Der Text - Manfred Consten - E-Book

Der Text E-Book

Manfred Consten

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Beschreibung

Die Textlinguistik kann durch ihre Fokussierung auf Verstehensprozesse und Kommunikation zur Lösung zentraler Probleme des Deutschunterrichts beitragen. Dieser Band verbindet linguistische Konzepte mit Fragen der Literatur- und Sprachdidaktik und setzt folgende Schwerpunkte: Textkohärenz als wesentliches Kriterium für das Herstellen und Verstehen von Texten; Textsortenkompetenz als kommunikative und soziale Kompetenz; spezifisch schulische Textsorten; Textverstehen und Textproduktion aus linguistischer und didaktischer Perspektive; literarisches Verstehen und Textlinguistik als Brücke zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft; textlinguistische Methoden und Konzepte, die für die schulische Vermittlung und Überprüfung von Textkompetenz hilfreich sein können. Einprägsame Definitionen zentraler Begriffe sowie Aufgaben erleichtern das Verständnis.

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Manfred Consten / Christiane Kirmse

Der Text

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783823392750

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2566-8293

ISBN 978-3-8233-8275-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0313-8 (ePub)

Inhalt

Einleitung1  Textlinguistik für die Schule1.1 Wort, Satz, Text – Der Text als Gegenstand der Linguistik1.2 Textlinguistik und Deutschdidaktik: Nicht immer eine Liebesbeziehung1.3 Meist nur implizit: Textlinguistik in den Bildungsstandards1.4 Weiterführende Literatur2  Textsorten2.1 Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen?2.2 Schreiben, wie man spricht? Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit2.3 Textsorten nur für die Schule2.4 Weiterführende Literatur3  Kohäsion, Kohärenz, Textsinn3.1 Kohärenz als Produktions- und Verstehens-Leistung3.1.1 Der Rote Faden: Kohärenz, Referenz und Informationsstruktur3.1.2  Wodurch entsteht Kohärenz?3.1.3 Modelle des Textverstehens3.2 Kohäsion und wörtliche Bedeutung3.3 Textsinn3.4  Weiterführende Literatur4  Literarische Texte verstehen4.1  Ausgangssituation: Kompetenzorientierte Bildungsstandards ohne literarische Kompetenz4.2 Ein literaturdidaktischer Kompromiss: Literarisches Verstehen statt literarische Kompetenz4.3 Das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren4.4  Merkmale des Textes und Anforderungen an Leser:innen4.5 Wie beschreibt man textseitige Anforderungen?4.5.1  Der Literaturbegriff4.5.2 Spezifika literarischen Verstehens4.6 Leserseitige Anforderungen literarischer Texte4.7 Ausblick: Wie entwickelt und fördert man eine literarische Lesehaltung?4.8 Weiterführende Literatur5  Textverstehen überprüfen5.1 Herausforderungen bei der Konzeption von Textverstehensaufgaben5.1.1 Schwierigkeitsbestimmende Merkmale von Textverstehensaufgaben5.1.2  Die Verschränkung von Rezeptions- und Produktionsleistung5.2 Kann man Rezeptionsleistung ohne Produktionsleistung messen?5.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse im Blick: Lexik, Kohäsion und lokale Kohärenzetablierung erfassen5.2.2 Hierarchiehohe Prozesse im Blick: Globale Kohärenzetablierung und Textsinn erfassen5.2.3  Lernen aus Leistungsaufgaben5.3 Weiterführende Literatur6  FazitLösungshinweise zu den AufgabenAufgabe 1 (Reflexion)Aufgabe 2 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 3 (Reflexion)Aufgabe 4 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 5 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 6 (Reflexion)Aufgabe 7 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 8 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 9 (Übung für den Unterricht)Aufgabe 10 (Übung für den Unterricht)Literatur (Auszug)

Einleitung

Im Deutschunterricht geht es meist um Texte – diese scheinbar banale Erkenntnis steht Versionen einer Deutschdidaktik entgegen, die Textlinguistik ignoriert und die sprachwissenschaftliche Basis des Deutschunterrichtes auf Orthografie und Grammatik reduziert. Unabhängig davon, ob wir an integrativen Deutschunterricht denken, der die Kompetenzbereiche verbinden soll, oder einen Deutschunterricht vor Augen haben, der zumindest phasenweise Literatur- und Sprachunterricht trennt, haben es Deutschlehrer:innen in der Regel mit ganzen Texten zu tun. Sollen Primärtexte analysiert oder Texte über Texte geschrieben werden, bedarf es mehr als nur der formalen Beschreibung von Wörtern oder Sätzen. Entsprechend widmen wir uns in diesem LinguS-Band den Hauptgegenständen des Deutschunterrichts, Texten, sowie dem Umgang mit diesen, der über formale Betrachtungen von Sprache hinausgeht.

In den Bildungsstandards (KMK 20121) überschreiten die Kompetenzbereiche „Schreiben“, „Lesen“, „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ eindeutig die Wort- und Satzgrenzen. Man liest und schreibt eben keine isolierten Wörter oder Sätze, sondern Texte. Auch für den Bereich „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“,2 der auf Sprache als System abzielt, wird „Auseinandersetzung mit Texten“ explizit genannt (KMK 2012: 20). Ein Überschreiten der Satzebene wird ebenfalls bei der Reflexion über die „kognitive und kommunikative Funktion von Sprache“ (ebd.) sowie über sprachliches Handeln (ebd.:21) vorausgesetzt. Kommunikation ist schließlich eine Funktion (gesprochener oder geschriebener) Texte.

Darüber hinaus hat die Arbeit auf Textebene auch quantitativ einen hohen Stellenwert im Deutschunterricht, z. B. beim materialgestützten Schreiben, wo erst große Textmengen verstanden und dann argumentativ verarbeitet werden müssen.

Dieser Band berücksichtigt das Interesse an satzübergreifenden Phänomenen. Zur kommunikativen Funktion von Sprache sei außerdem auf den Band 11 zur linguistischen Pragmatik verwiesen (Börjesson/Laser i. Vorb.).

Dieses Buch wird auch immer wieder auf den notwendigen Abgleich zwischen außerschulischer kommunikativer Praxis, insbesondere außerschulischen Textsorten, und schulischen Anforderungen und Überzeugungen über die ‚Richtigkeit‘ von Texten zu sprechen kommen. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ – das Zitat Senecas (62 n. Chr.) beschreibt ein Ideal, dem die Schule oftmals wenig gerecht wird. In ihrem empfehlenswerten Sprach- und Studienratgeber schreiben Moll/Thielmann (2017: 17): „Solange Gesellschaften Schulen betreiben, werden Schüler Antworten auf Fragen bekommen, die sie nie gestellt haben, und sie werden lernen, denjenigen Antworten auf Fragen zu geben, die die Antworten schon wissen.“ Was die Autor:innen hier so einfach formulieren, wird uns noch als ernsthaftes Problem textueller Kommunikation im Deutschunterricht beschäftigen.

Viele Erkenntnisse und Anregungen zu diesem Buch haben wir in den Seminaren „Textlinguistik und Schule“ gewonnen, die vom Institut für Germanistische Sprachwissenschaft und der Abteilung Fachdidaktik Deutsch der Friedrich-Schiller-Universität Jena angeboten werden. Auch einige der im Buch erwähnten Aufgaben entstammen unseren gemeinsamen Seminaren.

Wie die LinguS-Reihe folgen diese Seminare dem Tandemprinzip Fachwissenschaft + Fachdidaktik. Den Studierenden sei für viele inspirierende Beiträge in Diskussionen und Hausarbeiten gedankt.

1 Textlinguistik für die Schule

1.1Wort, Satz, Text – Der Text als Gegenstand der Linguistik

Ordnet man Sprachbeschreibung und -theorie nach ihren Beschreibungseinheiten, so fällt auf: Die kleinste, die lautliche Ebene spielt allenfalls für die korrektive Phonetik im Fremdsprachunterricht eine Rolle; ihr schriftsprachliches Pendant, die Orthografie, ist hingegen in der Erinnerung vieler Schulabsolventinnen und -absolventen der Gegenstand, der die Berührung mit Sprache im Deutschunterricht entscheidend prägt, wird doch schon in der Grundschule „Schreiben lernen“ und „Lesen lernen“ oft in einem ganz trivialen Sinne als Erlernen normativer Orthografie aufgefasst. Die normative Prägung setzt sich im Grammatikunterricht – also auf der Ebene des Wort- und Satzbaus – fort und führt manches Mal bei Lehrpersonen zu negativen Überzeugungen1 über das kreative Potenzial des Gegenstands und entsprechend negativen Erfahrungen bei Schülerinnen und Schülern – vgl. den LinguS-Band 1, Fuß/Geipel (2018: 9), die dem die Forderung nach „Systemeinsichten und Sprachreflexion“ gegenüberstellen.

Auf der Ebene der größten linguistischen Beschreibungseinheit – dem Text als System aufeinander bezogener Sätze – ist die Herangehensweise nicht immer so explizit normativ wie im Orthografie- oder Grammatikunterricht. Man denke an „kreatives Schreiben“ als produktive Leistung oder die Interpretation literarischer Texte als rezeptive und/oder produktive Leistung. Hier gerät aber oft aus dem Blickfeld, dass es sich überhaupt um Sprachunterricht handelt und Phänomene und Kompetenzen thematisiert werden, die Gegenstand linguistischer Analyse und Theoriebildung sind. Zudem zielen moderne Lehrbücher darauf ab, verschiedene Kompetenzbereiche integrativ zu behandeln. Dies macht es umso schwerer, originär linguistische Inhalte zu identifizieren. „Diese Woche machen wir Grammatik“ – diesen Satz wird jeder in der Schule schon gehört haben, und selten löste er Begeisterung aus. „Diese Woche machen wir Textlinguistik“, ein solcher Satz würde nur Rätselraten verursachen, und auch für Studierende des Unterrichtsfaches Deutsch muss immer wieder sichtbar gemacht werden, wie sehr die Bildungsstandards Deutsch – meist implizit – mit textlinguistischen Konzepten durchsetzt sind. Am Ende dieses Kapitels in Abschnitt 1.3 werden wir solche Konzepte nennen.

Ist eine Disziplin irrelevant für den Unterricht, die nicht offen in Lehrplänen auftritt und somit auch nicht im Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler und vielleicht auch der Lehrkräfte präsent ist?

Die Friedrich-Schiller-Universität Jena bietet ihren Lehramtsstudierenden ein Pflichtmodul namens „Einführung in die Schulwirklichkeit“. Man führt also Menschen in eine Wirklichkeit ein, in der sie die letzten zwölf oder 13 Jahre ihres Lebens verbracht haben. Das ergibt nur Sinn, weil Schüler- und Lehrerperspektive sich wesentlich unterscheiden: Lehrkräfte sollten hinter dem Schulstoff fachliches Wissen erkennen, das mehr ist als didaktische ‚Tricks und Kniffe‘ für den Unterricht, ein Wissen, das zum Verständnis und zur Vermittlung und Überprüfung der offen artikulierten Zielkompetenzen erforderlich ist. Moll/Thielmann (2017: 18) beklagen:

„Lehrer sind eine besondere Art institutioneller Agenten. Ihr gewöhnlicher Bildungsweg sieht folgendermaßen aus: Schule – Universität – Schule. Lehrkräfte bleiben der Institution Schule treu, sie wechseln nur die Seiten. Dies führt zu einer interessanten Erscheinung: An der Universität sind manche Lehramtsstudenten überrascht, dass sie über das Schulwissen hinaus noch Wissen erwerben sollen – wo sie doch schon alles wissen, was man für die Schule braucht. Ihre Erwartung ist, dass sie auf der Universität lernen, wie sie agentenseitig dasjenige Wissen, das sie sowieso schon haben – also das Schulwissen –, am besten vermitteln. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zum Wissen ist bei vielen Lehrern (natürlich nicht allen) genauso äußerlich wie bei den Schülern.“

Die Textlinguistik liefert für den Deutschunterricht vielleicht die besten Beispiele für tieferes Wissen, das Zielkompetenzen erst fassbar macht, insbesondere Wissen über kognitive Prozesse des Textverstehens und der Textproduktion. Jedoch stellte Spinner (1989: 22) fest: „Schon mehrfach ist versucht worden, die linguistische Textanalyse auch für den Deutschunterricht fruchtbar zu machen. In der Schulpraxis haben solche Verfahren aber noch keinen breiten Raum gefunden.“ Wenn auch ein gewisses Interesse festzustellen ist – so spricht Heinemann (2006: 22) von der Textlinguistik als einer „Fundierungsdisziplin“ – hat noch kein Paradigmenwechsel stattgefunden, der die Textlinguistik zum selbstverständlichen Bestandteil des Deutschunterrichtes gemacht hätte.

 

Wo liegen die Schwierigkeiten? Sie beginnen bei der Definition der Beschreibungseinheit selbst – was ist ein Text? Etwas Geschriebenes? Etwas, das aus mehreren Sätzen besteht, wie die oben formulierte Annäherung „System aufeinander bezogener Sätze“ nahelegt? Eine solche Definition bietet sich an, wenn man diejenigen Textkompetenzen in den Vordergrund stellt, die (rezeptiv oder produktiv) mit der sinnstiftenden, plausiblen Verknüpfung von Sätzen zu einem Text zu tun haben (vgl. Schwarz 2000: 25), also mit dem Roten Faden eines Textes, oder fachlich ausgedrückt: mit Kohäsion und Kohärenz (→ 3 und in Anwendung auf literarische Texte Kap. 4).

(1)

Kunden sauer – Deutschlandweiter Ausfall im Mobilfunknetz

(Überschrift www.express.de/30408400)

Bei der Rezeption dieser Überschrift werden Leser:innen selber die Information einfügen, dass der Textteil nach dem Gedankenstrich der Grund für den zuerst ausgesagten Sachverhalt ist. Das Beispiel zeigt auch, dass trotz einer strukturellen Herangehensweise, die die Sprache nach den Einheiten Laut/Buchstabe – Wort – Satz – Text gliedert, für die Textdefinition ein traditioneller Satzbegriff nicht erforderlich ist: Das Beispiel enthält keine Verben, aber zwei inhaltlich satzwertige Einheiten.

Auch das Kriterium der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit ist nicht so trivial, wie es scheint: Ist eine schriftlich ausformulierte Rede, die vom Blatt abgelesen wird, mündlich? Ist ein Internet-Chat schriftlich? Darauf werden wir in Abschnitt 2.2 eingehen.

Für eine Verortung der Textlinguistik innerhalb der Linguistik bleibt festzuhalten: Die Textlinguistik ist keine Fortsetzung der Grammatik mit größeren Beschreibungseinheiten, auch wenn sie sich satzübergreifenden Strukturen als den typischen Textstrukturen zuwendet (Schwarz-Friesel/Consten 2014: 18). Vielmehr macht die Erkenntnis, dass Textverstehen ein kreativer, Sinn erzeugender Prozess ist, der nichtsprachliches Erfahrungswissen aktiviert, die Textlinguistik zu einer kognitionsorientierten Disziplin, die auf einer abstrakten Ebene nicht nur Formen, sondern auch mentale Prozesse beschreibt. Die kommunikative Funktion von Texten bringt die Textlinguistik in die Nähe der linguistischen Pragmatik (die sprachliches Handeln und Form-Funktions-Beziehungen beschreibt) und der Sozialwissenschaften. Als sprachwissenschaftlicher Brückenkopf zur Literaturwissenschaft hat die Textlinguistik zudem Berührung mit hermeneutischen Interpretationsprozessen – hiervon wird in Kapitel 4 die Rede sein.

Bei so viel Komplexität und Interdisziplinarität mag die Textlinguistik Deutschlehrer:innen keine klaren Regeln und Normen für den Deutschunterricht liefern, aber das leisten auch linguistische Orthografie- und Grammatikforschung nicht. Schließlich muss hier unterschieden werden zwischen komplexen Forschungsdiskussionen beispielsweise um Wortarten und Kasus und der didaktischen Reduktion solcher Konzepte im Schulkontext, mit denen sich der nächste Absatz befasst.

1.2Textlinguistik und Deutschdidaktik: Nicht immer eine Liebesbeziehung

Somit ist festzustellen, dass die empirische statt normative Herangehensweise der Textlinguistik und die Unmöglichkeit, rezeptive und produktive Textkompetenz in Verhaltensregeln zu fassen, die Textlinguistik und ihr Potenzial für die Deutschdidaktik fragwürdig gemacht haben. So schreibt Baurmann (2000: 822):

„Die Textlinguistik konnte (und kann) keine problemlos umzusetzende Theorie für den Schulgebrauch anbieten […] und vermag noch nicht überzeugend zu vermitteln, dass ihre Ergebnisse und Methoden den Muttersprachenunterricht bereichern können.“1

Den Mangel an „Problemlosigkeit“ schon in der Frage nach einer Textdefinition nennt auch Heinemann (2006) als einen Grund für die marginale Rolle der Textlinguistik in der Deutschdidaktik. Problemlosigkeit wird allerdings kaum eine Fachwissenschaft versprechen können, und es ist fraglich, ob wirklich Theorien für den Schulgebrauch umzusetzen sind oder eher grundsätzliche Erkenntnisse über den Gegenstand, in diesem Falle über den Text als materielles Konstrukt und über Lese- und Schreibkompetenz als zu entwickelnde mentale Eigenschaft.

Die Linguistik betreibt Theoriebildung, setzt sich mit Nachbar- und Konkurrenztheorien auseinander. Erkenntnisse, die daraus entstehen, sind auch der Deutschdidaktik nicht fremd. Sie werden dort aber häufig als selbstverständliche, konsensuale „Modelle“ und ohne Bezug zu einem fachwissenschaftlichen Diskurs angeboten.2 Andererseits findet in der Fachdidaktik ebenfalls eine komplexe und abstrakte Theoriebildung statt, die einen eigenen fachwissenschaftlichen Anspruch hat oder zumindest (bei einer besseren Vernetzung von Textlinguistik und Deutschdidaktik im wissenschaftlichen Diskurs) haben könnte. Von einer problemlos umzusetzenden Theorie für den Schulgebrauch haben sich derartige Modelle also auch entfernt, und so muss man sich fragen, warum explizit textlinguistische Erkenntnisse schlechter für den „Schulgebrauch“ geeignet sein sollten als fachdidaktische Modelle.3

Um das Potenzial textlinguistischer Theorien und Konzepte für den Deutschtunterricht aufzuzeigen, greift dieses Buch auf zahlreiche Beispiele zurück. Eine wichtige Grundlage bildet dabei der Kurzprosatext Sonntag von Selim Özdogan. Dieser Text findet sich in aktuellen Thüringer Deutschlehrwerken eher selten, obwohl er thematisch und strukturell bedingt für den Deutschunterricht der mittleren und höheren Jahrgangsstufen gut geeignet erscheint. Mithilfe von Sonntag wollen wir die Liebesbeziehung zwischen Textlinguistik und Deutschdidaktik in beide Richtungen fördern. Schließlich haben wir es mit einem literarischen Text zu tun, der entsprechend nicht genuin das Kerngeschäft der sachtextorientierten Textlinguistik betrifft, an dem sich aber zeigen lässt, wie beide Wissenschaften voneinander lernen können – welche Gegenstände und Methoden sie trennen und verbinden.

Aufgabe 1 (Reflexion)  Lesen Sie den folgenden Text, auf den wir immer wieder im Verlauf des Buches zurückkommen. Halten Sie schriftlich fest, welche Fragen sich Ihnen im Laufe der Lektüre und nach der ersten Lektürephase stellen.

 

Selim Özdogan, Sonntag

Es war Sonntagmittag, und ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause. Es war kein Sonntag, wie wir ihn kennen. Ich fühlte mich gut und war voller Liebe, ich hätte alles sein können an diesem Tag. Es war mild, verglichen mit den letzten Wochen, ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Noch einmal dieses Gefühl, es überstanden zu haben. Ich fuhr an einer Bushaltestelle vorbei, die völlig demoliert war. Glasscherben auf dem Bürgersteig, tausend kleine Glasscherben, und ich dachte nicht an meine Reifen. Ich dachte: Wie kann man nur so drauf kommen? Ich sah rüber auf die andere Straßenseite, und die andere Bushaltestelle war genauso ein Bild der Verwüstung. Wie kann man auf so eine verschissene Idee kommen? In Wirklichkeit habe ich eine ziemlich genaue Ahnung, wie man auf so eine Idee kommt. Es war Samstagnacht gewesen, ein paar Jungs, immer Jungs, und niemals weniger als zwei, die sich betrinken. Eine Samstagnacht, schon wieder, und du wirst aggressiv. Dein Leben kotzt dich an, du trinkst, damit der Spaß endlich kommt, du trinkst, damit du dich amüsierst, und dieses Mal trinkst du mehr als sonst, weil die letzten Wochenenden sich so geglichen haben, dass du sie gar nicht auseinanderhalten kannst. Keine einzige Frau lächelt zurück, du bist jung, du willst Abenteuer, und du willst die Welt in ihren Grundfesten erschüttern. Es reicht nicht, wenn du einfach nur Straßenlaternen austrittst, heute Nacht soll es mal etwas Größeres sein, heute Nacht willst du fühlen, wenn schon nichts anderes, dann wenigstens Macht. Und du kommst mit deinen Freunden an dieser Bushaltestelle vorbei. So kommt man auf so eine Idee. Und am nächsten Morgen wachst du auf, mit einer verschwommenen Erinnerung und einem Glücksgefühl, dass endlich etwas passiert ist. Scheiße, Mann, wie wir diese Bushaltestelle auseinandergenommen haben, alles nur noch Schutt und Asche, war das geil. Wie diese riesigen Scheiben zerbrochen sind, klirr, und glitzernde, kleine Dinger ergossen sich auf die Straße, ein Bild für die Götter. Und dann dieses Geräusch, meine Fresse, wann haben wir so etwas Schönes zum letzten Mal gehört? Scherben, Verwüstung und Verzweiflung, und die Verzweiflung anderer Leute macht mich immer trauriger als meine eigene, weil ich über die wenigstens lachen kann. Abends saß ich dann in der Bahn und sah dieses Plakat der Verkehrsbetriebe. Bis zu 1.000 DM Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung eines Vandalen führen. Leicht verdientes Geld.

(Özdogan, Selim 1998/2010: Ein gutes Leben ist die beste Rache. Berlin: Aufbau Verlag. S. 79f.)

Dass Sie sich vermutlich einige Fragen zu diesem Text stellen, hängt u. a. damit zusammen, dass Sonntag ein literarischer Text ist, der der Polyvalenz-Konvention folgt. Das heißt, dass textseitig Deutungsspielräume angelegt sind, die Sachtexte in der Regel nicht bieten. Fahrpläne und Rezepte werden von Leser:innen positiver wahrgenommen, wenn sie monovalent sind, d. h. möglichst eindeutig verstanden werden können. Anders als bei literarischen Texten erwarten Lesende klare Mitteilungen über Tatsachen. Dass diese Erwartungen zuweilen enttäuscht werden und Texte mit diesen Konventionen brechen, kann die Lektüre interessant machen. Außerdem motiviert es uns, mit der schulischen Tradition einer dichotomen Unterscheidung ein Stück weit zu brechen. Wir gehen der Frage, was literarische Texte und Sachtexte eint und trennt, in Kapitel 4 mit textlinguistischen Instrumentarien und literaturdidaktischem Blick ausführlicher nach.

1.3Meist nur implizit: Textlinguistik in den Bildungsstandards

Ein Blick in die „Kompetenzbereiche“ der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife zeigt, dass alle Phänomenbereiche, die die Textlinguistik untersucht, im Deutschunterricht präsent sind – allerdings selten explizit.1

a)

Sprechen und Zuhören

„Die Schülerinnen und Schüler handeln in persönlichen, fach- und berufsbezogenen und öffentlichen Kommunikationssituationen angemessen und adressatengerecht.“

b)

Schreiben

„Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten.“

c)

Lesen

„Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, selbstständig Strategien und Techniken zu Erschließung von […] Texten unterschiedlicher medialer Form anzuwenden und zu reflektieren.“

 

[…] (KMK 2012)

Kohärent ist hier der einzige Terminus, der explizit aus der Textlinguistik übernommen wurde; er taucht auch in Lehrbüchern auf (→ 3.1.2). Was „angemessen“ und „adressatengerecht“ ist, wird nicht erläutert und kann auch (anders als „normgerecht“) nicht als Katalog formaler Textmerkmale festgelegt werden. Hierfür sind fachliche Vorstellungen darüber erforderlich, wie der interaktionale Charakter von Texten verschiedene Textsorten hervorbringt (→ 2)2 und wie eigenes Vorwissen und Annahmen über das Vorwissen eines Adressaten die Informationsstruktur eines Textes prägen (→ 3). Es wird sich zeigen, dass ‚schulische Textsorten‘ eine nur schultypische, aus der alltäglichen Lebenswelt nicht bekannte Kommunikationssituation herstellen – der Textproduzent weiß, dass sein Adressat schon alles weiß, worüber der Text informieren soll – und daher gerade die Anforderung der Ziel- und Adressatenorientierung ein Problem ist, dessen Diskussion die Textlinguistik anschieben kann.

Wenn schließlich Schülerinnen und Schüler selbst Leseprozesse reflektieren sollen, so ist vorauszusetzen, dass Lehrerinnen und Lehrer dies auch tun. Die Textlinguistik liefert hierfür Modelle.

1.4Weiterführende Literatur

Grundlegende Annahmen der Textlinguistik und ihr Verhältnis zu Nachbardisziplinen werden in Schwarz-Friesel/Consten (2014: Kap. 1) erklärt. Zum Verhältnis zwischen Textlinguistik und Deutschdidaktik machen Consten/Dambeck/Steinäcker (2017) kritische Anmerkungen und Vorschläge.

2 Textsorten

2.1Textsorte: Merkkasten oder Alltagswissen?

Textsorten im Deutschunterricht, da denkt man in erster Linie an die Unterscheidung zwischen literarischen Texten und nicht-literarischen Texten. Nicht-literarische Texte werden in der Deutschdidaktik als Sachtexte, Gebrauchstexte oder in den Bildungsstandards pragmatische Texte (KMK 2004, 2012) bezeichnet (vgl. Hummelsberger 2013) – wobei letzterer Terminus vermieden werden sollte, denn er steht im Widerspruch zu den linguistischen Begrifflichkeiten, aus denen er entlehnt ist:

Die Semantik ist Lehre von der wörtlichen Bedeutung eines Ausdrucks; die Pragmatik ist die Lehre von der situativen, kommunikativen Bedeutung einer Äußerung. Natürlich hat jede sprachliche Äußerung eine semantische und eine pragmatische Dimension, dies ist keine Frage der Textsorte.

Bei geschriebenen Texten (seien sie literarisch oder nicht-literarisch), bei denen Produktions- und Rezeptions-Situation weit auseinanderfallen können, ist die Bestimmung der pragmatischen Dimension meist schwieriger als bei Gesprächsäußerungen und am besten unter Zuhilfenahme des Konzeptes ‚Textsinn‘ zu leisten (→ 3.3). Zur Diskussion über Unterschiede im Verstehen von literarischen Texten und Sachtexten siehe 4.1. An dieser Stelle sollte jedoch schon deutlich werden, dass wir literarische Texte und Sachtexte nicht, wie die KMK-Standards dies suggerieren (KMK 2012: 9), als binäre Kategorien, sondern als zwei Pole eines Kontinuums betrachten, wie die folgende Abbildung zeigt.

Abb. 1:

Eigene Darstellung zum graduellen Übergang von Sachtexten zu literarischen Texten

Wird eine Glosse beispielsweise vom Thüringer Lehrplan eindeutig als Sachtext klassifiziert, den es in Klasse 9/10 zu lesen gilt (TMBJS 2019: 43), so möchten wir auf die literarischen Merkmale aufmerksam machen, die eine Glosse im Gegensatz zum Vertragstext mit sich bringen kann.

(2)

Die Kurznachricht an seinen Chef-Dosenöffner, die der kleine Stubentiger nach einem Spaziergang quer über die Tastatur des Laptops hinterlassen hat, ist von sibyllinischer Art: „ppizfscaklllöhdequi9kwlöllk“. Ja, der Kerl kann zwar vierpfotig schreiben, aber eine echte Hilfe ist er wahrlich nicht im Home-Office. Aber nicht nur das kann man ihm zur Last legen, seine seltsame Wortwahl wäre zudem gefährlich für Leib und Leben, wenn sie von einem Superspreader oral verwendet würde. Alleine beim Anlaut „ppiz“ würde jedes Gegenüber derart viele Aerosole abbekommen, dass es sich die Augen wischen müsste.

(Michael Morosow (2020): Konsonanten als Virenschleudern. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/coronavirus-bayern-konsonanten-glosse-1.5107401)