WENDEHÄLSE - Hans-Martin Gutmann - E-Book

WENDEHÄLSE E-Book

Hans-Martin Gutmann

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Beschreibung

Karneval im Dorf. An der Sektbar umarmen sich gestandene Mannsbilder. Große Festversammlung. Wir haben schon einiges hinter uns. Nicht nur musikalisch. Nach dem Fest verwandeln sich Feiernde in einen hasserfüllten fremdenfeindlichen Mob. Ein junger Landwirt stellt sich ihnen entgegen. Wenige Tage später ist er verschwunden. Monate nach der Grenzöffnung warten neue Fälle auf den Groß Samtlebener Dorfpastor Lukas Bentorff. Ein unentwirrbar scheinendes Knäuel aus schrägen Geschäften und Fremdenhass, Zwangsprostitution und Liebe spinnt den sympathischen Seelsorger immer dichter ein – enger, als für sein Leben gut ist ... Der zweite Fall von Dorfpastor Lukas Bentorff.

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Orte und Personen der Handlung sind frei erfunden. Übereinstimmungen sind rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Ich danke den „Spöttingern“ Reinhard Umbach, Michael Berger und Jörg Schmidt, dass ich die Karnevalsfeier in Groß Elbe mit ihren Texten schmücken darf.

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-188-5 (Print) / 978-3-95894-189-2 (E-Book)

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2021

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Handlung, Personen sowie die Dörfer Groß und Klein Samtleben in diesem Roman sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Handlungen, Personen und Orten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

„Da steht ein Pferd auf‘m Flur, ein echtes Pferd auf’m Flur, jaja ein Pferd auf’m Flur, das ist so niedlich. Da steht ein Pferd auf’m Flur, jaja ein Pferd auf’m Flur, oh ein Pferd auf’m Flur und schaut mich an ...“

Klaus und Klaus. Die Stimmung steigt.

Ich sehe mich um. Manche schunkeln. An der Sektbar umarmen sich gestandene Mannsbilder. Große Festversammlung. Wir haben schon einiges hinter uns. Nicht nur musikalisch.

Big-Band aus Südthüringen. Die Grenzöffnung vor einem Vierteljahr macht’s möglich. Damals habe ich diese Jungs und Mädels kennengelernt, und das hat mir damals das Leben gerettet. Kommt mir vor, als ob das schon länger her wäre.

Als die Telefonleitungen in die DDR nach den ersten hektischen Tagen nach der Grenzöffnung endlich offen waren, habe ich den Einfall gehabt. Ich organisiere genau diese Big-Band für die Große Festversammlung. Karneval in Groß Samtleben.

Ich habe im „Thüringer Hof“ in Kühndorf angerufen und den Kontakt zur Big-Band klargemacht. Die hat dort seit vielen Jahren ihren Probenraum. Und der Bandleader war sofort Feuer und Flamme. „Karneval in Westdeutschland! Noch dazu auf dem Dorf. Na klar kommen wir!“

Ich habe beiden Vorsitzenden der Samtlebener Karnevalsvereine klar gemacht, dass sie einiges springen lassen müssen. Klar gab es Einwände.

Aber jetzt sind sie hier, und sie spielen. Besonders für einen Anlass wie diesen.

„Einer geht noch, einer geht noch rein!“

Es wird geschunkelt. Verbrüderungsszenen an der Sektbar.

Später werde ich auch noch meinen Auftritt haben. An der Tuba. Und als Büttenredner.

Bis dahin: Nüchtern bleiben.

Wir haben schon eine ganze Reihe von mehr oder weniger launigen Beiträgen überstanden. Je mehr Pils und Kölsch durch die Reihen gehen – es können immer Holzbretter mit jeweils zehn Gläsern geordert werden, das erhöht den Umsatz enorm – desto begeisterter wird die Resonanz des Publikums.

Die Band orchestriert alles, was in diesen Jahren karnevalsmäßig auf dem Markt ist. „Niemals geht man so ganz“ von Trude Herr, „Der Eiermann“ von „Klaus und Klaus“, „Bier und nen Apfelkorn“ von den „3 Colonias“.

Als unmittelbar vor „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ auch noch „Black Fööss“ angestimmt wird, „Dem Schmitz sing Frau es durchjebrannt“, da gibt es kein Halten mehr. Der ganze Saal grölt begeistert mit. Seltsamerweise steigt mit dem Grad der Alkoholseligkeit die Textsicherheit.

Dabei hat die Festversammlung an diesem Abend ziemlich lahm begonnen. Ganz im Gegensatz zu den vergangenen Tagen. Der Festumzug am Rosenmontag war ein grandioser Erfolg. Von Groß Samtleben nach Klein Samtleben und zurück, mit Festwagen aus beiden Vereinen und Fanfarenzügen aus dem gesamten Gebiet von Salzgitter, Braunschweig und Peine. Hunderte säumten die Straßenränder. Die Polizei hatte das gesamte Gebiet weiträumig für den Straßenverkehr gesperrt. Zeitungen, Anzeigenblätter und selbst die Lokalberichterstattung des NDR hatten das große Ereignis angekündigt. Der Streit zwischen den „Lustigen Jecken“ und dem „Karnevalsverein“ Groß Samtleben – nach vielen Jahren beigelegt!

Hunderte aus den umliegenden Dörfern und selbst Neugierige aus Braunschweig, Hannover und Hildesheim lassen es sich nicht nehmen dabei zu sein. Die Kinder sammeln Kamelle. Aus den Gesprächen am Tisch heute Abend weiß ich, dass einige in den Stunden nach dem Umzug neu entstanden sein werden.

Nicht Kamelle.

Bloß nicht zu albern werden vor meinem eigenen Auftritt.

Nach dem lahmen Beginn ist das Fest erstaunlich gut in Gang gekommen. Sah in der ersten Stunde nicht danach aus. Offenbar ist es schwierig, an die Begeisterung der letzten Tage anzuknüpfen. Die Groß Samtlebener sind mit den Gästen aus Klein Samtleben unter sich. Auch so bevölkern mindestens zweihundert Leute den großen Festsaal. Um den hätte es wenige Wochen zuvor fast eine Schießerei zwischen beiden Vereinen gegeben.

Alles vergessen. Oder???

Besinnliche Eröffnungsreden von Hugo Kleinhans. Bürgermeister der Gesamtgemeinde Samtleben. Feuerwehrhauptmann und Vorsitzender des „Karnevalsvereins“. Und von Otto Viersen, frisch gewählter Vorsitzender der „lustigen Jecken“. Thema in beiden Reden: Großer Versöhnungstag zwischen den „Lustigen Jecken“ und dem „Karnevalsverein“. Seit Menschengedenken verfeindet. Jetzt wieder vereint. Grund genug, ein paar tiefe Gedanken über das Elend des Unfriedens im Dorf zum Ausdruck zu bringen. Und ein paar tiefe Gedanken zum Tod von Wilhelm Scheinhaus, dem verstorbenen Großgrundbesitzer Groß Samtlebens und Förderer der „Lustigen Jecken“.

Beide Redner sind gediegene Meister darin, tiefe Gedanken in gewundener Sprache zum Ausdruck zu bringen. Ich sehe in die Gesichter an meinem Tisch. Leere. Die Leute lassen das über sich ergehen. Mehr aber auch nicht. Zu Beginn der Feier fehlt außerdem der Alkohol. Trotzdem. Am Schluss dieser Reden sind die Leute dann hinreichend gerührt.

Ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken abschweifen. Es sind ja nicht nur die großen Gefühle „für unser gemeinsames Groß Samtleben“, die beide Vereine zusammengetrieben haben. Sondern schlicht finanzielle Not bei den Jecken. Nachdem der Förderer weg ist, herrscht Ebbe in der Kasse. Die kommt in beiden Ansprachen nicht vor. Na klar. Alle Vereinsmitglieder der „Lustigen Jecken“ im Saal wissen sowieso genau, wo der Schuh drückt. Lieber unterbrechen sie Otto Viersen mit verhaltenem Beifall, als der seine launige Ansprache immer wieder mit zotigen Einlagen über doofe Hausfrauen (in seinem Erfahrungshorizont komplett hirntot) und faule Ausländer (nicht nur faul, sondern auch dumm und inkompetent) würzt.

„Ich kenne keine ‚lustigen Jecken‘ und keine ‚Karnevalsvereiner‘ mehr („tätä, tätä“), ich kennen nur noch Groß-Samtlebener!“ Wilhelm II. hätte seine Freunde gehabt.

Beide Redner geben sich alle Mühe. Trotzdem. Lachen und Beifall bleiben zurückhaltend.

Das ist jetzt fast vier Stunden her. Ich sehe verstohlen auf die Uhr. Es geht auf Mitternacht zu.

Höchstens drei Flaschen Bier heute Abend. Ich bin stocknüchtern.

Ich finde es spannend mitzuerleben, wie dieser große Versöhnungstag verläuft.

In den vergangenen Wochen habe ich manchen Gesprächen im „Brotladen“ gelauscht, der Bäckerei von Groß Samtleben. Nachrichtenbörse des Dorfes.

Ehefrauen aus beiden Vereinen sind fest überzeugt. Dieser Versöhnungstag wird Frieden ins Dorf bringen. Frieden bis ins nächste Jahrtausend.

Ich konzentriere mich auf das Bühnen-Geschehen. Klaus Senghaus tritt in die Bütt. Schulleiter von Groß Samtleben, Organist in der Samtgemeinde. Außerdem Chorleiter und damit im Zentrum eines beide Vereine und beide Dörfer überspannenden Begegnungsraums.

Und, das weiß auch jeder im Dorf: Der Kirchenchor ist eine Beziehungsschleuder. Nicht selten ehegefährdend.

Darüber müsste es mal eine Untersuchung geben. Warum animieren Kirchenchöre ihre sangeslustigen Mitglieder, sich auf Liebesabenteuer mit anderen Sängern – und meistens Sängerinnen – einzulassen?

Gut. Das wird später mal seine Zeit haben. Jetzt ist Klaus Senghaus an der Reihe, die Stimmung im Saal zum Kochen zu bringen.

Und dann komm ich.

Ich möchte wirklich mal wissen, was die Veranstaltungsplaner dazu gebracht hat, ausgerechnet die beiden intellektuellen Beiträger an den Schluss des offiziellen Programms zu setzen. Bevor der Schwof beginnt.

Aber offenkundig macht es nichts aus. Die Leute im Saal bejubeln alles, was von der Bühne kommt. Ich bin mir nicht sicher, ob noch alle mitbekommen, worum es geht. Dabei lohnt es jetzt wirklich, Klaus Senghaus zuzuhören.

„Im Norden Deutschlands braust die See,

im Süden sind die Berge.

Ganz wie im Märchen: Vorn die Fee,

und hinten steh’n die Zwerge.“

Das ist wirklich komisch. Ich finde es entlastend, dass ich lachen muss, ohne mir Mühe zu geben, etwas komisch zu finden.

„Wie alles anfing:

Die Welt entstand aus einem Knall:

Das Kn flog fort. Es blieb das All.“

Fassungslose Ruhe nach diesem Zweizeiler.

Die Band springt ein und bringt einen Tusch. Und das Volk? Jubelt!!!

„Bruchverletzungen am Zeh

heilt der Lindenblütentee.

Sitzt der Bruch jedoch im Nacken,

ist er nicht so leicht zu packen.

Freilich fördert das Gelingen

ein Korsett aus Zwiebelringen.

Injektionen blauer Bohnen

schützen schnell vor Depressionen.

Knöchelbruch und Raucherbein

weicht man in Koriander ein ...“

Tätä tätä.

Ich kann mich plötzlich nicht mehr konzentrieren. Merke, dass mein Mäppchen verschwunden ist, in dem ich meine eigenen Texte mitgebracht habe. Hektisch gucke ich nach links und rechts. Auf dem Tisch nur Bierlachen und Reste von Mettbrötchen.

Ich krabbele unter die Tafel. Sie besteht aus einer langen Reihe ineinandergestellter Platten auf Holzböcken. Unterm Tisch sehe ich imposante Männer- und Frauenbeine, teilweise kreuz und quer ineineinander verhakt. Hier werden offenbar für die Nacht vielversprechende Liebesabenteuer ausgehandelt. Das geht mich jetzt nichts an.

Ein Glück. Meine Mappe liegt drei Plätze weiter. Jemand hat seine Schuhe daraufgestellt. Ich versuche, den Fuß hochzuheben. Ist nicht ganz einfach, aber schließlich gelingt es.

Außer Atem und mit puterrotem Kopf krabbele ich wieder auf meinen Sitz. Ich bekomme gerade den beifallumtosten letzten Beitrag von Klaus Senghaus mit:

„Aus dem weiten Feld des Liebeslebens der Tiere.

Der Igel humpelt schwer verletzt:

Den Beischlaf zu hoch angesetzt.“

Für einen Schulleiter etwas gewagt. Aber den Leuten gefällt‘s.

Jetzt muss ich in die Bütt. Die Big-Band begleitet meine paar Schritte, bis ich angekommen bin, mit dem Narrhalla-Marsch. Ich beginne mit ein paar Tiergedichten.

„Einmal das Emu rülpsen hören, heißt danach jeden Meineid schwören. Ja selbst Hyänenchöre sind im Vergleich nur Amateure“.

Erneut fassungslose Ruhe im Publikum, die Band rettet die Situation, Lacher und Jubelrufe setzen erst verspätet mit der Musik ein.

Gut, dann eben eine ganze Szene aus dem Tierleben. „Eine Gans steht im Plattenladen. ‚Haben Sie Gans in weiß?‘ – Der Verkäufer: ‚Leider nein. Aber wir haben Gans and Roses.‘ – Nein, dann nehme ich lieber gar nichts.‘“

Unangenehme Ruhe im Saal. Selbst die Band weiß offenbar nicht, was sie davon halten soll.

Ich finde das schreiend komisch. Okay, man muss vielleicht den Text vor Augen haben. Ich versuche es mit ein paar Dracula-Gedichten.

„Fledermäuschen, Fledermäuschen, flieg noch mal ums Nachbarhäuschen. Opa mit dem einen Bein kann so weit doch noch nicht sein ...“

Ein paar Lacher, verhaltener Applaus.

„Die Kur beim Roten Kreuz war gut. Doch freu ich mich auf Heimatblut. Bin übermorgen wieder da, Grüße euer Dracula.“

Das funktioniert schon besser.

„In der Christnacht gellt ein Schrei aus des Münsters Sakristei. Erfüllt wird so das Wort der Schrift: Weh‘ dem, der Heiligabend kifft.“

Tätä tätä. Es kommt endlich rüber. Ein paar Leute vor mir hauen sich auf die Schenkel und prosten sich zu. Damit komme ich zu meinem eigentlichen Thema, von beiden Vereinsvorsitzenden für meinen Beitrag angekündigt: Religion.

„Die Religion ist zum dran glauben,

die Volksbank, um sie auszurauben.

Und nur der Daseinszweck der Bären

ist schlicht mit Brummen zu erklären.“

Das finde ich selber witzig. Und die Leute auch. Ich komme jetzt in Fahrt. Kirchliche Werbesprüche.

„Wie Jesus übers Wasser ging – dies und viel mehr können Sie bei uns erfahren. Im Surfparadies Maschsee. Nur fünf Minuten vom Landeskirchenamt.“

Tusch, brüllendes Gelächter, ich mache gleich weiter.

„Vertrauensvoll, glaubensstark, nächstenlieb. Evangelische Kreditkasse. Die Bank, die Ihren Glauben stärkt. Zinsen, die in den Himmel wachsen!“

Jetzt habe ich den Saal. Die Leute feixen. „Unser Pastor! Unser Pastor lebe hoch!“

„Alexandria, Antiochien, Syrakus und Rom. Zaudern Sie nicht! Buchen Sie noch heute unsere Zauberfahrt zum Glauben! Die Schrift beweisen – mit Paulus reisen!“

Gröl. Brüll. Tusch. Das Bier fließt in Strömen.

„Zart für den Gaumen, süß für die Zunge, sanft im Schmelz: Sprengel-Schokolade. Die darf in keinem Sprengel fehlen!“

Okay, mäßiger Beifall, ich lege nach:

„Was ist gut für die Zähne und stillt die Lust auf Sünde? Na klar, der Luther-Lutscher. Den gibt der Bischof seiner Familie!“

Tusch, Standing Ovations, ich will gleich weitermachen, aber die Regie hat was Anderes vor.

Helmut Zander besetzt das Mikrofon. Der Bandleader.

„Es ist man gerade ein Vierteljahr her, dass wir euren Pastor vor Nazis verstecken mussten, die ihm ans Leder wollten. Sie hatten ihm am Abend vorher schon, bitte um Verzeihung, die Fresse poliert. Er sah schlimm aus. Jeder hätte ihn an der verbeulten Visage sofort erkannt. Das einzig mögliche Versteck war: Es spielt in unserer Big-Band-Probe mit. Und zwar mit dem einzigen Instrument, dessen Mundstück so groß ist, dass es das halbe Gesicht verdeckt: Mit der Tuba!“

Helmut Sander dreht sich zu seiner Band um und lässt sich die Basstuba durchreichen.

Wirklich beeindruckend. Riesig. Ich muss zugeben: Ich habe mich in den letzten Wochen darauf vorbereitet, was jetzt auf mich zukommt. Ich lasse mir vom Bandleader die Tuba umhängen. Ich presse meinen Mund ins Mundstück und spiele ein paar Töne. Nicht schön, aber laut. „Na, was sagt ihr? Habt ihr einen tollen Pastor?“ Der Bandleader ist anscheinend auch nicht mehr ganz nüchtern.

Brüllender Jubel. Ich nehme auf dem freien Stuhl in der letzten Reihe Platz. Wir spielen „Sonderzug nach Pankow“, Udo Lindenbergs Adaption von „Chattanooga Chou Chou“, der berühmten Swing-Nummer von Mack Gordon und Harry Warren von 1941. In der Lindenberg-Version allerdings dermaßen rockig, dass das ins Bein geht.

Überall an den langen Tischen stehen die Leute auf. Es wird getanzt. Freistil-Schwof. Bei manchen Paaren werden unverkennbar Tanzstunden-Erinnerungen lebendig.

Ich verdrücke mich nach der Lindenberg-Nummer aus der Band. Ich gehe bei den beiden Vorsitzenden der Karnevalsvereine vorbei und sage gute Nacht. „Ich habe morgen früh eine wichtige Sitzung“. Den beiden ist es recht. Vielleicht sind sie auch erleichtert. Wichtig ist, dass der Pastor bei dem Fest überhaupt mit dabei war. Er muss nicht bis zum bitteren Ende bleiben.

Als ich auf dem Weg nach draußen an der Sektbar vorbeikomme, spüre ich hier eine atmosphärische Veränderung. Die Ausgelassenheit der letzten Stunden ist verflogen. Es sind fast nur noch Männer hier. Die Gesichter sind wütend. Es wird leise gesprochen und gezischelt. Ich kann nicht verstehen, worum es geht.

Ich möchte es auch nicht wissen. Ich will wirklich nach Hause.

Ich nicke Waldemar Bothe zum Abschied zu, den ich in dem Pulk an der Sektbar stehen sehe. Er steht etwas abseits. Der Sohn unserer Rechnungsführerin in der Kirchengemeinde. Waldemar Bothe sieht – anders als die anderen – nicht wütend aus. Eher nachdenklich und verunsichert.

Als ich im Pfarrhaus ankomme, ist es weit nach ein Uhr nachts. Ich bin müde. Ich ziehe mich eher am Treppengeländer zu meiner Wohnung hoch, als dass ich die Treppe rauflaufe. Meine Wohnung nimmt das ganze Stockwerk oberhalb des öffentlichen Raums im Gemeindehaus ein. Büros und Gemeinderäume sind unten. Ich muss morgens nur die Treppe runter, und schon bin ich im Dienst.

Ich rieche das Malheur schon, bevor ich oben in der Wohnung angekommen bin. Katzenscheiße.

Ich möchte wirklich mal wissen, wann das aufhört.

Kalle und Lilo, meine beiden Katzen, wohnen jetzt schon ein Dreivierteljahr bei mir. Ich habe sie von Eltern einer Konfirmandin geschenkt bekommen, „nachträglich zum 38. Geburtstag“.

Kalle hat es jedenfalls heute Abend mal wieder nicht zum Katzenklo geschafft. Seine Schwester Lilo, die clevere von beiden, streicht erwartungsvoll im Flur herum. Ich erwische Kalle. Er hat sich unter meinem Schreibtisch versteckt. Ich packe ihn am Schlafittchen, drücke ihn mit der Schnauze in seinen Kackehaufen und schmeiße ihn ins Katzenklo.

Gerade noch rechtzeitig. Er hat noch was auf Lager.

Lilo sitzt daneben, guckt zu und schnurrt laut.

Es gibt so verstörend wenig Liebe auf dieser Welt.

Was soll das? Die beiden können schließlich auch raus, wenn sie wollen. Ich habe eine kleine Holzleiter aus dem Küchenfenster zum Dach des Schuppens gelegt, der ans Pfarrhaus anschließt. Von dort aus können sie auf einen Baum springen und dann runter in den Pfarrgarten. Der ist mit zweieinhalbtausend Quadratmetern so riesig, dass Kalle sein Geschäft überall erledigen könnte, wenn er mal wieder das Katzenklo in der Wohnung nicht findet.

Aber in den Wintermonaten ist es ja kalt draußen. Und Seine Majestät Doofmann Kalle ist einfach zu bequem.

Also immer wieder aufs Linoleum. Im Flur.

Immer wieder neu. Ich hasse das.

Falls er mal das Parkett im Wohnzimmer erwischt, kann er mich mal von meiner finsteren Seite kennen lernen. Was das heißt, mit mir mal so richtig Ärger zu kriegen.

Als ich den Haufen entsorgt habe, klingelt das Telefon.

2

Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Maria. Das könnte Maria sein.

Ich habe seit Heiligabend nichts mehr von ihr gehört. Es gab diesen einen Besuch. Maria, polnische Historikerin, saß plötzlich in meinem Pfarrbüro und hatte ein dringendes Anliegen. Ein paar Tage später haben wir uns dann in Berlin wiedergesehen, Hauptstadt der DDR, im historischen Seminar der Humboldt-Uni. In dieser Nacht haben wir uns in einem Hinterzimmer eines Biergartens geliebt. Der gehörte Pawel, ihrem Bruder. Danach wochenlang keine Nachricht. Bis Heiligabend. Genauer: Bis zur Nacht nach dem Mitternachtsgottesdienst, bei dem ich fast ums Leben gekommen wäre. Ihr Anruf aus Warszawa in dieser Nacht hat mir ein zweites Mal das Leben gerettet. Diesmal meine Seele. Die Hoffnung, sie wiederzusehen.

Seitdem herrscht Funkstille. Schon so viele Stunden. Tage. Wochen.

Ich bin krank vor Sorge. Sie musste damals, nach dieser wilden Nacht in Berlin, Hals über Kopf auf dem Motorrad ihres Bruders fliehen, weil irgendwelche polnischen Nationalisten hinter ihr her waren. Denen war sie wohl mit einer Veröffentlichung in die Quere gekommen.

In dieser Nacht sah die Lage ernst aus. Mich beruhigt kein bisschen, dass seitdem kein Lebenszeichen von ihr gekommen ist.

Ich sprinte ans Telefon. „Maria?“

„Ich habe keine Ahnung, wer Maria ist. Vera hier.“

Von Vera habe ich auch wochenlang nichts gehört. Das hat in diesem Falle meiner Seele eher gutgetan. Nach einer jahrelang quälenden Beziehung hat sie mich im November telefonisch in Kenntnis gesetzt, dass sie einen neuen Lover hat. Egon. Star der Anti-AKW-Bewegung in Göttingen, wo Vera und ich nach dem Studium gemeinsam als wissenschaftliche Mitarbeiter an der Uni gearbeitet haben. Jetzt also Egon. Und Vera hat mir damals mitgeteilt, dass sie mit Egon nach Florenz fährt. Eigentlich unsere Stadt. Vera und ich haben hier in unseren besseren Zeiten mal eine heiße Woche verbracht.

Seit diesem Telefonat habe ich nichts mehr von Vera gehört.

„Was willst du? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist bald zwei Uhr nachts ...“

Ich höre leises Schluchzen. Ich werde freundlicher. „Was ist los, Vera?“

„Egon!“ Sie kann erstmal nicht weitersprechen. Schluchzen. Schneuzen. Schniefen. Ich warte ab.

„Weißt du, es war schon in Florenz schwierig zwischen uns. So unvertraut. Nicht so wie zwischen uns beiden ...“

„Vera, das will ich gar nicht wissen.“

Jetzt weint sie laut. Ich lasse ihr Zeit. Warte ab.

„Jetzt hat er mir gesagt, dass ich ein Fehler war. Ein Fehler! Kannst du dir das vorstellen?“

„Das tut mir leid.“ Ich bleibe kühl. Spüre ich. Und will das auch so.

Sie weint.

Nach einer Zeit: „Lukas, können wir uns nicht sehen? Magst du nicht mal nach Gö kommen? Erzählen, einen Schluck trinken?“

Ich muss nicht groß darüber nachdenken. Alles sträubt sich in mir, diesen Faden wieder aufzunehmen.

Ich bin einfach zu froh, dass diese Beziehung vorbei ist.

„Nein, Vera. Ich bin nicht dein ewiger Trostpreis. Du bist eine kluge und schöne Frau. Du wirst jemanden finden, mit dem du es guthast. Und du weißt genauso gut wie ich: Ich bin das nicht.“

Ich warte ihre Antwort nicht ab. Ich lege auf.

Jetzt brauche ich doch einen Schluck Whisky.

Ich gehe in die Küche. Kalle und Lilo liegen ineinander verknäuelt in ihrem Körbchen und schlafen. Wie jung sie noch sind. Wenn sie müde sind, vergessen sie, dass sie sich den ganzen Tag lang gekabbelt haben.

Ich schütte mir zwei Finger breit ein und beschließe, dass mir ein Bad gut tun wird. Ich steige mit dem Whisky ins heiße Wasser. Mein Körper entspannt schlagartig.

Ich beginne gerade einzudösen, da klingelt es Sturm. Unten an der Gemeindehaustür. Jemand bollert gegen das dicke Holz. Was ist denn jetzt schon wieder?

Ich gucke auf die Uhr. Bald vier Uhr nachts. In fünf Stunden muss ich schon wieder beim Dienstfrühstück aufschlagen.

Ich werfe mir den Bademantel über und gucke aus dem Fenster über der Haustür.

Vor dem Haus stehen die beiden Vorsitzenden der Karnevalsvereine. Angetrunken und bestürzt. Aufgeregt. Vor allem aufgeregt. Hugo Kleinhans und Otto Viersen.

„Herr Pastor, sie müssen sofort mitkommen. Da bahnt sich was Schlimmes an.“

Das klingt nicht nach einem Karnevalsscherz. Das hört sich bitter ernst an.

„Können wir bitte sofort los? Und können Sie im Talar kommen?“

„Talar geht nicht. Talar kann ich nur bei gottesdienstlichen Handlungen tragen. Was ist überhaupt los?“

„Das erzählen wir Ihnen unterwegs. Können Sie bitte wenigstens einen schwarzen Anzug anziehen und dieses Collarhemd mit dem weißen Stehkragen? Damit Sie dienstlich aussehen?“

Ich bin todmüde. Ich werde diese Nacht wohl nicht mehr ins Bett kommen. Hilft nichts. Das ist ein Notfall. Ich schmeiße mich in Schale. Kalle und Lilo bewegen sich nicht, trotz des Lärms, den ich in der Küche auf der Suche nach einem Stück Käse veranstalte. Ich kann nicht ohne Nahrungsgrundlage ins Gefecht. Was immer da los ist.

Ich schnappe mir das Megaphon, das immer noch im Flur rumliegt. Sicherheitshalber. Das hat mir vor ein paar Wochen schon mal gute Dienste geleistet.

Wir gehen im Laufschritt. Meine beiden Vorsitzenden schlagen den Weg in die Siedlung ein. Am Rand des Dorfes. Einfamilienhäuser. Fünfziger und sechziger Jahre. Nicht das nobelste Viertel in Groß Samtleben. Auf dem Weg werde ich knapp in Kenntnis gesetzt.

„Die Familie von Ibrahim Salou. Kennen Sie die Leute?“

Ich habe vor ein paar Wochen mit dem Vater, Issouf Salou, auf der Straße ein paar Worte gewechselt. Die Familie ist vor einem halben Jahr aus Lebenstedt hierhergezogen, als ein Haus in der Siedlung frei wurde und Issouf Salou in Rente gegangen ist. Er hat vorher eine Zeitlang bei „Salzgitter Stahl“ als Ingenieur gearbeitet. Er hat mir damals erzählt, dass sein Sohn Ibrahim mit seiner Frau und einem Kleinkind aus Burkina Faso in das Haus mit einziehen. Der Sohn will in Braunschweig sein Diplom in Elektrotechnik machen.

„Das hat sich schon den ganzen Abend aufgebaut. Am Schluss sind die Männer ausgerastet. Dieser Scheiß Alkohol. Eigentlich sind das doch ganz vernünftige Leute.“

Naja. Dazu kann man unterschiedlicher Meinung sein.

„Die Männer, die an der Sektbar getrunken haben?“

„Ja. Aber sie haben keinen Sekt getrunken. Jeder muss bestimmt eine Flasche Korn intus haben. Und je besoffener sie wurden, desto wütender wurden sie. Sie kennen ja das Gerede. ‚Diese Neger nehmen uns die Häuser weg!‘ – ‚Und unsere Frauen!‘ – ‚Und die Arbeit!‘ – ‚Dabei arbeiten die gar nicht!‘ – ‚Die wollen bloß in unsere soziale Hängematte!‘ – ‚Uns hat damals auch keiner geholfen!‘ –‚Wir werden es denen jetzt zeigen!‘ – ‚Los jetzt, wir machen keine Gefangenen!‘ Und dann sind sie wirklich losgezogen.“

„Aus beiden Vereinen?“

„Ja. Der einzig Vernünftige ist Waldemar Bothe. Der ist mit. Der war zumindest nicht betrunken.“

Wir gehen so zügig, wie das der Trunkenheitszustand der beiden Vorsitzenden und die Bodenbeschaffenheit erlauben. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Leichtes Schneegrieseln. Immerhin wirken Hugo Kleinhans und Otto Viersen wesentlich nüchterner als noch vor zehn Minuten.

Als wir am Haus ankommen, ist höchste Eile geboten. Etwa fünfundzwanzig offenbar sturztrunkene Männer drängen zur Haustür, die von Waldemar Bothe zunehmend hilflos verteidigt wird. Gerade beginnt ein Mitglied der „Jecken“, ich glaube Frieder Meyer zu erkennen, Vater eines Konfirmanden aus meiner Gruppe, Waldemar Bothe zu ohrfeigen.

Wilde Sprüche. „Wir wollen keine Neger in unserem Dorf!“ „Geht wieder nach Hause, wo ihr herkommt!“ „Wir lassen uns unsere Arbeit und unsere Frauen nicht wegnehmen.“ Lautes Gegröle, erheblicher Lärmpegel. Der Ortsbürgermeister und Otto Viersen drängeln sich durch den Pulk und kämpfen sich zur Tür vor. Sie bauen sich vor Waldemar Bothe auf, der zusammengekrümmt in der Tür lehnt. Offenbar hat er vor der Ohrfeige schon was abgekriegt.

Ich nestele das Megaphon hervor und stelle auf volle Lautstärke. Es fiept mörderisch. Ein paar von den Männern gucken sich irritiert um. Immerhin ist der aggressive Flow unterbrochen.

„Kameraden! Männer! Karnevalisten!“

Fiep fiep. Mir dröhnen die Ohren. Die Mehrheit des Pulks dreht sich zu mir um.

„Wollt ihr wirklich den großen Versöhnungstag unseres wunderbaren Groß Samtleben besudeln?“

Einige reagieren leicht beschämt, andere wütend. „Halt die Klappe, du Himmelskasper! Ausländerliebchen!“ Brüllendes Gelächter. Beifall. Die Mehrheit der Männer drängt wieder auf die Tür ein, angeführt von Frieder Meyer. Ich erkenne ihn jetzt deutlich. Und auch andere aus der Gruppe habe ich beim Elternabend der Konfirmandengruppe gesehen, seinerzeit in anderem Aggregatzustand.

„Wer hier Gewalt anwendet, dessen Kind wird nach Ostern nicht konfirmiert!“

Dafür habe ich keinerlei kirchenrechtliche Handhabe. Aber es wirkt. Alle drehen sich zu mir um. Ich habe die ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Ihr werdet mich jetzt ins Haus gehen lassen. Ich werde mit Ibrahim Salou sprechen. Und mit seinem Vater Iussouf Salou. Mit der Mutter, mit der Ehefrau und dem Kind von Ibrahim Salou! Jetzt! Sofort!“

Ich sage die Namen der Leute so oft es geht. Ich will die Horde damit konfrontieren, dass sie im Begriff sind, auf lebendige Menschen loszugehen. Gesichter zu verletzen. Ein Kind zu ängstigen und vielleicht ums Leben zu bringen.

Ich ärgere mich, dass ich die Namen der beiden Frauen und des Kleinkindes nicht weiß.

Ich gehe entschlossen auf die Gruppe zu. Die Vereinsvorsitzenden hatten schon recht: Wie gut, dass ich in dienstlicher Kleidung hier bin und nicht wie ein paar Stunden vorher in der Kluft des Karnevalsredners.

Zögernd wird mir durch den Pulk hindurch ein Korridor geöffnet. Ich gehe auf die Haustür zu, passiere die Dreiergruppe der Vereinsvorsitzenden mit Waldemar Bothe. Die drei schließen sich hinter mir wieder zusammen und schützen die Tür. Ich klingele und spreche in die Gegensprechanlage. „Hier spricht Lukas Bentorff, der evangelische Pastor von Groß Samtleben. Darf ich bitte mit Ihnen sprechen?“

Eine ganze Zeit lang passiert nichts.

Ich höre, wie hinter der Tür Möbel weggeräumt und eine Kette vorgelegt wird. Die Tür öffnet sich einen Spalt breit.

„Salam aleikum!“ Ich überlege fieberhaft, wie ich das Gespräch weiterführen kann.

Die Tür öffnet sich, ich werde eingelassen. Überall im Flur stehen Stühle und kleine Schränke, mit denen die Haustür verbarrikadiert worden ist. Durch eine halb geöffnete Tür zum Wohnraum sehe ich einen älteren Mann auf dem Gebetsteppich im Gebet. Hinter ihm auf einem Sofa eine junge und eine alte Frau, ein Kind zwischen sich. Alle drei sehen angespannt und verängstigt aus. Das Kind hat geweint.

„Salam aleikumi!“, sagt der große Mann vor mir. Er trägt afrikanische Tracht. Freundliches Gesicht. Sportliche Figur.

Im Moment ist er aber nicht freundlich. Er steht vor mir. Reserviert. Angespannt. Er bittet mich nicht in die Wohnung. „Ich bin Ibrahim Salou. Dies ist mein Haus. Dies ist meine Familie. Was haben wir den Leuten draußen getan, dass sie uns angreifen?“