Der tote Bischof - Hans-Martin Gutmann - E-Book

Der tote Bischof E-Book

Hans-Martin Gutmann

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Beschreibung

Weihnachten 2023. Lukas Bentorff ist sein ganzes Berufsleben in Groß Samtleben geblieben. Jetzt ist er dreiundsechzig. Immer wieder überfallen ihn melancholische Gedanken. Hat er sein Leben vergeudet? So viel Arbeit. So wenig intensive Beziehungen in den mittlerweile vier Gemeinden, die zum Kirchspiel gehören. Gut, da sind noch zwei von den „Engeln“ der Wendezeit, die durch dick und dünn zu ihm halten. Und eine äußerst agile und kreative Doppelkopfrunde. Und natürlich Iwan, der neurotische Bernhardiner, mit dem Lukas die Pfarrwohnung teilt. Aber keine Familie. Keine verlässliche Geliebte. Wenig Freunde. Mitten in die Melancholie und Arbeitshetze der Vorweihnachtszeit platzen dramatische Ereignisse. Auf den Landesbischof werden Anschläge verübt. Bischof Kai Grübner ist Lukas von Jugend an vertraut. Bei einem letzten Anschlag stirbt der Bischof. Oder etwa nicht? Bentorff gerät immer tiefer in einen Sumpf aus Lüge und Gier, Hass und Leidenschaft.

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Seitenzahl: 198

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Der tote Bischof

Sämtliche Personen, Handlungen, Institutionen, Unternehmen und als fiktiv erkennbare Orte sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Personen, Handlungen, Institutionen, Unternehmen und Orten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 9783958942967

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

„Das ist ein Sandhaufen. Das ist kein Ungeheuer!“

Nichts zu machen. Der Sandhaufen war gestern noch nicht hier. Unser abendlicher Spaziergang duldet in seinen Augen keine Veränderung. Erst recht keine Überraschung.

Ich gucke auf die Uhr. Fünf Minuten. So lange rührt sich Iwan schon nicht vom Fleck und bellt den Sandhaufen an.

Iwan ist jetzt anderthalb. Voll ausgewachsen. Voll pubertär. Voll neurotisch.

Durchgedreht wäre der angemessenere Ausdruck.

Okay. Ich habe heute Abend nicht mehr viel vor. Außer Schreibtisch.

Ach so, ja, Iwan ist Bernhardiner. Zweiundsiebzig Kilo. Stark wie ein Trecker. Wenn er laufen will, läuft er. Nichts wird ihn aufhalten. Wenn er stehen will, steht er. Wie ein Fels.

Dann heißt es warten, bis sich der Anfall gelegt hat.

Ich bin selbst schuld. Ich wollte einen großen Hund. Nicht so ein Kleintier, wie sie jetzt massenhaft auf den Bürgersteigen Salzgitters von älteren Damen ausgeführt werden. Und oft auch von jungen Paaren. Die mit ihrem kleinen Schatz sprechen und sich überhaupt so verhalten, als wäre es ein kleines Menschenkind.

Hätte ich Iwan vor fünfzehn Monaten trotzdem genommen, an diesem verregneten Nachmittag beim Tierhändler in Braunsruh? Als ich mich in dieses spielerische Wollknäuel spontan verliebt habe? Wenn ich gewusst hätte, dass dieser Hund, gelinde gesagt, einen Knall hat?

Wahrscheinlich ja.

Ich ziehe ein wenig an der Leine. Keine Chance einstweilen. Iwan hat seiner Empörung noch nicht genügend Ausdruck gegeben.

Eigentlich wollte ich kein Tier mehr im Haus, nachdem Kalle im stolzen Alter von einundzwanzig Jahren den Weg aller Welt gegangen war. Kalle war mein Freund. Dieser stolze, zum Jagen unfähige, strohdumme und vom Leben leicht überforderte Kater. Ich habe wochenlang um ihn getrauert. Monatelang.

Mein abendlicher Spazierweg mit Iwan führt an seinem Grab vorbei. Ich habe es selbst gegraben. Am Rande des Friedhofes. Jedes Mal, wenn wir vorbeikommen, ist das eine nächtlich todtraurige Station.

Iwan hat sich dran gewöhnt, dass ich es in diesem Fall bin, der eine Zeitlang verweilt. Und Kalle ein paar gute Gedanken hinterherschickt.

Kalles clevere Schwester Lilo war schon Monate vorher irgendwo im Dorf verschwunden. Wahrscheinlich lebt sie ewig. Wahrscheinlich jagt sie immer noch Amseln. Oder sonnt sich auf irgendeinem Ast und sinniert über die wilde Schönheit des Lebens.

Ich habe danach jahrelang ohne Tier gelebt.

Ohne Tiere ist Leben möglich. Aber sinnlos.

Das habe ich aber erst gemerkt, seit Iwan in mein Leben getreten ist.

Genauer: Reingeschossen ist wie eine durchgedrehte Dampfwalze.

Die Entscheidung fiel bei einem Besuch bei Klaus, meinem Hausarzt. Einem meiner wenigen dörflichen Freunde.

„Du bist mit einer goldenen Leber gesegnet, mein Lieber. Verstehen tue ich das nicht, bei deinem Whiskeykonsum. Aber du musst auch an den Rest vom Körper denken. Du bist jetzt bald fünfundsechzig ...“

„Einundsechzigeinhalb, bitte sehr!“

„Seien wir ehrlich und einigen uns auf die Mitte. Wie auch immer, du bist zu dick, die Fettwerte sind zu hoch, dein Herzkreislaufsystem wird vor der nächsten Jahreswende kollabieren, wenn du nichts unternimmst. Unternehmen heißt, du musst endlich anfangen, dich regelmäßig zu bewegen. Unternimm irgendwas, Menschenskind. Ich will gern noch ein paar Jahre diese weltbewegenden Gespräche mit dir führen und mein Wartezimmer Wartezimmer sein lassen ...“

„Du bist unmöglich!“

Gut. Damit war die Entscheidung gefallen. Ein Hund. Ein großer Hund. Schäferhunde mag ich nicht. Vor Doggen habe ich Angst. Also ein Bernhardiner.

Eine lebensverändernde Entscheidung. Wie sich jeden Tag von Neuem herausstellt.

Als wir am Ende unserer Runde am Pfarrhaus ankommen, legt Iwan wieder los. Und zieht mich hinter sich her. Er bellt wie angeschossen.

Diesmal hat er einen Grund.

Die Pfarrhaustür steht offen. Im Büro ist Licht.

Ich sehe auf die Uhr. Tagesschau gerade vorbei. Das kann nicht Frau Weimer sein. Mit ihren fünfundsiebzig Jahren muss sie längst ein wenig kürzertreten. Auch wenn sie nach wie vor, wie über viele Jahre, im Pfarrhaus und in der Kirche saubermacht. Ohne Bezahlung. Weil sie gern hier ist. Erst recht, seitdem sie allein ist nach dem Tod ihres Mannes. Sie schafft nicht mehr viel. Aber sie liebt es, mit mir und Marga Kleinschmidt zu frühstücken.

Frau Kleinschmidt kommt zweimal die Woche vorbei und hilft mir im Büro. Auch sie ohne Bezahlung. Das Landeskirchenamt hat seit Jahren alle Zahlungen für Verwaltungsangestellte und Reinigungsfachfrau eingestellt.

Die Gemeinde sei zu klein.

Obwohl schon vor zehn Jahren zwei weitere Dörfer zu meinem Pfarrbezirk hinzugekommen sind. Lutterfeld und Hemmstedt. Zwei Dreihundertseelendörfer. Zehn und fünfzehn Kilometer entfernt. Kein großer Spaß für meinen Arbeitsalltag.

Frau Weimer und Frau Kleinschmidt treffen sieben Tage in der Woche pünktlich morgens um neun Uhr im Pfarrhaus ein. Wenn nicht gerade Geburtstagsbesuche dazwischenkommen. Oder Synodensitzungen. Gottesdienste. Oder anderes Unaufschiebbare. Die beiden Engel sind jeden Morgen da. Um mit mir zu frühstücken. Zu klönen. Die neuesten Dorfnachrichten auszutauschen. Klatsch und Wichtiges.

Meine beiden Engel.

Vom dritten Engel, der langjährigen Rechnungsführerin Elisabeth Bothe, mussten wir uns schon Mitte der Neunzigerjahre für immer verabschieden. Sie hat, hoch in den Siebzigern, einen Herzinfarkt nicht überlebt.

In unseren morgendlichen Frühstücksgesprächen ist sie lebendig. Wir vermissen sie.

Ich genieße diese „Dienstfrühstücke“.

Frau Weimers Mann ist vor sieben Jahren verstorben. Und Frau Kleinschmidt hat sich ein Jahr später von ihrem Mann getrennt.

Die beiden genießen diese Begegnungen genauso wie ich. Nicht den ganzen Tag allein im Haus.

Mittlerweile hat mich Iwan bis zur Pfarrhaustür gezogen. Er kriegt kaum Luft, keucht und hustet und bellt, alles durcheinander. Aber er lässt sich nicht abhalten, seiner Empörung Ausdruck zu verschaffen.

Es hat eine Veränderung gegeben. Es ist nicht alles wie immer. Geht gar nicht.

Allerdings: Diesmal teile ich seine Meinung.

„Hallo, Pastor.“ Knut Scheinhaus grinst süffisant.

Seit den Zeiten seines Großvaters Wilhelm Scheinhaus hat sich die Großgrundbesitzerfamilie vor Ort vorbehalten, einen Schlüssel zu den kirchlichen Gebäuden zu besitzen. Ich habe mehrere Male im Kirchengemeinderat dagegen opponiert. Die Mehrheitsmeinung bleibt. Als Patron der Kirche in Groß Samtleben hat das Familienoberhaupt Scheinhaus in der Ausübung seines Patronatsrechts Zugang zu den kirchlichen Gebäuden.

Mich ärgert das maßlos. Seit Jahren.

Außerdem ärgert mich, dass ich mich bei einem feuchtfröhlichen Abend auf dem Schützenfest vor gefühlt einer Ewigkeit darauf eingelassen habe, dass wir uns duzen.

„Was willst du, Knut?“ Ich habe keine Lust auf Höflichkeit. Knut Scheinhaus weiß genau, dass es mich zur Weißglut bringt, wenn er unangemeldet und ohne von mir eingelassen zu werden ins Pfarrhaus eindringt.

„Guten Abend, lieber Knut, wie schön, dich wiederzusehen, heißt das. Versuch’s doch mal mit Freundlichkeit.“

Knut hält mir einen prall gefüllten Plastikbeutel vor die Nase. Iwan beruhigt sich sofort. Er schnuppert, wedelt mit dem Schwanz, winselt froh. Ich kann gerade noch verhindern, dass er Knut anspringt und ihm seine riesigen Tatzen auf die Schultern legt.

Das ist sein morgendliches Begrüßungsritual mir gegenüber. Mit der Fortsetzung, dass er mein Nachthemd vollsabbert. Ich akzeptiere das als Liebeserklärung.

Bei Fremden kann ich das allerdings nicht haben.

Nicht in meinem Haus.

Genauer gesagt, überhaupt nicht.

„Ich bin gerade vorbeigekommen und dachte, ich bring dir Pansen vorbei. Dann brauchst du nicht extra rauszukommen.“

Pansen bekomme ich am sichersten im landwirtschaftlichen Großbetrieb Scheinhaus. Einfach weil hier die meisten Rinder stehen. Massentierhaltung halt.

Iwan liebt Pansen. Besonders wenn der schon ein bisschen gammelig ist und stinkt, wenn ich ihn zuschneide.

Ich beschließe, die Strategie zu ändern. „Schön, dass du da bist, Knut. Danke für die Mahlzeit. Willst du was trinken?“

„Klar doch. Aber nicht diesen ewigen Bushmills, wenn‘s recht ist. Hast du noch was von diesem leckeren Tomatin Legacy?“

Ich schlucke. Weihnachtsgeschenk meiner beiden Engel. Dusseligerweise habe ich ihm irgendwann mal einen Schluck angeboten. „Klaro. Ich hol’ die Flasche. Komm mit, Iwan.“

Iwan krabbelt bereitwillig schwanzwedelnd und schnuppernd hinter mir die Treppe hoch. In der Küche schneide ich ihm schnell ein Stück Pansen zurecht und gebe es in seinen Fressnapf. Er fängt sofort an, wohlig zu schmatzen. Ich schnappe mir den Edelwhiskey aus dem Regal in meinem Arbeitszimmer und gehe wieder nach unten ins Gemeindebüro.

Der Patron steht am Aktenschrank und blättert in Papieren. Anscheinend hat er die Haushaltsabrechnung entdeckt. Ich konzentriere mich darauf, ihn nicht anzuschreien.

„Komm, setz dich.“ Ich gieße uns beiden einen doppelten Fingerbreit ein. Er quittiert das mit zufriedenem Lächeln.

Er nestelt in seiner Jacke. „Cohibas. Willst du? Kriegst du nicht alle Tage!“

Natürlich will ich. Lange Zeit wurden diese Havanna-Zigarren ausschließlich für den Gebrauch von Fidel Castro produziert.

Ist schon ein mächtig edles Zeug.

Wir rauchen. Wir trinken. Ich warte ab.

Nach drei Minuten – eine endlos lange Zeit, wenn niemand etwas sagt – wird es mir zu bunt. „Und? Du machst dich doch nicht am späten Abend auf den Weg, bloß um Iwan mit Pansen zu versorgen. Was willst du?“

Knut fixiert mich. Er lässt sich Zeit. „Wann ist Kirchengemeinderatssitzung? Morgen Abend, wenn ich richtig informiert bin?“

„Warum fragst du, wenn du es sowieso weißt?“

Er zieht genüsslich an der Zigarre und nimmt einen ordentlichen Schluck.

„Und die Verpachtung des Pfarrlandes steht auf der Tagesordnung?“

Daher weht also der Wind. Hätte ich mir denken können. Ich schweige.

„Du weißt, dass die Gemeinde ohne die beständigen freundlichen Zuwendungen aus unserem Haus längst bankrott wäre?“

Ich sage nichts. Natürlich hat er recht. Das größte Problem ist, dass das Pfarrhaus – mitsamt den Gemeinderäumen – in den letzten fünf Jahren eine Baustelle war. Die Wände waren nass, sie mussten aufwendig trockengelegt und Horizontalsperren eingezogen werden. Die Verteilung der Kostenübernahme zwischen Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche ist strittig. Wenn der Patron nicht von Anbeginn anstandslos Kredite vergeben hätte – allerdings zu saftigen Konditionen –, hätten wir alle Gemeindeaktivitäten schon längst für unabsehbare Zeit aufgeben müssen.

Ich warte ab. Ich weiß sowieso, was jetzt kommt. Er soll mir das wenigstens selber unterbreiten.

„Ich gehe davon aus – ach was, ich verlange, dass die gesamte zu verpachtende Fläche zuerst meinem Betrieb angeboten wird. Haben wir uns verstanden?“

Ich schweige weiter. Lasse ihn zappeln. Er wird unruhig.

Es ist skandalös, was er da fordert. Ich werde das auf keinen Fall zulassen.

Seit den Sechzigerjahren haben in den vier Dörfern, die zur Kirchengemeinde hinzugehören, bis auf sechs Höfe alle landwirtschaftlichen Betriebe aufhören müssen.

Überlebt haben: Der Großgrundbesitz der Familie Scheinhaus. Dann drei „völkische“ Höfe mit insgesamt fünfzehn Kindern. Sie geben sich selbst als ökologisch orientierte „bäuerliche Landwirtschaft“ aus.

Was von den zwei Öko-Landwirtschaftsbetrieben in den Dörfern massiv bestritten wird. Sie sind politisch eher fortschrittlich, leiden aber aktuell genauso wie alle Nicht-Großgrundbesitzer an einem Paniksparstreich der neoliberal dominierten Ampelregierung in Berlin. Die Subventionierung von Agrardiesel soll gestrichen, schließlich nach massiven bäuerlichen Protesten über Jahre gestreckt – und damit immer noch gestrichen werden.

Für die kleineren landwirtschaftlichen Betriebe ist das existenzbedrohend. Dabei wissen alle, dass diese Subventionen die eigentlichen Probleme der Landwirtschaft nur verdecken. Vor allem die Marktmacht der Supermarktketten, die die Preise diktieren und das Wirtschaften für viele landwirtschaftliche Betriebe unauskömmlich machen.

Die beiden Ökobauern stehen kurz vorm Aufgeben. Die Völkischen haben zusätzliche Ressourcen aus den Parteizentralen und von faschistischen Großunternehmern.

Alle landwirtschaftlichen Betriebe sind auf zusätzliche Ackerflächen angewiesen. Allein schon deshalb, weil die staatlichen Subventionen an die Flächengröße gebunden sind.

Alle paar Jahre wird über eine Neuverpachtung des Pfarrlandes entschieden.

Würde die Gemeinde das gesamte landwirtschaftlich nutzbare Land in ihrem Besitz – und das ist mit neunhundert Hektar nicht wenig – an den Großgrundbesitzer verpachten, dann würde das die Existenz der beiden ökologisch orientierten landwirtschaftlichen Betriebe weiter untergraben. Und nicht zuletzt den Faschisten in den „völkischen“ Höfen in die Hände spielen.

Knut Scheinhaus weiß das. Vielleicht will er das.

„Und? Bist du eingeschlafen? Sind dir die Cohibas auf den Magen geschlagen? Macht dich jetzt schon ein kleiner Schluck von deinem Edelwhiskey in deinem hohen Alter besinnungslos?“

Ich mache ihm die Freude und lache über sein Witzchen.

„Der Kirchengemeinderat wird dein Anliegen sorgfältig beraten und entscheiden.“

„Ist das alles?“

Ich trinke einen letzten großen Schluck und drücke die erst halb gerauchte Havannazigarre im Aschenbecher aus. Ich bemerke seinen Ärger. Ich freue mich darüber.

„Du weißt, dass ich über diese Dinge nicht allein entscheiden kann. Ich sichere dir zu, dass ich dein Anliegen vortragen werde.“

„Und wirst du dafür plädieren?“

Ich lächle freundlich. Er ist mittlerweile aufgestanden. Erregt.

„Schau’n wir mal.“

Ich wälze mich im Bett. Ich habe höchstens drei Stunden geschlafen. Kann nicht wieder einschlafen.

Ich habe wild geträumt. Und jetzt dieses quälende Gedankenkarussell.

Der Traum ist ein Tagesrest. Oder besser, ein Wochenendrest. Die letzte Sitzung der Landessynode ist vor vier Tagen zu Ende gegangen. Ich bin Mitglied. Bestimmt schon seit zehn Jahren. Synodensitzungen dauern drei Tage und sind einigermaßen anstrengend. Manchmal wird es schwer erträglich. Nicht wegen der diskutierten Gesetze oder anderer Inhalte.

Schwer erträglich ist, was in den vorderen Sitzreihen los ist. Da sitzen die kirchenleitenden Persönlichkeiten.

Da herrscht Eiszeit. Schon seit Monaten.

Die drei wichtigsten Machtfiguren der Braunsruher Landeskirche können sich nicht leiden.

Nein, das ist untertrieben. Sie sitzen drei Tage nebeneinander, wechseln kein Wort, gucken sich mit dem A... nicht an.

Drei Männer, die konkurrieren. Und die sich mittlerweile auf den Tod nicht ausstehen können. Die ihre Feindschaft unverhohlen vor der gesamten Synode zelebrieren.

Der Landesbischof. Kai Grübner.

Der Präsident der Synode. Ulrich Mesche.

Der Präsident des Landeskirchenamtes, zugleich Chef der Finanzabteilung der Landeskirche. Karl Flohsinn.

Die drei sind nicht mal „schuld“ an der Misere. Im Hintergrund steht ein ungelöstes Problem der Kirchenverfassung. Der Landesbischof hat eigentlich die Leitung des „Kollegiums“, also der Kirchenregierung. Er ist damit symbolisch in der stärksten Machtposition.

Nicht jedoch faktisch.

Vor allem der Präsident des Landeskirchenamtes macht in jedem seiner Redebeiträge deutlich, dass ohne ihn, also ohne den Leiter der gesamten Kirchenverwaltung der Landeskirche und Chef der Finanzen überhaupt nichts geht. Theologische Überlegungen, in denen der Landesbischof brilliert, interessieren ihn nicht.

Mich nervt das. Ich halte das Verfassungsproblem für lösbar. Die Machtverteilung muss verfassungsrechtlich eindeutig bestimmt werden. Das geht mit Zweidrittelmehrheit der Synode. Nach all den Nervereien mit diesem Machtkampf, den alle Synodalen Tag für Tag miterleben, findet sich diese Zweidrittelmehrheit mit Sicherheit.

Das ist aber nicht der Punkt, der mich nicht schlafen lässt.

Ich mache mir ernsthaft Sorgen um den Landesbischof.

Zugegeben, ich bin parteilich.

Der Landesbischof ist einer meiner Schützlinge. Er war mein jugendlicher Mitarbeiter bei einer ganzen Reihe von Konfirmandenferienseminaren in Südtirol. Über viele Jahre. Ich habe ihn während seines Theologiestudiums und Vikariats immer wieder begleitet. Der Kontakt ist auch später nicht abgerissen. Kai ist nach und nach vom jugendlichen Mitarbeiter zum erwachsenen Freund geworden. Wir sind verbunden geblieben, als er in der Landeskirche die Karriereeiter hochkletterte.

Vor einem Jahr ist er zum Landesbischof gewählt geworden.

Und seit fast einem Jahr in diesen nicht enden wollenden Konflikt verstrickt.

Ich habe Kai in seiner beruflichen Karriere begleitet. Aber auch als Seelsorger in seinen persönlichen Konflikten.

Darüber will ich gerade nicht nachdenken.

Ich stehe auf und stolpere in die Küche. Iwan ist in seinen Korb umgezogen und japst im Traum. Wahrscheinlich verspeist er gerade ein zwei Quadratmeter großes Stück Pansen.

Ich gieße mir drei Finger breit Whiskey ein.

Ich weiß. Das hilft nicht beim Einschlafen.

Kein Whiskey hilf allerdings auch nicht.

Während der beiden letzten Synodensitzungen sind seltsame Dinge passiert.

Die Reifen des bischöflichen Dienstwagens waren zerstochen, als der Fahrer von seiner Mittagspause im Currywurstimbiss zurückkehrt.

Der Aktenstapel auf dem Synodenplatz des Synodenpräsidenten, den er für einen wichtigen Haushaltsbericht braucht, verschwindet während der Mittagspause.

Außerdem fällt das Saalmikrofon ständig aus, wenn der Präsident der Synode redet.

Kleinigkeiten?

Jedenfalls ist die Synode not amused über die Gesamtsituation. Ich auch nicht.

Ich bin lange Mitglied der Landessynode. Das macht im Grunde Spaß. Vor allem wegen zweier interessanter Menschen, die ich da kennengelernt habe.

Ich bringe für die dreitägigen Synodensitzungen immer eine Flasche Whiskey mit. Für die Abendentspannung. Oft tagen wir bis elf Uhr abends. Wir sind dann in der Regel müde und entnervt. Wenn das Schlussgebet gesprochen ist, brennt das wilde Leben los. Alle stürmen in die Kneipe unten in dem Hotel, wo wir tagen und übernachten. Möglichst schnell möglichst viel Alkohol. Möglichst schnell nette Meschen treffen, mit denen man noch ein wenig klönen kann.

Ich mag diese Rituale. Ich habe eine private Vorglühparty in meinem Hotelzimmer ins Leben gerufen. Es sind immer dieselben, die ich einlade. Markus Bader und Paul Schück. Wir sitzen seit bestimmt fünf Jahren im Plenum. Bei Kaffeepausen haben wir uns kennengelernt. Einander sympathisch gefunden. Sind ins Quatschen gekommen. Die Idee mit dem Whiskey kam mir bei einem Kaffeegespräch, als wir uns über unsere Lieblingsgetränke ausgetauscht haben. Einhellige Vorliebe: irischer Whiskey. Das gab den Ausschlag. Seitdem verbringen wir jeweils die erste halbe Stunde unserer nächtlichen Synodenpause auf dem Balkon meines Hotelzimmers. Kommentieren das Tagesgeschehen. Rauchen Zigarillos. Trinken Whiskey.

Beim letzten Mal haben wir uns massiv in die Wolle gekriegt.

Markus und Paul können meine Parteilichkeit für den Landesbischof nicht hinnehmen. „Der mischt doch genauso mit bei dem Desaster wie die beiden anderen.“

Ich finde keinen Schlaf.

Okay, ich will jetzt nicht weiter drüber nachdenken.

Nach zwei weiteren Stunden habe ich die Nase voll und ziehe um ins Arbeitszimmer.

Iwan ist schon wieder schlafgewandelt. Ich schlage fast lang hin, als ich über ihn stolpere. Er hat sich vor der Tür meines Schlafzimmers zusammengerollt. Winselt im Traum. Zum Glück wacht er nicht auf.

Ich hole mir ein weiteres Glas aus der Küche und gieße mir drei Fingerbreit Bushmills ein. Ich nehme die Flasche mit.

Den trinke ich genauso gern wie dieses Edelgesöff. Ich hole mir eine Decke und kuschele mich auf dem Schreibtischstuhl ein.

Es ist dunstig draußen. Aber nicht bewölkt. Ich kann von meinem Platz aus die wunderschöne Barockkirche gut sehen.

Dieses Ensemble, ach was, dieses Dorf, überhaupt „meine“ vier Dörfer sind mir Heimat geworden. Das hätte ich mir in den ersten Jahren in dieser Gemeinde, in der Wendezeit nach 1989, kaum vorstellen können.

Warum bin ich eigentlich hiergeblieben? All die Jahre? Faktisch mein gesamtes Berufsleben?

Ich nehme einen großzügigen Schluck. Es tut gut, wie die Glieder langsam matt werden.

Sicher war das existenzielle Faulheit. Zumindest zu einem erheblichen Anteil.

Nein, Quatsch, das stimmt nicht.

Die Menschen hier sind mir ans Herz gewachsen.

Ich trinke das Glas leer und gieße mir nach.

Weil ich nie eine Familie gegründet habe? Vielleicht ja. Die Leute hier sind mir zur Ersatzfamilie geworden, in all ihren Schrägheiten und Konflikten, in ihrer Alltagsweisheit und ihrer Liebenswürdigkeit.

Warum habe ich nie geheiratet? Wo ich doch geschätzt Hunderten junger Paare in Traugottesdiensten den Segen Gottes für ihr Zusammenleben zugesprochen habe?

Der wichtigste Grund ist vermutlich Anne. Anne Hartmann. Polizeikommissarin und Leiterin der Mordkommission in Salzgitter Lebenstedt, dann über zwanzig Jahre bis zu ihrer Pensionierung in Braunsruh. Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke: Sie ist die Liebe meines Lebens.

Bloß: Sie konnten beisammen nicht kommen.

Noch einen Schluck.

Dabei glaube ich, dass auch sie mich liebt. Aber es nie geschafft hat, die Verletzungen, die ihr in anderen Liebesbeziehungen zugefügt wurden, so weit in ihr Leben zu integrieren, dass sie für eine neue Beziehung offen wurde.

Für eine Beziehung zu mir.

Ich schlage die Hände vors Gesicht.

Eigentlich eine todtraurige Lebenssumme. Jetzt bin ich dreiundsechzig. Und es wird sich nichts mehr ändern in meinem Leben.

Noch ein Schluck. Tut mir gut. Draußen, gegenüber im Kirchturm, setzt sich das Läutewerk in Bewegung. Sechs Uhr morgens. Über Nacht lassen wir die Leute im Dorf schlafen und stellen das Gebimmel zu allen halben und vollen Stunden ab.

Immerhin haben wir eine Form gefunden, miteinander in Kontakt zu bleiben.

Ab und an ein gemeinsamer Fernsehabend.

Und: seit ihrer Pensionierung Doppelkopf. Zusammen mit Markus Bader und Paul Schück.

Anne Hartmann lebt jetzt in Salzgitter Thiede und arbeitet – als Hobby, nicht mehr im Amt – liegen gebliebene Mordfälle auf.

Ich muss jetzt unbedingt wieder ins Bett. Wenigsten noch ein Stündchen schlafen.

2

„Aufwachen, Alterchen.“ Ich habe mir schon einen ersten Kaffee aufgesetzt und für Iwan Pansen kleingeschnitten und Wasser in den Napf gefüllt. Ich kraule ihn hinter den Ohren. Er wälzt sich auf den Rücken, damit ich ihn am Bauch kraulen kann. Das liebt er.

„Komm, wir gehen einkaufen!“

Aber erst wird ein kleiner Snack verspeist. Vor dem eigentlichen Frühstück. Damit wir beide zu Kräften kommen.

„Wir gehen einkaufen“ – diese Parole macht erst seit einem halben Jahr wieder Sinn.

Über viele Jahre ist im Dorf ein Geschäft nach dem anderen eingegangen. Gegen die Supermärkte in Lebenstedt hatten die Dorfläden keine Chance. Nacheinander haben alle dichtgemacht. Die Schlachterei. Der Lebensmittelladen. Die Tankstelle.

Schließlich auch Bei da Nino, die Pizzeria. Nino ist mit seiner Familie nach Süditalien zurückgegangen.

Seit zwei Jahren ist er wieder da. Mittlerweile in den Siebzigern. „Ihr braucht uns doch, Herr Pastor. Unser wunderbares Groß Samtleben.“ Allerdings hat er ein eigenes Restaurant nicht wieder eröffnet.

Zum Schluss hat der „Brotladen“ zugemacht, lange Zeit Kommunikationsbörse des Dorfes. Solange es noch kein Internet gab.

Das Dorf hat dieser Entwicklung Jahr für Jahr zunehmend deprimiert zugesehen. Wer ein Auto hat, kann sich ein paar Kilometer weiter im Supermarkt versorgen. Für die Armen und die Alten wurde es immer schlimmer. Zweimal in der Woche kommt ein Verkaufswagen. Der hält aber nur an wenigen Orten. Die Alten sind oft zu langsam, wenn sie denn überhaupt das Gebimmel hören, mit dem dieser fahrbare überteuerte Kramladen sich ankündigt. Wenn sie vor Ort sind, ist der Wagen oft schon wieder weg.

Das ging nicht so weiter.

Unsere Schulleiterin Amalie Mischke hat den Anstoß gegeben. Die Feuerwehrjugend war sofort Feuer und Flamme. Drei von den Landwirtsfamilien, die ihre Höfe aufgegeben haben, fanden endlich wieder eine Beschäftigung vor Ort. Verrentete Verwaltungsangestellte. Erwerbslos gewordene Handwerker. Eine ganze Reihe VW-Beschäftigter, die ihre Jobs verloren haben.

Wir haben eine Genossenschaft gegründet. Damit die Rechtsform geklärt ist. Ein Rechtsanwaltsbüro in Lebenstedt, das in diesen Fragen engagiert ist, hat sich als Besitzer eintragen lassen. Abgesehen davon arbeiten alle Beteiligten ehrenamtlich.

Ich selbst bin von Anfang an dabei. Und habe meine Kontakte spielen lassen. Eine studierte Betriebswirtin in Salzgitter Bad. Ein Steuerberater aus Lichtenberg. Fast alle ökologischen landwirtschaftlichen Betriebe in der näheren Umgebung. Immerhin neun Höfe. Die Prokuristen zweier Supermärkte in Lebenstedt. Das ist rein mengenmäßig der wichtigste Posten. Genießbare Lebensmittel kurz vor und nach dem Verfallsdatum.

Es hat schon Vorteile, wenn man fast die ganze Gegend verheiratet hat.

Ein Jahr Planungszeit. Immer mehr Leute aus unseren vier Gemeinden sind dazugekommen. Der ehemalige „Brotladen“ wurde angemietet, die Mauern zwischen Verkaufsraum und Backstube niedergelegt. Wochenlanger Einsatz auf der Baustelle. Auch die Konfirmandenkurse hatten die Chance, praktische Übungen zu biblischen Texten mitzumachen. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ (Psalm 118,22)

Dann, vor fast genau fünf Monaten, die feierliche Eröffnung. „Wir bleiben hier“, der Name für unseren Tante-Emma-Laden wurde nach endlosen Debatten mit allen Beteiligten abgestimmt.

Der Name ist ohnehin gut. Und wir haben ihn von den Rechten gekapert.

Zur feierlichen Eröffnung hat der Landesbischof eine launige Rede gehalten. Der hat nie vergessen, dass er aus unserem Dorf kommt. Auch nicht, als er vor einem Jahr von der Landessynode gewählt wurde.

Nicht nur mit mir ist er verbunden geblieben. Mit einigen im Dorf. Wir sind über die Jahre enge Freunde geworden. Mehr als das.

„Wir bleiben hier“ hat jede Woche an drei Vormittagen und drei Nachmittagen geöffnet. Es gibt fast alles zu kaufen. Jedenfalls an Lebensmitteln. Ökologisch und preiswert. Wir teilen uns die Schichten im Verkauf. Ich bin einen Nachmittag pro Woche für eine Vierstundenschicht vor Ort.