Der Tag, als meine Frau einen Mann fand - Sibylle Berg - E-Book + Hörbuch

Der Tag, als meine Frau einen Mann fand E-Book und Hörbuch

Sibylle Berg

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Beschreibung

Chloe und Rasmus sind seit fast zwanzig Jahren verheiratet, und ja, alles bestens, man hat sich entwickelt, man ist sich vertraut. Aber dass dieses Leben nun einfach so weitergehen soll, ist auch nicht auszuhalten. Rasmus will es noch einmal wissen: Eine neue Welt erobern, weit weg von zu Hause; zeigen, was er kann. Chloe ist immer bei ihm. Bis sie Benny trifft und sich noch einmal verliebt, wild und leidenschaftlich: Nicht an morgen denken, Sex die ganze Nacht, noch einmal jung sein, verdammt nochmal. Chloe erlebt den besten Sex ihres Lebens, und Rasmus die größte Katastrophe. Sibylle Berg stellt die Frage, die alle Paare irgendwann einmal beschäftigt: Ist Sex lebensnotwendig? Oder doch eher die Liebe?

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Seitenzahl: 255

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Zeit:6 Std. 9 min

Sprecher:August Zirner

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Hanser E-Book

Sibylle Berg

Der Tag, als meine Frau

einen Mann fand

Roman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24845-8

© Carl Hanser Verlag München 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Gaby Michel, Hamburg

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Der Tag, als meine Frau einen Mann fand

Vor einem Jahr … Rasmus wird gestört

Ich komme.

Und das Telefon klingelt.

So viel zum Thema: Warum schlägt der Blitz in Bäume, unter die man sich verkrochen hat, warum fallen beide Triebwerke des Flugzeugs aus, in dem ich sitze. Noch ein Beispiel habe ich nicht, der Dreiklang wird ohnehin überschätzt. Ich verschmiere die Tastatur des Computers beim Schließen der Seite: Schulmädchen schauen dich an. Als könnte mich einer durchs Telefon beobachten. Hoffnungslos. Digital Immigrant. Ich stolpere über meine Hose, die an meinen Füßen hängt. Schlage mit dem Gesäß an einen Freischwinger, greife, um einen Sturz zu verhindern, mit verklebter Hand auf den Beistelltisch, fange mich, nehme das Mobilgerät, hoppla, die Tastatur. Keuche, versuche mich zu sammeln. Schwer atmend, in Erwartung einer großen, wichtigen Nachricht, denn wer ruft, außer Diktatoren und dem Nobelpreiskomitee, heute noch an. Es ist Chloe, die fragt, ob ich Lust habe auf chinesisches Essen.

Rasmus entfernt Körperflüssigkeit aus seiner klösterlich kargen Wohnung

Natürlich habe ich keine Lust auf chinesisches Essen, verdammt, ist dieses Sperma schwer wegzuputzen, mir brennt der Magen immer davon, ist das wirklich so schwierig, sich nach fast zwanzig Jahren zu merken, dass mein verdammter Magen nach dem verdammten Chinafraß brennt. Ich habe den Pullover an, den meine Mutter mir gehäkelt hat. Sie hat Rentiere aufgestickt, die wie Waschbären aussehen. Ich habe das Gefühl, nur von Frauen umgeben zu sein, die aus verrückten Gründen an meinem Untergang interessiert sind.

Nur die Teenager von der Youpornsite verstehen mich.

Mein Gesicht, das sich in einem Chromteil der Musikanlage spiegelt, auch so eine Idee, dass ich mit andächtig gefaltetem Mund vor dieser überdesignten Anlage hocken und diversen Oratorien lauschen wollte, ist bleich. Weiß in einer Art, als wäre ich vor kurzem zum ersten Mal ins Freie gelassen worden, nachdem ich vierzig Jahre in einer Versuchsanlage zugebracht habe. Ich stehe mit heruntergerutschter Hose vor dem Bücherregal, denke an Sodbrennen und an Heiligabend, der heute mit chinesischem Essen gebührend gefeiert wird, in dieser zufriedenen Trostlosigkeit mittelalter, kinderloser Paare, ziehe ein Buch aus dem Fach, einen Gedichtband, die Idee, ein Bücherregal im Wohnzimmer stehen zu haben, ging Hand in Hand mit dem Oratoriengelausche, doch dann lese ich mich fest, sozusagen, was, um so richtig überbordend lustig zu sein, nicht an meinen klebrigen Händen liegt.

Schritt ich Tiger auf der Fährte

nach dir, junges, blondes Reh,

aber du, die Nachtbescherte,

flohst in Birke, Gras und See.

Es ist mir nicht oft vergönnt, in einem Kunstwerk eine für mich gültige Aussage zu finden. Von hundert Theaterstücken, die nicht ich inszeniert habe, erregt mich eines, von tausend Ausstellungen zeitgenössischer Kunst bleibt mir meist nicht einmal ein einziges Bild von Wichtigkeit, und Bücher. Meine Güte. Ungern möchte ich zu den Alten gehören, die sagen, musikalisch ist die Sache für mich mit Beethoven gelaufen, ich will mich nie dabei hören, leise zu raunen: Ja, der Mann, der konnte noch schreiben. Aber. Wann immer ich Leseproben junger Autoren ansehe, wird mir ganz elend. Ich liebe Kunst. Der Zustand, wenn einen künstlerische Gedanken anderer erreichen, gleicht dem Verliebtsein. Eine Art Komplizenschaft mit einem noch lebenden oder toten Künstler festzustellen, ist berauschend, bewusstseinserweiternd, und es lässt einen die Endlichkeit kurz vergessen. Es ist mir so selten passiert – dieses Gefühl, sich durch die Gedanken eines Anderen in der Welt zu verorten. Gleichsam, murmle ich.

Bis das Wort, das nicht erlöste,

starb, von vieler Nacht schon schwer,

Das ist unglaublich gut. Tropfen für Tropfen bilden die Worte ein Meer aus Verzweiflung, das den Leser erfasst, in sich zieht und fortschwemmt.

Ich habe die deutschen Dichter immer geliebt, aber bislang eher die Klassiker des Kanons. Das Werk Huchels1 ist mir komplett entgangen. Diese verzweifelte Suche nach dem Ausdruck, etwas Unaussprechliches sichtbar machen zu können.

bis dein Leib, der sanft entblößte,

vor mir lag wie Mond im Meer.

Die Einsamkeit des Individuums in Anbetracht von etwas Unaussprechlichem – in diesem Werk stößt ein Wort die anderen an, sie kippen, türmen sich auf zu einem Turm babylonischer Uneinnehmbarkeit. Da ist die Antwort, nach der ich nicht gefragt habe. Versteckt der Hinweis eines toten Mannes an einen noch lebenden. Verborgen unter einer geschliffenen Sprachmetrik, aus dem absoluten Verstand um Versmaß und Rhythmus.

Wie unter Drogen richte ich mich, ziehe die Hose hoch, werfe Lumis Pullover in den Müll, wasche mein Gesicht und bin in einem außerordentlichen Zustand. Als ob ein Staudamm bräche, rieselt das Wasser erst langsam, bricht dann an den Seiten durch, steigt in mir – flutet mich. Ich weiß nicht, woher all diese Wassermetaphern kommen. Doch …

Ich fühlte etwas, ähm, Großes. Den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Draußen hat es begonnen zu schneien.

Ein Jahr später … Chloe liegt schlaflos

Ich wache gegen drei Uhr auf, um ein wenig Ruhe vor Rasmus zu haben und um an etwas anderes zu denken als an das Theater. Aber es fällt mir nichts ein. Rasmus’ Probleme haben jeden Millimeter unserer Hirne besetzt. Also denke ich jeden Morgen zwischen drei und vier in Ermanglung eigener Probleme über Rasmus’ Scheitern nach, erforsche die Straße seines Erfolgs, untersuche sie auf die Abzweigung hin, in die er irgendwann falsch abbog und die in einer Sackgasse endete. Und uns hierhergeführt hat. In dieses Kaff am Ende der Zivilisation, in dem ich morgens nur an die Wand schauen kann in Ermangelung attraktiver Alternativen. Rasmus schnarcht leise, ich decke ihn zu, streiche ihm über die Wange. Mein armer gedemütigter Mann. Er tut mir so leid, in seinem Misserfolg, in seiner Unfähigkeit, einen Beruf als das zu sehen, was er ist: ein Zeitvertreib im Warten auf den Tod.

Von weit singt aus einem Radio France Gall. Die alten französischen Chansons erzeugen immer eine Sehnsucht nach Schwarz-Weiß, nach leeren Straßen im Morgengrauen, auf denen man an einen Menschen gepresst läuft, von dem man sich verabschiedet hat. Die Welt, so scheint es in diesen Chansons, besteht nur aus Liebe und ihrem Ende. Oder ihrer Unmöglichkeit. Liebe ist möglich, hatte ich in den Jahren mit Rasmus immer gedacht, denke ich noch, muss ich anfügen. Liebe ist möglich, wenn man sie von Raserei und Leiden trennt. Ich setze meine Lesebrille auf beim Denken dieses Satzes. Innerlich. Die Sonne ist noch nicht zu ahnen, und ich wünsche mir etwas, das ich nicht schon hundertmal erlebt habe.

Chloe denkt über Rasmus nach

Ich habe mich vor die Tür des Hotelzimmers gesetzt, die stickige Luft im Zimmer fliehend. Das Chanson ist verstummt. Irgendwo paaren sich Katzen. Und nun denke ich doch wieder über uns nach, das heißt, über Rasmus. Über Rasmus nachdenken heißt versuchen, den Grund seines Misserfolges zu finden. Immer wieder. Die wenigen Male, die ich mir, bevor ich Rasmus traf, Theateraufführungen angesehen hatte, waren Elend, in Stunden so hoffnungsloser Langeweile, wie sie mir an keinem anderen Ort begegnet war. Aber ich empfand einen großen, unklaren Respekt gegenüber der Kultur, mit Hall ausgesprochen. Ich war mit der Beschaffung von Geld beschäftigt, hörte Musik, sah Wände an und fühlte keine Veränderung in mir, seit ich sechzehn war. Als ich mit Mitte zwanzig Rasmus in einem Club traf, sprach er von Dialektik. Ich hatte das Wort noch nie benutzt. Natürlich war ich verzaubert. Als wir uns kennenlernten, an dieser Bar, damals vor fast zwanzig Jahren, hatte Rasmus gerade an einem nicht vollkommen unbedeutenden Stadttheater, wie er sagte, einen Brecht inszeniert, der ihn zum Star machte. Regisseur des Jahres, Titelseite auf den Theatermagazinen, Angebote von allen A-Bühnen. Rasmus inszenierte ungefähr fünf Stücke pro Jahr. Ich saß im Dunkel bei fast jeder seiner Proben und hatte in maßloser Selbstüberschätzung Angst, dass sich mir alle Blicke zuwenden wollten und man mich nach dem Grund meiner Anwesenheit fragen könnte. Heute weiß ich, dass mich keiner gesehen hat. Oder wenn, dass sie mich mit einer Kaffeemaschine verwechselten. Es war mir komplett unverständlich, was Rasmus auf den Proben tat. Es hatte viel mit Gebrüll zu tun. Rasmus schrie. Die Schauspieler schrien. Im Stück waren die Frauen oft nackt. Es wurde zu Rockmusik gesungen, und dann waren auch die Männer nackt. Nacktheit war das Ding. Dann schrien alle nackt.

Vom Beginn fehlte in der Verliebtheit zu Rasmus jenes Moment, da man sich tödlich im anderen auflösen will, rasend vor Eifersucht auf seine Bettwäsche ist. Mit Rasmus legte ich Gewicht zu, meine Nervosität wich einer Ruhe, die ich von mir nicht kannte. Unsere Liebe hatte viel mit Diskussionen zu tun, mit Musik, Nikotin und intellektueller Grenzenlosigkeit. Wir zwei würden es nach oben bringen. Also Rasmus würde es nach oben schaffen, und ich würde an ihm kleben. Das dachte ich aber damals nicht, denn ich sah uns als Einheit. Ich war mir, wie wir alle, der Mittelpunkt der Welt und kam nicht auf die Idee, dass ich es im Leben zu nichts weiter bringen wollte, als durch meinen Mann zu leben.

Rasmus hatte immer geglaubt, dass es einen Vertrag mit einer höheren Macht gäbe, die seine Karriere lenken würde: erst die mittelgroßen Theater in mittelgroßen Städten, dann der Olymp. Der Broadway, die Carnegie Hall, ich hab nie so genau zugehört, aber es stand außer Frage, dass Rasmus bald zu jenen Starregisseuren gehören würde, die auf zehn Jahre ausgebucht waren, und dann folgte zwangsläufig die Intendanz eines renommierten Hauses, der Steuerbetrug, die Villa, der Tod an Leberzirrhose mit achtzig. Aber aus irgendwelchen Gründen war das alles nicht passiert.

Nach zehn Jahren an der Seite eines bedeutenden Regisseurs wurde ich die Frau eines Verkannten.

Vielleicht fehlten Rasmus ein paar Umdrehungen Genialität, oder er hätte intensiver Netzwerke knüpfen, mit Intendanten zum Golf gehen oder ihre Unterschlagungen verschleiern, irgendwas Gemeinsames aufbauen sollen.

Ich kenne jedes Detail von Rasmus’ Abstieg und kann die einzelnen Missverständnisse und Fehler aufzeigen, die dazu führten, dass er irgendwann ein Jahr lang keinen Job mehr bekam. Aber wozu wäre das gut?

Mit der finanziellen Hilfe von Rasmus’ Mutter – ich weigere mich, sie Lumi zu nennen, der Name klingt zu sehr nach reizendem Leuchtkäfer – und meinem albernen Einkommen überstanden wir seine Arbeitslosigkeit, in deren Verlauf Rasmus von depressiven Zuständen, die er im Bett verbrachte, zu manischen wechselte, in denen er tagelang Skizzen für kommende WERKE notierte und an die Wände pinnte wie ein Serienmörder. Er konzipierte in jener kritischen Zeit ein Holocauststück mit Puppen, er plante Heiner Müller mit Nackten und Schäferhunden. Dazu hörte er laut Wagner. Psychogramme und Wagner. Ein Deutscher wäre abtransportiert worden. Sagte Rasmus, der sich, seinen deutschen Vater vergessend, als Finne bezeichnete. Jude müsste man sein, sagte Rasmus. Jude oder schwul, dann käme man an, dann hätte man diesen Bonus, den wir Finnen nicht haben. Sagte Rasmus.

Ich hielt ihn bei Laune, ich hielt ihn am Leben. Aber ich konnte Rasmus nicht helfen. Irgendwann, nach zu langer Zeit, als dass sein Selbstbewusstsein keinen bleibenden Schaden genommen hätte, bekam er endlich wieder einen Auftrag. Von einem kleinen Dreispartenhaus, das er vor seiner Krise nie angenommen hätte. Er sprach begeistert von den Möglichkeiten, die man in der Provinz hatte, wo das Publikum noch nicht übersättigt war.

Das lag nun vier Jahre zurück, in denen sich Rasmus im unteren Mittelfeld der Regisseure eingerichtet hatte. Kindertheaterstücke, kleine Opernaufträge oder auch Tourneetheater, mitunter Boulevardkomödien. Rasmus hatte wieder zu tun, das war, worauf es ankam. Vor einem Jahr begann er Gedichte zu lesen und kam auf die Idee, in der Dritten Welt Bedeutendes leisten zu können. Rasmus leuchtete wieder. Er brannte. Und natürlich ging ich mit ihm. Scheißidee, sage ich heute.

Rasmus erwacht nachdenklich

Das Hotelzimmer, das mir jetzt schäbig vorkommt, hat mich in der ersten Woche begeistert. Seine Einfachheit, das hotelzimmergewordene strahlende Kinderauge der sozial Schwachen. Sozusagen.

Es wird alles hier enden. In diesem kleinen Zimmer mit Keramikplatten am Boden, dieses off-white mit grauem Schlierendesign, das sich ein Teufel erdacht hat, um klarzumachen: Hier, Mann, bist du in der Dritten Welt, die politisch korrekt heute eher Länder mit suboptimaler Einkommensstruktur genannt wird, und du hast es nicht ins Hilton geschafft.

Glasjalousien, die von Touristinnen vermutlich mit spitzen Rufen bedacht werden, die Authentizität bejubelnd. Durch die Ritzen kriechen Feuchtigkeit und Kakerlaken, der Fensterrahmen aus trostlosem, messingfarbenem Blech, ein Ventilator, seine Verankerung in der Decke prüfend, ein Bett, auf dem alles außer Liebe stattgefunden hat. Willkommen am Ende der Nahrungskette.

In diesen Stunden am Morgen, zwischen drei und vier, wenn ich nicht mehr schlafen kann und leise bin, damit Chloe nicht erwacht, habe ich das Gefühl, der Welt zu entgleiten. Meine Angst ist körperlich, die zusammengekrampften Zehen werde ich den gesamten Tag nicht öffnen können. Als Ausdruck meiner Schwäche werden sie jedem aus praktischen Sandalen zuraunen: Da kommt er, ein Verlierer.

Von irgendwoher höre ich ein altes französisches Chanson. Un homme et une femme, gesungen von Francis Lai, 1966. Furchtbarer Kitsch. Es sind vermutlich jetzt schon dreißig Grad. Wie um gegen die Verzagtheit anzukämpfen, steht mein Schwanz. Jeden Morgen wehrt sich mein Drang zur Vermehrung gegen die nachlassende Kraft des Körpers. Es macht mich wütend, dass meine Geschlechtsorgane als einzige die Lage noch nicht begriffen haben. Falsch, Chloe hat auch nichts begriffen.

In manchen Momenten, meist wenn sie schläft, mit entspannten Gesichtszügen und so weiter, verachte ich sie fast dafür, dass sie mit mir zusammen ist. Ihr bienenfleißigen, grauen Frauen im Hintergrund, euch seien Denkmäler errichtet. Ihr duldsamen, selbstgerechten Wesen, die Leute wie wir immer verlassen, wenn auch nur zeitweise, um mit Studentinnen, die Claire heißen, durchzubrennen. Claire, 22, lange offene Haare, eine abgeschnittene Jeans, die ihre Schamlippen ein wenig freilegt, brauner Bauch, ein T-Shirt, das von ihren Brüsten wie ein Zelt gespannt wird, mein Eindringen in die trockene Chloe bietet genau den Widerstand, den ich mag. Meine Zehen sind immer noch verkrampft.

Chloe stellt sich tot

Rasmus’ Angewohnheit, mich morgens zu küssen, könnte unter anderen Umständen rührend sein.

Ein Umstand wäre meine Abwesenheit.

Mein Widerwille ist kein Zeichen mangelnder Liebe, doch wünsche ich mir in der Stunde des Übergangs von Traum zu Tag nichts Organisches auf meinem Mund.

Ich will einfach morgens meine Ruhe, besonders wenn ich in hässlichen Hotelzimmern um drei erwache und gegen sieben wieder eingeschlafen bin. Ich bin morgens nicht sexuell, doch seit Jahren küsst mich Rasmus, ohne zu bemerken, dass ich den Kopf abwende, die Augen verdrehe oder meine Zunge aus dem Mund hänge, als sei ich gerade verendet. Rasmus küsst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Zeichen seiner Zuneigung ist. Er folgt eher dem Impuls, der Hunde immer an die gleichen Bäume pinkeln lässt. Wenn er mich anfasst, ist es nicht seine Person, die mich stört, das müssen Sie mir glauben, Frau Doktorin, die Sie meine Frigidität auf einem gynäkologischen Stuhl in Anwesenheit von sechshundert Studierenden untersuchen. Morgens, nach erotischen Träumen, in denen es immer nur um Berührungen von Fremden geht, die mich nervös machen, weil ich im Traum dieses totale Absacken der Körpertemperatur spüre, diesen Schock, den etwas Außerordentliches herstellt, ein Luftloch im Flugzeug ist zum Beispiel so ein Ereignis – also nach solchen Gefühlen will ich keine Realität. Ich möchte den Traum lebendig erhalten, ich möchte langsam sein, Kaffee trinken. Ich möchte Rasmus auf die Wange küssen, mich an ihn drücken, mich freuen, dass er da ist, und ich möchte nicht von seinem Genital belästigt werden, das nichts mit dem zu tun hat, was mich mit ihm verbindet.

Rasmus beginnt meinen Nacken zu massieren. Das bedeutet: Er ist in sexueller Stimmung und wird, meine ausbleibende körperliche Reaktion ignorierend, sein Glied, dieses Körperteil, das Unruhe in unsere Liebe bringt, in mich stecken, ein kleiner Schmerz und der überwältigende Wunsch nach Kaffee. Ich erzeuge Geräusche, von denen ich annehme, dass sie erregend klingen und helfen, die Übung schnell zu beenden, die man Liebemachen nennt. Ich habe keine Ahnung, wie man das sonst nennen soll, was wir da in immer größer werdenden Abständen tun.

Warum wir es tun, verstehe ich. Es gehört dazu. Fragt man Alleinstehende, was sie von einem Partner erwarten, sagen sie: Leidenschaft und verrückten Sex. Damit meinen sie etwas Verwegenes. Mit Peitschen, auf Parkplätzen, im Flugzeug.

Das hat man uns, verdammt noch mal, erzählt, dass Paare Sex haben müssen, um sich ihrer Liebe zu versichern, denn sonst könnte man ja auch alleine leben, wenn man diesem biologischen Ruf der Geschlechtsorgane keine Folge leisten möchte. Die Realität des freundlichen Zusammenlebens wird belastet von Dauerkalauern über ältere schweigende Paare, Filme über Sex im Alter, Lieder über Menschen, die sich die Kleider vom Körper essen. Man kann dem Anspruch, den die Phantasie an den Geschlechtsverkehr stellt, nie gerecht werden.

Wir ahnen, dass wir ferngesteuert sind und unsere Gedanken manipuliert werden, um die Heiligkeit der Familie in ihrer unerschütterlichen, den Tod ignorierenden Kaufkraft zu erhalten; wir wissen das, machen uns darüber lustig und folgen ungeschriebenen Gesetzen, die klar gegen unsere körperlichen Bedürfnisse sprechen. Ich vermute, wir wollen nicht ficken; ich glaube, keiner, der zehn Jahre mit einem Menschen zusammen ist, will das, aber wir fügen uns, bewegen unsere Körper im Takt eines universellen Schlaggebers. WIR MÜSSEN DAS DING JETZT DURCHZIEHEN. Ein paar Minuten alle paar Wochen, im Urlaub öfter, die Ausnahmesituation lässt uns zu Kriegsversehrten werden, wir machen das jetzt, wir sind nicht zärtlich. Wir sind schnell, präzise, wir schweigen. Seltsam, haben wir doch nie über uns gelacht beim Sex. Oder miteinander. Oder überhaupt. Wir lachen sonst viel. Wir halten uns so fest und streicheln uns, wir beschützen uns, und warum nur, warum nur müssen wir ficken, als ob wir Fremde wären.

Chloe denkt über Sex nach, während sie Sex hat

Ich habe Rasmus so gern, dass ich manchmal weine, weil ich Angst um ihn habe. Um uns. Es kann so viel schiefgehen. In jeder Sekunde, da ich ihn nicht beschützen kann, und selbst in meiner Anwesenheit können Killerzellen seinen Körper aufsuchen. Ein Sandsack aus einem Flugzeug auf seinen Kopf fallen. Ein Stresskranker kann einen Herzschlag bekommen und sein Auto in Passanten steuern, von denen Rasmus einer ist.

Ich habe gelernt, dass sie sich vollkommen unberechenbar verhalten, diese liebevollen Gefühle, die einige Wochen anhalten, in denen ich Rasmus’ Hand kaum aus meiner lasse, und am nächsten Tag habe ich ihn vergessen und er ist mir wie eine liebgewordene Pflanze. Nicht dass er mich störte, doch ich denke einfach nicht an ihn. Rasmus ist meine Familie, ich habe ihn noch nie angeschrien, war nie wirklich wütend auf ihn. Wenn mich Bekannte fragen, ob ich mir vorstellen kann, mich scheiden zu lassen, weiß ich nicht, wovon sie reden. Rasmus und ich. So wird das sein, bis wir zusammen sterben. Ich halte zu ihm, werde wütend, wenn er missachtet wird, er ist mein Zuhause, und ich bin glücklich, bis auf die Momente, in denen es um Sex geht. Das war noch nie unsere Stärke. Und es war mir egal. Die Beziehungen vor Rasmus handelten nur von Leidenschaft, und war sie zu Ende, trennte man sich. Unsere Liebe hat die Leidenschaft überdauert. Oder sie war nie da. Es ging immer um mehr. Um alles.

Ich habe mich daran gewöhnt, jeden Tag in der Badewanne oder unter der Dusche zu masturbieren. Manchmal, wenn ich ein wenig betrunken und allein bin, suche ich im Internet nach Callboys. Und finde Seiten von dünnen Männern mit Goldketten. Manchmal schaue ich in Seitensprung-Foren Profile an. Die Vorstellung, mit einem dieser Männer in den sogenannten besten Jahren, eine Umschreibung für verschwommene Kontur und verabschiedetes Haar, Geschlechtsverkehr haben zu müssen, lässt mich verzweifeln. Ich stelle mir vor, wie sie an der Tür klingeln. Männer, die Herbert heißen und den Hosenstall schon geöffnet haben.

Wenn ich einen Mann treffen würde, mit dem ich Sex hätte, verliebte ich mich in ihn und würde Rasmus verraten. Außerdem gefallen sie mir nur jung. Bevor sie sich die Haare abschneiden, bevor ihre Gesichter aussehen wie gekochte Kalbsköpfe, bevor ihr Atem schlecht riecht und ihre Poren mit schwarzen Mitessern verstopft sind. Leider ist die irrsinnige Annahme, eine junge Person wäre an einer alten ohne Reichtum interessiert, nur Männern vorbehalten. Ab und zu, wenn ich betrunken bin, stelle ich mir ein Bordell für Frauen vor. Hinter einer Scheibe sitzen sie aufgereiht, junge Männer, alle Hautfarben, feminin, maskulin, sie können mich nicht sehen. Ich wähle einen aus. Gehe in ein Zimmer, es ist sauber und hat ein Fenster, der junge Mann wird hereingeführt, er trägt eine Maske, er kann mich nicht sehen. Ich kann ihn berühren überall, ihn mir einführen, er ist die perfekte Fickmaschine. Ab und zu, wenn ich betrunken bin, werde ich ein wenig unglücklich, dem Umstand geschuldet, dass ich meine sexuell aktivsten Jahre mit einem Dildo verbringe.

Lentz hilft Rasmus

Wäre mein Glied größer, würde es weniger albern aussehen. Ich bin Finne, meine Haut ist weiß, die Haare auf meinem Körper sind nicht vorhanden, und der Schwanz steht etwas schief gebogen, dünn und nach vorne spitz zulaufend an mir. Chloes Hintern bewegt sich wellenförmig. Sie macht Geräusche, die vorgetäuschte Lust bedeuten sollen. Sofort spüre ich, dass ich weicher werde. Ich fliehe in die Poesie. Wie sagt Michael Lentz2 so treffend:

wie du ganz knospe aus der knospe schlüpfst

ganz edelauge veredelt mich dein blick

ich treibe treibenden sinnes zurück

grünes blatt du

weißes blatt ich

so füll mich an …

Die Worte wachsen, füllen mich aus. Ich explodiere. Danke, Lentz.

Unter der Dusche, ich wurde vom Personal darauf hingewiesen, dass es sich um eine Regenwalddusche handelt, das heißt, sie tröpfelt leise, werde ich traurig, wie meist nach dem Geschlechtsverkehr. Der Sex, unsere Todeszone. Niemandsland. Vermintes Gebiet. In dem aus einem süßen Bärenpaar etwas ernsthaft Erwachsenes wird. Korrekte Handlungen mit blöden Gesichtern. Verklemmtes Schweigen, alberne Organe in falscher Beleuchtung. Wie soll das nur funktionieren, in einer fast eineiigen Beziehung. In der du die Stimmung des anderen anhand seines Atems erkennst. Jeden Zustand des Körpers, jede Veränderung des Herzschlags, wie soll das gehen, sich lieben, sich kennen und sexuell die Sau rauslassen, verrückt werden vor Begierde. Als die ausblieb, drei Jahre nachdem wir uns kennenlernten, habe ich nachts im Bad gesessen und geweint. Weil ich glaubte, alles begänne nun von vorn: Trennung, die Suche nach einer neuen Partnerin, die mich hart macht und geil, all dieser Mist.

Ich habe mich damals gegen den Sex entschieden und für die Liebe. Sieg der Vernunft über die Begierde. Heute haben wir Sex, wenn ich morgens hart bin, weil die Blase auf meine Prostata drückt.

Chloe hat Kopfweh

Ich hatte früher nichts gegen Sex. Falls es rhetorisch korrekt ist, würde ich sagen, dass ich theoretisch gerne ficke. Aber nicht mit Rasmus. Weder sein Leib noch seine Art mich anzufassen haben mich begeistert. Sein Getaste an mir, sein Atem, seine Geräusche. Ich habe mich von der ersten Sekunde mit ihm wohlgefühlt, bin gerne neben ihm gelaufen und hatte keine Angst vor ihm. Aber erregt hat er mich nicht. Vermutlich schließt eine Behaglichkeit Ekstase aus.

Ich hatte einige Männer in meinem geschlechtsreifen Leben, und die Idee, die ich als Pubertierende von Sex hatte, hat sich bisher nur einmal eingelöst.

Ich habe den sexuell am besten zu mir passenden Partner mit siebzehn bei der Überfahrt von einer spanischen Insel zum Festland auf einem Boot getroffen. Ein junger Mann mit Overall und halblangen Haaren. Ich vermutete, er sei Schiffstechniker. Er war jedoch nur originell gekleidet.

Er hatte mich lange beobachtet. Und ich ihn. Besonders seine Arme, die braun waren und an denen er Silberzeug trug. Besonders seinen Reißverschluss, der bis zur Brust geöffnet war. Dunkle Haare auf ausgeprägten Brustmuskeln, braune Haut. Als die Nacht kam, leerte sich das Deck, nur wir blieben übrig. Wir sahen uns an, er nickte mir zu, stand auf, ich war enttäuscht, sah ihm nach, er drehte sich um, und ich folgte ihm. Er verschwand hinter einer Tür. Ich vermute, es war ein Maschinenraum, er war schwach beleuchtet und roch nach Öl. Dann stand er vor mir, eine Hand neben meinen Kopf genagelt, eine Position, die das Studium diverser Pornofilme verriet, das weiß ich heute, er öffnete seinen Reißverschluss und war nackt unter seinem Einteiler. Die Nacht roch nach Salz, der Mann war mir fremd. Er war weder brutal, noch erfüllte er irgendwelche Vergewaltigungsphantasien, die ich nie hatte. Es schien, als ob er einfach Frauen gernhatte oder sich in ihnen, und dass er völlig frei war von Scham, mochte auch geholfen haben.

Ich zog mit meinem Rucksack zu dem Mann, in eine kleine, stets dunkle Wohnung. So etwas macht man, wenn man jung ist und unendlich. Er, ich habe seinen Namen vergessen oder mir nie gemerkt, konnte außer Geschlechtsverkehr nichts. Was mich interessiert hätte. Und weil ich auch nichts konnte und nichts wollte, war unsere Beziehung von Anfang an befristet. Am Tag ging er Beschäftigungen nach, die vermutlich mit Rauschgift zu tun hatten, und ich saß an dem einzigen Fenster der Wohnung, trank Kaffee, sah in einen Hinterhof und fühlte mich verwegen. Am Abend aßen wir irgendetwas, danach fickten wir. Drei Wochen war ich besessen von ihm, Haare, Adern, Arme, Haut, Geruch, in der vierten befremdete mich seine Art zu essen. In der fünften verschwand ich.

Seitdem habe ich immer Angst vor diesem Moment, da man den anderen zu genau bei der Nahrungsaufnahme beobachtet. Nicht ertragen kann, wie er schluckt und kaut, wie der Speichel fließt, der Kehlkopf sich bewegt, wenn ich mir vorstelle, wie er den Nahrungsbrei zum Füllen diverser Löcher in der Wand verwendet. Wenn man den anderen nicht mehr liebevoll betrachten kann, ist die Sache gelaufen.

Der Spanier diente in den kommenden zwanzig Jahren zur Bebilderung meiner sexuellen Aktivitäten. In all den Momenten von Langeweile und Wut, in Selbstanklage und Scham, bei all der Verwirrung, die der Anblick von hängenden Eiern über meinem Gesicht hervorrief, bei all der hoffnungslosen Langeweile, die ich beim Geschlechtsverkehr empfand, rettete ich mich in Bilder aus der Zeit, in der ich glaubte, ich sei ein sexuelles Naturtalent. Kein Mann nach dem Spanier machte es richtig; sie fassten mich nicht an, oder falsch, oder feucht, oder folgten Ratgebern. Sie wurden nicht hart, sie kamen zu schnell, sie gaben mir das Gefühl, nicht zu genügen, manche wollten, dass ich zu einem Therapeuten ging, einige nannten mich frigide. Ich war froh, dass ich Sex durch eine Beziehung ersetzen konnte, in der ich weitgehend meine Ruhe vor all den demütigenden Erfahrungen habe, die zwei Körper miteinander machen können.

Rasmus denkt nach dem Sex über Kinder nach

Oft wünschte ich mir, wir hätten ein Kind. Geboren, als ich noch Hoffnung hatte, aufgewachsen in der Euphorie unserer ersten Jahre. Es könnte im Meer baden, das Kind, wir würden eine Nummer schieben und hätten danach ein großes Thema. Nicht mein Versagen, sondern: das Kind. Was macht unser Kind. Sollten wir jetzt nicht zu interessanten kulturellen Orten fahren. Und dann säßen wir in einem dieser unbequemen Transportmittel und würden Klöster und Tempel ansehen und das Kind unsere Vorstellung von untergegangenen Kulturen lehren. Wir würden ihm sagen: Schau nur, diese alten Ruinen, das war eine Hochkultur. So wie wir jetzt vor den Ruinen, werden in 200 Jahren glückliche Familien vor den Resten unserer Sichtbetonwohnung stehen. Das Kind würde eine rechte Panik bekommen und fragen: Warum werden wir denn untergegangen sein? Ich würde von Degeneration reden, von Gier, von Dummheit. Mich ausschließend. Das Kind würde Angst haben und jede Nacht bis zum Einsetzen der Pubertät unter seinem Bett schlafen.

Vor zehn Jahren glaubte ich noch daran, dass mein Durchbruch bevorstünde. Ich war verliebt in Chloe, mit der ich das Private geregelt sah, war selten zu Hause, was hätte ich mit einem Kind anfangen sollen. Heute fühlt Chloe sich zu alt. Ich ahne, dass sie lügt. Sie ist noch nicht in den Wechseljahren, das hätte ich gemerkt. Woran eigentlich?

Chloe wäre eine hervorragende Mutter. Sie hat Humor und ist keine dieser Frauen, die ihren Kindern mit schriller Stimme Vorträge halten, sie an den Armen reißen oder Sätze sagen wie: Torben, ich möchte aber nicht, dass du jetzt mit dieser toten Taube spielst, das ist unhygienisch. Ich wäre kein Vater, den Torben später erschießen müsste, das Ganze als Jagdunfall getarnt, weil ich ihn, den sensiblen Jungen, mit sechs zum Entbeinen von Rotwild angehalten hätte. Ich wäre ein Kamerad. Ich würde seine Homosexualität begrüßen und offene, nicht wertende Gespräche mit ihm führen.

Chloe will kein Kind von mir. Vielleicht und vor allem, weil sie von mir enttäuscht ist. Vielleicht vor allem, weil sie mir die Ernährung einer Familie nicht zutraut. Unrecht hat sie damit nicht.

Chloe denkt an Rasmus’ Mutter

Oft nach dem Sex denke ich unzusammenhängend an Rasmus’ vollkommen befreite Mutter, die Finnland vor langer Zeit verlassen hat, aber in Ermanglung einer interessanten Krankheit wie ADHS oder Herpes auf ihrem Migrantinnenstatus besteht, der sie vor den restlichen sechs Milliarden auszeichnet. Mit leisem Lispeln und Folkloreblusen, die vermutlich kein Mensch in Finnland trägt, mit der Komplettedition von Kaurismäkis Filmen und dem verträumten Abhören finnischer Tangos zementiert sie ihr Geworfensein in eine fremde Welt. Auch Rasmus erklärt seine schlechten Angewohnheiten oft mit der Weite Lapplands; soweit ich weiß, liegt Helsinki nicht dort; wenn ich nachts eingeschlafen scheine, stellt er die Klimaanlage an. Auf die höchste Stufe. Dem mangelnden Kälteempfinden seiner Vorfahren geschuldet.

Rasmus hat sich geduscht, seinen weißen Körper, der in der Mitte bereits seine Altersstatur verrät, den Körper, mit dem er in einem Sarg liegen wird, was mich an schwachen Tagen zu Tränen rührt, mit Sonnenlotion eingecremt; seinen weißhäutigen Vorfahren zum Dank wird Rasmus nicht braun. Natürlich nicht. Er trägt seinen Strohhut, der in einer Großstadt noch als verspätetes Zitat der Jugendkultur gelesen werden kann; hier jedoch, in Kombination mit seiner sonstigen Erscheinung, wirkt er wie ein Tourist mit einem albernen Hut. Rasmus’ Brille ist groß und hat einen schwarzen Rand, ich war erleichtert, dass er endlich eine leichte Korrektur benötigte und die Gläser nicht mehr aus Fensterglas bestanden. Eigenheiten, die ich bei anderen Menschen verachten würde, sind mir bei Rasmus egal. Ich registriere sie, mache mich darüber lustig, aber es stört mich nichts. Glück, Chemie oder die Weisheit? Vielleicht kann man sich an jeden gewöhnen und ihn dafür lieben, dass er einen erträgt. Die Fremdheit überwinden und familiär werden, das ist die Weisheit, über die nur wir verfügen, denke ich oft, wenn ich die Trennungen in unserem Bekanntenkreis mit moralischer Überlegenheit verfolge. Wir haben den Lottogewinn, das Geheimnis, oder wir sind einfach klüger als die anderen.