Gewaltunterbrechung - Hans-Martin Gutmann - E-Book

Gewaltunterbrechung E-Book

Hans-Martin Gutmann

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Beschreibung

»Sind Religionen gefährlich?« – Eine theologische Annäherung

- Wie kann religiös begründete Gewalt ihrer Faszination beraubt werden?
- Gewalt und Religion – eine ambivalente Beziehung

Religion bringt Gewalt hervor, fördert sie, legitimiert sie. Es gibt aktuell kaum einen Gewaltkonflikt, in dem nicht Religion im Spiel ist. Die Verbindung von Religion und Gewalt ist also kein Relikt aus alten Zeiten, sondern ein Phänomen, das uns tagtäglich begegnet.
Wie aber kann Gewalt unterbrochen, begrenzt, ihrer Faszination beraubt werden? Dieser Frage geht Hans-Martin Gutmann nach. Er zeigt, wie die Dynamik von Gewalt durch religiöse Verbundenheit verstanden werden kann – Anhänger unterschiedlicher Religionen machen parallele Erfahrungen und verwenden in der Ausübung ihrer Religion ähnliche Symbole –, wie religiöse Verbundenheit präventiv Gewaltausbrüche begrenzen kann und wie Gewalt, wenn sie bereits zum Ausbruch gekommen ist, durch religiöse Verbundenheit unterbrochen werden kann.

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Seitenzahl: 261

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Zur Einführung: Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit – was heißt das?
Der Augenblick der Dankbarkeit
Der Augenblick der Gewaltfaszination – und der Augenblick der Gabe
1. Der faszinierende Augenblick der Gewalt
2. Was ist die Zeit des Augenblicks? Philosophische und theologische Zeit-Reflexionen
3. Der Augenblick der Gabe
Die Macht der Erzählung
1. Menschen sind in Geschichten verstrickt
2. Metaphern und Symbole
3. Erzählen schafft Wirklichkeit
4. Gewalt transformierende Erzählungen der biblischen Erzähltradition
5. Die Rettung des kleinen Mose (2 Mose 1 und 2)
6. Die Begegnung am Jakobsbrunnen (Johannes 4)
»Wege ins Leben«
1. Rituale als Inszenierung von Räumen und Zeiten
2. Die Synthese der Zeit im Gottesdienst
3. Die Beziehung auf ein gemeinsames Drittes als Ermöglichung veränderten Handelns
Horizonte und Hintergründe
Gewalt und Religion – eine ambivalente Beziehung
1. Gewalt und Religion – ein »Aufregungsthema« in den Medien
2. Über die Begrenztheit »großtheoretischer« Modelle zur heutigen Gesellschaft
3. Religion und Gewalt – Ambivalenzen einer Beziehung
4. »Gewaltunterbrechung«: Der Kontext der Untersuchung in der ökumenischen ...
Von Ambivalenz zu Transformationspotenzial: Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit
1. Zwei Schlaglichter: Gewalt als gesellschaftliche Krise; Gewalt als ...
2. Theoretische Perspektiven auf Gewalt – Ressourcen für diese Untersuchung
3. Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit: die Hypothese
Ausblick
Copyright
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Dieses Buch ist in einem gemeinsamen Prozess des Nachdenkens, Diskutierens, Recherchierens und Forschens entstanden. Ausgangspunkt war ein zehntägiges Gesprächsmarathon mit meiner praktisch-theologischen Kollegin Andrea Bieler, PSR Berkeley, im November 2008 in Oakland/California. Die Hamburger Theologiestudierenden Luise Albers, Christian Gründer, Till Karnstädt und Miriam Löhr haben durch ihre Recherchen und in immer neuen kritischen Debatten mit mir erst ermöglicht, dass aus einer Idee ein Buch entstehen konnte. So ist ein Raum forschenden Lernens zwischen Lehrenden und Studierenden eröffnet worden – neben allem Spaß und inhaltlichen Gewinn für mich ein Hoffnungszeichen, dass – gegen allen Ökonomisierungsdruck – Universität als »Gelehrtenrepublik« keinesfalls Auslaufmodell ist.
Ich danke der Universität Hamburg für die Gewährung eines Forschungssemesters im Wintersemester 2008/09, Hanna Ahrens für einen entscheidenden Hinweis für die Ordnung des Manuskripts. Ihr sowie meinen studentischen Kolleg/innen danke ich zu allem anderen für orthographische und stilistische Korrekturen.
Hamburg, in der Passionszeit 2009
Hans-Martin Gutmann
Zur Einführung: Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit – was heißt das?1

1. »Sind Religionen gefährlich?«

Religion bringt Gewalt hervor, fördert sie, legitimiert sie. Kaum ein aktueller Gewaltkonflikt, in dem nicht Religion im Spiel ist. Der »Krieg gegen den Terror« und gegen die »Achse des Bösen« ist ohne religiöse Selbstvergewisserung nicht denkbar, auf beiden Seiten. Heiße Kriege wie zwischen Israel und Palästina, Kalte Kriege wie zwischen Iran und USA, Bürgerkriege wie die in Bosnien, im Kongo oder in Darfur speisen sich aus einer diffusen Gemengelage von ethnischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen – und eben, Gewalt verstärkend oder erst anfachend: religiösen Konflikten.
Viel ist hierüber nachgedacht, geschrieben, in Talkshows und Magazinsendungen ausgestrahlt worden. Die Verbindung von Religion2 und Gewalt ist, leider Gottes, kein Relikt aus alten Zeiten, auf deren Überwindung man durch die weitere Entwicklung von Gesellschaften zuversichtlich hoffen könnte. Nein, die religiöse Aufladung von Gewaltkonflikten ist auch ein modernes Phänomen, wächst und speist sich aus Zerstörungserfahrungen und existenziellen Verunsicherungen der technologischen Modernisierung einer globalen Weltgesellschaft, die alles, was vertraut und sicher scheint, in immer neuen Umwälzungsschüben zerschlägt. Rigide Inklusion und Exklusion, die radikale Trennung zwischen dem Eigenen als dem Guten und
Heilen, dem Anderen als dem Fremden, Falschen und Feindlichen schafft auf trügerischem Wege Halt in einer haltlos erscheinenden Weltgesellschaft. »Sind Religionen gefährlich?«3 Die Antwort scheint klar. Offenkundig sind sie das. Und nicht erst heute: Von den Kreuzzügen des christlichen Mittelalters bis zu den Flugzeugeinschlägen im World Trade Center am 11. September 2001, von den »Hexenverbrennungen« der europäischen frühen Neuzeit bis zu brennenden Kirchen und Moscheen in Indonesien und anderswo. Einen Ausweg scheint allein die Bändigung von Religion durch Bildung und Aufklärung zu versprechen, ihre Zähmung durch Vernunft und Selbstreflexion, ihre Überführung in ethische Perspektiven wechselseitiger Achtung und Toleranz im Rahmen zivilreligiös legitimierter demokratischer Konfliktlösungsmechanismen.
So leidenschaftlich die Perspektiven von Aufklärung, Bildung, Demokratie und Toleranz in dieser Untersuchung geteilt werden, so begründet scheint uns die Überzeugung, dass die Antriebskräfte von Gewalt auf diesem Wege allein nicht erreicht werden können. Gewalt kann nur unterbrochen, begrenzt, ihrer Faszination beraubt werden, wenn ihr auf eben der Ebene begegnet wird, auf der sie ihre Macht über Menschen entfaltet.
Wie geht das? Genau das ist die Frage, die die Überlegungen in diesem Buch antreibt. Sie werden in diesem ersten Kapitel in Thesenform vorgetragen. Da in manchen medialen und akademischen Verachtungsdiskursen geläufigerweise auf bestimmte Stichworte hin die Schubladen »Blauäugigkeit«, »Naivität« und »Gutmenschentum« gezogen werden, verbindet sich mit den elementaren Formulierungen der ersten Seiten die Einladung, vor einer Verfestigung eines solchen Urteils das ganze Buch zu lesen. Umgekehrt spürt der Autor die Verpflichtung, seine These im Geflecht der Diskurse zu vernetzen, die gegenwärtig zu diesem Gegenstand geführt werden.
Was beinhaltet das Stichwort »Gewaltunterbrechung«? Wenn sich Gewalt mimetisch, also über Nachahmung ausbreitet, kann ihr wirksam durch eine Haltung begegnet werden, die in gleicher Intensität Nachahmung herausfordert. Wie Gewalt, so wirken auch Gaben (beispielsweise: Anerkennung, Solidarität, Freigebigkeit) mimetisch.
Wenn in Gewalthandeln Erfahrungen wie Selbstentgrenzung, Freiheit und Grandiosität gesucht werden, dann kann diese Suche durch Gebote und Bestrafungen eingedämmt und durch Aufklärung über ihre Antriebskräfte und Folgen gebremst werden. Existenziell wirklich bindend und befreiend aufgehoben wird die zerstörerische Suche nach solchen Erfahrungen aber vor allem durch Widerfahrnisse der Fülle des Lebens, durch Begegnung mit der Gewissheit, dass unser Leben ein überfließend reiches Geschenk ist, das uns über all unsere Sorgen und eigene Handlungsmöglichkeiten hinaus frei gegeben ist.
Wenn sich im Gewalthandeln eine existenzielle Unfähigkeit Bahn bricht, sich in die Perspektiven und vor allem in das Leiden Anderer einzufühlen, dann können Bildung und ethische Pflichten fehlende Empathie allein nicht ersetzen. Empathie als zwanglos-selbstverständliche Haltung braucht die Lebensgewissheit, selbst gewollt, geliebt und getragen zu sein. Religionen geben auf diese Probleme Antworten. Hierin liegt die helle Seite der Ambivalenz in der Beziehung von Religion und Gewalt. Sie geben Antworten mit unterschiedlichem Gesicht, aus verschiedenen Traditionen und Kontexten heraus, mit differenzierten Erzählungen und Ritualen, ethischen Forderungen und alltäglichen Lebenspraktiken. Ihre Wege und zentralen Themen mögen die Entmächtigung des Begehrens als der Antriebskraft von Konkurrenz und Gewalt sein. Religionen finden ihren Mittelpunkt in einer radikalen Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, in der Entgöttlichung alles Geschöpflichen und damit aller absoluten Ansprüche an menschliches Leben außer dem Anspruch Gottes; sowie in der Rechtleitung nach den Geboten der Achtsamkeit auf den einen heiligen Ort und Lebensmittelpunkt, auf den eigenen Leib und die Regeln der Gerechtigkeit. Oder sie sind zentriert im Sich-Verlassen auf das Geschenk allen Lebens durch Gott, im Vertrauen auf Gottes Liebe im Angesicht und damit in Überwindung des menschlichen Beziehungsabbruches, und in einem Leben aus der Fülle, die mit allen anderen Lebenden geteilt werden kann. So oder so geben Religionen Antworten auf zerstörerische Gewalt. Sie wollen diese Gewalt auf den Ebenen aufheben, auf denen sie ausbricht und brennt. Religion bindet Gewalt, indem sie – negativ – die Beziehung zu Gott als »Zornschatzbildung« anbietet4: zu dem Gott, der menschliches Gewalthandeln in einer »Unterbrechung der Rache« übernimmt und überflüssig macht.5 Oder indem sie – positiv – im Glauben an Gottes Liebe, Frieden und Gerechtigkeit ein über alle Maßen machtvolles Vorbild anbietet, das von Menschen mimetisch in eigene Handlungsperspektiven übernommen werden kann: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr« (3 Mose 19,18).

2. Potenziale von Religion zur Prävention von Gewalt

Gewaltunterbrechende Wirkung können Religionen in unserer multireligiösen Gesellschaft dadurch gewinnen, dass sie im wechselseitigen Kontakt in Dialog, Wahrnehmungsoffenheit und Respekt eingebunden werden. In diesem Feld liegt das vorbeugende Potential von Religionen gegen Gewalt. Ein Beispiel soll hier namhaft gemacht werden: Trotz und im Angesicht aller Konflikte und gewaltsamen Auseinandersetzung, trotz der in der Geschichte immer wieder rigiden wechselseitigen Verwerfung in zentralen Fragen des Glaubens, der Lebensführung und der theologischen Reflexion teilen die drei großen monotheistischen Religionen zentrale Traditionen. Ihre Wahrnehmung kann dazu beitragen, wechselseitige Exklusion zu mildern, Wertschätzung von Inklusionsperspektiven zu fördern und durch Kontakt und Verständigung über das gemeinsam geteilte Eigene die Ressourcen zu erweitern, die im Falle von Gewaltkrisen deren Ausbreitung eindämmen. Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit als eine Art von theologischer Gewaltprävention: Hierüber ist zunächst zu sprechen.6 Es sind vor allem zwei Perspektiven, die für religionspädagogische Arbeit in Schulen und Kirchen nach unserer Überzeugung nötig und hilfreich sind zu einer wechselseitigen Achtung zwischen den Religionen und Kulturen und zum Religionsfrieden auch in unserem Land beizutragen: das Achthaben auf solche gemeinsam geteilten Dimensionen in den Erzähltraditionen und im symbolischen Reichtum der verschiedenen Religionen, die wechselseitigen Respekt und Offenheit unterstützen können; und Deutlichkeit in der Gestaltfindung des jeweils Eigenen ohne Angst, dadurch Begegnungsmöglichkeit und Dialog zu gefährden.
Für das Achthaben auf solche Erzähltraditionen, die die verschiedenen Religionen dennoch miteinander teilen, soll als ein Beispiel die Erinnerung an die Gestalt des Abraham gewürdigt werden.7 Abraham ist in Judentum, Christentum und Islam eine zentrale Gestalt – in den grundlegenden Schriften, aber auch in der darauf folgenden Traditionsbildung. In allen drei Religionen gibt es im Verlauf der Traditionsbildung eine fast parallele Bewegung. In frühen Texten wird wahrgenommen, dass Abraham ein Fremder ist, nicht von vornherein zur eigenen Religion hinzugehört. Die hebräische Bibel erzählt (1 Mose 11,28.31): Abram stammt aus Ur in Chaldäa, aus dem Zweistromland, er verlässt auf die Verheißung Gottes hin Vaterland und Verwandtschaft und zieht ins Land Kanaan. Abraham gehört also nicht ursprünglich zum Gottesvolk. Im Neuen Testament ist für den Apostel Paulus, einem gelehrten Juden aus Tarsus im Gebiet der heutigen Türkei, keine Frage: Abraham ist »unser leiblicher Stammvater« (Römer 4,1). Das heißt: Für Paulus ist selbstverständlich, dass Abraham kein Christ ist. Und der Prophet Mohammed, der den Abraham/Ibrahim als rechtschaffen, als Kämpfer gegen die falschen Götzen beschreibt, stellt ihn wie die »Leute der Schrift«, also wie Juden und Christen, in den Kontext der Gestalten, die auch im – christlich gesprochen – Alten Testament vorkommen: des Bruders Lot und der Nachkommen Isaak und Jakob (z.B. Sure 21,70ff.).
In allen drei Religionen findet sich später in wachsender Intensität eine strukturell vergleichbare Bewegung, Abraham allein für die eigene Religion in Anspruch zu nehmen. Weil wir aus Sicht christlicher Theologie sprechen, wollen wir dies selbstkritisch für die eigene Religion anerkennen, es ließe sich aber unschwer auch für Judentum und Islam zeigen. So schreibt bereits Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus der Kirchenvater Justin – und er hat das Schicksal der bedrängten christlichen Gemeinde in Rom vor Augen: »Worin nun besteht der Vorzug, den Christus da dem Abraham gibt? Darin, dass er ihn ebenso (wie uns) berufen hat; denn er rief ihm zu, er solle ausziehen aus dem Lande, in dem er wohnte … Mit Abraham werden wir auch das heilige Land erben und werden das Erbe für alle Ewigkeit in Besitz nehmen; denn Kinder Abrahams sind wir, da wir gleich ihm glaubten.«8 Am Ende des vierten Jahrhunderts ist für den Kirchenvater Augustinus völlig klar, dass »vom Vater Abraham bis zur Zeit der israelitischen Könige … und von da an bis zur Erscheinung des Heilands im Fleisch … der Gottesstaat sich weiterentwickelt«9 und gegen die Civitas terrena, die Bürgerschaft der Welt und des Teufels, sich durchsetzt. Und laut dem – wenn man so will – »evangelischen Kirchenvater« Martin Luther kann man in seiner Genesisvorlesung am Umgang Abrahams mit seiner Frau Sara, seinem Bruder Lot und seinen Söhnen Ismael und Isaak z.B. die Grundregeln eines christlichen Ehelebens lernen.10 Wir finden diese Bewegung in Richtung einer Aneignung einer symbolisch wichtigen Figur wie Abraham allein für die eigene Weise zu glauben verständlich. Sie ließe sich, wie gesagt, auch für die Entwicklung im Judentum und für den Islam zeigen. Für den wechselseitigen Respekt, für die Bereitschaft, mit den Verschiedenen zu leben und voneinander zu lernen, scheint uns aber eine andere Beobachtung hilfreicher, und damit möchten wir diesen Gedankenschritt beschließen: Wir finden es faszinierend, dass in Texten des Neuen Testaments ganz unterschiedliche Abraham-Bilder nebeneinanderstehen können. Wir möchten unsere jüdischen und muslimischen Gesprächspartner /innen fragen, ob sie für ihren Bereich ähnliche Beobachtungen machen können. Die Geltung anderer Abraham-Bilder wird hier nicht bestritten, sondern ergänzt. Die Abraham-Bilder in neutestamentlichen Texten wiederum wollen Bilder aus der »Schrift« – christlich gesprochen: aus dem »Alten Testament« – ebenfalls nicht verdrängen oder sogar aufheben. Wir nennen ein zentrales Beispiel: Für Paulus ist Abraham das Urbild für die Rechtfertigung allein aus Glauben – und nicht durch Werke. Abraham verlässt sich allein auf Gottes Verheißung, nur dadurch – nicht durch sein rechtes Handeln, auch nicht durch seine Zugehörigkeit zum Judentum – wird er zum Vorbild des Glaubens. »Denn was sagt die Schrift? ›Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden‹ (1 Mose 15,6) … Das Zeichen der Beschneidung aber empfing er als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er noch nicht beschnitten war. So sollte er ein Vater werden aller, die glauben, ohne beschnitten zu sein, damit auch ihnen der Glaube gerechnet werde zur Gerechtigkeit« (Römer 4,3.11). Völlig anders im Jakobusbrief einige Jahrzehnte später: »Ist nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerecht geworden, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? Da siehst du, dass der Glaube zusammen gewirkt hat mit seinen Werken … So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glaube allein« (Jakobus 2,21.24). – Spannend ist, dass die biblischen Texte beide Sichtweisen nebeneinander bestehen lassen. Das provoziert weitere Fragen: für welche unterschiedlichen Gesprächs- und Konfliktlagen ist einmal die eine, einmal die andere Ansicht wichtig? Offenbar hatte es Paulus noch nicht mit der Situation zu tun, dass seine Gemeinde völlig unbeeindruckt davon war, dass es arme Leute gab, die durch ihre Lebensumstände ins Elend gestürzt waren oder zumindest von der Partizipation am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren. Umgekehrt war der Kontext, in dem der Autor des Jakobusbriefes sein Abraham-Bild entwickelt hat, nicht von dem Konflikt bestimmt, den Paulus vor Augen hatte: Müssen Menschen, die als Nicht-Juden Christen werden wollen, zuerst die Speisegebote der Tora einhalten und sich beschneiden lassen? Spannend wird jetzt, wie beide unterschiedenen Abraham-Bilder in einer fürs christliche Leben zentralen Frage zusammengedacht werden können. Vielleicht so: Gott liebt die Menschen nicht erst, wenn und weil sie alles richtig machen (dies wäre Paulus‹ Anliegen). Aber in der Konsequenz aus Gottes Liebe werden seine Menschenkinder nicht am Elend ihrer Mitkreaturen vorbeigehen (dies liegt Jakobus am Herzen). Für beides steht die Erinnerung an Abraham ein.
Es lassen sich viele weitere Beispiele unterschiedlicher Abraham-Erinnerungen finden, erst recht, wenn man die nachkanonischen Schriften beider Testamente hinzunimmt. Wir denken, dass die frühen christlichen Glaubenszeugnisse in ihrer Unterschiedenheit, die nicht harmonisiert und aufgelöst wird, manche Ähnlichkeit mit den rabbinischen Diskussionen haben, in denen auch verschiedene Deutungen nebeneinanderstehen können. Verschiedenes muss sich nicht gegenseitig aufheben und überdecken, sondern kann in Ergänzung, auch im Widerspruch gegeneinander zur Wahrheit im Glauben wie im Leben beitragen. Am Beispiel verschiedener Abraham-Bilder kann gelernt werden, dass wechselseitiger Respekt durchaus Streit einschließen kann, ohne in gegenseitiger Verwerfung und Gewaltbereitschaft enden zu müssen.
Gemeinsam geteilte Erzähltraditionen, aber auch Symbole und Rituale können und sollen aufgeschlossen werden, um Wahrnehmungsoffenheit und Verstehensbereitschaften im Zusammenleben der Verschiedenen zu ermöglichen und zu stärken. Genauso nötig scheint uns, im Lebensvollzug ebenso wie im Kontakt mit anderen religiösen Orientierungen, das jeweils Eigene zur Gestalt zu bringen – ohne Angst, deshalb Gesprächsbereitschaften zu gefährden. Wir haben den Eindruck, dass sich in diesem Feld die christlichen, insbesondere die protestantischen Gesprächsteilnehmer/innen bisweilen befangener zeigen als unsere muslimischen, aber auch unsere jüdischen Gesprächspartner /innen. Das ist schade für die Lebendigkeit, in der jeweils die eigene Religion gelebt wird, aber auch für die Lebendigkeit des Dialogs. Aus Konfliktvermeidung vorweg reduzierte Deutlichkeit befördert den Dialog keineswegs, sondern macht ihn im Kern unmöglich.
Drei Perspektiven möchten wir schlagwortartig nennen, an denen eine größere Deutlichkeit in evangelisch-christlicher Perspektive nötig scheint:
• Der historisch-kritische Zugang zu den Heiligen Schriften, zu Bekenntnissen sowie Symbol- und Ritualtraditionen. Eine historisch-kritische Lektüre biblischer Texte ist nötig – nicht zuletzt in kritischer Unterscheidung zu »fundamentalistischen« Orientierungen, wie sie heute für viele Zeitgenossinnen und -genossen große Faszination gewinnen, und keinesfalls nur im Raum der christlichen Religion. Würde mit einer wortwörtlichen, überhistorischen Geltung biblischer Texte gerechnet, so würde die Bibel auf ihren Charakter als Gesetz verkürzt und damit um ihre wesentliche Dimension als Verheißung gebracht. Die hermeneutische Aufgabe der Theologie hängt unmittelbar mit der kritischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zusammen. Die Texte der Bibel müssen übersetzt, müssen ausgelegt und auf ihre Bedeutung für heutige Menschen befragt werden. Mit der reformatorischen Grundentscheidung ist ein historisch-kritischer Umgang mit biblischen Texten deshalb unmittelbar verbunden, weil die Verstehensbedingungen neuzeitlicher Menschen ernst genommen werden müssen, wenn diese sagen können sollen, was Gottes Geschichte mit seinen Menschen »für mich« bedeutet.
• Im Gespräch mit jüdischen und muslimischen Gesprächspartner /innen, aber auch im eigenen Glauben sollen Christenmenschen leben und zeigen, dass der christliche trinitarische Gottesglaube keineswegs bedeutet, die Einheit Gottes zu bestreiten oder zu leugnen. Vielmehr geht es hier um eine über viele Jahrhunderte der Kirchengeschichte ausgearbeitete und bewährte Suche danach, die Einheit des Gottes festzuhalten, wie er sich in jeweiliger Eigentümlichkeit im – christlich gesehen – Alten und Neuen Testament und darüber hinaus in der langen Geschichte der Gestaltwerdungen christlichen Glaubens mitgeteilt hat. Trinitarisch bestimmte Rede von Gott ist zu verstehen – und sie ist für christlichen Glauben darin bleibend nötig – als tastende Annäherung in menschlicher Resonanz darauf, dass Glauben mehr ist als ein kognitives Wissen, nämlich das Eingehen der Ganzheit menschlichen Lebens in seinen körperlichen, geistigen und seelischen Vollzügen in einen Beziehungsraum, in dem Gott sich in seiner Überschwänglichkeit in dreifacher Weise selbst mitteilt. In diesem Zusammenhang ist in der protestantischen Theologietradition – um eine geschichtswirksame Denkmöglichkeit zu nennen – von den drei Seinsweisen Gottes gesprochen worden: als Schöpfer, Urheber und Quelle allen Lebens, als Bruder und Mit-Lebender und -Leidender unter den Bedingungen weltlich-geschichtlichen Lebens, und als Geistkraft, die alles Lebendige mit heilsamer Kraft erfüllt.
• Evangelisch-christlicher Glauben zeigt darin sein besonderes Gesicht, dass er mehr und anderes ist als Rechtleitung und Rechthandeln, mehr als der Versuch, im jeweils eigenen Lebensvollzug dem Willen Gottes zu entsprechen. Evangelischer Glaube ist immer wieder als tiefes Vertrauen in Gott, als Eingebundensein in eine tiefe Beziehung zu Gott und den anderen Menschen erfahren worden, und zugleich als Freiheit von der Verpflichtung, Gott alles empfangene Gute zurückzahlen und so »wieder gut machen« zu müssen. Der evangelische Glaube an die »Rechtfertigung des Gottlosen« zeigt sich in dem tiefen, Lebensgewissheit spendenden Vertrauen, dass Gott mich und alle Menschen im Kontext aller Kreatur voraussetzungslos, umsonst und ohne unsere Vorleistung liebt, erhält und befreit.

3. Der Augenblick der Gewaltfaszination und die Alternative

So weit ein Hinweis auf das vorbeugende Potenzial von Religion für Gewaltunterbrechung. Was aber, wenn eine Gewaltkrise ausgebrochen ist? Was können Religionen dazu beitragen, dass sich dann Menschen der ansteckenden mimetischen Wirkung von Gewalt, ihrem Versprechen von Grandiosität, Selbstentgrenzung und Freiheit im Akt der Gewalttat nicht überlassen und Einfühlungsfähigkeit in das Leiden der Opfer von Gewalt bewahren können? Hier liegt das Zentrum unseres Interesses in dieser Untersuchung. Wir möchten die Überlegung ins Spiel bringen, dass es vor allem die Zeitgestalt des Gewalthandelns ist, in der sich die Alternative zwischen Gewaltfaszination und Gewaltunterbrechung entscheidet. Es sind Augenblicke, in denen das traumatisierende Miterleben, oft auch das faszinierende Anschauen von Gewalthandeln Menschen zu eigenem Gewalthandeln ansteckt. Es sind Augenblicke ekstatischer Selbstentgrenzung, in denen Menschen zu Gewalttätern werden. Vor allem dies ist an den Lebensgeschichten vieler KZ-Aufseher/innen, Kommandant/innen und Soldat/innen z.B. europäischer oder afrikanischer Genozid-Armeen, auch von Berichten über Menschen zu lernen, die sich in den Sog von Massakern haben hineinziehen lassen: Oft sind dies Leute, denen man solche Gewalttaten niemals zugetraut hätte. Manchmal sind es hoch gebildete, oft über Jahre und Jahrzehnte unauffällig lebende Familienväter und -mütter, Jugendliche mit hoffnungsvollen Bildungsperspektiven oder doch aus »guter Familie« und »stabilen Verhältnissen«, die zu Mördern, zu Vergewaltigern und Tätern von Gewalttaten werden, in denen das Antlitz des anderen Menschen zerstört, sein Körper verletzt, geöffnet und zerschlagen wird. Es sind Menschen, die oft über Generationen neben Freund/inn/ en, Nachbar/inn/en, oft auch Verwandten und Ehepartner/innen anderer religiöser Orientierung und ethnischer Herkunft gelebt haben, über Alltagskonflikte hinaus ohne zerstörerische Aggression, die in diesen Momenten ihre Nachbarn zwingen, ihre Lebensorte zu verlassen, sie vergewaltigen oder töten, womöglich in diesen ekstatischen Momenten der Gewaltfaszination unbeschreiblichen Torturen unterwerfen. Der Augenblick des Gewalthandelns bricht (für einmal, und ist der Damm erst einmal gebrochen, auch öfter) in die Dauer der Zeit ein – in die Dauer einer individuellen Lebensgeschichte, eines Kollektivs wie der Bewohnerschaft eines Dorfes oder Stadtquartiers, eines Verwandtschaftszusammenhangs. Ist diese ekstatische Zeit vergangen, können sich die Täter/innen in ihrem eigenen Gewalthandeln oft nicht mehr wiedererkennen. Sie wirken dann wie entleerte Hüllen einer gewaltigen und gewalttätigen Energie, die sie im Griff hatte und danach wieder verlassen hat. Finden sich Organisatoren und aktiv Beteiligte von Massakern vor Gerichtshöfen oder Wahrheitskommissionen wieder, möchte man ihnen ihre Untaten kaum noch zutrauen; und zugleich sind sie, in anderer Weise als ihre Opfer, auf die Dauer ihrer Lebensgeschichte von dem gezeichnet, was sie getan haben.11 Die Möglichkeit von Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit entscheidet sich an dieser Frage: Kann in den Augenblicken der Gewaltfaszination eine Alternative wirksam werden? Eine Alternative würde nicht zuerst auf anderen mentalen/psychischen Ebenen besseren Wissens und anderen Sollens wirksam, die in den entscheidenden Augenblicken oft machtlos oder doch zumindest zu langsam sind, sondern auf derselben existenziellen Ebene, auf der die Faszination von Gewalt ihre Macht über Menschen entfaltet.12
Damit ist zu fragen: Kann in den entscheidenden Momenten die Faszination der Gewalt durch die Faszination der Gabe unterbrochen werden, die ebenso wie Gewalt mimetisch wirkt? Es gehört zum zwanglos abrufbaren Verhaltensrepertoire eines jeden erwachsen gewordenen Menschen, dass Freundlichkeit mit Freundlichkeit, Geschenke mit Geschenken, Solidarität mit Solidarität beantwortet werden. Kann also in den entscheidenden Augenblicken gegen die Gewaltfaszination die ansteckende Kraft einer »Wertschätzungsoffensive« oder »Würdigungsoffensive«13 wirksam werden und eine solidarische Haltung – hier und jetzt – gegenüber denen Gestalt gewinnen, die aus ethnischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Gründen zu Opfern von Exklusion, Verachtung, Feindschaft und schließlich Gewalthandeln gemacht werden? Kann in den entscheidenden Momenten der Gewaltfaszination, in denen Sehnsucht nach Fülle und Selbstentgrenzung durch Gewalttätigkeit gewissermaßen ausrastet, die alternative Erfahrung wirksam werden, aus der Fülle des Lebensgeschenkes schon immer zu leben, aus dem überfließenden Geschenk der Zärtlichkeit, in theologischer Sprache: aus der »Gnade« Gottes? Kann die Verletzung und Gefährdung des Antlitzes des anderen Menschen – hier und jetzt – zur zwanglos-zwingenden Herausforderung werden, für deren fundamentale Lebensrechte einzutreten?
Gerade für die christlich-protestantische Theologietradition beinhaltet diese Fragerichtung eine notwendige Herausforderung und einen Anspruch auf Neuorientierung. Allzu lange wurde in Erinnerung an Martin Luthers Rede von den »zwei Regimenten Gottes« vor allem auf die gerüsteten Erzwingungskapazitäten der »Obrigkeit« z.B. im Einsatz von Militär und Polizei gesetzt: »Denn wenn das nicht wäre, zumal alle Welt böse und unter Tausenden kaum ein rechter Christ ist, würde eins das andere fressen, so dass niemand könnte Weib und Kind aufziehen, sich nähren und Gott dienen, womit die Welt wüst würde.«14 Die alleinige Orientierung an der »guten Gewalt« der Rechtserzwingung durch die »Obrigkeit« hat in der größten Gewaltkrise der jüngeren deutschen Geschichte dazu beigetragen, dass zahllose Christenmenschen und ihre Kirchen gegenüber mörderischem Gewalthandeln paralysiert, sprachlos und entscheidungsunfähig wurden, sobald es von einer mörderischen und verbrecherischen »Obrigkeit« selber verübt wurde. Nötig ist, um der Faszination von Gewalt begegnen zu können, eine Umorientierung: weg von der alleinigen Fixierung auf »gute Gewalt«, auf die militärischen und polizeilichen Erzwingungsmittel staatlicher Macht (»Gesetz«) – hin auf das Vertrauen in die zwingende mimetische Kraft von Wertschätzung und Solidarität, hin auf das Leben aus der Fülle (»Evangelium«) als einer Haltung, die Hinwendung zur/zum Anderen nicht als Verpflichtung, sondern als freien Fluss der Weitergabe des selbst Empfangenen wirksam macht. Liegt hier das energetische Zentrum, so gewinnen auch die in Gewaltkrisen ja weiterhin nötig bleibenden Erzwingungsmittel erst ihre heilsame Justierung und Begrenzung. Und: in dieser Umorientierung auf Fülle, Liebe, »Evangelium« – und nicht auf Zwang, »gute Gewalt«, »Gesetz« – als Wege der Gewaltunterbrechung durch Religion liegt, dies ist unsere tiefe Überzeugung, der wesentliche christliche Beitrag im Dialog mit den anderen Religionen in dieser für das weitere Schicksal menschlicher Lebensmöglichkeit auf der Erde schlechthin entscheidenden Frage.

4. Augenblick und Dauer – praktisch-theologische Perspektiven

Die Sehnsucht nach Fülle und Selbstentgrenzung ist einer der großen Antriebe, ein Zentrum von Lebensenergie, das ganz verschiedene Wege zur Realisierung sucht. Gewalthandeln ist ein besonders zerstörerischer Weg. Unter normal-alltäglichen Bedingungen bietet nicht zuerst Gewalthandeln, sondern Konsumismus eine Möglichkeit, diese Sehnsucht in Handeln zu übersetzen.15 Die kapitalistische Warengesellschaft funktioniert in der Gleichzeitigkeit von versprochener Fülle und angedrohter bzw. faktisch zugemuteter Knappheit (z.B. an Arbeitsplätzen, Zugang zu Gütern und kulturellen Partizipationsmöglichkeiten) bei in Wirklichkeit ausreichend gegebenem gesellschaftlichem Reichtum, der bei gerechterer Verteilung für alle ausreichen würde. Wie diese Gesellschaft auch unter Normalbedingungen funktioniert, wird für viele erst in Zeiten der wirtschaftlichen und finanziellen Krise handgreiflich und existenziell erfahrbar, wenn nämlich die Inklusionsmechanismen dieser Weise zu leben in Gefahr geraten. Die Sehnsucht nach Fülle und Reichtum, die auf den Wegen des Konsumismus, verbunden mit Konkurrenz und Neid gegenüber potenziell allen anderen erfüllt werden soll, stößt an ihre Realisierungsgrenzen.
In der kapitalistischen Warenökonomie wird Fülle nur durch das Nadelöhr von Knappheit zugänglich. Faktischen Zugang zu Realisierungsmöglichkeiten von Reichtum und Fülle haben immer weniger Menschen, und immer größere Bevölkerungsgruppen weltweit und auch in unserem Land haben zu-nehmend kaum Chancen, sich an diesem »Spiel« zu beteiligen. Immer mehr Menschen werden als Produzent/innen, aber auch als Konsument/innen für die Produktions- und Zirkulationsmechanismen dieses Gesellschaftssystems überflüssig gemacht. Knappheit wird zu Ausschluss gesteigert.
Aber auch die goldene Seite, das Versprechen dieses Weges, Sehnsucht nach Fülle tatsächlich zu erfüllen, bleibt trügerisch. Die Warenwelt ist nicht das wahre Leben. Die gelingende Antwort auf die Frage »Wer wird Millionär« verbindet sich in der Regel eben nicht mit der Realisierung der mit diesem Erfolg verbundenen Glückshoffnung. Andere Sorgen werden sofort massiv: Wie lege ich den Reichtum an, so dass er sich vermehrt und nicht im virtuellen Datennetz globaler Finanzströme verschwindet? Habe ich überhaupt die Zeit, meinen Reichtum zu genießen? Verbindet sich die Genussmöglichkeit mit Formen von Sozialität und Gemeinschaft, die Fülle tatsächlich erfahrbar und lebbar machen? Der Selbstmord des Milliardärs Adolf Märkle am 6. Januar 2009 als Resonanz auf den Zusammenbruch seines Firmen- und Finanzimperiums in Zeiten der Finanzkrise wird zum schlagenden Symbol für das Scheitern, man muss radikaler formulieren: für die Lüge der kapitalistischen Religion. Gesetz und Verheißung, Knappheitsdrohung und Reichtumsversprechen dieser Religion verschließen die von ihnen faszinierten Menschen gegenüber der Fülle des Lebens, indem Quasi-Angebote von Fülle eröffnet und tatsächlich immer von Neuem dementiert werden. Konsumismus soll Ersatz sein für Fülle, für Lebensgewissheit aus geschenkter und erfahrener Gnade. Die Möglichkeit vorbehaltloser Selbstannahme und positiver Lebensdeutung wird so verfehlt. Die Lebenshaltung der Sorge verhindert Empathie gegenüber denen, die weniger haben – wie überhaupt gegenüber allem Lebendigen (»homo incurvatus in seipsum«).
Religion eröffnet auf symbolischer Ebene die Erfahrung von Fülle im Augenblick, in dem das Ganze meines Lebens leicht und aufgehoben mir entgegenkommt. Sie ermöglicht durch ihre Erzählungen, Rituale und Symbole, diese Erfahrung auf Dauer zu stellen. Die Erfahrung von mir durch Gott geschenkter Fülle, das Vertrauen auf Gottes voraussetzungslos mir entgegenkommende Güte und ein Leben aus diesem Reichtum werden sich mit Haltungen und Handlungsperspektiven verbinden, diese Fülle weiterzugeben und für eine gerechtere Verteilung der Güter im gesellschaftlichen Lebenskontext einzutreten. Politische Revolutionen sind oft mit unlösbaren Schwierigkeiten konfrontiert, den Augenblick der Fülle, den gelingenden Durchbruch auf Dauer zu stellen, ohne versprochene Verheißung in rigide und repressive Formen von communitas zu übersetzen. Dagegen kann in religiöser Verbundenheit die Augenblickserfahrung der Fülle eher auf Dauer gestellt werden: weil und sofern sie Möglichkeiten für Gestaltfindung vor allem auf der Ebene symbolischer Ordnung anbietet. Sie kann auf die nicht selbst besorgte Vorgängigkeit gegebener Lebensfülle vertrauen und ist deshalb nicht auf rigide Erzwingung im gesellschaftlichen Handeln angewiesen.
An dieser Stelle kommt auch die praktisch-theologische Aufgabe in der Reflexion der Frage »Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit« in den Blick. Was die beschriebene Zeit-Gestalt der Gewaltfaszination betrifft, die im Augenblick ekstatischer Entgrenzungserfahrung wirksam wird, muss ja festgehalten werden: Die Erfahrung von Fülle als nicht selbst besorgter, sondern mir geschenkter und begegnender Lebensgewissheit kann die verdichtete Form einer das Leben umstürzenden Augenblickserfahrung haben – und das hat sie für viele Menschen auch. Die Frage ist aber: Fällt dieser Augenblick mit eben dem Augenblick zusammen, oder zumindest: wird diese Augenblickserfahrung in eben dem gleichen Augenblick wirksam, in dem ein Individuum oder ein Kollektiv in den Sog der Gewaltfaszination gerät?
Es ist damit zu rechnen, dass die Erfahrung geschenkter Lebensfülle in den hoch brisanten Augenblicken, in denen sich die Alternative: ›Überwältigung durch Gewalt‹ oder ›Entfachung von Verbundenheit und Empathie‹ entscheidet, wirksam werden kann, wenn der Augenblick erfahrener Fülle in der Dauer der Zeit immer wieder erinnert, wenn er immer wieder wahrgenommen, gefeiert, gelebt wird. Wenn diese Gabe immer neu gelobt und für sie immer wieder gedankt wird. Und wenn die individuelle Erfahrung des Beschenkt- und Getragenseins in langfristigen Haltungen, aber auch in Formen alltäglich-lebensweltlicher Kommunikation Gestalt gewinnt.
Damit geraten die auf Dauer, nämlich auf immer wiederkehrende Wiederholung gestellten Formen der symbolischen Ordnung der Religion in den Blick: ihre Metaphern und Symbole, Erzählungen und Rituale, schließlich auch ihre aus geschenkter Fülle herausfließenden ethischen Handlungsperspektiven.
In diesem Buch werden exemplarisch Erzählungen, Rituale und ethische Perspektiven aus der jüdischen und christlichen Religion wahrgenommen, und wir interpretieren sie als protestantische Theolog/inn/en. Schon vor ihrer konzentrierten Ausrichtung auf Gewaltunterbrechung – z.B. in Friedensgebeten, Trainings in Gewaltprävention, Bildungsarbeit von Friedensdiensten u.a.m. – eröffnen sie eine Bewegung, in der zerstörerische Gewalt in lebensförderliche Wechselseitigkeit umgewandelt wird. Manche biblischen Psalmen loben und fordern Gott als den, der allein die Feinde zerschlagen kann, und befreien so menschliche Subjekte vom Zwang und von der Faszination, selber Rache zu üben und Gewalt zu verbreiten.16 Andere biblische Texte sind Erzählungen, die als performatorische, Wirklichkeit herstellende Sprechhandlungen wirken und eine Umkehrung und Transformation von gewaltsamer in lebensförderliche Wechselseitigkeit buchstäblich »zur Welt bringen« können. Gottesdienste und andere religiöse Rituale geben schon vor und jenseits ihrer thematischen Konzentration auf Gewaltunterbrechung, eben durch ihre rituelle Bewegung selber dieser Umkehrbewegung, die die Erzählungen als Wirklichkeit in der Zeit entfalten, als Bewegungen im (sozialen) Raum und in körperlicher Präsenz eine entsprechende Gestalt. Ethische Perspektiven für Gewaltunterbrechung werden so nicht nur als den einzelnen Menschen von außen auferlegte Gebote wirksam, sondern als Handlungsvorgaben (»Exempla«), die zwanglos-zwingend aus der erzählten, gefeierten und geglaubten Umkehrbewegung aus zerstörerischer in lebensförderliche Wechselseitigkeit herausfließen.