Der Tod im Anflug - Marcus Schwarz - E-Book

Der Tod im Anflug E-Book

Marcus Schwarz

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von Kugeln und Killern – für True-Crime-Fans und die Leser von Michael Tsokos Schusswunden, Schmauchspuren, Kalibermaße: Spannende True-Crime-Fälle aus dem Bereich der Wundballistik stehen im Mittelpunkt, wenn der gefragte Experte Marcus Schwarz von seiner Arbeit im Ballistik-Labor berichtet. Marcus Schwarz, geb. 1987, arbeitet an der Rechtsmedizin Leipzig als forensischer Entomologe. Er gutachtet deutschlandweit im Bereich der Wundballistik als Experte. In einer Vielzahl von Fällen - zumeist bei Tötungsdelikten - hilft er der Polizei und den Staatsanwaltschaften. Zudem bildet er Polizisten und Studenten in seinem Fachgebiet aus. Der Forensiker wird von den Ermittlern hinzugezogen, um bei der Aufklärung von Mordfällen zu helfen, bei denen die Wundballistik eine entscheidende Rolle spielt. Hier gibt er Einblick in seine Vorgehensweise bei Tötungsdelikten und in Fällen von Schussverletzungen, bei denen er als einer der wenigen Experten Deutschlands Gutachten erstellt. Er liefert entscheidende Hinweise, gerade wenn allein der Zustand der Leiche Rückschlüsse auf die Mordwaffe - und damit auf den Tatzeitpunkt und den Täter - zulässt. »Marcus Schwarz hat ein Händchen dafür, den Leser in seinen Kosmos mitzunehmen.« Michael Tsokos

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 258

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marcus Schwarz

Der Tod im Anflug

Aufsehenerregende Fälle aus dem Ballistik-Labor

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Schusswunden, Schmauchspuren, blutige Geschosse: Spannende True-Crime-Fälle aus dem Bereich der Wundballistik stehen im Mittelpunkt, wenn der gefragte Experte Marcus Schwarz von seiner Arbeit im Schießkeller und Seziersaal berichtet. Denn der Forensiker wird von den Ermittler*innen hinzugezogen, um bei der Aufklärung von Mordfällen zu helfen, bei denen Schussverletzungen eine entscheidende Rolle spielen.

Hier gibt Marcus Schwarz Einblick in seine Vorgehensweise in Fällen von den meist tödlichen Schießereien, bei denen er als einer der wenigen Expert*innen Deutschlands in die Ermittlungen involviert ist. Er liefert entscheidende Hinweise, gerade wenn allein der Zustand der Leiche Rückschlüsse auf die Mordwaffe und Tathergang – und damit auf den Täter – zulässt.

Inhaltsübersicht

Triggerwarnung

Vorwort

1 Ballistik

Ein tödliches Duell im Wald

Meine Spezialgebiete: Insekten und Geschosse

Puzzleteile

Der Schuss – ein komplexer Prozess

Innenballistik

Übergangs-Mündungsballistik

Außenballistik

Zielballistik und Wundballistik

2 Von alten Zeiten und gefährlichen Pulvern

Schießpulver

Schießbaumwolle

Ein gefährliches Experiment

Was unsere Pappenheimer mit der Ballistik zu tun haben

3 Schusswaffen

Das Fünf-Stunden-Bolzenschussrätsel der Polizei

Lang oder kurz? – Pistole oder Gewehr?

Kurzwaffen

Revolver

Pistolen

Langwaffen

Flinten

Büchsen

Kombinierte Waffen

Schreckschusswaffen und Druckgaswaffen

Verbotene Waffen

Suizid im Wohnzimmer

Der Tote im Wald

4 Über Kaliber – von Maßen und Massen

Patronen

Die Physik hinter der Ballistik

Geschwindigkeit

(Geschoss-)Energie

Querschnittsbelastung

Rasanz

Grenzenergiedichte

5 Die große Welt der Projektile und Munitionen

Was stimmt nicht mit meiner Patrone?

Munition für Pistolen

Munition für Revolver

Munition für Büchsen

Munition für Flinten

Eine Kugel, gelenkt von Gott

6 Schussverletzungen und Todesursachen

Beeinträchtigung des Blutkreislaufs – Verbluten

Beeinträchtigung des Gehirns und des zentralen Nervensystems

Beeinträchtigungen der Lunge

Schock durch Schrotschuss

Nekrosen oder »Wundbrand«

Sepsis

7 Ein Schuss, ein Treffer?

Sprengschuss und Krönleinschuss

Wirkung und Wirksamkeit

Streifschuss

Prellschuss

Steckschuss

Durchschuss

Querschläger

Ricochet

Die temporäre und die dauerhafte Wundhöhle

8 Der gefährlichste Beruf der Welt?

Der Tod von John F. Kennedy, und was an den Mythen dran ist

Keine Chance für Abraham Lincoln

Wer war wirklich schuld am Tod von James A. Garfield?

Das Rätsel des Schusskanals: William McKinley

9 Wundversorgung

Triage

10 Schusswunden überleben

Theodore Roosevelts Brillenetui

Knapp an Ronald Reagans Herz vorbei

11 Nichtigkeiten

12 Schussrekonstruktionen

Ballistische Gelatine

Ballistische Seife

Synthetische Knochen

Simulationen und Modelle

Messungen

Versuchsaufbauten

Schusswaffensystembestimmung

13 Können Gummikugeln töten?

Schüsse in der Nacht

Eine völlig andere Person

Ballistische Rekonstruktion mit Gummikugeln

14 Mythen über Schusswaffen

Vom Galgen geschossen

Schalldämpfer machen den Schuss nicht lautlos

Verschanzt hinter Autotüren, Tischen und Bartresen

Tod auf der Bundesstraße

Den Hut vom Kopf schießen

Münchhausen auf der Kanonenkugel

15 Die Kriminalistik hinter dem Schuss

Ein- und Ausschuss

Rein …

… und wieder raus

Treffer am Knochen

Und zwischendrin? Der Schusskanal

Die Schussentfernung

Aufgesetzt

Relativer Nahschuss

Fernschuss

Blut

Schmauch

Verletzungen beim Schützen

Selbst- oder Fremdbeibringung

16 Regeln und Gesetze

Ein Schuss ins Knie

Regeln von globaler Gültigkeit

Regel 1

Regel 2

Regel 3

Regel 4

Regel 5

Auf der Jagd

In dubio pro reo

17 Statistik – die nackten Zahlen

18 Lügen, Liebe und der Tod

Spurensicherung

Erste Schritte

Schmauchsicherung

Waffen und Munitionsteile

Einmessen

Fotografische Dokumentation

Zum Weiterlesen

Danksagung

Im Buch werden Straftaten und Unfälle geschildert, die unter Beteiligung von Schusswaffen stattgefunden haben. Ebenso werden militärische und zivile Sachverhalte, die mit Schusswaffen zu tun haben, erläutert. Es wird über Verletzungen und deren Behandlung berichtet.

Außerdem werden Fälle von Suiziden beschrieben, da sie zu meinem Arbeitsalltag dazugehören und meist weit-reichende polizeiliche Ermittlungen nach sich ziehen –zumindest, wenn Schusswaffen gebraucht wurden.

 

Sollten Sie akute Suizidgedanken haben, wenden Sie sich bitte an den Rettungsdienst unter der Telefonnummer 112 (Deutschland, bundesweit) oder 142 (Österreich) oder 143 (Schweiz).

Die Telefonseelsorge hilft auch gerne weiter unter 08001110111 (kath.) oder 08001110222 (ev.) oder unter der Nummer 116123.

Die Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116111.

Entsprechend gibt es auch die Möglichkeit, sich per Mail Hilfe zu suchen unter www.telefonseelsorge.de oder www.telefonseelsorge.at.

Vorwort

Ein Schuss, ein Schrei, und alles ist vorbei. So beginnen viele Krimis im Fernsehen. Meistens sieht man zuerst die Waffe, wie sie in Nahaufnahme von links nach rechts ins Bild kommt, einen Schuss abgibt, dann erfolgt ein Bildschnitt, und irgendwo liegt eine Leiche. Dass es in der Realität nicht so abläuft, kann man sich vielleicht schon denken.

In meinem ersten Buch »Wenn Insekten über Leichen gehen« habe ich bereits mit einigen durch Krimiromane und Serien entstandenen Klischees aufgeräumt. Klischees und Mythen gibt es auch bei Schussdelikten zuhauf. Ich werde wieder versuchen, den eigentlichen Wissenschaftszweig allgemein verständlich zu vermitteln, sodass jeder Leser beim Schauen des Sonntagabendkrimis selbst erkennen kann, was die Regisseure und Drehbuchautoren vermurkst haben. Natürlich geht es auch wieder um reale Fälle, an deren Bearbeitung ich beteiligt war.

Die geschilderten Fälle von Schusswaffengebrauch sind polizeilich und juristisch abgeschlossen. Zum Schutz aller Beteiligten verfremde ich allerdings sämtliche Namen, Orte und Zeiträume sowie einige beiläufige Fakten. Dies ändert abschließend nichts an der wissenschaftlichen Bewertung. Auch sind einige Fälle so speziell, dass sie in ihrer Einzigartigkeit theoretisch nachrecherchiert werden können. Da die Ballistik und die Wundballistik aufgrund ihrer geringen Fallzahl in Deutschland überschaubare Fachgebiete sind, schildere ich hier auch einige Fälle, die vor längerer Zeit und außerhalb Deutschlands passiert oder durch ihre öffentliche Aufmerksamkeit in die Geschichte eingegangen sind. Somit werde ich mich in diesem Buch auch den verschiedenen Attentaten auf US-Präsidenten widmen. Natürlich handelt es sich dabei nur um eine Auswahl, die danach getroffen wurde, wie gut diese Fälle wissenschaftlich recherchiert beziehungsweise bereits niedergeschrieben sind. Gerade bei den ermordeten US-Präsidenten wurden später immer Operations- und Sektionsberichte offengelegt, was für uns Forscher natürlich von großem Wert ist.

Außerdem werde ich auf die Entwicklung der Feuerwaffen eingehen, denn so kann man die teilweise bis heute bestehenden wundballistischen, chirurgischen und dementsprechend auch tödlichen Probleme, mit denen ich tagtäglich im Sektionssaal konfrontiert werde, besser verstehen.

Auf die Schilderung von Amokläufen und Anschlägen, die mit radikalisierten Ideen einhergehen, habe ich verzichtet. Ich finde, die Täter haben es nicht verdient, dass ihr Name in einem unterhaltenden Buch gedruckt wird, geschweige denn ihre Taten. Wir sollten die Täter vergessen, statt ihnen Raum zu geben, und uns umso mehr an die Opfer erinnern.

1 Ballistik

Ein tödliches Duell im Wald

Nicht alle tödlichen Duelle finden zwischen Menschen statt. Als Ballistiker bekomme ich es manchmal mit Jagdunfällen zu tun, auch wenn diese zum Glück selten sind. Eines Tages im Mai war es allerdings so, dass wir zunächst nicht wussten, wer die Waffe auf wen gerichtet hatte. Ein männlicher Leichnam wurde in die Rechtsmedizin gebracht und im Sektionssaal seziert. Bei dem Toten handelte es sich um den erfahrenen Jäger Peter H., der über 25 Jahre im Besitz eines gültigen Jagdscheins gewesen war.

Ich wurde hinzugerufen, um zu klären, wie der Unfall vonstattengegangen sein könnte, denn die zuständigen Mediziner konnten sich nicht genau erklären, wie Peter H. zu Tode gekommen war. Es gab zwar Vermutungen, diese waren aber für jeden Normaldenkenden sehr fragwürdig. Zunächst wurde ich über das Bekannte aufgeklärt:

Der Jäger hatte den Start in die Jagdsaison genutzt und sich frühmorgens zur Rehbockjagd aufgemacht. Doch an diesem Maiabend kehrte er nicht nach Hause zurück. Verwundert machten sich Familienmitglieder in seinem Revier auf die Suche und fanden ihn schließlich am nächsten Morgen tot auf einer Wiese. Neben ihm lag ein ebenfalls toter Rehbock im Gras. Zwischen den leblosen Körpern befand sich, wie zur Mahnung an diesen Vorfall, ein zerbrochenes Gewehr. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Da völlig unklar war, was genau passiert war, und der Notarzt einen nicht natürlichen Tod bescheinigte, wurde die Polizei hinzugezogen.

Die Faktenlage war uneindeutig. Der Rehbock wies offensichtlich eine Schussverletzung auf. Allerdings zeigten aufgeworfene Erdspuren, dass er den Schuss, zumindest eine gewisse Zeit lang, überlebt haben musste. Beim Jäger wurde im Bauchbereich eine größere blutende Verletzung festgestellt. War sie die Todesursache?

Die Polizisten vermuteten zunächst, dass der Rehbock den Jäger mit seinem stattlichen Geweih tödlich verletzt haben könnte. Angriffe von Rehen auf Menschen sind selten, aber sie kommen doch regelmäßig vor. Meistens sind die »Täter« testosterongeladene Böcke in der Brunftzeit im August oder Ricken, die ihren Nachwuchs schützen. Aber dass ein Rehbock schon einmal einen Menschen getötet hätte, war nicht bekannt.

Als der hinzugerufene Rechtsmediziner den Toten in Augenschein nahm, waren alle verblüfft: Bei der blutenden Verletzung am Bauch handelte es sich um eine Schussverletzung. Eingesprengte Pulverrückstände auf der Bekleidung ließen keinen anderen Schluss zu. Es gab klare Zeichen von Schmauch im Bereich des Hosenbundes. Nun wurde es noch komplizierter. Wer sollte Peter H. erschossen haben? Der Rehbock? Eher nicht, natürlich.

Bereits am Tatort wussten alle, dass es knifflig werden würde. Die Einsatzkräfte untersuchten den Fundort genau, aber dadurch wurde der Hergang der Tat – oder des Unfalls – auch nicht klarer. Noch vor Ort im Wald wurde der tote Jäger entkleidet, und der Verdacht bestätigte sich: Es handelte sich um eine mehrphasige Schusseinwirkung. Munition, die für die Jagd verwendet wird, soll naturgemäß viel Energie abgeben, um das Tier so schnell wie möglich zu töten. Dies wird erreicht, indem das Projektil so konstruiert ist, dass es sich nach dem ersten Auftreffen verformt: Seine Oberfläche vergrößert sich und damit die tödliche Wirkung. In der Regel ist mit einem Einschuss und einem Ausschuss zu rechnen. Das Merkwürdige in diesem Fall war allerdings: Es gab zwei Einschüsse und nur einen Ausschuss. Die Lokalisation der Verletzungen war mehr als untypisch und stellte nicht nur die Polizisten am Fundort vor ein Rätsel.

Auffindesituation

Auch die zerstörte Waffe warf mehr Fragen auf, als sie zu beantworten. Es handelte sich um eine sogenannte Bockbüchsflinte, eine spezielle Form eines Jagdgewehrs, die am Holzschaft, am Übergang zur Schulterstütze, glatt abgebrochen war. Das war deshalb komisch, weil das Holz, das für den Schaft verwendet wird, normalerweise äußerst stabil ist, denn es soll den Rückstoß der Waffe abfangen und in die Schulter weiterleiten.

Als die Untersuchung vor Ort beendet war, kam der Leichnam also in die Rechtsmedizin, wo nun die Obduktion Klarheit bringen sollte. Dabei war auffällig, dass die Schussrichtung von oben nach unten verlief. Ich versuchte mir vorzustellen, ob es möglich wäre, sich mit einer 105 Zentimeter langen Waffe von oben in den Bauch zu schießen, und fand es schwer nachvollziehbar. Eher würde man hier einen Schuss in den Fuß oder in den Unterschenkel erwarten.

Ich sah mir den Schussverlauf noch einmal genauer an: Der erste Einschuss befand sich linksseitig unterhalb des Bauchnabels und durchdrang die Bauchfalte mit ihrer Fettschürze, ohne die Bauchhöhle zu eröffnen. Hier waren eine Schmauchhöhle und Rußrückstände. Das Projektil hatte die Bauchfalte dann verlassen und war, vermutlich bereits verformt, in der Leistenbeuge in den Oberschenkel eingetreten. Dadurch wurden sowohl die Oberschenkelvene als auch die Oberschenkelarterie zerstört. Der Oberschenkelknochen wurde ein paar Zentimeter unterhalb des Oberschenkelhalses durchschlagen und in zwei Teile zersprengt. Die hieraus entstehende stark blutende Verletzung wäre selbst für Ersthelfer, wenn sie denn vor Ort gewesen wären, schwer kontrollierbar gewesen. Der Jäger selbst hatte jedenfalls keine Hilfe holen können: Durch die Zerstörung des Knochens war ihm eine Fortbewegung nicht möglich gewesen. Das Projektil hatte sich an dieser Stelle in Splitter zerlegt, diese wiederum waren durch das Weichgewebe bis in die Muskeln und die Fettschicht im Gesäßbereich gewandert. Somit stand die Todesursache fest: unmittelbares Verbluten nach Schusseinwirkung.

Aber wie es genau zu dieser Verletzung kommen konnte, blieb uns nach wie vor unklar. Ich widmete mich daher der Akte und den Fotos, die die Polizei vom Tatort und vom Rehbock gemacht hatte. Das Tier konnte als Übeltäter sehr schnell ausgeschlossen werden. Peter H. hatte es ungünstig schräg oberhalb des Schulterblatts getroffen, und es war kein lebenswichtiges Organ verletzt worden. Trotzdem hatte sich der Rehbock wohl kaum noch wegbewegen können, so viel war klar, denn der Schuss hatte einen Teil der Wirbelsäule erwischt. Der Einschuss war relativ groß. Der Ausschuss war nur unwesentlich größer. Dennoch fand sich unter dem Bock eine Blutlache, er schien also ebenfalls verblutet zu sein.

Zu guter Letzt untersuchte ich zusammen mit dem Gutachter des Landeskriminalamtes die im Verstorbenen gefundenen Projektilfragmente und die zerstörte Waffe. Vielleicht konnten sie ja die entscheidenden Hinweise liefern. Wie bei derartigen Fällen üblich, war die Waffe von der Kriminaltechnik asserviert, also registiert und in die Asservatenkammer verbracht und gemeinsam mit der aufgefundenen Munition als Spuren katalogisiert worden. Bei dem Gewehr handelte es sich um eine sogenannte Bockbüchsflinte. Zwei Läufe, ein Flinten- und ein Büchsenlauf, sind bei so einem Gewehr übereinander und miteinander verlötet, man spricht von »aufgebockt«. Würden sie sich nebeneinander befinden, wäre es eine Doppelbüchse oder eine Doppelflinte, hier nun also die klassische Anordnung einer Bockbüchsflinte. Die Flinte war eine Einzellader-Kipplaufwaffe, das heißt, dass in jedes Patronenlager jeweils nur eine Patrone eingeführt werden konnte. Bei vielen Waffen lässt sich auswählen, welcher Lauf zuerst abgefeuert wird. Dies geschieht entweder durch mehrere Abzüge oder einen Schiebehebel. Der obere Lauf war bei der aufgefundenen Waffe der Flintenlauf. In ihm fand sich eine leere abgefeuerte Patrone eines Flintenlaufgeschosses. Der untere Lauf war der Büchsenlauf. Auch in der dort befindlichen Patronenhülse fehlte die Kugel. Beide Läufe waren demzufolge abgefeuert worden.

Der Sachverständige des Landeskriminalamtes stellte bei der Überprüfung der Waffe fest, dass die Mechanik der Waffe aufgrund vieler Mängel und Abnutzungserscheinungen geschädigt gewesen war. Das Abzugsgewicht des Büchsenlaufs lag bei nur 400 Gramm, was dazu geführt hatte, dass sich durch die Betätigung nur eines Abzuges gleich beide Patronenlager lösen konnten. In so einem Fall werden beide Patronen gleichzeitig abgefeuert. Auch die Sicherung, die bei der vorliegenden Bauart den Abzug automatisch sichert, sobald der Ladevorgang durch Zukippen der Waffe beendet ist, war mechanisch angegriffen. Das Resultat: Die Abzüge waren unkontrollierbar in ihrer Funktion. Da es sich im System um robuste, aber dennoch sehr feingliedrige mechanische Teile handelte, hätte diese Waffe eigentlich einer Generalüberholung bedurft. Oder, auf Deutsch gesagt: Die Waffe war für jeglichen Einsatz ungeeignet, ja sogar gefährlich gewesen.

Ich sah mir die Waffe genauer an. Hinter dem Abzugbügel der Waffe begann der Bruch am Holzschaft. Zwar war er genau an der dünnsten Stelle gebrochen, an der die Konstruktion außerdem durch zwei Schrauben noch eine vorgefertigte Schwächung aufwies; aber trotzdem: Holz ist sehr robust. Es musste schon eine ziemliche Energie auf diese Stelle eingewirkt haben, damit sie zerbrechen konnte.

Ich forschte weiter. Die im verstorbenen Jäger aufgefundenen Projektilfragmente passten zur verwendeten Munitionssorte. Es handelte sich dabei um ein traditionelles Jagdgeschoss, welches in der Jägerschaft für seine guten ballistischen Eigenschaften bekannt ist. Unverschossen hat das Projektil ein Gewicht von 12,8 Gramm. Man kann es für leichtes oder für schweres Wild verwenden, denn es hat vorne einen weichen und hinten einen härteren Bleikern, der von einem nickelplattierten Stahlmantel umhüllt wird.

Die Verletzung des Rehbocks passte zu der zweiten verwendeten Munition, und zwar zu der, die aus dem Flintenlauf heraus abgefeuert worden war. Es handelte sich dabei um ein sogenanntes Flintenlaufgeschoss, das aufgrund seiner Energie und seines Projektilgewichtes von 28 Gramm eher bei schwerem Wild, beispielsweise bei Wildschweinen, Anwendung findet. Durch die Herstellerangaben wusste ich, dass die Anfangsgeschwindigkeit des Projektils beim Verlassen der Mündung bei 468 m/s liegt. Dabei weist es eine Energie von 3067 Joule auf, was beachtlich ist. Es galt herauszufinden, aus welcher Distanz der Rehbock angeschossen worden war. Die ermittelte Position, aus welcher der Jäger auf den Rehbock geschossen haben musste, lag tatsächlich über 120 Meter entfernt. Das war bedeutsam, denn der Energieverlust durch den Luftwiderstand war durch diese Entfernung zu hoch, der Rehbock konnte mit einem gezielten Schuss aus dieser Entfernung nicht erlegt werden. Aus eigener Jagderfahrung wusste ich, dass man auf diese Entfernung nicht mit einem Flintenlaufgeschoss schießen sollte.

Meine Kollegen und ich konnten uns immer noch keinen Reim auf den Unfall machen. Was war geschehen? Hier würde nur eine Rekonstruktion weiterhelfen. Die zerstörte Waffe war dafür natürlich nicht geeignet, da sie durch den Schaftbruch irreparabel zerstört worden war. Wir nutzten also in der Folge eine baugleiche Waffe und begannen, in verschiedenen Positionen Schusskanäle zu rekonstruieren – zur Technik, wie man das macht, später mehr.

Aus der gedachten Flugbahn der Kugel ergab sich, dass die Mündung des Gewehrs bei einer stehenden Position des Schützen nach unten gerichtet gewesen sein musste. Eine hockende oder gar liegende Position konnte ausgeschlossen werden. Auch ein Vorgang, bei dem sich durch einen Sturz oder ein Ausrutschen ein Schuss gelöst haben könnte, hätte bei jeder normalen Trageweise des Gewehrs komplett andere Schussbilder ergeben.

Es blieb somit nur die stehende Position. Der Jäger steht, sieht in der Ferne das Wild, das ist erst einmal ungewöhnlich. Versucht man allerdings, mit nach unten gerichteter Gewehrmündung den Einschuss linksseitig des Bauchnabels zu platzieren, so muss man eine Hand am Abzug haben und mit der anderen Hand weit vorne am Laufbündel anpacken, um überhaupt eine ausreichende Stabilität zu erreichen. Aber vielleicht hatte Peter H. den Abzug gar nicht gedrückt? Denn, wir erinnern uns, das Gewehr war so desolat gewesen, dass sich jederzeit von alleine ein Schuss lösen konnte. Angesichts dieses Bilds fiel es uns wie Schuppen von den Augen: So musste es gewesen sein.

In einer Randnotiz der Polizei war vermerkt worden, dass das Gewehr dazu genutzt worden sein könnte, den Rehbock zu erschlagen. Ein Zeuge, der den Verstorbenen gut gekannt hatte, hatte zu Protokoll gegeben, dass dies bei ihm wohl wiederholt vorgekommen sei. Jetzt ergab plötzlich alles einen Sinn: Peter H. hatte den Rehbock durch den Schuss zunächst nicht tödlich verletzt. Daraufhin hatte er wohl versucht, das Tier durch einen Schlag mit dem Gewehr zu töten, obwohl dies jeglichen tierschutzrechtlichen Regeln und jedem jagdlichen Gewissen widerspricht. Dabei musste sich ein Schuss gelöst haben, der den Jäger selbst traf.

Rekonstruktion des Schusskanalverlaufs

Wir stellten mit dem Gewehr also einen Keulenschlag nach, und nach wenigen Positionsänderungen hatten wir die genaue Schlagposition rekonstruiert, die zu den Wunden passte. Jedoch, wie so oft, lag der Teufel im Detail: Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass der Rehbock von einem Schlag getroffen worden war. Dies hätte deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Wir grübelten: Was wäre, wenn der Jäger noch in der Bewegung gewesen war? Der Schuss musste sich bereits gelöst haben, als das Gewehr nach oben geführt wurde oder kurz bevor der Schlag ausgeführt wurde. Unserer Rekonstruktion nach musste er so gestanden haben, dass das linke Bein vorne, das rechte hinten positioniert war. Und die Waffe hatte sich offensichtlich zu diesem Zeitpunkt in einem geladenen Zustand befunden.

Über das Warum kann man sich in solchen Situationen viele Gedanken machen, die Frage nach dem Motiv allerdings konnte uns hier nicht weiterhelfen. Wir mussten uns auf unsere Rekonstruktionen verlassen.

Wir schlossen aus den Tatsachen, dass hier zudem beinahe alle Regeln zur Waffensicherheit, sämtliche Unfallverhütungsvorschriften und die jagdlichen Gebräuche missachtet wurden. Es war kaum zu glauben, aber nur so ließen sich die vorhandenen Spuren deuten: Der Jäger hatte sich durch extreme Fahrlässigkeit selbst getötet.

Final ergab sich für uns folgende Hergangsvariante: Der Jäger schoss von seinem Hochsitz aus auf den Rehbock. Er beabsichtigte mit hoher Wahrscheinlichkeit, den Kugellauf seiner Bockbüchsflinte zu nutzen und den Bock mit der Kugel und nicht mit dem Flintenlaufgeschoss zu erlegen. Durch die massiven mechanischen Mängel an der Waffe löste jedoch fälschlicherweise der Flintenlauf aus. Der Rehbock wurde daraufhin mit nicht sofort tödlicher Wirkung getroffen.

In der Regel wartet man als Jäger nun zehn bis 15 Minuten ab, um das Tier, welches gegebenenfalls im Sterben liegt, keinem Stress auszusetzen. Hat man die Lage so weit eingeschätzt, entlädt ein Jäger normalerweise zunächst die Waffe und steigt von der Leiter oder der Jagdkanzel. Auch dabei muss die Waffe im Sinne der Unfallverhütungsvorschrift entladen sein. Spätestens jetzt hätte Peter H. auffallen müssen, dass die Hülse des Flintenlaufgeschosses abgefeuert worden war und nicht die Kugel aus dem Büchsenlauf. Am Rehbock angekommen, stellte der Jäger fest, dass dieser noch nicht tot war. Anstatt ihn durch einen Schuss oder durch ein Messer abzufangen – so nennt man das Erlösen von angeschossenem Wild in der Jägersprache –, wollte er den Rehbock vermutlich durch einen Schlag mit dem Gewehrkolben auf den Halsbereich töten. Beim Ausholen löste hierbei die noch im Patronenlager des Kugellaufs befindliche Patrone aus und verletzte den Jäger lebensgefährlich. Peter H. fiel auf den Rücken und verblutete vermutlich in kürzester Zeit. Ein Kampf zwischen Rehbock und Jäger hatte also nicht stattgefunden.

Gewisses Kopfzerbrechen bereitete uns lediglich die Frage, wie der kaputte Gewehrschaft mit dieser Geschichte zusammenpasste. Allerdings war das Material durch zwei Schrauben geschwächt. Außerdem hatten Zeugen ausgesagt, dass der Verstorbene die Waffe schon häufig dazu benutzt hatte, angeschossene Tiere zu erschlagen. So konnte auch der Bruch durch ein Fallenlassen plausibel erklärt werden. Nachdem ich alle Informationen zusammengetragen hatte, war es offensichtlich, dass der Unfall durch eine unglückliche Verkettung von Fehlern verursacht worden war. Die Ermittlungen wurden eingestellt.

Meine Spezialgebiete: Insekten und Geschosse

Ich kam schon relativ früh in Kontakt mit Schusswaffen, und zwar direkt nach dem Abitur. Die erste geladene und scharfe Schusswaffe hielt ich in der dritten Juliwoche des Jahres 2006 in den Händen, nachdem ich als Wehrdienstleistender in eine Kaserne in Thüringen eingerückt war. Als ich an der Munitionsausgabe ein Magazin mit zehn Patronen ausgehändigt bekam, um mein Sturmgewehr G36 einzuschießen, war ich dementsprechend aufgeregt. Derartige erste Male folgten in den kommenden Wochen und Monaten viele. Pistolenschießen mit der Pistole P8, Schießen mit einem Maschinengewehr MG3, gefolgt von Granatpistole und Panzerfaust. Nachdem ich die neun Monate hinter mich gebracht hatte, wurde ich zum Studium der Forstwissenschaften zugelassen, und hier gab es die Möglichkeit, im Rahmen des Studiums den Jagdschein zu erlangen. Seit der bestandenen Jägerprüfung im Jahr 2011 gehe ich regelmäßig zur Jagd.

Wie ich in das Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig gekommen bin, wo ich unter anderem als Wundballistiker arbeite, hat einen anderen Grund, liegt aber auch im Forstwissenschaftsstudium begründet. Schon während des Studiums spezialisierte ich mich auf Forensische Entomologie, also die Insektenkunde an toten, manchmal auch lebenden Körpern. In diesem Fachgebiet geht es darum, durch biologische Vorgänge den Sterbezeitpunkt und damit die Leichenliegezeit genauer einzugrenzen. Auch Intoxikationen der Leiche lassen sich in Insekten nachweisen, wenn Spuren des Gifts und Abbauprodukte von den Insekten aufgenommen werden. Findet man Tiere, die nicht dem Ökosystem oder der Umgebung des Leichenfundortes zuzuordnen sind, oder gibt es Wuchsunterschiede, welche mit den Temperatur- und Luftfeuchteverhältnissen nicht vereinbar sind, kann auch eine Leichenverlagerung durch die Insekten angezeigt werden.

Zur Wundballistik kam ich über einen Umweg. Immer wenn geschossen worden war, wurde ich gefragt: »Marcus, du kennst dich doch mit Schusswaffen aus, kannst du dir das mal anschauen?« So arbeitete ich mich langsam an das Thema heran. Hinzu kamen eine große Menge an Selbststudium und zwei Lehrgänge in Köln und in der Schweiz. Der Rest war »Learning by Doing« bei verschiedenen Rekonstruktionen von Schussfällen gemeinsam mit dem Landeskriminalamt, regelmäßigen Besuchen auf dem Schießstand und verschiedenen Experimenten.

Während der Entomologie immer eine Fragestellung zugrunde liegt, die maßgeblich von der Natur vorgegeben wird, so handelt es sich bei der Ballistik um ein sehr komplexes, jedoch im Großteil berechenbares Konstrukt.

Insekten und die Leichenerscheinungen der Fäulnis und Verwesung von Leichen unterliegen immer einem gewissen zeitlichen Ablauf, der durch äußere biologische und nichtbiologische Einwirkungen bestimmt wird und über eine gewisse Zeitspanne hinweg abläuft. Viele Stellschrauben führen nach einer gewissen Zeit zu einem Resultat, welches nur schwer so wieder zu rekonstruieren ist. Die Insekten sind dafür der zeitlich nachvollziehbare Taktgeber.

In der Wundballistik hat man es dagegen meistens mit dem Resultat einer Handlung zu tun, die im Bruchteil einer Sekunde abgelaufen ist. Als Gutachter muss man versuchen, ein Resultat auf seinen Ursprung zurückzuführen. Dazu benötigt man möglichst viele Informationen, die zusammengefügt ein Bild ergeben. Diese sind dann alle mit festen physikalischen Formeln und Kennwerten versehen und bei ausreichender Datengrundlage experimentell reproduzierbar.

So ist mein Arbeitsleben im Grunde recht abwechslungsreich, denn der Entomologie mit ihren durchaus chaotischen, vergleichsweise langwierigen Verläufen steht für mich die Wundballistik mit ihrem festen System gegenüber. Die beiden Bereiche Biologie und Physik sind in ihrer Herangehensweise recht gegensätzlich, ergänzen sich aber in manchen Fällen wunderbar. Und wer wie ich wissen möchte, was wirklich geschah, findet Hinweise sowohl in der Biologie als auch in der Physik der Tatorte.

Puzzleteile

Ebenso wie die Forensische Entomologie arbeitet die Wundballistik interdisziplinär, das zeigt auch der tragische Fall von Peter H. – hier war ja nicht nur die Jagdkunde entscheidend, sondern zusätzlich die Ballistik, aber auch die herkömmliche Polizeiarbeit der Befragung von Bekannten und ihrer aufschlussreichen Aussage, dass der Tote sein Jagdwild mehrfach mit dem Flintenkolben erschlagen hatte. In den Bereich der Wundballistik fließen alle Informationen ein, die während der kriminalpolizeilichen Ermittlungen erhoben werden – ähnlich wie Puzzleteile, die nach und nach ein Bild ergeben. So können bei Schussverletzungen, bei denen das Opfer überlebt hat, CT- oder Röntgenaufnahmen ausgewertet werden. Dazu kommen Befunde vom Tatort, wie zum Beispiel die Fundorte von Projektilen oder ausgeworfenen Hülsen, Schussdefekte in Möbeln und Scheiben oder auch die Verteilung von Blutspritzern. Weitere Hinweise erhalten wir durch die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Sektion oder einer körperlichen Untersuchung. Zeugenaussagen und Bilder aus Überwachungskameras fließen ebenfalls mit ein. Im Abschluss ist es möglich, eine Plausibilitätsprüfung für mögliche Tatabläufe durchzuführen oder aber Verletzungspotenziale von Schusswaffen und verwendeter Munition abzuschätzen.

Der Schuss – ein komplexer Prozess

Natürlich ist es unerlässlich, dass ein Wundballistiker sich umfassend mit Waffen und Projektilen auskennt. Immerhin hatte ich in meiner Bundeswehrzeit so manche Übungsstunde mit Waffen verbracht. Außerdem ging ich seit meinem Studium regelmäßig zur Jagd. In meinen Lehrgängen musste ich allerdings feststellen, dass Schießen und das Verstehen eines Schusses in seinem Ablauf rein gar nichts miteinander zu tun haben. Das wäre in etwa so, als könnte jeder, der täglich drei Mahlzeiten zu sich nimmt, automatisch kochen.

Wird ein Schuss abgegeben, spielen sich im Bruchteil einer Millisekunde verschiedenste physikalische, chemische und mechanische Prozesse ab, die sich teilweise nur schwer nachvollziehen lassen, da sie auf sehr kleinem Raum unter extremen Bedingungen ablaufen. Zwar gibt es in der Ballistik viel Wissen über die Grundabläufe, aber die Feinheiten liegen teilweise noch im Dunkeln. Erst durch die Möglichkeit von Computersimulationen bekommt die Wissenschaft der Ballistik langsam eine genauere Vorstellung von Details.

Das Wort Ballistik leitet sich ab vom altgriechischen »bállein«, auf Deutsch »werfen«. Deshalb heißt die Ballistik auch »Lehre von den geworfenen Körpern«. Auf diese Körper, in unserem Fall Projektile, die aus Schusswaffen abgefeuert werden, wirken im Verständnis der Ballistik hauptsächlich zwei Dinge ein, die untersucht werden: erstens die Schwerkraft und zweitens das vom Projektil durchdrungene Gas, also die Luft. Da wir vorerst nicht davon ausgehen, dass wir auf dem Mond oder dem Mars gegen Außerirdische zu Felde ziehen, wenden wir für alle weiteren Beschreibungen die festen physikalischen Gegebenheiten unseres Planeten an.

Die Ballistik ist sehr komplex, was man auch daran erkennen kann, dass sie noch einmal in vier Unterbereiche unterteilt ist, die wiederum jeder für sich Bücher über Bücher in den Regalen der Wissenschaft füllen. Hier seien diese vier Teilbereiche nachfolgend nur kurz erläutert.

Innenballistik

Die Innenballistik beschäftigt sich mit dem Verhalten der Patrone und des Projektils von der Zündung bis zum Erreichen der Laufmündung. Schlägt der Schlagbolzen auf das Zündelement der Patrone, zündet das Zündelement das Pulver, und es entsteht ein enormer Gasdruck von bis zu 5000 bar. Im Vergleich dazu: Der Druck eines Autoreifens beträgt etwa 2,5 bar, in einem normalen Luftballon herrschen ungefähr 0,04 bar Druck. Die Volumenvervielfachung der Gasausdehnung löst das eingepresste Geschoss aus der Hülse, die Hülse presst sich zusätzlich an die Wand der Kammer, schließt diese so noch fester ab und wird dabei nach hinten gegen den Verschluss gedrückt. Das Projektil selbst beginnt, sich durch den spiralförmig gezogenen Lauf zu drehen. Die dadurch auf das Geschoss übertragene Drehbewegung wird Drall genannt und in einer Dralllänge gemessen.

Die Dralllänge ist die Länge im Lauf, in der sich das Projektil einmal um die eigene Längsachse dreht. Im Lauf einer normalen Repetierbüchse, wie sie für die Jagd eingesetzt wird, dreht sich das Projektil 1,5 bis 3 Mal, bis es den Lauf verlässt. Dies klingt erst einmal nach nicht viel. Durch die hohe Geschwindigkeit, mit der dies passiert, wird das Projektil aber effektiv auf eine stabile Bahn gebracht. Bei Flinten schiebt der Gasdruck das Paket mit den Schrotkugeln vor sich her durch einen glatten Lauf. Bei gezogenen Läufen wird das Projektil am Beginn des Laufs aus dem Patronenlager heraus durch einen Übergangskegel in den Lauf mit den Zügen und Feldern gepresst.

Schematische Darstellung der Innenballistik eines Gewehrs

Das Patronenlager stellt den Bereich der Waffe dar, in dem die unverschossene Patrone positioniert wird, bevor sie der Schlagbolzen zündet. Es ist so geformt, dass die Patrone bündig hineinpasst, wie ein Kuchen in eine Form. Da das Patronenlager die Patrone inklusive des Geschosses fasst, muss es sich zum Lauf hin verjüngen, denn das Projektil hat einen etwas größeren Durchmesser als der Lauf und presst sich unter hohem Druck in diesen hinein. Dies passiert in einem kleinen Bereich, in dem das Geschoss seine Patrone, in die es eingepresst ist, verlässt: im Übergangskegel, auch Übergangskonus genannt. Bis zum Übergang in den Lauf mit seinen Zügen und Feldern hat die Kugel hier gegebenenfalls noch keine Führung. Deshalb wird dieser Bereich auch als »Rotationsloser Geschossflug« bezeichnet. Dies klingt dramatischer, als es ist, denn meist handelt es sich hier um nur wenige Millimeter, trotzdem können sich die Pulvergase und deren Verwirbelung in diesem Bereich negativ auf den Geschossschub und die Präzision auswirken. Man darf nie vergessen, dass hier hundertstel Sekunden eine große Auswirkung haben können.

Der wichtigste Punkt, der die Innenballistik betrifft und der auch Laien sofort auffällt, wenn sie das erste Mal eine scharfe Schusswaffe in den Händen halten, ist der sogenannte Rückstoß. Dieser resultiert aus dem dritten newtonschen Axiom. Vereinfacht gesagt: Auf die Kraft, mit der das Projektil nach vorn getrieben wird, folgt eine Gegenkraft in die entgegengesetzte Richtung – der Rückstoß.

Übergangs-Mündungsballistik

Je präziser und ausgefeilter die Waffentechnik und deren Herstellungsprozesse wurden, desto mehr neue, wenn auch kleinere Fehlerquellen tauchten auf. Während man in der Anfangszeit der Schusswaffen noch froh war, wenn ein Projektil den Lauf verließ und eine halbwegs gerade Flugbahn hatte, so tauchten im 20. Jahrhundert neue Fragestellungen auf, die wissenschaftlich geklärt werden mussten. Hier kam die Mündungsballistik, auch Abgangsballistik genannt, ins Spiel. Sie wirkt in dem Bereich, in dem das Projektil zusammen mit dem Gas den Lauf an der Mündung verlässt und der Mündungsknall und ein, je nach Waffe und Projektil, ausgeprägter Mündungsblitz entstehen. Würde man beim Schuss von vorn auf eine Waffe blicken – was selbstverständlich keine gute Idee ist –, so könnte man erkennen, dass neben einer Gaswolke aus dem Lauf auch eine kreisförmige Flamme erscheint.