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1954 stürzte ein Transportflugzeug der US Air Force auf seinem Weg in den Südpazifik über den Bergen in Colorado ab – an Bord zahlreiche Behälter mit hochgefährlichen biologischen Kampfstoffen. Fast vierzig Jahre später kann Dirk Pitt, Kommandant der NUMA, das Wrack bergen. Doch einige Behälter fehlen. Eine Terrororganisation hat sich ihrer bemächtigt, und für Pitt beginnt ein Wettlauf mit der Zeit ...
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2015
Clive Cussler
Der Todesflug der Cargo 03
Roman
Übersetzt von Rolf Jurkeit
Flug ins Nichts
Militärflugplatz Buckley, Colorado (USA), Januar 1954
Der Boeing-Stratosphärenclipper mit dem Namen Cargo 03 sah aus wie eine große metallische Krypta. Vielleicht trug auch der Schneesturm, der Tragwerke und Rumpf der Maschine mit einem Leichentuch aus Billionen kleiner Kristalle bedeckte, zu diesem Eindruck bei. Die unregelmäßigen Lichtschimmer im Cockpit und die flüchtigen Schatten der Wartungsmannschaft, die den Riesenvogel auf seinen nächtlichen Start vorbereitete, schufen eine gespenstische Szenerie.
Raymond Vylander, Major der Luftwaffe der Vereinigten Staaten, verwarf die trüben Gedanken, die ihm beim Anblick der Boeing Cargo 03 gekommen waren. Schweigend beobachtete er, wie sich der Tankwagen aus dem Lichtkegel unter dem Flugzeug löste und in der Dunkelheit des Schneegestöbers verschwand. Die Laderampe am Heck des Flugzeugs wurde auf die Piste hinuntergelassen. In dem Lichtschein, der aus dem Frachtraum kam, wurde ein schwerer Gabelstapler sichtbar. Dann fiel Vylanders Blick auf die nahe Startbahn mit der doppelten Lichterreihe, die 3700 Meter lang in die unbesiedelte Ebene von Colorado führte. Die Lichter, so kam es Vylander vor, waren wie die weißen Lampen zu beiden Seiten eines endlos langen Krankenhausflurs. Bevor die beiden Linien am Horizont zusammenstoßen konnten, wurden sie von einem Vorhang tanzender Schneeflocken verdeckt.
Eine Weile lang schloss Major Vylander die Augen. Dann betrachtete er das müde, griesgrämige Spiegelbild, das ihm aus der Fensterscheibe des Büroraums, in dem er stand, entgegenstarrte. Die Mütze, die er trug, war achtlos nach hinten verrutscht und gab einen dichten Schopf dunkelbrauner Haare frei. Die Schultern des Mannes, dessen unbewegtes Bild ihn wie eine unwirkliche Erscheinung ansah, waren vornübergefallen. Der Ausdruck der Augen ähnelte dem eines Hundertmeterläufers in den Sekunden vor dem Start. Das blasse Gesicht dieser Erscheinung verschwamm wie in einer Fotomontage mit der Silhouette des Frachtflugzeuges draußen im Schneesturm. Der Gedanke daran, dass sein Schicksal mit dem der Maschine draußen verbunden war, ließ Vylander schaudern. Er zwang sich, alles was er gedacht hatte, weit weg in sein Unterbewusstsein sinken zu lassen. Dann drehte er sich um und wandte seine Aufmerksamkeit einem Mann zu, der in einer anderen Ecke des schwach erleuchteten Raumes auf einer Tischkante saß. Admiral Walter Bass hatte Vylanders Blick bemerkt. Er ließ sich von der Tischkante herabgleiten, faltete die Wetterkarte, die auf dem Tisch lag, zusammen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Die Wetterfront, Major Vylander, bewegt sich von den Rocky Mountains weg ostwärts. Sie sollte Ihnen beim Überfliegen des Gebirges eigentliche keine Sorgen mehr machen.«
»Überfliegen klingt gut. Ich weiß noch gar nicht, wie ich den bleischweren Vogel bei diesen Wetterbedingungen überhaupt in die Luft kriege.«
»Sie werden es schaffen.«
»Admiral Bass, Sie wissen doch so gut wie ich, dass ein Nachtstart mit einer schweren C-97, die bis zur Halskrause mit Treibstoff sowie mit 35 Tonnen Fracht beladen ist, von einer 1700 Meter hoch gelegenen Startbahn, bei dreißig Knoten Seitenwind und mitten in einem böigen Schneesturm, ein riskantes Manöver ist.«
»Alle diese Faktoren sind bei dem Flugplan, den wir aufgestellt haben, voll berücksichtigt. Sie werden mit einem Sicherheitsabstand von 3000 Fuß vor dem Ende der Startbahn abheben.«
Vylander schüttelte den Kopf. Dann ließ er sich wie eine Gummipuppe, aus der plötzlich die Luft entweicht, auf einen Stuhl fallen. »Ist dieser Flug es wert, das Leben meiner Männer aufs Spiel zu setzen? Was zum Teufel ist eigentlich in die U.S. Marine gefahren, dass sie mitten in der Nacht ein Großraumflugzeug der U.S. Luftwaffe anheuert, um eine obskure Ladung aus dem hintersten Winkel der Vereinigten Staaten zu einer Insel im Pazifik zu befördern?«
Auf dem Gesicht von Admiral Bass wurden Anzeichen von Zornesröte sichtbar. Aber er beherrschte sich. Als er sprach, klang seine Stimme fast so, als ob er nach einer Entschuldigung suchte. »Major Vylander, die Sache ist fürchterlich einfach. Was Sie ›obskure Ladung‹ nennen, ist super dringendes Material für ein spezielles Testprogramm der Regierung. Nachdem Ihre ›Cargo 03‹ in eintausend Meilen Umkreis das einzig verfügbare und geeignete Großraumflugzeug für diesen Transport war, hat sich die Luftwaffe bereit erklärt, die Maschine zeitweilig an die Marine auszuleihen. Die Luftwaffe hat auch zugesagt, dass sie das Flugpersonal für den Transport stellt. Das Personal sind Sie und Ihre Leute. Das ist alles, ganz ohne Tricks und doppelten Boden.«
Eine Weile standen sich beide Männer schweigend und feindselig gegenüber.
»Ich möchte keineswegs aufsässig erscheinen«, sagte Vylander dann. »Aber das ist eben nicht alles.«
Admiral Bass ging um den Tisch herum und setzte sich.
»Doch, das ist es. Für Sie ist dieser Start ein Routineflug wie jeder andere.«
»Warum lassen Sie mich dann nicht etwas hinter Ihren großen Nebelvorhang blicken und sagen mir, was in den Kanistern drin ist, die ich mit diesem ›Routineflug‹ befördern soll?«
Major Bass senkte seinen Blick. »Das kann ich leider nicht. Die Ladung ist top secret.«
Vylander wusste, wann ein Schlagwechsel verloren war. Dieser hier war es. Mühsam stand er auf, nahm die Plastikmappe mit dem Flugplan, den Charts und Wetterkarten vom Tisch und wandte sich zur Tür. Dann blieb er stehen, so als ob ihn eine plötzliche Eingebung am Weitergehen hinderte. »Was ist, wenn wir notwassern müssen?«
»Eine Notwasserung ist unter allen Umständen, ich wiederhole: unter allen Umständen zu vermeiden. Im Notfall müssen Sie versuchen, in einer unbewohnten Gegend notzulanden.«
»Ist das nicht etwas viel verlangt?«
»Dies ist keine Bitte, sondern ein Befehl!«
Vylanders Gesicht verdunkelte sich. »Ist das jetzt alles?«
»Noch eine Kleinigkeit.«
»Und die wäre?«
»Viel Glück!«
Um Admiral Bass’ Lippen war ein verkniffenes Grinsen zu sehen. Es war ein Grinsen von der Art, wie Vylander es nicht ausstehen konnte. Grußlos wandte er sich um, öffnete die Tür und trat in die eisige Kälte hinaus.
Nach wenigen Minuten Fußmarsch durch das Schneegestöber war er an der Maschine. Er ging die Gangway hinauf und begab sich ins Cockpit. Leutnant Sam Gold, Vylanders Kopilot, saß zusammengekauert über der Checkliste, während George Hoffman, der Flugnavigator, mit einem Zirkel auf der Flugkarte hantierte. Keiner der beiden sah von seiner Arbeit auf, obwohl Vylander jetzt unmittelbar vor ihnen stand.
»Was für einen Kurs haben sie uns gegeben?«, erkundigte sich Vylander bei Hoffman.
»Eine schier unübertreffliche Panorama-Route. Unser Flug geht präzis durch die verlassensten Gegenden der ganzen Weststaaten.«
Vylander zog ein sorgenvolles Gesicht. Er sah nach hinten, wo hinter dem offenen Schott zum Frachtraum die riesigen, unheilvoll schimmernden Metallkanister standen. Vergeblich versuchte er zu erraten, was in diesen Behältern verborgen war.
In seinem Nachdenken wurde Vylander von Stabsfeldwebel Joe Burns unterbrochen, der sich von hinten näherte und sein breites Clowngesicht, das Vylander immer an Buster Keaton erinnerte, in den schwachen Lichtschein der Instrumentenbeleuchtung tauchte. »Alles ist bereit zum Start ins blaue Wunder«, meldete er. Vylander löste seine Blicke von den geheimnisvollen Metallkanistern. »Okay«, seufzte er. »Dann werden wir also diesen ganzen streng geheimen Albtraum in die Lüfte heben.«
Stotternd begann der erste der mächtigen vier Propeller sich zu drehen, wenig später folgten die anderen. Vylander beobachtete, wie die Verbindungskabel zum Versorgungswagen gelöst und die Bremskeile unter den Rädern weggezogen wurden. Vorsichtig steuerte er dann das überladene Flugzeug durch den stärker werdenden Schneesturm zur Startposition auf der Hauptpiste. Eine Sekunde lang verspürte er den lächerlichen Wunsch, der Versorgungsmannschaft und den Feuerwehrleuten zuzuwinken, die neben ihm hergefahren waren und jetzt abdrehten, um aus der kalten Nacht in die wohlige Wärme des Flughafengebäudes zurückzukommen. Dann zuckte er die Achseln und wartete schweigend auf die Freigabe zum Start.
Admiral Bass stand im Kontrollturm des Militärflughafens und beobachtete die Boeing, die von hier aus wie ein schwangerer Wal wirkte, der von unsichtbaren Kräften über die schneebedeckte Rollbahn gezogen wurde. »Für Sie, Admiral«, sagte einer der Fluglotsen, die neben Bass standen. Bass ergriff den Hörer und meldete sich mit seinem Namen. »Bitte informieren Sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten, dass Maschine ›Cargo 03‹ startbereit ist.«
»Wann ist die errechnete Ankunftszeit im Zielgebiet?«, hörte er Verteidigungsminister Charles Wilson, seinen Gesprächspartner am anderen Ende, fragen.
»Die Cargo 03 macht eine Zwischenlandung auf dem Flugplatz Hickam auf Hawaii, um aufzutanken. Die Ankunftszeit im Testgebiet ist um 14.00 Uhr Washingtoner Zeit.«
»Hören Sie, Admiral Bass. Präsident Eisenhower möchte uns beide morgen um 8.00 Uhr in seinem Büro sehen. Er besteht auf detaillierten Informationen über die geplanten Tests sowie auf einer laufenden Unterrichtung über Route und Fortgang des Fluges von Cargo 03.«
»Ich werde pünktlich in Washington sein, um den Präsidenten zu informieren.«
»Ich brauche Ihnen ja nicht auszumalen, was passiert, wenn die Cargo 03 über oder in der Nähe einer größeren Stadt abstürzen würde …«
Ein langes, bedrückendes Schweigen, das von beiden Gesprächspartnern in unausgesprochenem Einverständnis eingehalten wurde, folgte diesen Worten. Dann endlich antwortete Bass.
»Nein, Herr Minister. Ein Absturz der Cargo 03 auf eine größere Stadt wäre eine Katastrophe, die in ihrem Ausmaß gar nicht vorstellbar ist.«
»Wie steht’s mit Druck und Drehzahl?«, fragte Kopilot Gold zu Stabsfeldwebel Burns hinüber.
»Brauchen noch ein bisschen«, gab Burns zur Auskunft. »Die dünne Luft von Denver hat der Vogel nicht so gern.«
Vylander betrachtete die Rollbahn, die jetzt, beleuchtet wie die Treppe zu einem billigen Kabarett, vor ihm lag. Es gelang ihm, weit voraus das Lichtsignal zu erkennen, das die Hälfte der 3700 Meter langen Startbahn markierte. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, fast im Takt mit den Scheibenwischern, die den Schnee von der Frontscheibe des Cockpits wischten. Mein Gott, dachte er. Diese Rollbahn ist eigentlich nicht viel länger als ein Fußballplatz. Wie in Trance tastete er nach seinem Handmikrophon.
»Kontrollturm Buckley, hier ist die Cargo 03. Wir sind bereit zum Start. Over.«
»Die Startbahn gehört Ihnen«, hörte Vylander die vertraute Stimme von Admiral Bass im Kopfhörer sagen. »Und noch eins, Vylander. Sparen Sie eines von den barbusigen Inselmädchen für mich auf, okay?«
Vylander antwortete nicht. Er löste die Bremsen und schob die vier Drosselklappen durch, die für die vier mächtigen Motoren des Großraumflugzeugs die volle Leistung freigaben. Wie ein unwilliges Monstrum begann die Boeing ihre unförmige Nase in den Schneesturm zu bohren. Kopilot Gold begann mit monotoner Stimme die langsam zunehmende Geschwindigkeit von den Instrumenten abzulesen. »Fünfzig Knoten.«
Eine große, hell erleuchtete Tafel mit der Zahl »9« huschte vorbei.
»Noch neuntausend Fuß bis zum Ende der Rollbahn«, meldete Gold. »Geschwindigkeit siebzig Knoten.«
Die weißen Lichter zu beiden Seiten der Rollbahn waren zu einer flimmernden Kette geworden, die wie von einer Riesenfaust unter den Flügelspitzen der C-97 entlanggezogen wurde. Immer schneller donnerte das Flugzeug die Startbahn entlang. Die vierblättrigen Propeller der starken Pratt-Whitney-Motoren peitschten durch die eiskalte Höhenluft. Vylanders Hände umklammerten den Steuerknüppel. Seine Knöchel waren weiß vor Anstrengung.
»Geschwindigkeit einhundert Knoten. Noch siebentausend Fuß bis zum Ende der Startbahn.«
Wie gebannt saß Stabsfeldwebel Burns vor den Instrumenten. Er verfolgte jede Bewegung auf den Skalen, jederzeit bereit, aus etwaigen Warnsignalen die nötigen Empfehlungen für den Piloten abzuleiten. Vergleichsweise unbeschäftigt war Hoffman, der Flugnavigator. Hilflos saß er auf seinem Sitz und sah auf die Startbahn hinaus, die mit bedrohlicher Geschwindigkeit unter ihnen wegglitt.
»Geschwindigkeit einhundertfünfundzwanzig Knoten.«
Vylander war voll damit beschäftigt, den Einfluss der unberechenbaren seitlichen Böen auf Tragwerk und Ruder auszugleichen. Ein Schweißtropfen rann ihm die Backe herunter aufs Kinn. Verzweifelt wartete er nun schon seit mehreren Sekunden darauf, dass die dahindonnernde Boeing aufgrund des ungeheuren Luftwiderstandes leichter werden würde. Aber davon war nichts zu spüren. Eine geheimnisvolle Macht schien die schwere Maschine auf der verschneiten Asphaltpiste festzuhalten.
»Einhundertfünfunddreißig Knoten. Noch fünftausend Fuß bis zum Ende der Rollbahn.«
»Heb ab, Baby! Heb ab!«, stammelte Hoffman, während Gold, scheinbar ungerührt, weiterzählte.
»Einhundertfünfundvierzig Knoten. Noch dreitausend Fuß bis zum Ende der Rollbahn.« Gold wandte sich zu Vylander. »Wir können jetzt nicht mehr bremsen«, sagte er. »Entweder wir kommen hoch, oder wir bohren uns in den Acker.«
»Soweit der garantierte Sicherheitsabstand von Admiral Bass«, fluchte Vylander.
»Noch zweitausend Fuß bis zum Ende der Startbahn. Geschwindigkeit einhundertfünfundfünfzig Knoten.«
Vylander starrte wie gebannt auf die immer näher kommenden roten Signal-Leuchten, die das Ende der Startbahn markierten. Die riesige Frachtmaschine, deren Steuerknüppel er umklammert hielt, schien aus massivem Blei zu bestehen. Wie von einer ungeheuren Kraft mit Gewalt am Boden gehalten, raste das Flugzeug auf das Ende der Startbahn zu. Von einem Leichterwerden der Maschine infolge des zunehmenden Auftriebs war nichts zu spüren. Vylander saß jetzt seltsam still und konzentriert auf seinem Sitz, keine Regung war ihm anzumerken.
»Nur noch tausend Fuß Piste!«
Da! Langsam, unendlich langsam, hob die Boeing von der Startbahn ab, nur noch 50 Meter vom Ende der Piste entfernt.
»Fahrwerk einfahren!«, sagte Vylander mit heiserer Stimme. Ein paar bange Sekunden vergingen, während die Cargo 03 nur wenige Meter über dem verschneiten Gelände, das den Flugplatz umgab, dahinschwebte. Dann vernahm Vylander das beruhigende Geräusch, wie die Räder in die Radkästen einklinkten. Gleichzeitig registrierte er eine leichte Erhöhung der Fluggeschwindigkeit. »Fahrwerk ist eingefahren, Klappen sind geschlossen«, meldete Kopilot Gold. Alle waren erleichtert, als die Maschine nach diesen bangen Momenten mit kräftigem Motorengeräusch zügig in den nächtlichen Himmel stieg. Vylander ließ den Stratosphärenclipper eine sanfte Schwenkung nach Nordwest ausführen. Unterhalb des wegkippenden Flügels wurden die blinkenden Lichter von Denver sichtbar. Wenig später umfing eine dichte Nebelschicht die immer noch steigende Maschine. Vylander konzentrierte sich weiterhin angestrengt auf die Beobachtung der Navigationsinstrumente. Erst als er eine Fluggeschwindigkeit von zweihundert Knoten und eine Höhe von 1000 Metern erreicht hatte, sah er einen Moment lang vom Instrumentenbord auf. Hoffman, der Flugnavigator, war hinter ihn getreten. »Wir haben’s geschafft«, sagte er. »Ich muss allerdings zugeben, dass mir beim Start verdammt mulmig zumute war.« – »Mulmig ist vornehm untertrieben«, ergänzte Stabsfeldwebel Burns. »Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.« – »Unsinn. So schnell wird nicht gestorben«, erwiderte Hoffman. Beide grinsten, so als ob sie mit dieser Geste die beklemmende Erinnerung an den Start hätten verscheuchen können.
Dann waren sie auf 5500 Meter Flughöhe. Die Flugrichtung war Westen, sie näherten sich den Rocky Mountains. Vylander machte eine auffordernde Kopfbewegung zu seinem Kopiloten. »Übernehmen Sie jetzt die Steuerung. Ich gehe mal im Frachtraum nach dem Rechten sehen.« Kopilot Gold war erstaunt, dass Vylander ihm die Steuerung der Maschine so bald nach dem Start überließ. Das war sonst nicht seine Art. Gold verschluckte die Frage, die er auf den Lippen hatte. »Übernommen«, meldete er.
Vylander, der Pilot, öffnete Sitz- und Schultergurte, verließ das Cockpit und begab sich nach hinten, in den Frachtraum der Maschine. Sorgfältig achtete er darauf, dass die Verbindungstür zwischen Frachtraum und Cockpit wieder geschlossen war. Die Fracht der Cargo 03 bestand, wie er feststellte, aus sechsunddreißig gleich großen Behältern aus rostfreiem Stahl. Alle Behältnisse waren durch Seilverankerungen im Boden vor dem Verrutschen gesichert. Minutiös betrachtete Vylander die Oberfläche jedes einzelnen Behältnisses. Er suchte nach der üblichen Beschriftung, nach den mittels ausgestanzter Schablonen aufgebrachten Code-Hinweisen auf Gewicht, Inhalt, Datum und Ort der Herstellung, Prüfzeichen und Transportanweisungen. Aber auf keinem der 36 Behältnisse war auch nur die Spur irgendeiner Beschriftung zu finden.
Nach viertelstündiger Inspektion war Vylander im Begriff, seine Suchaktion nach Hinweisen auf die Art seiner geheimnisvollen Fracht aufzugeben. In diesem Moment jedoch bemerkte er eine matt schimmernde kleine Aluminiumplakette, die in die schmale Ritze zwischen zwei der Behältnisse gefallen war. Vylander hob sie auf. Das Plättchen war auf der Rückseite mit einer selbsthaftenden Gummierung beschichtet. Er suchte und fand das Gegenstück, nämlich die leicht klebrige Stelle auf dem metallenen Behältnis, von dem das Plättchen abgefallen sein musste. Gespannt hielt er die Plakette in die Nähe des schwachen Deckenlichts und entzifferte die Aufschrift auf der glatten Seite. Was er las, ließ ihn erschauern, es bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.
Eine Weile lang stand Vylander wie benommen da und starrte auf das kleine Aluminiumschild in seinen Händen. Durch einen starken Ruck, der den Rumpf des Flugzeugs erschütterte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. In wenigen Sätzen war er an der Verbindungstür zum Cockpit. Er riss die Tür auf.
Das Cockpit war voller Qualm.
»Sauerstoffmasken!«, ordnete Vylander an. Die Umrisse von Hoffman und Burns waren inmitten des Qualms kaum noch zu erkennen. Vylander arbeitete sich zum Pilotensitz durch und tastete nach seiner Sauerstoffmaske. Der beißende, scharfe Geruch verschmorter elektrischer Kabel stieg ihm in die Nase. Dann hörte er, wie Gold, der Kopilot, neben ihm mit lauter Stimme ins Bordmikrophon der Funkanlage rief. »Kontrollturm Buckley. Hier spricht Cargo 03. Wir haben Qualm im Cockpit. Erbitten Instruktionen für Notlandung. Ende.«
»Ich übernehme die Steuerung«, sagte Vylander in sein Mikrophon. Golds Bestätigung kam ohne Zögern.
»Burns?«
»Ja, Captain?«
»Was ist kaputt?«
Burns Antwort war wegen der Sauerstoffmaske, die er trug, dumpf, sie hatte einen geisterhaften, hohlen Klang. »Bei dem vielen Qualm lässt sich der Defekt schwer feststellen, Captain. Vorläufig sieht es aus wie ein Kurzschluss in der Funkanlage.«
»Hören Sie, Kontrollturm Buckley!«, rief Gold jetzt lauter ins Mikrophon. »Melden Sie sich doch!«
»Es hat keinen Zweck, Leutnant Gold!«, fiel ihm Burns ins Wort. »Der Kontrollturm Buckley kann Sie nicht hören. Niemand kann Sie hören. Unsere Funkanlage ist durchgeschmort. Wir bringen keinen Ruf mehr nach draußen. Wir sind allein.«
Vylanders Augen tränten von dem immer dichter werdenden Qualm so sehr, dass er kaum noch sehen konnte. »Wir drehen um«, sagte er ruhig ins Mikrophon. »Wir fliegen nach Buckley zurück.«
Während er im Begriff war, den Kurs der Maschine neu zu bestimmen, erschütterte eine starke Vibration den Rumpf des Flugzeugs. Gleichzeitig war ein hartes metallisches Geräusch zu vernehmen. Wie durch Zauberei wurde der Qualm, der das Cockpit vernebelt hatte, abgesaugt. Eiskalte Zugluft drang in die Kanzel. Für die Männer im Cockpit war es ein Gefühl, als ob ihre Gesichtshaut von Tausenden Nadelstichen durchbohrt würde. Immer stärker wurde das Rütteln im Rumpf der Maschine.
»Ein Propellerblatt von Motor Nummer drei hat sich gelöst!«, meldete Burns.
»Auch das noch! Die Benzinzufuhr zu Motor drei unterbrechen! Stellen Sie fest, wie viel von dem Propeller noch da ist!«
Angestrengt machte sich Kopilot Gold an den Cockpit-Instrumenten zu schaffen. Die Vibration wurde schwächer. Vylanders Blick glitt über die Skalen und Kontrollinstrumente. Ein unbezwingbares Angstgefühl schnürte ihm die Kehle zu. »Das abgebrochene Propellerblatt hat den Rumpf durchschlagen«, meldete Hoffman. »Wir haben ein Leck von zwei Metern Durchmesser in der Außenwandung des Frachtraums. Ein Teil der Kabel und die hydraulischen Leitungen sind durchschnitten.«
»Jetzt ist mir klar, warum der Qualm plötzlich weg ist«, sagte Gold trocken. »Er wurde beim plötzlichen Druckverlust aus der Kabine gesaugt.«
»Das erklärt auch, warum die Steuerung nicht mehr funktioniert«, fügte Vylander hinzu. »Die Leitungen sind unterbrochen. Wir können steigen oder sinken. Aber wir können nicht mehr wenden.«
»Vielleicht können wir die Maschine auf Gegenkurs bringen, indem wir wechselweise die Leistung von Motor eins und vier verringern. Das müsste reichen, um in Buckley notzulanden.«
»Wir kommen nicht mehr bis Buckley«, sagte Vylander mit großer Ruhe und seltsam unbeteiligter Stimme. »Durch den Ausfall von Motor drei verlieren wir pro Minute dreißig Meter Höhe, egal was wir mit den verbleibenden Motoren anstellen. Wir haben keine andere Wahl, als in den Rocky Mountains notzulanden.«
Die Feststellung des erfahrenen Piloten wurde von seiner Crew mit beklemmendem Schweigen aufgenommen. Vylander sah, wie sich lähmende Angst in die Züge seiner Männer stahl. Der Tod war an Bord gekommen.
»Eine Notlandung in den Rocky Mountains!«, ließ sich Hoffman vernehmen. »Das ist einfach nicht zu schaffen! Wir enden als zerschelltes Wrack an irgendeiner Felswand.«
»Immerhin haben wir noch drei Motoren und gewisse Navigationsmöglichkeiten. Und wir kommen jetzt unter die Nebelschicht, so dass wir zumindest sehen können, welche Felswand wir rammen oder nicht rammen.«
»Gott sei Dank«, brummte Hoffman mit Galgenhumor. »Es sind diese kleinen Lichtblicke, die das Leben lebenswert machen …«
»Wie liegen wir im Kurs?«, fragte Vylander.
»227 Grad Südwest«, gab Hoffman zur Auskunft. »Wir haben eine Abweichung von fast achtzig Grad vom festgelegten Kurs.«
Vylander nickte ernst und schweigend. Es gab nichts mehr zu sagen in dieser Situation. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt dem Bemühen, die Cargo 03 durch geschickte Änderungen an der Leistung der verbliebenen drei Motoren im Gleichgewicht zu halten. Den raschen Sinkflug der Maschine konnte das nicht aufhalten. Auch wenn alle drei Motoren auf volle Kraft gebracht worden wären, gab es keine Möglichkeit, den rapiden Höhenverlust des schwerbeladenen Frachtflugzeugs auszugleichen. Sie waren dazu verurteilt, teilnahmslos dazusitzen und den flachen Gleitflug zu verfolgen, den die aus der Kontrolle geratene riesige Maschine vollzog.
Recht bald begann die Cargo 03, in die Täler der Colorado Rockies einzutauchen. Seitlich, auf gleicher Höhe, konnte man die über 4000 Meter hohen Bergspitzen unterscheiden. Die Baumspitzen, die durch die dicke Schneeschicht brachen, waren deutlich zu erkennen. Kopilot Gold schaltete jetzt die Landescheinwerfer ein. Angestrengt versuchte er, durch die Scheiben der Kanzel einen Landegrund für die Notlandung auszumachen. Hoffman und Burns saßen reglos auf ihren Sitzen. Mit einem Gefühl von Hoffnung und Verzweiflung warteten sie gespannt auf den unvermeidlichen Aufprall der Maschine in diesem wilden, zerklüfteten Gelände.
Der Höhenmesser war jetzt auf dreitausend Meter gesunken. Es war ein Wunder, dachte Vylander, dass sie überhaupt so tief heruntergekommen waren, ohne an einem Gipfel oder einer Felswand zu zerschellen. Jäh tat sich vor ihnen, während die Cargo 03 im Gleitflug immer tiefer schwebte, eine Waldlichtung auf. Die Baumwipfel wichen zur Seite, und die Landescheinwerfer beleuchteten eine ebene, schneebedeckte Fläche.
»Eine Wiese!«, schrie Gold. »Wir kriegen eine Wiese. Eine phantastische, wunderbare Bergwiese, fünf Grad Steuerbord.«
»Okay«, bestätigte Vylander. Er korrigierte den Kurs der Transportmaschine, indem er die Drosselklappen betätigte. Für die sonst bei Landungen übliche Checkliste war keine Zeit. Es ging jetzt um Leben und Tod. Die Mannschaft wusste nur zu gut, dass sie eine dramatische Bruchlandung vor sich hatte. Es würde der letzte Versuch sein, den abenteuerlichen Flug der Cargo 03 lebend zu überstehen.
Unterhalb der Nase des Cockpits glitt die weißverschneite Fläche entlang wie ein Teppich, der immer näher kam. Kopilot Gold stellte die Zündung und alle noch verbliebenen elektrischen Kontakte ab. Sie waren jetzt nur noch drei Meter vom Boden entfernt. Das Herz stand ihnen still, als sie vernahmen, wie das Geräusch der drei Motoren plötzlich erstarb. Der dunkle Schatten, den die Maschine im Mondlicht auf den hellen Untergrund zeichnete, wurde größer. Dann vereinigte er sich mit dem niedergehenden Rumpf.
Der Aufprall war weniger schlimm, als sie befürchtet hatten. Sanft berührte der Bauch des Flugzeugs zwei oder drei Mal den Schneeteppich. Dann begann die Maschine mit hoher Geschwindigkeit wie ein gigantischer Ski auf dem Schnee dahinzugleiten. Die nächsten Sekunden, während die Maschine außerhalb jeder Kontrolle, nur der Schwerkraft gehorchend, über das nur schemenhaft erkennbare Schneefeld schlitterte, waren qualvoll. Dann plötzlich kam der mächtige metallene Rumpf zum Stillstand. Ein tiefes, unheilvolles Schweigen erfüllte das Cockpit.
Der erste, der seine Sprache wiederfand, war Burns. »Gott im Himmel!«, flüsterte er heiser. Seine Lippen zitterten. »Wir haben es geschafft!« Durch die mit dicken Schneemassen bedeckten Scheiben versuchte er, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Aber die Schneewand war undurchdringlich. Langsam wandte sich Burns zu Vylander um. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen. Aber er bekam keinen Ton heraus. Burns Gesicht war aschfahl, als ihm bewusst wurde, dass in diesem Moment Furchtbares und Unvorstellbares mit der im Schnee versunkenen Maschine vor sich ging. Das Wrack barst und sank. Wie von Geisterhand verwandelte sich das weiße Leinentuch, das sich über das Cockpit der Maschine gelegt hatte, in eine massive Wand nachtschwarzen Eises. Vylanders letzter Gedanke war, dass die Cargo 03 und ihre Mannschaft jetzt das Grabgewölbe gefunden hatten, das ihnen ein unergründliches Schicksal vorbestimmt hatte. Dann umfing ihn ein dunkles, seelenloses Nichts.
Im Hauptquartier der Marine in Washington studierte Admiral Bass vier Monate später den Flugplan, den die verschwundene Cargo 03 hätte einhalten müssen. Er wusste nicht, wie oft er in diesen Wochen die auf der Karte eingezeichnete Unglückslinie angestarrt hatte. Seine Augen waren gezeichnet von den Sorgen, die ihm das rätselhafte Verschwinden der Transportmaschine und ihrer Mannschaft bereitet hatten. Falten der Gram und der Resignation hatten sich in die einst gesunden, kräftigen Gesichtszüge des Admirals eingegraben. Er ließ die Schultern hängen. Innerhalb von vier Monaten war Bass zu einem alten Mann geworden. Das Telefon klingelte. Er nahm ab.
»Admiral Bass?«, fragte eine vertraute männliche Stimme.
»Ja, Herr Präsident?«
»Minister Wilson hat mir berichtet, dass Sie die Suche nach der Cargo 03 abblasen wollen.«
»Ja, das will ich«, sagte Bass mit müder, aber ruhiger und fester Stimme. »Es ist sinnlos, mit der Suche fortzufahren. Spezielle Suchflugzeuge der Marine und der Luftwaffe sowie Bodeneinheiten des Heeres haben jeden Quadratmeter Land und Wasser in einer Breite von 80 Kilometern zu beiden Seiten der Flugroute von Cargo 03 abgesucht. Ohne jedes Ergebnis. Es gibt keine Spur.«
»Und?«
»Die Überreste der Cargo 03 und ihrer Besatzung liegen nach meiner Meinung irgendwo auf dem Grunde des Pazifischen Ozeans. Das ist die einzige Schlussfolgerung, die man vernünftigerweise aus der ergebnislosen Suche ziehen kann.«
»Glauben Sie wirklich, dass die Cargo 03 vor ihrem geheimnisvollen Verschwinden über die amerikanische Westküste hinausgekommen ist und das offene Meer erreicht hat?«
»Ja. Das glaube ich.«
»Ich hoffe sehr, dass Sie mit Ihrer Annahme recht haben, Admiral Bass. Helfe uns Gott, wenn die Cargo 03 irgendwo zu Lande niedergegangen ist.«
»Wenn die Cargo 03 irgendwo über dem amerikanischen Kontinent abgestürzt oder notgelandet wäre, hätten wir sie mit hundertprozentiger Sicherheit gefunden.«
»Ja« – der Präsident schien zu zögern – »das hätten wir wohl.« Der Gesprächspartner von Admiral Bass im Weißen Haus machte eine längere Pause. Dann sagte er: »Ich habe jetzt einen sehr konkreten Wunsch, Admiral. Schließen Sie die Suchakten von Cargo 03 und begraben Sie die ganze Angelegenheit. Begraben Sie sie sehr, sehr tief. Haben Sie mich gut verstanden?«
»Das habe ich, Herr Präsident. Es geschieht so, wie Sie es wünschen.«
Es klickte im Hörer, das Gespräch war zu Ende. Bass legte den Hörer auf die Gabel zurück. Dann sank er erschöpft in seinen Stuhl. Dies war das rühmlose und resignierende Ende der militärischen Laufbahn von Admiral Bass, und er wusste es.
Einmal mehr starrte er auf die Landkarte mit dem Flugplan, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Wo?«, sagte er laut zu sich selbst. »Wo seid ihr, Jungens? Wohin in Gottes Namen seid ihr verschwunden? Wohin?«
Die Frage des Admirals blieb unbeantwortet. Es gab keine Spur von der Cargo 03. Es war so, als wären Major Vylander und seine Mannschaft von einem zum anderen Moment in ein namenloses und geheimnisvolles Nichts verschwunden.
Cargo 03
Colorado, USA, September 1988
1
Dirk Pitt kämpfte mit einem Zustand zwischen Schlaf und Wachheit. Er gähnte ausgiebig und genüsslich. Schließlich dämmerte ihm, wo er war. Es war schon dunkel gewesen, als er an der Berghütte, in der er jetzt aufwachte, angekommen war. Das Holzfeuer in dem mächtigen Naturstein-Kamin hatte gebrannt und das Innere der geräumigen Hütte in ein gemütliches, aber undeutliches Licht getaucht, das von den beiden Petroleumlampen nur wenig aufgehellt wurde.
Pitts Blick fiel auf eine antike Wanduhr, die in Augenhöhe an der rohen Holzwand hing. Gestern Abend hatte er diese Uhr, die stehengeblieben war, aufgezogen und gestellt. Über der Uhr hing der ausgestopfte und präparierte Kopf eines riesigen Elches. Das Tier schien ihn aus glasigen Augen anzusehen. Weiter links befand sich ein großes Aussichtsfenster. Der Blick ging auf das atemberaubende Panorama der gezackten Bergzüge der Colorado Rockies.
Während er sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen rieb, sah sich Dirk Pitt mit der ersten schweren Entscheidung des neuen Tages konfrontiert. Es war dies die Frage, ob er lieber die Bergwelt draußen oder die ungleich sanfteren Hügel der hübschen Laura Smith, ihres Zeichens Kongressabgeordnete des amerikanischen Bundesstaates Colorado, ansehen wollte. Er entschied sich für das Naheliegende, nämlich für die reizvollen Formen von Laura, die in unmittelbarer Reichweite vor ihm auf einem grob gewebten Teppich kauerte und eine Joga-Übung durchführte. Sie hatte die Beine im Lotussitz übereinander gekreuzt. Der schlanke Körper war nach hinten gebogen, so dass Ellenbogen und Hinterkopf auf dem Boden ruhten. Pitt betrachtete das dunkle Dreieck, das im Schnittpunkt von Lauras schlanken Schenkeln zu erahnen war. Mit nicht weniger Aufmerksamkeit musterte er sodann die beiden wohlgeformten, festen Brüste, die sich bei Lauras Joga-Übung anmutig in die Luft reckten. Er befand, dass die Bergwelt von Colorado Lauras Hügeln nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte.
»Wie nennst du diese wenig damenhafte Verrenkung?«, erkundigte er sich.
»Diese Übung heißt ›Fisch‹«, gab Laura zur Auskunft, ohne sich zu bewegen. »Sie dient zur Festigung der weiblichen Brust …«
»Festigung der weiblichen Brust?« wiederholte Dirk Pitt mit gespielter Umständlichkeit. »Es bestehen, wenn man die Dinge vom männlichen Standpunkt aus sieht, ernsthafte Bedenken dagegen, dass Brüste wie deine noch fester werden, als sie schon sind. Man liegt nicht mehr so weich, wenn die Titten hart wie Kieselsteine sind.«
»Hättest du sie wirklich lieber weich und schlaff?«, erkundigte sich Laura, indem sie ihrem bequem auf dem Bett liegenden Gesprächspartner aus ihren schönen, violett schimmernden Augen ungeniert ins Gesicht sah.
»Weich und schlaff darf der Busen natürlich nicht sein«, dozierte Pitt. »Aber etwas Silikon hier, etwas Silikon da wirkt Wunder. Der Busen liegt dann besser in der Hand, und drauf einschlafen kann man auch besser.«
»Männer!«, fauchte Laura, die ihre Lotus-Position aufgegeben hatte und nun ihre rotbraun glänzenden langen Haare bürstete. »Ihr Männer, und insbesondere eine ganz bestimmte Sorte Männer, nämlich verkappte Chauvinisten wie du, wünscht euch die Erde bevölkert mit achtzehnjährigen Kindfrauen, die aber Brüste dick wie Melonen haben müssen, damit das Kind im Manne was zum Hinlangen hat. Am liebsten hättest du wohl, alle Frauen sähen so aus wie die Mädchen auf der Mittelseite der Herrenmagazine.«
»Erraten!«, sagte Pitt lächelnd. »Und wenn man fest genug an diese schöne Zukunftsvision glaubt, wird sie zur Wirklichkeit werden.«
Laura warf ihm einen Blick gespielter Entrüstung zu. »Es tut mir außerordentlich leid, Mister Dirk Pitt, Verfechter des neuen Schönheitsideals der menschgewordenen Milchkuh. Aber Sie werden sich mit meinen Backfisch-Nippelchen abfinden müssen. Diese beiden Mückenstiche hier sind nun einmal alles, was ich anzubieten habe. Ist das jetzt ein für alle Mal drin in Ihrem Dickschädel?«
Pitt antwortete nicht. Er streckte seinen Arm nach Laura aus, ergriff sie mit aller Kraft an der Taille und zog sie zu sich aufs Bett. Sanft und zärtlich beugte er sich über sie, um ihre Brustspitzen zu küssen. Dann stützte er sich auf und lächelte. »Blond oder braun, Melonen oder Mückenstiche – keine schöne Frau soll sagen dürfen, dass Dirk Pitt sie nicht mit der ganzen Kraft seines Körpers und mit der ganzen Inbrunst seiner schwarzen Seele geliebt hat.«
Laura legte sich auf die Seite und begann, spielerisch an Pitts Ohrläppchen zu nagen. »Vier Tage allein mit dir!«, sagte sie dann. »Ich kann’s noch gar nicht glauben, so schön ist es. Kein Telefon, keine Ausschusssitzungen, keine Partys. Keine Sekretärin, die mich von Termin zu Termin scheucht. Sag mir, ob ich träume.«
»Natürlich träumst du, Liebes.«
»Wenn dies alles nur ein Traum ist, dann macht es sicher nichts aus, wenn wir im Traum ein bisschen unzüchtig sind. Oder?«
»Was meinst du mit »etwas unzüchtig«?«
»Frühsport, Dirk.« Sie warf ihm ein vieldeutiges Lächeln zu.
»Kannst du haben. Zurück zum Joga, aber fleißig!« Mit diesen Worten schob Pitt seine nackte Gefährtin, die sich mit Händen und Füßen gegen diese Behandlung sträubte, vom Bett hinunter auf den Joga-Teppich. »Wo ist hier der nächste See?«, fragte er dann unvermittelt.
»See?«
»Ja, See.« Pitt musste lächeln über Lauras erstaunten Gesichtsausdruck. »Wo ein See ist, gibt’s auch Fische. Und ich esse gern Fische. Besonders solche, die ich selbst geangelt habe. Es ist einfach eine gedankenlose Zeitverschwendung, den Tag mit einem flachbusigen Lottermädchen im Bett zu verbringen, anstatt am See zu stehen und eine saftige Forelle an Land zu ziehen.«
Laura schüttelte den Kopf und sah fragend zu ihm hinauf. Dirk Pitt war groß. Er maß über 1,85 Meter. Sein schlanker, aber muskulöser Körper war leicht gebräunt, bis auf einen schmalen Streifen um die Hüften. Sein dichtes schwarzes Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Ausdruck meistens ernst war. Wer Pitt näher kannte, wusste aber auch, dass das gleiche Gesicht ein Lächeln ausstrahlen konnte, das in der Lage war, einen Raum voller Menschen zu erfüllen und zu beherrschen. Dirk hatte seine übliche ernste Miene zur Schau getragen, als er sich bei Laura nach den Möglichkeiten zum Forellenfischen erkundigte. Aber die kleinen Fältchen um seine Augen verrieten ihr, dass er seine Anglerleidenschaft nur vorgetäuscht hatte, um sie gegen ihn aufzubringen.
»Saftige Forellen!«, ahmte sie ihn nach. »Lüg’ doch nicht so unverschämt. Sex hast du im Kopf, und nicht nur dort. Und auf den Arm nehmen willst du mich. Mich, die clevere Kongressabgeordnete Laura Smith. Du wirst gleich sehen, was du davon hast.«
Mit einer raschen Bewegung sprang sie vom Boden auf, stürzte sich aufs Bett und stieß ihren Kopf in seine Magengrube, dass er vor Schmerz und Überraschung einknickte und hintenüber aufs Bett fiel. Dann war sie über ihm. »Hier geschieht jetzt zur Abwechslung einmal, was ich will«, sagte sie außer Atem. Ihr war klar, dass sie ihn nicht wirklich überwältigt hatte. Hätte sich Pitt, der ihr an Körperkräften weit überlegen war, auch nur andeutungsweise gewehrt, wäre sie wie ein Federball in irgendeine Ecke des Raumes geflogen. So aber umfing sie ihn mit ihren Armen. Sanft ließ sie ihr langes Haar über seine Stirn streichen. Dann setzte sie sich in einer plötzlichen Bewegung rittlings auf seine Brust. Pitt nahm sie in die Arme, dann zog er sie nahe zu sich heran und streichelte mit seinen kräftigen Händen die verlockenden Rundungen ihres Gesäßes. Beide ergaben sich der Umarmung und genossen die Erregung, die sie durchströmte. Voller Herzklopfen spürte Laura, wie sein Glied stärker wurde, als er in sie drang. Seine Haut glühte, und es schien ihr, dass die faszinierende Wärme, die sein Körper ausstrahlte, auf sie überginge. »Angeln gehen!«, flüsterte sie mit gespielter Verachtung. »Du hast doch nur eine Angelrute, die du einigermaßen gerade halten kannst. Und die hat keinen Angelhaken.«
Sie frühstückten um zwölf Uhr mittags. Pitt nahm eine erfrischende Dusche. Dann zog er sich an und ging in die Küche. Laura stand am Spültisch und reinigte eine rußverschmierte Pfanne. Sie trug als einziges Kleidungsstück eine Schürze. Pitt blieb im Türrahmen stehen. Es machte ihm Spaß, ihr zuzusehen, wie ihre Brüste beim Pfannenschrubben sanft auf- und niederhüpften. »Was würden deine Wähler sagen, wenn sie dich so sehen könnten«, sagte er.
»Auch Wähler ficken, und zwar nicht wenig«, antwortete sie mit einem Grinsen. »Mein Privatleben geht meine Wähler einen Scheißdreck an. Haben Sie das notiert, Sie impotenter kleiner Pressemensch?«
Pitt ging auf ihre scherzhafte Anspielung – auf die Farce eines Interviews – ein. Er hielt die linke Hand so, als ob ein Notizblock darin läge. Mit der rechten Hand ahmte er die schreibende Bewegung eines Reporters nach. »Sehr aufschlussreich, Kongressabgeordnete Laura Smith. ›Auch Wähler ficken. Und zwar nicht wenige. Das Wort zum Sonntag, gesprochen von Laura Smith, der Kongressabgeordneten aus Colorados korruptionsverseuchtem siebenten Distrikt.«
»Was du sagst, ist einfach nicht wahr!«, fauchte Laura. »Es gibt keine Korruption in meinem Distrikt. Wenn eine amerikanische Kongressabgeordnete oder ein Abgeordneter von sich sagen kann, er sei unbestechlich, dann bin ich es.«
»Außer der vulgären Ausdrucksweise der Kongressabgeordneten Laura Smith gibt es da noch ihre sexuellen Exzesse. Daraus ließe sich journalistisch sicher einiges machen. Ich könnte es sogar selber schreiben. Ich kenne ja die nötigen Details. Enthüllungen aus der begabten Feder von Dirk Pitt. Ein prickelnder Bestseller über den pornographischen Alltag unserer Volksvertreter.«
»Irrtum. Solange ich meine zahlreichen Liebhaber nicht auf Staatskosten aushalte, kann mir niemand etwas anhaben.«
»Und ich? Werde ich etwa nicht von dir ausgehalten?«
»Nein. Du zahlst brav deine Hälfte der Lebensmitteleinkäufe, wie es sich für einen konservativ erzogenen Vorstadtjungen gehört.«
»Es ist schon ein Kreuz«, stöhnte Pitt in gespielter Verzweiflung. »Jetzt dachte ich schon, ich wäre der ausgehaltene Liebhaber einer sittenlosen Politikerin, und ich könnte über all die schlimmen Nächte mit Laura Smith den großen Enthüllungsroman schreiben. Und nun ist es wieder nichts.«
»Für solche Buchprojekte musst du dir eine geile Mitdreißigerin mit entsprechend hohem Bankkonto auf reißen«, konterte Laura. »Nicht so ein züchtiges Mädchen vom Lande wie mich, die nur ihre Arbeit kennt und der Sünde aus dem Weg geht.«
Laura lächelte versonnen, als sie darüber nachdachte, wie sie Dirk Pitt kennengelernt hatte. Es war auf einer entsetzlich versnobten Party gewesen, zu der der unsägliche amerikanische Umweltminister eingeladen hatte. Laura Smith hasste Cocktail-Partys. Und die von Washington ganz besonders. Wenn es nicht beruflich unumgänglich war, eine Einladung anzunehmen, verkroch sie sich lieber in ihr gemütliches Heim, wo sie ihre Aufmerksamkeit einem unterhaltsamen Fernsehprogramm oder ihrem eigenwilligen Kater Ichabod zuwandte.
Auf jener Cocktail-Party des Ministers für Umweltschutz war ihr Dirk Pitt aufgefallen. Es war abends gewesen. Pitt stand etwas abseits, vom Licht der Fackeln angestrahlt, die den Rasen – die Party fand im Freien statt – beleuchteten. Als Laura auf den schlanken, muskulösen Mann mit dem ernsten Gesicht aufmerksam wurde, war ihr Blick von seinen Augen magisch angezogen worden. Wie erstaunt hatte sie ihn angestarrt, und das Gespräch, das sie mit dem Kongressabgeordneten Morton Shaw aus Florida führte, war ins Stocken geraten.
Laura fühlte sich irritiert, weil ihr Puls schneller ging. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr das wegen eines Mannes, den sie noch gar nicht kannte, schon einmal passiert war. Was – so sinnierte sie – war Besonderes an jenem Mann, der dort allein stand und sie von weitem mit ruhigem Blick musterte? Er war kein Beau. Jedenfalls war er nicht schön in dem Sinne, wie es bestimmte Filmschauspieler in den Augen ihrer weiblichen Fans sind. Aber er hatte eine Ausstrahlung von beherrschter Männlichkeit, die ihr gefiel. Er war groß. So groß, wie sie es liebte.
Nachdenklich und interessiert betrachtete Dirk Pitt die Gäste rings umher. Es imponierte Laura, dass sein Verhalten so gar nichts von jener arroganten Überheblichkeit zu haben schien, die sie an vielen Politikern und Wirtschaftsbossen so verachtete.
»Wer ist der wettergebräunte Pfadfinder dort neben der Fackel?«, fragte sie ihren Gesprächspartner, den Kongressabgeordneten Morton Shaw. Der wandte sich um und schaute in die Richtung, die Laura mit einem kaum merklichen Nicken ihres Kopfes angedeutet hatte. Eine Geste des Wiedererkennens überflog sein Gesicht, er lachte. »Zwei Jahre sind Sie schon in Washington, Laura, und Sie kennen diesen Mann nicht?«
»Wenn das der Fall wäre, würde ich nicht fragen. Wer ist das? Heraus mit der Sprache!«
»Sein Name ist Pitt. Dirk Pitt. Er ist Leiter der Spezialprojekte bei der NUMA, der Nationalen Unterwasser- und Marine-Arbeitsgemeinschaft. Sie erinnern sich vielleicht an die Hebung des Wracks der ›Titanic‹, die so viel Schlagzeilen machte. Dirk Pitt leitete die Operation und wurde damit über die Grenzen der USA hinaus bekannt.«
Ja, das war er. Laura ärgerte sich, dass ihr die Erinnerung an das Gesicht nicht schon früher gekommen war. Wochenlang hatten die Zeitungen und Fernsehstationen damals die Story von der erfolgreichen Hebung des berühmten Ozeanschiffes durchgehechelt, das im Jahre 1912 im Nordatlantik gesunken war und 1517 Menschen mit sich in die eisige Tiefe gerissen hatte. Dort drüben, nur wenige Schritte von ihr, stand also der Mann, der das Bergungsprojekt, das vorher von Fachleuten einhellig als technisch undurchführbar bezeichnet worden war, zum Erfolg geführt hatte. Sie war entschlossen, ihn kennenzulernen. Mit klopfendem Herzen bahnte sie sich einen Weg durch die Gäste, bis sie vor ihm stand.
»Mister Pitt«, sagte sie. Weiter kam sie nicht. Die Partyfackel, die das Gesicht ihres Gegenübers beleuchtet hatte, flackerte in der leichten Brise, die aufkam. Ein Blick aus Pitts Augen, die im Widerschein der Fackel in ein faszinierendes Licht getaucht wurden, traf sie und machte, dass sie alles vergaß, was sie hatte sagen wollen. Ein süßes Gefühl, das ihre Sinne zu betäuben drohte, staute sich in Lauras Magengegend. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie etwas Ähnliches verspürt. Damals war es ein prominenter Skifahrer der amerikanischen Olympiamannschaft gewesen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Sie errötete. Es war gut, so dachte sie, dass der Mann, vor dem sie jetzt stand, die zarten Flecken nicht sehen konnte, die sich aus ihr unerfindlichen Gründen auf ihre Wangen gestohlen hatten.
»Mister Pitt«, begann sie von neuem … Wieder suchte sie nach den richtigen Worten. Dirk Pitt sah sie fragend und abwartend an. Ich sollte mich ihm einfach vorstellen, fuhr es ihr durch den Kopf. Statt jedoch ihren Namen zu sagen und irgendeinen Anknüpfungspunkt zu finden, der mit der Politik oder mit dem Beruf ihres Gegenübers zu tun hatte, brachte sie nur eine recht gedankenlose Frage hervor, die sie bereute, noch ehe sie sie ganz ausgesprochen hatte. »Was ist Ihr nächstes Projekt, nachdem Sie die ›Titanic‹ nun erfolgreich hochgeholt haben?«
Dirk Pitt zauberte ein breites, sehr selbstsicher wirkendes Lächeln auf seine ernsten Züge. »Mein nächstes Projekt hat einen weit höheren Schwierigkeitsgrad als die Bergung der ›Titanic‹. Trotzdem freue ich mich darauf, weil die Bewältigung dieser neuen Aufgabe mich mit großer persönlicher Befriedigung erfüllt.«
»Um was für ein Projekt handelt es sich?«
»Um ein sehr privates, wenn ich so sagen darf. Es handelt sich um die Verführung der Kongressabgeordneten Laura Smith.«
»Ich lache später«, konterte Laura kühl. »Vielleicht kommt der Witz noch. Man soll da nicht ungerecht sein, sondern die Leute zu Ende reden lassen. Besonders, wenn sie stottern.«
»Ich mache keinen Scherz«, sagte Pitt, immer noch lächelnd. »Eine tiefe sexuelle Beziehung zu so einer attraktiven Politikerin wie Ihnen würde ich nie auf die leichte Schulter nehmen.«
»Eine Frage ist vielleicht trotzdem erlaubt, Mister Pitt. Arbeiten Sie bei diesem Projekt im eigenen Auftrag? Oder werden Sie für den delikaten Job von der Opposition bezahlt?«
Anstatt zu antworten, nahm Pitt sie bei der Hand und zog sie mit sanfter Gewalt durch das Gewimmel der Oberen Zehntausend, die schwatzend, das Cocktailglas in der Rechten, auf dem Rasen herumstanden und sich einem Kater entgegentranken, zum Ausgang. Laura ließ es mit sich geschehen. Sie war neugierig, was der kühnen Eröffnung an Taten folgen würde.
Als sie den Parkplatz verlassen hatten und Pitt sich mit seinem Wagen in den fließenden Verkehr auf der schattigen Allee einfädelte, setzte sich Laura so, dass sie ihren Begleiter ansehen konnte. »Darf das Opfer wenigstens fragen, wohin es entführt wird?«
»Aber sicher«, entgegnete Pitt. »Die Entführung der Kongressabgeordneten Laura Smith findet in zwei Phasen statt. Phase eins hat eine gemütliche Bar zum Schauplatz, wo wir uns aneinander kuscheln und uns gegenseitig unsere intimsten, bisher uneingestandenen Wünsche verraten.«
»Und Phase zwei?«, fragte Laura. Es ärgerte sie, dass ihre Stimme vor Erregung heiser klang.
»Die Phase zwei ist für das Gelingen des Unternehmens entscheidend. Sie besteht in einer Fahrt mit einem Tragflügelrennboot im 150 Kilometer-Tempo quer durch die Chesapeake-Bucht.«
»Nicht mit mir«, wandte Laura ein.
»O doch!«, beharrte Pitt auf seinem Plan. »Die sinnreiche Folge von Intimität und Geschwindigkeit hat sich bei allen meinen Entführungsprojekten vorzüglich bewährt. Im Falle von weiblichen Kongressabgeordneten wirkt sich das Rezept so aus, dass aus einer eher unauffälligen jungen Dame im Handumdrehen ein liebestolles, unersättliches Vollblutweib wird.«
Es dauerte bis zum nächsten Morgen, bis Laura alle Einwände gegen Pitts so offen dargelegte Entführungstheorie aufgab. Die Praxis hatte sich sogar als noch reizvoller erwiesen als die Theorie. Die einzigen Spuren, die von Lauras anfänglichem Widerstand zurückblieben, waren die Bissmale und Kratzer, die Laura ihrem Entführer an den Schultern beigebracht hatte. Sie betrachtete diese Spuren mit Sinnlichkeit und nicht ohne Stolz.
»Jetzt ist es aber genug mit den Schäferspielen«, sagte Laura lachend und machte sich von Dirk Pitt frei, der vor ihr stand und sie mit den Armen umfangen gehalten hatte. Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür hin, durch die der Blick auf die Laub- und Tannenwälder der Colorado Rockies fiel. »Ich habe einen dicken Packen Korrespondenz zu erledigen, bevor wir morgen unseren Einkaufstrip nach Denver machen können. Warum streunst du nicht ein bisschen durch den Wald, während die fleißige Kongressabgeordnete Laura Smith sich in ihre Wählerpost vergräbt? Heute Abend mach’ ich dann ein absolut versnobtes Feinschmeckeressen für uns beide. Gegessen wird am flackernden Kamin. Die Lady des Hauses wird wahrscheinlich nur mit einem Hauch Parfüm bekleidet sein.«
»Du weißt doch, wie abweisend ich derartigen Ausschweifungen gegenüberstehe, Laura«, widersprach Pitt. »Und Pfadfinderausflüge in die freie Natur sind auch nicht meine Sache.«
»Sagtest du nicht, du würdest gern angeln?«
»Wo denn hier?«
»Wenn du hinter dem Blockhaus einen halben Kilometer bergauf gehst, siehst du im Tal auf der anderen Seite einen kleinen Bergsee. Er heißt ›Table Lake‹. Mein Vater hat dort oft gefischt. Und immer etwas gefangen.«
Dirk Pitt nickte. Er wandte sich zum Gehen. »Du bist schuld daran, dass ich heute erst so spät aus den Federn gekommen bin! – Laura, das unersättliche Halbblut.«
»Du tust mir richtig leid. Vielleicht findest du am Ufer des Table Lake ein blondes Farmerstöchterlein, das dich tröstet. Ein unverbildetes Naturkind. Nicht so sündhaft und verkommen wie deine dekadente Freundin aus der Stadt.«
»Hoffentlich. Deshalb gehe ich ja angeln. Hast du Angelzubehör im Haus? Vielleicht von der Ausrüstung, die dein verstorbener Vater benutzte?«
»In der Kellergarage müsste Angelzeug herumliegen. Vater bewahrte sein ganzes Gerät dort auf. Nimm dir den Garagenschlüssel vom Kaminsims und schau nach, ob du findest, was du brauchst.«
Das Schloss der Kellergarage war eingerostet. Offensichtlich war die Garage lange Zeit nicht geöffnet worden. Pitt spuckte ins Schlüsselloch, um das Innere des Schlosses geschmeidig zu machen. Dann steckte er den Schlüssel hinein, den er auf dem Kaminsims der Blockhütte gefunden hatte, und drehte ihn so fest herum, dass er fast meinte, der Bart des Schlüssels müsste gleich abbrechen. Endlich gab das Schloss nach. Die beiden Türhälften quietschten in ihren Angeln, als Pitt sie aufstieß. Er wartete eine Weile, bis sich seine Augen an das Dunkel, das in der Garage herrschte, gewöhnt hatten. Dann ging er hinein, um sich umzusehen. Er entdeckte eine verstaubte Werkbank, über der verschiedenes Werkzeug sehr ordentlich an der Wand angebracht war. Auf einigen an der Wand befestigten einfachen Regalbrettern standen Dosen, die Farbe, Nägel und Schrauben enthielten.
Das Angelgerät, das Pitt suchte, fand er unter der Werkbank. Es waren allerdings nur Angelleinen und Angelhaken. Die dazugehörige Rute musste an anderer Stelle liegen. Suchend sah sich Pitt um. Richtig, dort in der Ecke stand die Angelrute, die Lauras Vater benutzt haben musste. Um in die Ecke zu gelangen, musste Pitt allerdings um ein Hindernis herumgehen. Es handelte sich um eine Art Maschine oder unregelmäßig geformte Kiste, die mit einer Segeltuchplane abgedeckt war. Die Lücke zwischen der abgedeckten Maschine und der Wand erwies sich allerdings als zu eng, als dass sich Pitt hätte durchzwängen können. So entschloss er sich, sich halb auf das Hindernis zu legen und mit dem ausgestreckten Arm die Angelrute, die im Halbdunkel in der Ecke lehnte, herüberzuziehen. Plötzlich spürte er, wie das Hindernis, auf das er sich stützte, nachgab. Er geriet ins Rutschen. Vergeblich versuchte er, noch im Fallen, sich an der Segeltuchplane festzuhalten, mit der das unförmige Hindernis abgedeckt war. Aber auch die Plane gab nach. Pitt hielt sie noch in der Hand, als er fluchend auf dem dreckigen Boden der Garage landete.
Seufzend stand er auf und bürstete sich, so gut es ging, mit den Händen den Dreck von der Hose. Dann starrte er neugierig auf das Hindernis, das nun frei dastand und das ihn von der begehrten Angelrute und einem geruhsamen Nachmittag an dem fischreichen Bergsee trennte. Was er sah, machte ihn erstaunen. Ratlos betrachtete er die beiden seltsamen metallenen Gegenstände, die er so zufällig entdeckt hatte. Wie kam so etwas in die Kellergarage einer Blockhütte in den Colorado Rockies?
Pitt verließ die Garage und rief nach Laura. »Was gibt’s?«, schrie sie zurück, indem sie sich aus dem Fenster lehnte.
»Komm doch bitte für einen Moment in die Garage runter, und sieh dir das einmal an.«
Laura zuckte die Achseln. Sie warf sich einen Mantel über, der sie vor dem kühlen Herbstwind schützen sollte, der über die Höhen wehte. In wenigen Schritten war sie bei Pitt, der sie in die Garage führte und auf die von der Segeltuchplane entblößten Gegenstände deutete, die seine Aufmerksamkeit und seine Neugier geweckt hatten. »Wie kommt dein Vater denn an so etwas?«
»Keine Ahnung, Dirk. Was ist das denn eigentlich?«
»Die gelbe Stahlflasche ist ein Sauerstoffbehälter, wie er bei Flugzeugen verwendet wird, die in großer Höhe fliegen. Das andere Teil ist das Bugrad eines Flugzeugs, komplett mit Felge und Reifen. Nach dem Rost und Schmutz zu urteilen, müssten beide Teile schon einige Jahre auf dem Buckel haben.«
»Das mag schon sein. Ich erinnere mich nur nicht, diese Dinger je in der Garage gesehen zu haben. Ich sagte dir ja, dass mein Vater vor drei Jahren bei einem Unfall ums Leben kam. Seitdem bin ich nicht mehr in der Garage unten gewesen. Und vorher, als Vater noch lebte, sind mir diese beiden Flugzeugteile nie aufgefallen. Wenn sie vorher dagewesen wären, hätte ich sie bestimmt bemerkt.«
»Kannst du dich erinnern, ob in dieser Gegend irgendwann einmal ein Flugzeug abgestürzt ist?«, erkundigte sich Pitt.
»Keine Ahnung. Aber wenn ein Flugzeug hier abgestürzt ist, müsste ich das nicht unbedingt wissen. Ich komme ja selten hierher. Mit den Nachbarn habe ich wenig Kontakt. Und wenig Gelegenheit, über die örtlichen Neuigkeiten zu sprechen.«
»Wo wohnen denn die nächsten Nachbarn?«
»Die Straße abwärts, in Richtung auf die Stadt. Dann die erste Abzweigung nach links.«
»Und wie heißen sie?«
»Raferty. Lee und Maxine Raferty. Er war früher bei der Kriegsmarine.«
Laura sah Pitt an und drückte seine Hand. »Warum fragst du mich das alles?«
»Aus Neugierde, Liebes.« Er nahm ihre Hand zu seinen Lippen hoch und küsste sie. »Bis nachher. Zum Feinschmeckermahl am flackernden Kamin bin ich pünktlich zurück. Vermutlich gibt es angebrannte Kartoffeln. Oder?«
»Lass dich überraschen«, sagte Laura und lächelte. Aber Pitt war schon weg. In langsamem Lauf bewegte er sich die Straße hinunter, in die Richtung, die zur Stadt und zu den Rafertys führte.
»Wolltest du nicht angeln gehen?«, rief Laura hinter ihm her.
»Ich hasse Angeln«, rief Pitt zurück.
»Warum nimmst du nicht den Jeep, wenn du zu den Rafertys willst?«
»Der Waldlauf war deine Idee. Jetzt hast du einen Waldläufer und bist immer noch nicht zufrieden.«
Pitt war jetzt schon so weit weg, dass Laura ihn kaum noch hören konnte. Sie sah zu, wie er sich immer weiter entfernte, bis der helle Punkt, den seine Gestalt vor der dunklen Silhouette des Waldes bildete, schließlich hinter einer Wegbiegung verschwand. Dann spürte sie die Kühle des Herbstes und fröstelte. Männer können schon recht eigenartig sein, dachte sie, während sie kopfschüttelnd in die warme Berghütte zurückging. Recht eigenartig. Und wenn sie Dirk Pitt heißen, sogar ausgesprochen rätselhaft.
2
Maxine Raferty sah aus, wie Frauen von der amerikanischen Westküste aussehen. Ihre Figur war eher dicklich. Sie trug ein lose fallendes Kleid aus buntbedrucktem Stoff und eine Brille mit randlosen Gläsern. Ihr Haar, dessen graue Farbe sie sich mit einem Blaustich hatte tönen lassen, trug sie unter einem Haarnetz verborgen. Es sah nicht sehr vorteilhaft aus, wie Pitt zugeben musste. Maxine Raferty saß, dick mit Decken gegen die aufkommende Kühle eingehüllt, auf der überdachten Terrasse ihres Blockhauses. Sie las einen Krimi. Lee Raferty, ihr Mann, befand sich draußen, vor dem kleinen Anwesen. Er kauerte unter dem Vorderteil eines hochrädrigen kleinen Lastwagens und war, wie Pitt aus seiner ölverschmierten Kleidung schloss, dabei, eine Reparatur an dem sichtlich altersschwachen Fahrzeug auszuführen. Dirk Pitt lief näher heran. Vor der Blockhütte angekommen, stoppte er und begrüßte die beiden Bewohner.
»Guten Tag.«
»Guten Tag«, entgegnete Lee Raferty. Er war hager wie eine Bohnenstange und kaute, während er Pitt prüfend, aber nicht unfreundlich, ansah, an einer erloschenen Zigarre. Dann übernahm Maxine, seine Frau, die Regie der Fühlungnahme mit dem Fremden.
»Genau der richtige Tag für einen Fitness-Lauf«, lobte sie. Es entging Pitt nicht, dass ihre Augen recht kritisch auf ihm ruhten.
»Da haben Sie recht. Der kalte Wind verhindert, dass man ins Schwitzen kommt. Anstrengend ist’s trotzdem.«
Pitt stand da und sah zur Terrasse der Blockhütte hinauf. Er lächelte und wartete ab. Die Rafertys ihrerseits gaben sich freundlich, aber zurückhaltend. Es war die Art von Reserviertheit, wie Pitt sie des Öfteren bei Menschen in der Provinz beobachtet hatte. Freundlich – aber auch auf der Hut vor dem Fremden, Unbekannten. Insbesondere wenn der Besucher ohne klar ersichtlichen Anlass kam, oder wenn sein Aussehen verriet, dass er aus der Stadt stammte. Nach einer kleinen Weile gegenseitigen Abschätzens rieb sich Lee Raferty die ölverschmierten Hände mit einem Tuch sauber und kam auf Pitt zu.
»Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?«
»Ja. Sind Sie Lee und Maxine Raferty?«
Diese Frage von Pitt veranlasste die Dame des Hauses, mit einer abrupten Bewegung von dem Korbstuhl aufzustehen, auf dem sie bis dahin regungslos gekauert hatte. »Ganz recht«, sagte sie mit fester Stimme und indem sie Pitt einen herausfordernden Blick zusandte. »Wir sind die Rafertys!«
»Ich bin Dirk Pitt«, sagte der so Gemusterte, ohne sich von der kaum merklichen Schärfe im Tonfall der Blockhausbesitzerin beeindrucken zu lassen. »Ich bin Gast von Laura Smith, weiter oben an der Straße.«
Dieser Hinweis brach das Eis. Der fragende Ausdruck im Gesicht der beiden Rafertys machte einem breiten Lächeln Platz. »Laura Smith«, sagte Mrs. Raferty mit einem Ausdruck unverhohlener Bewunderung. »Wir sind hier alle sehr stolz auf Laura Smith. Sie tut viel für uns und für die Gegend. Von der könnten sich viele Lokalpolitiker eine Scheibe abschneiden. Eine tüchtige Frau. Nur leider zu selten hier.«
»Ich bin gekommen, weil ich Sie etwas fragen wollte, was die Gegend hier betrifft.«
»Wenn wir Auskunft geben können – gerne«, antwortete Lee Raferty.
»Steh nicht so herum wie ein Klotz. Gib unserem Gast was zu trinken. Mister Pitt sieht aus, als ob er Durst hat.«
»Danke«, bemerkte Pitt, als er den fragenden Blick von Lee Raferty auf sich ruhen sah. »Ein Bier wäre nicht schlecht.«
Pitt ging auf die Tür des Blockhauses zu. Mrs. Raferty öffnete und schob ihn mit einer freundlichen Gebärde durch die Türöffnung. »Sie bleiben zum Mittagessen!«, sagte sie, als sie drinnen waren. Es war mehr ein Befehl als eine Bitte. Pitt entschloss sich, das Unvermeidliche in Ergebenheit hinzunehmen und der mit so großer Bestimmtheit ausgesprochenen Einladung nachzukommen. Es schien ihm die einzige Möglichkeit, jene Information zu erhalten, die er sich von den Rafertys erhoffte. So nickte er der Hausherrin, die die Einladung ausgesprochen hatte, freundlich zu. Dann sah er sich im Inneren des Hauses um. Es wirkte mehr wie ein Bungalow denn wie ein Blockhaus. Der Wohnraum, in dem er sich befand, war weiträumig und hoch. Ungehindert ging der Blick bis an die alte Balkendecke. Nur an einer Seite des Raumes wurde die Symmetrie von einer Treppe unterbrochen, die nach oben führte und das Erdgeschoss mit einem Schlafraum verband, vor dem eine Empore verlief. Der weitläufige Wohnraum war mit erlesenen Möbeln im »Art Deco«-Stil ausgestattet. Pitt fühlte sich in die Dreißiger Jahre versetzt, während er herumging und die Ausstrahlung dieses Interieurs genoss. Mrs. Raferty hatte ihn alleingelassen und war zur Küche geeilt, aus der sie bald darauf mit zwei bereits geöffneten Bierflaschen zurückkehrte. Es fiel Pitt auf, dass die Flaschen kein Etikett trugen.
»Ich hoffe, mein selbstgebrautes Bier schmeckt Ihnen«, sagte Lee Raferty lächelnd, als er das zweifelnde Blinzeln in Pitts Augen bemerkte. »Ich bin richtig stolz auf meine Fähigkeiten als Brauer. Vier Jahre lang hab’ ich herumlaboriert, bis ich den Trick raus hatte. Sie wissen schon: einmal war’s zu süß, dann wieder zu bitter. Aber jetzt schmeckt’s richtig. Hat acht Prozent Alkohol, falls Sie das interessiert.«
Pitt kostete aus der Flasche. Es schmeckte besser, als er erwartet hatte. Außer einem sehr geringfügigen Nachgeschmack nach Hefe war an Mr. Rafertys Gebräu nichts auszusetzen. Man hätte es jederzeit als Markenbier verkaufen können.
Maxine Raferty war mit dem Tischdecken fertig. Sie winkte den beiden Männern zu, zum Essen zu kommen. Es gab eine große Schüssel recht schmackhaften Kartoffelsalat, gebackene Bohnen, zartes Rindfleisch in Scheiben und eine andere, Pitt unbekannte Fleischsorte als Zwischengang. Die Hausherrin servierte. Als die Männer bereits aßen, ging sie noch einmal in die Küche, um die beiden inzwischen geleerten Bierflaschen gegen zwei volle auszutauschen. Pitt, der trotz der vor nur einer Stunde eingenommenen Morgenmahlzeit von Laura Hunger verspürte, ließ sich nicht lange bitten, sondern griff kräftig zu. Es schmeckte ihm. Er aß wie ein Scheunendrescher, was ihm alsbald die unverhohlene Sympathie der Köchin eintrug. »Leben Sie hier schon lange?«, fragte er zwischen zwei Bissen.
»Wir haben hier, in der Gegend um Sawatch, schon in den fünfziger Jahren oft Ferien gemacht. Damals war Sawatch als Erholungsgebiet noch kaum bekannt, wissen Sie. Als ich dann meinen Abschied bei der Kriegsmarine nahm, zogen wir ganz hierher. Ich war Tiefseetaucher, müssen Sie wissen. Ich erlitt dann eine Lungenverletzung beim zu schnellen Auftauchen. Dekompression und die Wartezeiten beim Wiederhochkommen, Sie kennen das. Na, jedenfalls wurde ich vorzeitig pensioniert. Das war, warten Sie mal, im Sommer einundsiebzig.«
»Im Sommer neunzehnhundertsiebzig!«, verbesserte ihn seine Frau.
Lee Raferty grinste. »Maxine hat das untrügliche Gedächtnis eines indischen Elefanten. Ich weiß gar nicht, was ich ohne sie anfangen würde.«
»Können Sie sich erinnern, Mr. Raferty, ob es hier in der Gegend irgendwann einmal einen Flugzeugabsturz gegeben hat?«, kam Pitt zum Thema. Er wollte endlich erfahren, was es mit den beiden Wrackteilen in der Garage von Lauras Blockhütte auf sich hatte.
»Flugzeugabsturz?«, fragte Lee Raferty verständnislos.
»Ja. Gab es hier irgendwann in den letzten dreißig oder vierzig Jahren einen Flugzeugabsturz in einem Umkreis von, sagen wir, zwanzig Kilometern?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.« Lee Raferty sah zu seiner Frau hinüber. »Erinnerst du dich, Maxine, dass es hier irgendwann einen Flugzeugabsturz gegeben hätte?«
»Aber natürlich, Lee. Wo ist denn dein Gedächtnis? Erinnerst du dich denn nicht mehr an die Arztfamilie, die bei dem Flugzeugabsturz nahe Diamond ums Leben kam? Wie schmecken Ihnen die Bohnen, Mr. Pitt?«
»Ganz vorzüglich«, sagte Pitt. »Übrigens Diamond, das Sie gerade erwähnten. Ist das eine Stadt?«
»Nein. Eigentlich nur eine Art Eisenbahnknotenpunkt. Ein Bahnhof mit ein paar Häusern drumherum.«
»Diamond«, echote Lee Raferty. »Jetzt erinnere ich mich. Das war dieser Absturz einer einmotorigen Maschine. Die Insassen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und verkohlt. Fürchterlich. Der Sheriff und seine Leute brauchten eine ganze Woche, um die Leichen zu identifizieren.«
»Genau. Und das ganze passierte im April neunzehnhundertvierundsiebzig«, fügte Maxine Raferty hinzu.
»Der Absturz, den ich meine, geschah mit einem viel größeren Flugzeug«, erklärte Pitt mit großer Geduld. »Das könnte zum Beispiel ein großes Verkehrsflugzeug gewesen sein. Das Ding ist vor etwa dreißig oder vierzig Jahren runtergekommen.«
Maxine Raferty verzog ihr Gesicht zu einer nachdenklichen Grimasse. Nachdem sie eine ganze Weile lang wie geistesabwesend an die Decke gestarrt hatte, schüttelte sie entschlossen den Kopf. »Nein!«, sagte sie dann. »In dieser Gegend ist mit Sicherheit in den letzten dreißig oder vierzig Jahren kein Flugzeug von der Größe, wie Sie es erwähnen, abgestürzt.«
»Warum fragen Sie eigentlich, Mr. Pitt?«, erkundigte sich Lee Raferty.
»Ich bin in der Garage von Laura Smith auf zwei geheimnisvolle Wrackteile eines Großflugzeugs gestoßen. Der Vater von Laura muss die Teile dort eingelagert haben. Es wäre ja möglich, dass er sie irgendwo in den Bergen gefunden hat. Oder?«
»Der gute alte Charlie Smith«, sagte Maxine Raferty. »Gott hab’ ihn selig. Zeit seines Lebens hat er eine unnütze Erfindung nach der anderen gemacht. Er war ein Bastler, wie er im Buche steht.«
»Das war er!«, ergänzte Mrs. Rafertys Mann. »Wahrscheinlich hat er die Wrackteile, von denen Sie sprechen, auf einem Schrottplatz in Denver gekauft.«
»Sie sagen, er war ein Erfinder und ein Bastler. Was hat er denn erfunden und gebastelt?«
»Der bedauernswerte Charlie hat zum Beispiel eine automatische Auswurfvorrichtung für die Angelschnur erfunden«, lachte Lee Raferty. »Ich hab’ das Ding selbst ausprobiert. Die Angelschnur landete bei Charlies genialer Erfindung überall, nur nicht im Wasser, wo sie hin sollte.«
»Sie sagen: ›der bedauernswerte Charlie‹. Warum? Warum ist er so bedauernswert?«
Eine sorgenvolle Miene überschattete Lee Rafertys Gesicht. »Warum er bedauernswert ist? Nun, weil er auf eine sehr schlimme Art und Weise ums Leben gekommen ist. Hat Ihnen das Laura nicht erzählt?«