Weißer Sand - Jobst Schlennstedt - E-Book

Weißer Sand E-Book

Jobst Schlennstedt

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Beschreibung

Urlaubsparadies Ostsee? Weit gefehlt! Hochsommer in der Lübecker Bucht. Kriminalkommissar Birger Andresen ist gerade erst wieder im Dienst, als er und sein Team zu einem Einsatz gerufen werden: Nach einem Überfall am Strand von Scharbeutz wird eine Frau vermisst. Ihr Mann kann sich kaum an Einzelheiten erinnern. Wenig später wird eine Leiche in der Ostsee gefunden – aber es ist nicht die Vermisste. Nach und nach wird Andresen bewusst, dass ihm die Jagd nach dem Täter mehr abverlangen wird, als ihm lieb ist.

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Seitenzahl: 345

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Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. Hauptberuflich arbeitet er als Senior Consultant für ein großes dänisches Unternehmen und berät die Hafen- und Logistikwirtschaft. Im Emons Verlag veröffentlicht er seit 2006 Küsten- und Westfalen-Krimis sowie Titel aus der 111-Orte-Reihe.

www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Wirestock Creators

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-810-8

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Glücksspiel ist das Kind der Habsucht, der Bruder der Sittenlosigkeit und der Vater des Unheils.

George Washington

Alea iacta est

Zehn Jahre zuvor

Angefangen hatte alles 1998. Im August, er konnte sich noch genau an den Tag erinnern.

Er war gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen, die anderen Jungs ein paar Jahre älter. Einige rauchten längst und tranken Bier. Zwei von ihnen besaßen sogar ein Auto. Die Spritztouren durch die Vororte Kiels hatte er immer gehasst. Eingequetscht zwischen Tür und den anderen auf der Rückbank des alten Golfs war er tausend Tode gestorben. Viel zu schnell, angetrunken und nicht selten auch bekifft waren die Typen aus der Clique unterwegs gewesen, und er mittendrin. Mutproben nannten sie es. In Wirklichkeit war es nichts anderes als Leichtsinn gewesen. Und Rücksichtslosigkeit.

Eigentlich hatte er nie dazugehört. Er war anders als diese Jungs aus der Nachbarschaft gewesen. Ruhiger und zurückhaltender. Kein aufgeblasener Angeber, kein sexistischer, übergriffiger Prolet. Kein Versager, dessen Selbstwertgefühl einzig daraus erwuchs, sich über andere zu stellen. Und vor allem niemand, der wie die anderen kriminell war.

An diesem heißen Augustabend 1998 hatte sein Leben eine Wendung genommen. Etwas in ihm hatte sich damals verändert. Etwas, das er lange Zeit gar nicht bemerkt hatte.

Sie hatten ihm eine Flasche Bier in die eine Hand gedrückt. Und ein Glas Cola-Rum in die andere. Dann hatte er an der filterlosen Zigarette ziehen müssen, bis er hustete. Ihm war schlecht geworden, aber er hatte sich zusammengerissen. Zwei Gläser Wasser hatten ihn vor Schlimmerem bewahrt.

Es war schon nach Mitternacht gewesen, und er wollte gerade die alte Holzhütte im Schrebergarten von Svens Eltern verlassen, als der große Schlaks mit der über die Ohren reichenden Mittelscheitelfrisur und dem immerzu gleichen Gesichtsausdruck, der besagte, dass ihm niemand zu widersprechen habe, den Würfelbecher auf den Tisch knallte. Sven war nicht nur der Älteste in der Clique, er war auch ihr Anführer.

Er hatte einige Minuten gebraucht, um zu verstehen, was Sven in diesem Moment von ihm wollte, doch da war es bereits zu spät gewesen. Die Würfel waren gefallen. Sie rollten vor seinen Augen, der Einsatz lag längst auf dem Tisch. Er musste mitgehen, vollkommen egal, ob er wollte oder nicht. Und egal, wie viel Geld er überhaupt in seiner Tasche hatte. An diesem Abend wollte Sven ihn auf die Probe stellen.

Das Spiel war denkbar einfach. Jeder Spieler würfelte zweimal mit nur einem Würfel. Bei einer Eins oder einer Sechs wurde der Grundeinsatz – Sven hatte eine Mark angesagt – in die Mitte gelegt. Bei allen anderen Zahlen musste versucht werden, im zweiten Wurf eine höhere zu werfen. Den Einsatz konnte man selbst bestimmen, das Maximum war der Betrag, der in der Tischmitte lag. Gelang einem keine höhere Zahl, musste der angesagte Einsatz in die Mitte gelegt werden.

Nach ein paar Runden hatten bereits fünfzehn Mark auf dem Tisch gelegen. Er würfelte eine Zwei, die beste Zahl in diesem Spiel. Eine Zwei-Drittel-Chance auf eine höhere Zahl im zweiten Wurf.

Er setzte zehn Mark und würfelte noch einmal.

Erneut eine Zwei.

Sven lächelte. Ein Lächeln, das ihm zeigen sollte, was ihm noch bevorstand. Worauf er sich eingelassen hatte. Nein, worauf er sich hatte einlassen müssen.

Mit einem Kloß im Hals hatte er das Geld in die Mitte geschoben und gespürt, dass diese Nacht kein gutes Ende nehmen würde.

Zwei Runden später zeigte der Würfel wieder eine Zwei. Sein Zehn-Mark-Schein und der Rest des Geldes lagen auf dem Tisch. Mehr als zwanzig Mark. Und wieder eine Zwei-Drittel-Gewinnwahrscheinlichkeit. Verführerisch und doch eigentlich mit einem überschaubaren Risiko. Er setzte alles.

Diesmal würfelte er eine Eins.

Sein Unbehagen war in diesem Moment zu einem Gefühl von Angst vor dem Kontrollverlust angewachsen. Er war damals noch ein Kind, das hier doch gar nichts zu suchen hatte.

Er war zu gierig gewesen. Die Würfel hielten sich nun mal nicht an mathematische Wahrscheinlichkeiten. An diesem Tag waren sie nicht auf seiner Seite gewesen. Seine Pechsträhne hatte sich noch eine Weile fortgesetzt, bis nichts mehr da war, was er in die Mitte hätte werfen können. Seine Hosentaschen waren leer. Mehr als hundert Mark lagen vor ihm auf dem Tisch, und knapp die Hälfte davon gehörte ihm. Und nur einer von ihnen beiden würde sich das ganze Geld holen, war er sich sicher.

Wieder eine Zwei.

Sein Herz schlug nun noch schneller. Hundert Mark.

»Alles«, sagte er.

Und schloss die Augen.

Hoffte. Und würfelte.

Eine Zwei.

Er hatte verloren. Und keine Ahnung, wie er das, was er Sven nun schuldete, bezahlen sollte.

»Ab jetzt gehörst du zu uns«, sagte Sven und sah ihn wieder mit diesem schiefen Grinsen an. »Dieses kleine Spielchen gehört zur Aufnahme dazu. Und glaub mir, noch niemand hat gewonnen. Aber mach dir keine Sorgen, du wirst die Kohle nicht abbezahlen müssen. Also zumindest nicht in Scheinen.«

In dieser Nacht hatte Sven ihm nicht mehr gesagt, was er stattdessen von ihm erwartete, um seine Schulden abzubezahlen. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis ihm klar wurde, was Sven vorhatte. Von Woche zu Woche wurde er mehr zu dessen Handlanger. Musste tun, was er ihm sagte. Und obwohl er der Jüngste in der Clique war, wurde er innerhalb kürzester Zeit zu seinem wichtigsten Helfer. Tatsächlich hatte er ihn auserkoren, so manche Drecksarbeit für ihn zu erledigen, die Sven und den anderen Kohle einbrachte. Aufgaben, die kein anderer machen wollte. Die immer heikler und auch krimineller wurden. Er musste Haschisch und Koks verkaufen, Geld eintreiben und kleinere Einbrüche begehen.

Viele Jahre waren seitdem vergangen. Er war erwachsen geworden. Hatte sogar eine Ausbildung absolviert. Sein Leben hätte unter Umständen normal verlaufen können, wenn da nicht Sven und noch ein paar andere aus der alten Clique gewesen wären. Es hatte ein paar Momente gegeben, in denen er vielleicht noch hätte aussteigen können, zumindest redete er sich das bis heute ein. Aber irgendwann hatte er viel zu tief in der ganzen Sache mit dringesteckt. Er hatte selbst genug Dinge getan, um im Knast zu landen, hätte jemand ausgepackt. Und nicht nur das, auch sein Schuldenberg bei Sven war immer weiter angewachsen. Die Zockerei hatte ihn seit dieser warmen Augustnacht 1998 nicht mehr losgelassen.

Längst war ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab, wenn er nicht sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Denn um ihn herum wimmelte es nur so von Menschen, vor denen er sich fürchten musste. Menschen, die zu allem fähig waren. Doch vor allem war es Sven, der sein Leben zu einer einzigen Qual machte. Er war derjenige, der ihn damals mit vierzehn über den Tisch gezogen hatte und ihn seit diesem Tag wie seinen Leibeigenen behandelte.

Es gab nur diesen einen Ausweg. Den Entschluss dazu hatte er an einem Morgen vor drei Wochen gefasst. Er hatte im Bett gesessen und an einem Becher Kaffee genippt, als ihn wieder dieses Gefühl der Angst übermannt hatte. Wie schon so oft in den Jahren zuvor. Der Gedanke an den Tag, der vor ihm lag, schnürte ihm die Luft ab. Denn seine Einsätze wurden immer gefährlicher. Die Mengen an Stoff, die er für Sven verticken musste, immer größer. Die Bosse der Szene immer skrupelloser und brutaler. Und die Abnehmer unberechenbarer.

Er wollte einfach nicht mehr. Und konnte nicht mehr.

Der Plan, Sven aus dem Weg zu räumen, um sich aus seinen Fesseln zu befreien, war nicht aus dem Nichts gekommen. Es hatte jahrelang in ihm rumort, aber erst an diesem Morgen war in ihm die Erkenntnis gereift, dass er keine andere Wahl hatte. Er musste es endlich tun, um wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Um nicht mehr das Gefühl zu haben, sich mit mehr als einem Bein entweder im Grab oder im Knast zu befinden. Und um die Panikattacken, die sein Begleiter geworden waren, hoffentlich wieder loszuwerden.

Dieser Moment war jetzt gekommen.

Er hielt an, als er den Scheitel der Brücke erreicht hatte. Als er sich sicher war, dass sich von keiner Seite ein Auto näherte, stieg er aus. In der Dunkelheit fiel es ihm einen Moment lang schwer, sich zu orientieren, aber die gelegentlich unter ihm auf der A 215 vorbeirasenden Lichter beruhigten ihn. Er hatte befürchtet, dass die Panik ihn in dieser Nacht so schlimm wie nie zuvor befallen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich sicherer. Er würde das, was er vorhatte, tatsächlich durchziehen.

Er ging um das Fahrzeug herum und öffnete den Kofferraum. Ein Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte. Sven noch einmal zu sehen war einerseits Genugtuung und andererseits die ultimative Konfrontation mit dem Menschen, der ihm gewissermaßen sein Leben genommen hatte, als er noch ein Teenager gewesen war.

Seltsamerweise empfand er in diesem Moment gar nichts. Die Angst war verschwunden, aber auch ein Gefühl des Triumphes wollte sich nicht einstellen. Wahrscheinlich, weil dieser Mann, den er wie niemand anderen auf dieser Welt hasste, vollkommen hilflos vor ihm lag. In einen tiefen Schlaf versetzt durch eine Überdosis Ketamin, die er ihm in dessen eigener Wohnung unbemerkt verabreicht hatte.

Unter größter Anstrengung hievte er den groß gewachsenen, noch immer schlaksigen Mann aus dem Kofferraum und ließ den schlaffen Körper auf den Asphalt fallen.

Svens Atmung war flach, aber er lebte noch. Das war gut, denn für dessen Tod hatte er sich etwas anderes vorgestellt. Etwas, bei dem er sicher sein konnte, dass er nicht überlebte.

Er sah sich um. Genauso wichtig wie die Tatsache, dass Sven in dieser Nacht starb, war es, dabei nicht gesehen zu werden. Denn dann wäre alles umsonst gewesen. Er vergewisserte sich, dass er allein war, dass sich weder Autos noch Fußgänger näherten. Die Chance, mit seinem Leben wieder ins Reine zu kommen, war jetzt zum Greifen nah. Bei dem Gedanken daran spürte er sein Herz klopfen.

Svens Körper war schwer. Mühsam zog er ihn an den Armen ein paar Meter über die Straße bis ans Brückengeländer.

Er verspürte noch immer keine Angst. Nicht den Hauch der Panik, die ihm in den letzten Jahren so vertraut geworden war. Unterschwellig war sie im Grunde immer da gewesen. Während der Jobs, die er für ihn erfüllen musste, und auch danach. Sie war wann sie wollte über ihn hereingebrochen und hatte ihn all die Jahre im Würgegriff gehalten.

Ein letztes Mal ging er alles durch. Er konnte sich nicht sicher sein, aber er hatte alles dafür getan, dass eine Verbindung zwischen Sven und ihm kaum herzustellen war. Zumindest keine Verbindung, die ihn für dessen Tod verdächtig machen würde. Alles, was er für ihn getan hatte, hatte sich im Verborgenen abgespielt. Er hatte schon immer so unscheinbar wie nur möglich agiert. Und dennoch würde ein Restrisiko bleiben, dass die Spur zu ihm führte und er für den Mord an Sven schuldig gesprochen würde. Die größte Gefahr war vielleicht, dass jemand aus der Clique ihn verriet. Aber wer von ihnen ahnte denn schon, dass ausgerechnet er dahintersteckte? Er war doch Svens bester Mann, wie der selbst immer sagte.

Die Lichter unter ihm rauschten vorbei. Sven war so schwer, dass er für einen Augenblick ins Zweifeln kam. Aber schließlich gelang es ihm, den Körper aufzurichten. Dann hob er ihn so weit über das Brückengeländer, dass er ihm nur noch einen kleinen Schubs geben musste.

In diesem Augenblick kamen plötzlich wieder die Bilder aus der Sommernacht 1998 zurück. Die Würfel auf dem Tisch. Die Verlockung des Glückspiels. Der verhängnisvolle Glaube, nur lange genug spielen zu müssen, um sich am Ende sein kurzzeitig verlorenes Geld zurückzuholen. Die Erkenntnis, dass Sven ihn in dieser Nacht nach allen Regeln der Kunst abgezockt hatte. Mit dem Ziel, ihn abhängig zu machen. Vom Spiel, aber auch von ihm selbst.

Es hatte funktioniert. Eine einzige Nacht hatte sein Leben verändert. In eine Richtung, für die er sich heute schämte. Die er hasste.

Er empfand kein Mitleid für Sven. Keine Reue. Es ging jetzt nur noch um ihn. Um sein Leben, das so verkorkst war. Sven hatte niemals Rücksicht darauf genommen, was mit ihm geschah. Weshalb sollte er nun Rücksicht nehmen?

Da hing er also wie ein Sack Kartoffeln über dem Metallgeländer. Mitten in der Nacht, und unter ihnen die Autobahn. Das hier war der einzige Weg, sich aus dem ganzen Dilemma zu befreien. Und so mit Sven, seinem bisherigen Leben und dem riesigen Schuldenberg einfach abzuschließen.

Er schloss die Augen, pustete zweimal tief durch und stieß den kondensierenden Atem in die kalte Herbstluft. Als er sie wieder öffnete, sah er auf der Autobahn einen Lkw in einiger Entfernung näher kommen. Vielleicht noch hundert Meter entfernt.

Es war so weit. Er würde Sven und mit ihm sein altes Leben einfach hinunterschmeißen. Und endlich in eine neue, unbeschwerte Zukunft starten. Das Gefühl von Panik, auf das er noch immer wartete, schien auszubleiben. Dabei hatte es sich doch nie verspätet, und ausgerechnet heute ließ es ihn im Stich. Er lächelte bei dem Gedanken daran.

Noch fünfzig Meter.

Er umfasste Sven nun noch etwas fester und schob ihn weiter über das Geländer. Plötzlich rutschte ihm der Körper aus den Händen. Unter größter Kraftanstrengung packte er ihn an den Unterschenkeln. Lange würde er ihn aber nicht mehr halten können.

Noch zwanzig Meter.

Sven glitt ihm aus den Händen. Er versuchte, ihn noch an der Jeans zu greifen. Riskierte, selbst das Gleichgewicht zu verlieren und mit hinuntergezogen zu werden. Weshalb eigentlich? Sven sollte doch sterben. Er wollte den Ballast endlich loswerden. Überkamen ihn in letzter Sekunde etwa doch noch Zweifel?

Er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Unter ihm rauschte der Lkw vorbei. Im nächsten Augenblick fiel Sven in die Tiefe. Ein dumpfer Schlag, der im Motorengeräusch verhallte. Er war auf das Führerhaus geknallt und wurde anschließend auf die Straße geschleudert.

Sven war tot. Daran hatte er keinen Zweifel. Aber erst, als wenige Sekunden später ein weiterer Lkw über den leblosen Körper rollte, atmete er tief durch.

Der dumpfe, lang gezogene Hupton, der in diesem Moment durch kalte Nachtluft hallte, klang wie das langersehnte Zeichen der Befreiung. Da unten auf der A 215 lag sein Leben. Der Mann, der ihn mehr als zehn Jahre lang beherrscht hatte. Der ihn abhängig und gefügig gemacht hatte.

Es war tatsächlich vorbei. Und das Befriedigendste und gleichzeitig auch Erstaunlichste war die Erkenntnis, dass das Gefühl der Panik in dieser Nacht nicht aufgetaucht war.

Eiswürfel

Die Luft drückte. Salziger Schweiß stand auf ihrer Oberlippe und floss langsam an ihren Schläfen hinunter. Aus der großen Glaskaraffe, die sie sich letzte Woche gekauft hatte, wollte sie sich Zitronenwasser nachschenken. Aber mehr als ein kläglicher Rest war nicht mehr übrig.

Es war halb elf. Das kleine Digitalthermometer auf der Fensterbank zeigte an, dass es draußen noch immer sechsundzwanzig Grad waren. Doch hier in ihrem Haus war es gefühlt noch wärmer. Sie hatte vorhin die Fenster und die Terrassentür aufgerissen, aber es rührte sich einfach kein Lüftchen. Der kleine Tischventilator lief auf voller Stufe.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt so heiß gewesen war. Die meisten Sommer hier in der Lübecker Bucht waren eher durchwachsen. Und wenn es einmal wärmer wurde, kam mit ziemlicher Gewissheit kurz danach die Abkühlung in Form einer Gewitterfront. Doch in diesem Juli hielt sich das Hoch über Schleswig-Holstein schon erstaunlich lange. Inzwischen schon seit mehr als zwei Wochen. Es hatte sich in ganz Norddeutschland gemütlich eingerichtet, eingekeilt zwischen zwei Tiefdruckgebieten über Skandinavien und Westeuropa, so hatte sie es in der Zeitung gelesen, ohne wirklich zu verstehen, was damit gemeint war.

Die Eiswürfel, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie stürmte in Richtung Kühlschrank. Heute am frühen Abend hatte sie die letzten verbraucht und sofort wieder Wasser nachgefüllt. Als sie das Eisfach öffnete und sah, dass das Wasser bereits gefroren war, lächelte sie zufrieden. Sie drückte eine Handvoll Würfel aus der Gummiform, legte diese wieder zurück und schloss Eisfach und Kühlschrank. Dann wickelte sie die gefrorenen Vierecke in ein Küchenhandtuch und legte es sich in den Nacken.

Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Kälte spürte. Aber dann entfaltete sie sich und sorgte dafür, dass sie wieder klar denken konnte. Die letzten Tage waren nicht nur heiß, sondern auch angespannt gewesen. Kai hatte sich mal wieder zurückgezogen, irgendetwas musste ihn belasten. Etwas, das ihr Angst machte. Eigentlich fast so wie immer. Denn seit dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte, und der lag mittlerweile mehr als acht Jahre zurück, hatte es in regelmäßigen Abständen diese Phasen gegeben, in denen er nervös und fahrig wirkte. Oftmals auch derart in sich gekehrt, dass sie tagelang kaum ein Wort miteinander wechselten. Es waren Phasen, in denen sie spürten, dass das zwischen ihnen alles an einem seidenen Faden hing.

Richtig schlimm wurde es aber immer dann, wenn seine Nervosität in Aggressivität umschlug. Wenn er sie anbrüllte und schlug. Wenn er komplett die Kontrolle über sich verlor. Bei dem Gedanken daran, was er ihr bereits angetan hatte und was ihr schon bald wieder bevorstehen würde, wurde ihr für einige Sekunden schwarz vor Augen.

Was auch immer der Auslöser für dieses Verhalten war, es hatte nichts mit ihr zu tun. Da war sie sich jedenfalls einigermaßen sicher. Die Gründe lagen in seiner Vergangenheit. Sie wusste längst viel mehr darüber, als ihr lieb war.

Aber gleichzeitig war sie auch eine Meisterin darin, die Augen zu verschließen. Wenn es ihr zu viel wurde, schob sie die dunklen Wolken und jeden Gedanken an ihn und seine Probleme und vor allem auch an die Qualen, die sie erleiden musste, einfach beiseite. Sie redete sich ein, dass alles in Ordnung sei. Dass diese andere Welt, von der Kai manchmal erzählte, in Wirklichkeit gar nicht existiere. Aber immer seltener mit Erfolg. Denn sie verstand mittlerweile, dass die Wirklichkeit wohl noch viel schlimmer war als ihre Vorstellungen. Die Einschläge schienen in letzter Zeit immer häufiger zu kommen. Die Zeiträume zwischen den Phasen, in denen er sich auffällig verhielt, immer kürzer.

Natürlich hatte sie schon oft mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen. Aber trotz allem war sie noch immer hier an seiner Seite. Aus Angst, dass er vollkommen ausrasten würde? Oder auch aus Mitleid, weil sie glaubte, dass das Schicksal, das er mit sich schleppte, noch viel schlimmer war als ihres?

Sie atmete einige Male tief durch, dann legte sie das Küchentuch mit den Eiswürfeln beiseite. Die Kälte hatte ihr gutgetan, sie fühlte sich angenehm befreit von der Hitze, die sich in ihrem Haus staute. Und auch von dem Unwohlsein, das sie verspürte.

Kai hatte bestimmt bereits Feierabend, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber wahrscheinlich würde er auch heute wieder an der Bar versacken. Für ein schnelles Bier, aus dem dann drei oder mehr und noch ein paar Schnäpse wurden. Zum Runterkommen, wie er immer sagte.

Sie konnte ihn verstehen. Sein Job war anstrengend und stressig und bei diesen Temperaturen besonders hart. Immerhin ging er einer geregelten Arbeit nach. Das war anfangs nicht immer so gewesen. Aber sie wusste auch, dass das Runterkommen an der Bar auf Dauer nicht dazu beitrug, dass es ihm besser ging. Eigentlich machte es alles nur noch schlimmer. Der Alkohol. Diese Gespräche, in die er dann abglitt. Mit Menschen, die er kaum kannte. Ständig die Gefahr vor Augen, wieder Dinge zu tun, die er anschließend bereuen würde.

Sie kannte ihn. So gut, wie ihn niemand anderes kannte. Und dennoch dachte sie viel zu oft, dass es längst nicht genug war. Immer dann, wenn sie erfuhr oder spürte, was für Dinge Kai tat. Wenn er so schwach war und wieder in die alten Muster verfiel. Wenn sie das Gefühl hatte, dass ihm ihre Ehe und alles, was er ihr schon so oft versprochen hatte, nichts wert war.

Sie ging ins Badezimmer, lehnte sich mit beiden Armen aufs Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Ihre schulterlangen Haare waren noch heller als sonst. Das Gesicht so braun, als wäre sie gerade aus einem langen Griechenland-Urlaub zurückgekommen. Der Sommer in Norddeutschland meinte es wirklich gut in diesem Jahr. Er sorgte dafür, dass von ihrer winterlichen Blässe nichts mehr zu sehen war. Und ein wenig half er auch dabei, die trüben Gedanken beiseitezuschieben, die seit Jahren ihre ständigen Begleiter waren.

Bevor Kai nicht zu Hause wäre, würde sie kein Auge zumachen. Sie hatte es in der Vergangenheit immer wieder versucht. Mit Wein. Und Cognac. Ein paarmal auch mit Schlaftabletten. Es hatte nicht funktioniert. Ohne ihn konnte sie einfach nicht sein, auch wenn es mit ihm meistens noch schlimmer war. Das war ihr Schicksal.

Wieder sah sie sich im Spiegel an. Weshalb bloß war sie nicht stärker? Weshalb ertrug sie das alles, als könne sie ihr Leben nicht ändern? Es selbst in die Hand nehmen. Stattdessen hatte sie es in die eines Mannes gelegt, der mit dem Teufel spielte, wie er es selbst einmal gesagt hatte. Der ihr nicht guttat. Der ihr wehtat.

Sie drückte den Griff der Armatur nach oben und senkte ihren Kopf. Das Wasser, das sie sich mit beiden Händen ins Gesicht und in den Nacken klatschte, war kalt. So wie sie es liebte. Es hatte irgendwann vor ein paar Jahren angefangen, dass sie auf diese Weise ihre Schmerzen bekämpfte. Ihren Kopf wieder frei bekam. Anfangs war es wie ein Ritual gewesen, wenn alles über ihr zusammenbrach. Doch irgendwann war es fast zur Sucht geworden. Sie redete sich ein, sich herunterkühlen zu müssen, um nicht den Verstand zu verlieren. Wenn das Fieber stieg, musste sie es bekämpfen. Doch das Problem war, dass das Fieber im Laufe der Zeit fast zu einem Dauerzustand geworden war.

Sie musste schlafen. Irgendwie. Wenigstens ein paar Stunden, ehe sie schweißgebadet aufwachen würde. Nur wie, wenn er nicht neben ihr lag? Es war vollkommen verrückt. Sie brauchte ihn, obwohl er wahrscheinlich das Schlimmste war, was ihr im Leben widerfahren war.

Plötzlich fuhr sie hoch. Das Geräusch der sich öffnenden Haustür drang bis zu ihr ins Badezimmer. Er hatte es ihr versprochen. Schluss zu machen mit der Trinkerei nach der Arbeit. Schluss zu machen mit den vielen durchzechten Nächten und den falschen Freunden an der Bar des Restaurants oder in irgendeiner Spelunke, die nachts noch geöffnet hatte. Er war tatsächlich nach Hause gekommen, so wie er es heute Morgen gesagt hatte.

Sofort regte sich diese andere Stimme in ihrem Kopf. Wie oft hatte sie diese Situationen schon erlebt, wie oft hatte sie geglaubt, dass alles gut werden würde zwischen ihnen? Dass er sich gebessert und diese dunkle Welt, von der sie nichts wissen wollte, endlich ein für alle Mal verlassen habe. Ihretwegen, weil er sie liebte. Und wie oft schon hatte er sie enttäuscht?

Sie schüttelte den Kopf, während sie ihr Spiegelbild fixierte. Ein bitteres Lächeln huschte über ihre schmalen Lippen. Sie wusste, dass morgen alles schon wieder ganz anders aussehen konnte. Bislang war es noch immer so gewesen. Eine Achterbahnfahrt der Emotionen. Voller Hoffnung und noch mehr Demütigung. Voller Versprechungen und schlimmer Dinge, die er getan hatte.

Sie streifte ihr Sommerkleid ab und bewegte sich langsam in Richtung der offenen Dusche am Ende des Raums. Nur ein paar Minuten Wasser über den Körper laufen lassen. Zuerst lauwarmes und dann zum Abschluss eiskaltes. So machte sie es immer. Sollte er ruhig warten, bis sie fertig war.

Sie öffnete ihren BH und zog den Slip aus. Dann stellte sie sich mit gesenktem Kopf unter den Duschkopf und drehte das Wasser an.

Er hatte aufgeschlossen und das Haus zögerlich betreten. Sein Blick kreiste jetzt durch das Wohnzimmer und den offenen Esszimmerbereich. Nach einigen Sekunden des Innehaltens ging er vorsichtig weiter und sah sich um. Bis er sich sicher war, dass sie sich im Badezimmer aufhalten musste. Gewissermaßen als Bestätigung seines Gedankens nahm er im nächsten Augenblick das rauschende Wasser in der Dusche wahr.

Angespannt setzte er sich auf die Seitenlehne des grauen Sofas und wartete. Nicht ohne sich genau zu überlegen, was er tun sollte, wenn sie aus dem Badezimmer kam. Er hatte mehrere Optionen. Entweder er suchte das Gespräch mit ihr, so wie er es ursprünglich vorgesehen hatte. Oder aber er machte ihr unverzüglich klar, was er von ihr wollte. Letztlich war es ohnehin egal. Es würde auf dasselbe hinauslaufen. Was sie getan hatte, war unverzeihlich.

Kurzerhand entschied er sich für eine dritte Möglichkeit und stand auf. Er ging zielstrebig durch den Raum. Seine Schritte hallten hell auf dem Laminatboden nach, aber das störte ihn nicht. Kurz vor dem Badezimmer hielt er schließlich noch einmal inne und lauschte.

Sie sang. Leise, aber deutlich genug, dass er es hören konnte. Sie klang fröhlicher, als er erwartet hatte. Es wunderte ihn, machte ihn allerdings noch wütender. Denn es gab keinen Grund, gut gelaunt zu sein. Nicht einen einzigen.

Er atmete noch ein letztes Mal tief durch, dann riss er die Tür auf und betrat das Badezimmer.

Aus dem Bett gefallen

Als das Telefon in seinem Büro klingelte, stieg Morten Sandt gerade aus dem Fahrstuhl im vierten Stock des Lübecker Polizeihochhauses in der Possehlstraße. Der Flur der Mordkommission lag einsam und still vor ihm. Nur das fortwährende Klingeln des Telefons störte die Ruhe dieses Montagmorgens, der für ihn schon um kurz nach fünf begonnen hatte. Nicht, weil er es nicht erwarten konnte, sich an seinen Schreibtisch zu setzen, es war die Hitze gewesen, die ihn nicht länger hatte schlafen lassen.

Das Wochenende war das heißeste seit dem Jahrhundertsommer 2003 gewesen. Knapp vierzig Grad hatte das Thermometer auf seinem Balkon angezeigt, wohlgemerkt im Schatten. Die Hitze hatte ihn vollkommen erschöpft. Am Freitagabend hatte er sich mit Getränken und den nötigsten Lebensmitteln eingedeckt. Vergeblich hatte er in mehreren Läden versucht, einen Ventilator zu kaufen, überall waren sie ausverkauft. Er hatte sich stattdessen anders geholfen und einen kleinen aufblasbaren Swimmingpool besorgt, den er mit Wasser und Eiswürfeln gefüllt mitten im Wohnzimmer aufgestellt hatte, um wenigstens seine Füße zu kühlen.

Als er vor zwanzig Minuten die Tür seiner Mietwohnung zugeworfen hatte und auf den Bürgersteig der Engelsgrube getreten war, hatte er erleichtert durchgeatmet. Zwar lagen die Temperaturen selbst um diese frühmorgendliche Zeit bereits bei über zwanzig Grad, aber in diesem Moment hatte er die Luft geradezu als erfrischend empfunden.

Ganz anders dagegen der leicht stickige Mief auf dem Flur der Mordkommission. Morten störte sich daran jedoch nicht. Mit Sicherheit gab es attraktivere Arbeitsplätze mit mehr Komfort. Mit hochwertigen Kaffeemaschinen, frischem Obst, Kantinen, die einem Restaurant ähnelten. Oder Billardtischen und Räumlichkeiten zum Chillen. Aber vielleicht war diese Atmosphäre mit dem Charme zurückliegender Jahrzehnte genau das, was ihm half, sich auf das Wesentliche bei der Ermittlungsarbeit zu konzentrieren.

Morten lächelte. Er wusste natürlich, dass er sich das nur schönredete. In Wirklichkeit bedurfte es dringend einer Modernisierung ihrer Büros. Ja, eigentlich der gesamten Abteilung. Um endlich auf die aktuellsten und modernsten Techniken der Kriminalpolizei zurückgreifen zu können. Die Digitalisierung steckte hier noch in den Kinderschuhen. Das plötzlich erklingende Geräusch eines Faxgeräts irgendwo im Hintergrund war wie die Bestätigung, die es nicht gebraucht hatte.

Dagegen erstarb das Klingeln seines Telefons. Im nächsten Moment war alles wieder so ruhig wie am späten Freitagnachmittag, als er der Letzte gewesen war, der den Flur der Mordkommission verlassen hatte.

Wer zum Teufel rief ihn um halb sieben an einem Montagmorgen an? Morten betrat sein Büro und warf sofort einen Blick auf das Display seines Telefons. Eine Nummer, die er nicht kannte. Bei der Vorwahl war er sich allerdings einigermaßen sicher, dass der Anruf aus Scharbeutz oder Timmendorfer Strand gekommen war. Einen Augenblick lang überlegte er, die Nummer zu googeln. Doch dann nahm er kurzerhand den Hörer in die Hand und wählte den Rückruf. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine sonore Männerstimme. Frank Korte. Morten hatte offenbar einen Kollegen von der Polizeistation in Scharbeutz am Apparat.

»Moin, Morten Sandt. Mordkommission Lübeck. Sie hatten versucht, mich zu erreichen?«

»Nun, ich hatte versucht, überhaupt jemanden bei euch zu erreichen.«

Morten wollte etwas erwidern, zum Beispiel, weshalb sich Korte nicht einfach an die Notrufzentrale gewandt hatte, wenn es sich um eine dringliche Angelegenheit handelte. Aber er entschied sich dafür, diesen Montagmorgen nicht mit einer verbalen Konfrontation zu beginnen. »Worum geht es denn?«, fragte er stattdessen freundlich.

»Vor mir sitzt seit einer Stunde ein Mann, der behauptet, am Strand überfallen worden zu sein. Seitdem vermisst er seine Frau.«

»Wie genau habe ich das denn zu verstehen?« Morten spürte sogar selbst, dass er gelangweilt klang. Die leicht gleichgültige Art, mit der Korte von diesem Vorfall berichtete, weckte nicht unbedingt sein Interesse.

»Der Mann wurde –«

»Entschuldigung«, unterbrach Morten. »Wie heißt der Mann denn?«

»Kai Hamer«, antwortete Korte etwas genervt. »Falls er sich denn noch an seinen Namen erinnern kann. Er hat bei dem Überfall, von dem er berichtet, nämlich sein Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich kam, war seine Frau, mit der er spazieren war, nicht mehr da.«

»Hat er sich denn nicht in ärztliche Behandlung begeben?«

»Das habe ich ihn gar nicht gefragt«, antwortete Korte.

»Wann soll dieser Überfall gewesen sein?«

»Gestern Abend.«

»Und dann kommt er erst heute Morgen zu Ihnen?«

»Ich schlage vor, das besprichst du am besten selbst mit ihm. Wenn es stimmt, was er sagt, ist das eine Angelegenheit für euch. Andresen steht doch bestimmt auf solche Fälle.«

»Ich glaube nicht, dass ihm das Spaß macht. Aber klar, er ist mit Sicherheit der hartnäckigste und beste Kriminalkommissar, den wir in Schleswig-Holstein haben.«

»Oha«, entgegnete Korte süffisant. »Er scheint seine Leute ja ordentlich auf Spur gebracht zu haben.«

»Hat denn dieser Kai Hamer seine Frau offiziell als vermisst gemeldet und eine Anzeige gegen unbekannt gestellt?«, fragte Morten und ignorierte den Kommentar von Korte.

»Beides erfolgt und liegt hier vor mir auf meinem Schreibtisch. Wann kann ich damit rechnen, dass ihr hier seid?«

»Ich versuche, meine Kollegin zu erreichen, dann sind wir spätestens in einer Stunde in Scharbeutz.«

»Und Andresen?«

»Soll ich ihn grüßen?«

»Du hast ein ganz schön forsches Mundwerk, mein Freund. Keine Ahnung, wie lange du schon dabei bist, aber du solltest dir nicht zu viele schlechte Eigenschaften von deinem Chef abgucken. Und jetzt beeil dich hierherzukommen.«

Morten versuchte gar nicht erst, etwas zu erwidern. Korte hatte nämlich keinen Moment gezögert und sofort aufgelegt.

Langsam ging er um den Schreibtisch herum und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Er wunderte sich über sich selbst. Vor ein paar Wochen wäre er noch enthusiastisch gewesen, wenn die Arbeitswoche mit einer neuen Ermittlung gestartet wäre. Aber die Hitze der vergangenen Tage schien ihn regelrecht zu lähmen.

Vielleicht war das, was Korte berichtet hatte, auch nicht aufregend genug, um ihn an einem Montagmorgen um kurz vor sieben zu motivieren, nach Scharbeutz zu fahren. Denn irgendwie klang das Ganze für ihn ein wenig nach einem typischen Ehestreit, bei dem die Frau den Mann verlassen hatte und abgehauen war. Vielleicht auch wegen häuslicher Gewalt. Er hatte schon ein paarmal erlebt, dass Ehepartner sich in solchen Fällen Geschichten ausdachten. Manchmal auch, um von der eigenen Schuld abzulenken.

Ein wenig wurmte ihn aber auch Kortes Frage nach Andresen. Ein Jahr lang war der ehemalige Leiter der Mordkommission nicht Teil des Teams gewesen. Zweifellos eine lange Zeit. Und zwischendurch hatte er ihn vermisst, denn durch seine Abwesenheit war ein Vakuum entstanden, das nicht so gefüllt worden war, wie er sich das erhofft hatte. Es hatten sich neue Strukturen gebildet, auch seine eigene Rolle war mittlerweile eine andere als zu dem Zeitpunkt, bevor Andresen seine Weltreise angetreten hatte. Immerhin hatte er mit Elif eine neue Kollegin an seiner Seite, die mehr als ein Lichtblick in dieser Zeit gewesen war.

Nun war er also wieder zurück. Birger Andresen, der bislang noch jeden Fall gelöst hatte. Ein Kriminalkommissar, der Ermittlungen oft nach seinem Gusto führte. Der sich nur selten um seine Mitarbeiter und Kollegen kümmerte.

Morten wusste, dass Andresen schon früher, bevor er selbst zur Mordkommission gestoßen war, bei den Kollegen durchaus umstritten war, aber insbesondere seit dem Tod des ehemaligen Polizeipräsidenten war Andresen eine Zeit lang so etwas wie der heimliche Leiter der gesamten Bezirkskriminaldirektion gewesen. Und auch sein zwölfmonatiges Sabbatjahr und die Tatsache, dass der Posten des Polizeipräsidenten mittlerweile neu besetzt war, hatten daran offenbar kaum etwas geändert. Erst letzte Woche war ein großer Artikel in den Lübecker Nachrichten erschienen, der seine Rückkehr und die Erfahrungen während seiner Auszeit thematisiert hatte. Ein ganzseitiges Porträt über einen Mann, dessen Privatleben nicht immer glatt verlaufen war. Dessen Tochter in Hamburg lebte, bei dem ehemaligen Lebensgefährten seiner Ex-Freundin. Birger Andresen, der nun mit Mitte fünfzig und einer neuen Frau an seiner Seite sein Glück gefunden hatte, wie er behauptete. Zufrieden lächelte er auf dem Foto in der Zeitung in die Kamera.

Der zweite Teil des Porträts hatte seine spektakulärsten Fälle der letzten Jahre behandelt. Damals, als er dem US-amerikanischen Außenminister beim G7-Treffen in Lübeck das Leben retten konnte. Oder als er einen der größten Kinderpornoringe Norddeutschlands aufgedeckt hatte. Dieser Fall war Mortens erste größere Ermittlung gewesen. Etwas, das er wohl nie vergessen würde. Alles hatte sich wie der berühmte Sprung ins kalte Wasser angefühlt und war aufgrund der grauenhaften Details, die sie herausgefunden hatten, besonders einprägsam gewesen.

Jedenfalls schien dieser Korte Andresen auf dem Kieker zu haben. Er mochte ihn offenbar nicht, vielleicht war er aber auch lediglich neidisch auf dessen Ermittlungserfolge. Den Zeitungsbericht aus der letzten Woche hatten bestimmt viele Kollegen und Kolleginnen gelesen, und Morten war sich sicher, dass er nicht gerade zu Andresens Beliebtheit beigetragen hatte.

»Auch aus dem Bett gefallen?«

Morten schrak hoch.

Da stand er in der Tür. Birger Andresen. Sein dichtes Haar sah seit seiner Rückkehr zwar leicht grau meliert aus, und ein paar Falten auf der Stirn waren hinzugekommen, aber ansonsten wirkte er fitter denn je. Er hatte abgenommen, und seine Gesichtsfarbe war weit weniger fahl, als Morten es in Erinnerung hatte.

»Ich glaube, seitdem ich bei der Mordkommission bin, habe ich dich noch nie so früh hier gesehen.« Morten stand auf und ging ein paar Schritte auf Andresen zu. »Eigentlich wollte ich Elif Bescheid geben, aber vielleicht ist es ganz gut, dass du hier bist. Ich habe nämlich gerade einen Anruf aus der Polizeistation in Scharbeutz erhalten. Korte heißt der Kollege, mit dem ich –«

»Mein alter Freund Frank Korte?«, unterbrach Andresen Morten mit höhnischer Stimme. »Was wollte er? Mal wieder eine unangenehme Sache auf uns abwälzen?«

»So ungefähr«, antwortete Morten. »Allerdings tue ich mich noch schwer damit zu sagen, was tatsächlich hinter seinem Anruf steckt. Es könnte durchaus eine Angelegenheit sein, die uns betrifft. Außerdem hat Korte explizit nach dir gefragt.«

»Worum geht es denn?«

»Ich schlage vor, dass ich es dir während der Fahrt erzähle«, sagte Morten. »Zuvor würde ich gerne noch über etwas anderes mit dir reden.«

Andresen zog argwöhnisch die rechte Augenbraue hoch. Mortens Tonfall ließ wohl vermuten, dass das, was er ihm sagen wollte, nichts Angenehmes sein würde.

Backofen

Als Morten seinen kleinen Peugeot 208 über die B 76 Richtung Scharbeutz steuerte und sich rechts von ihnen das tiefblaue Wasser der Ostsee erstreckte, empfand er für einen kurzen Moment totale Zufriedenheit. Er hatte sich absichtlich für den Umweg über Niendorf und Timmendorfer Strand entschieden, anstatt die A 1 zu nehmen. Ab und an brauchte er diese Aussicht, um wieder aufzutanken. Seine Seele wieder mit positiven Gedanken zu füllen, indem er die Farben und den Geruch tief in sich aufsog. So ging es wohl jedem, der hier lebte, mit dem Meer direkt vor der Haustür. Umso bedauerlicher, dass er in den warmen Monaten kaum Gelegenheit fand, an den Strand zu fahren. Denn wenn die Strände voll mit Touristen waren, musste er zumeist arbeiten. Und wenn er dann selbst Urlaub nahm, zog es ihn stattdessen in die Ferne.

Aber es gab zum Glück auch noch die anderen Jahreszeiten, an denen die Küste mindestens genauso reizvoll war. Eigentlich sogar viel spannender. Wenn die ersten Herbststürme gegen die Strände peitschten, es klirrend kalt war und Eiszapfen an den Seebrücken hingen oder aber im Frühjahr die ersten warmen Sonnenstrahlen dafür sorgten, dass es die Einheimischen in Scharen ans Meer trieb. Morten konnte sich ein Leben an einem anderen Ort als diesem nicht vorstellen. Er war durch und durch ein Kind der Küste.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Andresen stumm aus dem Seitenfenster blickte. Sie hatten noch immer nicht darüber gesprochen, weshalb genau sie an diesem Montagmorgen nach Scharbeutz fuhren. Etwas anderes hing in der Luft. Das, was er Andresen schon auf dem Weg in die Tiefgarage des Präsidiums erzählt hatte. Etwas, das ihn schon seit längerer Zeit beschäftigte, er sich aber bislang bei niemandem anzusprechen getraut hatte.

Es ging um Carsten Boy, den Vertreter von Andresen als Leiter der Mordkommission während dessen Sabbatjahr. Ein erfahrener Kollege, der auch das Kommissariat für Organisierte Kriminalität leitete. In der Anfangszeit war die Arbeit unter ihm nicht sonderlich anders als unter Andresen gewesen, aber nach und nach hatte es Spannungen im Team gegeben. Boy war jemand, der hierarchisch dachte. Er zählte offenbar nicht auf junge Kollegen, oder zumindest traute er ihnen die Leitung einer Ermittlung nicht zu.

Von Monat zu Monat war die Situation schwieriger geworden. Alles, was Morten zuvor an Freiheiten besessen hatte, hatte Boy auf ein Minimum eingegrenzt. Morten fühlte sich phasenweise an seine Ausbildungszeit zurückerinnert. Sämtliche Vorgänge gingen von nun an immer über Boys Tisch. Er schien über alles seine Hand halten zu wollen. Das Ganze war so weit gegangen, dass er verlangte, jeden einzelnen Arbeitstag zu dokumentieren und einmal wöchentlich ausführlich Rapport zu erstatten. Unabhängig davon, ob dringliche Ermittlungen anstanden oder nicht. Und im vergangenen Jahr war größtenteils Letzteres der Fall gewesen. Morten wollte sich gar nicht erst vorstellen, was passieren würde, wenn sie es erst einmal mit einer komplizierten Ermittlung zu tun hatten. Auch deshalb war er erleichtert darüber, dass Andresen zurück war.

Der Grund, weshalb sie seit Fahrtbeginn noch kein Wort miteinander gewechselt hatten, war jedoch viel weitreichender als Mortens Beschwerden über Boys Verhalten. Er hatte Andresen gebeten, Boy so schnell wie möglich als Kommissariatsleiter wieder abzulösen und ihm zu verstehen zu geben, dass die Moral im Team der Mordkommission am Boden lag. Er arbeite nun mal völlig anders, als Boy es von ihm verlangte. Morten ging es um das Team, er war der Auffassung, dass ein gutes Miteinander der Schlüssel zum Erfolg war. Vertrauen und Selbstverantwortung waren aus seiner Sicht wichtiger als Kontrolle und Pflichterfüllung. Und außerdem versuchte er im Rahmen der Möglichkeiten, mit Hilfe digitaler Techniken neue Ideen und Ansätze zu verfolgen.

Erst als er diese letzten Worte ausgesprochen hatte, war ihm klar geworden, was er da eigentlich gesagt hatte. Denn auch wenn er ihn persönlich damit nicht gemeint hatte, stand natürlich auch Andresen gewissermaßen für die alten Zeiten. Für Strukturen, Rollenverhältnisse und Arbeitsweisen aus einem anderen Jahrzehnt.

Andresen würde am Ende entscheiden müssen. Setzte er auf die Zukunft mit jungen Leuten, oder ließ er es zu, dass sich ihr Kommissariat wie unter Boy nicht weiterentwickelte und die Stimmung im Team weiter sank?

»Ich meine es ernst«, durchbrach Morten das Schweigen, während sie das Ortseingangsschild von Scharbeutz passierten. »Unter Boy werde ich bei der Lübecker Kripo nicht alt werden. Und Elif geht es genauso. Du musst etwas unternehmen, besser heute als morgen.«

»Ich habe dich verstanden«, sagte Andresen und spürte anscheinend sofort selbst, dass er genervt klang. Nicht nur, weil Morten ihn drängte, eine schwierige Personalentscheidung zu fällen. Das Thema Kommissariatsleitung schob er seit Wochen vor sich her. Die Mordkommission war natürlich seine berufliche Heimat. Er hatte weder Polizeipräsident werden wollen, noch strebte er an, sich in der X-Einheit um die Cold Cases aus Schleswig-Holstein zu kümmern, wie er es eine Zeit lang getan hatte. Eine mühsame Schreibtischarbeit, die ihn nicht glücklich machte.

Letztlich stand ihm zu, die Position des Kommissariatsleiters sofort wieder einzunehmen. So war er mit Boy und den anderen Leitern vor seinem Sabbatjahr verblieben. Aber bislang hatte es noch nicht den passenden Moment gegeben, vielleicht lag es auch an seiner Antriebslosigkeit. Seine Rückkehr in den Dienst vor knapp sechs Wochen war allzu gemächlich verlaufen, es hatte in dieser Zeit keine nennenswerten Fälle gegeben, in denen sie ermitteln mussten. Und je länger er eine ruhige Kugel schob, desto mehr konnte er sich mit dem Gedanken anfreunden, sich ein wenig zurückzuziehen.

Ein völlig neues Gefühl, denn früher war er stets nervös geworden, sobald es keine Arbeit mehr gab. Nicht dass er sich Verbrechen herbeigesehnt hatte, aber in gewissem Maße waren komplizierte Ermittlungen sein Lebenselixier gewesen. Aus ihnen hatte er die Motivation gezogen, seine privaten Tiefen einigermaßen zu kompensieren. Obwohl ihm gleichzeitig natürlich bewusst war, dass seine gescheiterten Beziehungen und das schwierige Verhältnis zu seinen Kindern genau daraus resultierten, dass der Job als Kriminalpolizist schon immer sein Leben maßgeblich bestimmt hatte. Ein Teufelskreis, aus dem er bis heute keinen Ausweg gefunden hatte.

»Ich kenne Carsten seit fast zwanzig Jahren.« Andresen wandte sich Morten jetzt zu. »Nicht besonders gut, das muss ich zugeben. Aber ich weiß, dass er das KK