühlte mich in jeder Hinsicht neben der Spur. Als lebte ich an dem Leben, das ich eigentlich leben sollte, komplett vorbei. Nur, wie kam ich von meinem Gleis runter? Was durfte ich überhaupt vom Leben erwarten? Und durfte ich meine eigenen Erwartungen an ein fröhlicheres Leben über die Erwartungen anderer stellen? Auf Basis einer Gefühlslage? Ich hätte große Entscheidungen treffen und die Erwartungen von Leuten enttäuschen müssen, die mir wichtig waren. Ich hätte mich gegen meine Eltern stellen und meinem Freund das Herz brechen müssen. Nein, das ging für mich nicht, ich wollte doch niemanden enttäuschen.

Und noch etwas anderes wollte ich nicht: aufgeben. „Was man anfängt, zieht man auch durch. Sei ein tapferes Mädchen, sei ein tapferes Mädchen. Werde bloß nicht zur Abbrecherin …“, redete ich mir gut zu. Gleichzeitig dachte ich, mein Leben sei eigentlich vorbei, mit Anfang zwanzig! Sowohl privat als auch beruflich sah ich es ja schon komplett vor mir: das Jurastudium, das Referendariat, Vaters Kanzlei, die Übernahme. Mit dreißig würde ich einen Mann, zwei Kinder, ein Reihenhäuschen und ein teures Auto haben. Erfolgreich und fertig. Und auf nichts davon hatte ich Lust. Es gab kein Rechts, kein Links, kein Aus- oder Abweichen. Der einzige Weg ging nach vorn und das so schnell wie möglich. Ich war mehr als frustriert und noch zielsicherer als auf meine unerwünschte Karriere bewegte ich mich auf eine Depression zu.

Eineinhalb Jahre vor meinem Abschlussexamen wurde es noch schlimmer. Die innere Unzufriedenheit breitete sich auf meinen Körper aus, jedoch ohne dass ich es wahrhaben wollte.

Zuerst bekam ich Pfeiffer’sches Drüsenfieber, eine Viruserkrankung, die in den meisten Fällen harmlos verläuft – wenn das Immunsystem in Ordnung ist. Bei mir schlug sie aber mit voller Wucht zu. Ein Jahr lang holte mich immer wieder hohes Fieber ein.

Als mich die Krankheit endlich langsam verließ, bekam ich plötzlich enorme Magenschmerzen. Erst dachte ich, es wäre ein letztes Aufbäumen des Virus. Doch bald waren die Krämpfe so stark, dass ich mitten in der Nacht ins Krankenhaus musste. Ließen die Krämpfe nach, überfiel mich eine ungekannte Übelkeit. Mir war dauerhaft schlecht, vor allem wenn ich versuchte zu essen. Ich ließ es also bleiben und nahm dadurch immer mehr ab, bis ich schließlich weniger als fünfzig Kilo wog.

Gemeinsam mit meiner Mutter rannte ich von Arzt zu Arzt, aber keiner konnte das Krankheitsbild erklären. Mit dem Drüsenfieber hing es nicht zusammen und auch sonst schien rein körperlich alles in Ordnung zu sein. Auch die dritte Magenspiegelung brachte keine Erkenntnis. Also bekam ich ein Medikament nach dem anderen verschrieben, alle ohne dauerhaften Erfolg. Ich litt fürchterlich, lag Stunden, Tage, manchmal ganze Wochen handlungsunfähig und schmerzverkrümmt im Bett.

Der einzige Lichtblick war eine Akupunkturbehandlung. Mit ihrer Hilfe wurde ich die Schmerzen immer für ein paar Tage los. Diese Pausen nutzte ich, um mich mit etwas Knäckebrot zu „stärken“ und zu den Examensvorbereitungskursen zu quälen. Über Monate ging das so, ohne dass ich wusste, wo es hinführen sollte.

Mitten in dieser Zeit traf ich mich mit meiner Freundin Ilona. Wir kannten uns schon seit der Schulzeit, aus dem Kunst-Leistungskurs. Seitdem trafen wir uns sporadisch, doch der Kontakt wurde seit Kurzem intensiver und ich vertraute ihr mehr und mehr an, wo ich gerade stand im Leben.

Wir waren bei meinen Eltern zu Hause, waren dabei, uns im Flur zu verabschieden. Ilona hatte schon die Hand an der Türklinke, aber wie so oft quatschten wir uns eine weitere halbe Stunde fest. Oder sagen wir: Ich quatschte Ilona fest. Denn da war so viel, was ich rauslassen musste: Meine Gesundheit. Mein Studium. Ja, aber meine Eltern. Kann ich meinen Freund verlassen? Wie komme ich aus alldem raus? Aber wenn ich … Ich kotzte mich wirklich aus, warf ihr einfach den ganzen Berg aufgestauter Gefühle vor die Füße.

Ilona schaute mich verständnisvoll an. Ich schätzte ihre große Empathie, aber ich wusste auch, sie würde mir keine reine Streichelkur verabreichen. Ich stand noch auf der Treppe, die wir gerade aus meinem Jugendzimmer heruntergekommen waren, eine Stufe über ihr. Ilona war außerdem etwas kleiner als ich, doch als Powerfrau überragte sie mich, eine echte Rakete. Schon sah ich in ihren Augen, wie mein Leidensdruck ihren Kampfgeist geweckt hatte. Sie sah zu mir hoch und sagte: „Wenn ich mein Leben so zum Kotzen fände wie du, dann wäre mir auch schlecht!“

Dieser Satz saß. Er saß so, dass ich ihn nie wieder vergessen würde. Er saß tiefer als alle Stimmen, die in mir sagten: „Es wird schon irgendwie gehen, es wird von allein besser.“ Nein, ich wusste, Ilona hatte recht.

Heute liegt dieser Zusammenhang für mich klar auf der Hand. Doch es sind oft erst die Stimmen echter Freunde, die uns sanft – oder weniger sanft – zur Vernunft rufen. Ich musste damals mehrmals schlucken, aber wie dankbar war ich im Nachhinein dafür, dass Ilona mir die Diagnose gab, die ich mich selbst bis dahin nicht getraut hatte auszusprechen.

Es war nicht einfach mein Körper, der verrücktspielte. Mein Herz und Kopf hatten sich den Bauch zum Verbündeten gemacht. Und jetzt schrien sie mich gemeinsam jeden Tag an: „Ändere was! Wir finden unser Leben zum Kotzen … Du findest dein Leben zum Kotzen!“

Stellte sich nur noch die Frage: Was sollte ich ändern? Ich lebte ja in der Überzeugung, mein Leben sei für immer auf dem falschen Gleis gelandet. Ich hatte in den letzten Jahren gefühlt nur falsche Entscheidungen getroffen und wusste noch immer nicht, wie ich den Zug stoppen konnte, welche Weichen ich umstellen sollte – und vor allem in welche Richtung. In mir regierte die Angst, etwas Falsches zu tun.

Und so kam Ilona ein zweites Mal ins Spiel. Sie hatte übers Internet einen süßen Typen kennengelernt und sich zu einem Date verabredet. Ich freute mich für sie, aber wo sollte das Date stattfinden? In einer Kirche in Stuttgart. Und wer sollte sie als Anstandswauwau begleiten? Ich.

Mir war natürlich schlecht wie immer. Schon seit einigen Wochen war ich nirgends mehr hingegangen, doch ich wollte meine Freundin nicht hängen lassen. Also zogen wir los, in eine junge Gemeinde im Stuttgarter Norden, die heutige „Kesselkirche“, nicht ahnend, dass dieses Date nicht nur für Ilona, sondern auch für mich eine ganze Kausalkette in Gang setzen würde.

Die erste Überraschung war der Gottesdienst, in dem ich eine positive und junge Atmosphäre erlebte, die ich aus anderen Gemeinden und Gruppen so nicht kannte. Ich hatte direkt Lust wiederzukommen, ganz ohne Pflichtbewusstsein. Noch mehr wurde meine Überwindung aber belohnt, als ich mich zum Ende der Veranstaltung umschaute und plötzlich ein bekanntes Gesicht entdeckte: wacher Blick, breites Grinsen, blonde Chaosfrisur, Simon.

Simon und ich hatten uns über gemeinsame Freunde kennengelernt, als ich siebzehn war. In der Abizeit hatte sich unsere Freundschaft intensiviert. Wir lernten zusammen für die Prüfungen, besuchten Partys und fuhren zum Snowboarden, wurden beste Kumpels. Auch hatte es damals schon hart geknistert zwischen uns, aber es war keine Zeit für mehr gewesen. Denn anders als ich, war Simon nach der Schule seinen eigenen Weg gegangen, für ein halbes Jahr nach Australien gereist – und ich hatte mir in dieser Zeit meinen Freund angelacht.

Trotzdem sahen wir uns auch während meiner Studienzeit alle paar Wochen. Wir hörten gemeinsam Coldplay, ich erzählte ihm von meinen Beziehungsunsicherheiten und was mich an der Flucht hinderte, er mir davon, wie sein Beziehungsleben eigentlich nur aus Eskapaden bestand.

Simon war genauso überrascht wie ich, dass wir uns hier wiedertrafen, auch er war das erste Mal in dieser Gemeinde. Wegen meiner Krankheit hatten wir uns jetzt schon einige Monate nicht mehr gesehen und es tat gut, den Faden mit ihm wieder aufzunehmen.

Von da an kam ich öfter wieder, lernte tolle Leute kennen und merkte, dass sich hier viele sammelten, die ihre Begabungen kannten und sie wirklich lebten. Die Kirche war ein regelrechter Hotspot für kreative Köpfe, und es war inspirierend zu sehen, was alles entstehen konnte, wenn Leute anfingen, ihr kreatives Potenzial auszuleben.

Bald stellte mich Simon einem weiteren Freund vor. Julian kam gerade frisch von einem sechsmonatigen Aufenthalt in Australien zurück. Er erzählte mir, dass er sich der Organisation YWAM (Jugend mit einer Mission) angeschlossen hatte, die auf der ganzen Welt zu sozialen Brennpunkten aufbrach und sich dort zusammen mit den Programmteilnehmern engagierte. Das sei für ihn der perfekte Rahmen gewesen, über sich und sein Leben nachzudenken. Zusätzlich hatte er Zeit, seine Kreativität auszuleben, an Songs zu schreiben … kurz: es war die beste Zeit seines Lebens. Die Art, wie er davon erzählte, und das Leuchten in seinen Augen steckten mich sofort an. Julian war on fire. Und, berichtete er weiter, er sei zurückgekehrt mit dem Mut, endlich seinem Wunsch zu folgen und eine Karriere als Berufsmusiker zu wagen – was er seitdem auch tat.

Diese Begegnung ergab zusammen mit meiner Diagnose und Ilonas Satz einen perfekten Dreiklang. Mehr Motivation brauchte ich nicht. Dieses Feuer für das Leben wollte ich auch spüren. Und mir wurde klar, dass es Zeit war, das selbst anzupacken. Sofort.