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Dunkel, spannend und meisterhaft konstruiert – der packende Auftakt der neuen Thriller-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautor Linus Geschke! Ein abgelegener Campingplatz in den Ardennen. Eine Studentin, die dort unter mysteriösen Umständen verschwindet. Als der Fall auch 15 Jahre später noch ungelöst ist, nimmt die Hamburger Kommissarin Frieda Stahnke an einem True-Crime-Podcast teil, um den Fokus der Öffentlichkeit erneut auf die Geschehnisse zu richten. Sie ahnt nicht, dass sie damit nur weitere Morde auslösen wird. Wout Meertens, ein schmieriger Barbesitzer aus Köln, hört diesen Podcast. Er war zur selben Zeit wie die verschwundene Lisa Martin in Camp Donkerbloem, aber er redet nicht mit der Polizei. Verurteilte Stalker tun das nie. Nicht, wenn sie sich nicht selber verdächtig machen wollen. Als sich die Wege von Frieda und Wout kreuzen, wird klar, dass sie nur gemeinsam herausfinden können, was mit Lisa Martin geschah. Dafür müssten sie sich jedoch vertrauen – ohne es später zu bereuen … »Linus Geschke ist die deutsche Antwort auf amerikanische Autoren wie Don Winslow.« Redaktion österreichisches Pressebüro
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Lars Zwickies
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: plainpicture / Axel Killian und Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Widmung
Die Ardennen
In der Nähe von Malmedy
Juni 2011
Hamburg
Gegenwart
Zwei Tage später
Köln
Ein Tag später
Südheide
Köln
Camp Donkerbloem
2011
Hamburg
Gegenwart
Köln
Hamburg
Köln
Hamburg
Köln
Frankfurt am Main
Malmedy
Köln
Camp Donkerbloem
Köln
Camp Donkerbloem
Hamburg
Köln
Hamburg
Camp Donkerbloem
Köln
Hamburg
Schmallenberg, Sauerland
Köln
Camp Donkerbloem
Köln
Frankfurt am Main
Köln
Hamburg
Camp Donkerbloem
Frankfurt am Main
Hamburg
Camp Donkerbloem
Hamburg
Camp Donkerbloem
Der Fremde
Hamburg
Köln
Camp Donkerbloem
Köln
Polizeipräsidium Köln
Köln, Eigelstein
Camp Donkerbloem
Juni 2011
Köln
Köln
Hotel Mondial
Der Fremde
Frieda
Wout
Kathinka
Hamburg
Frieda
Camp Donkerbloem
Der Fremde
Frieda
Wout
Lisa
Wout
Frieda
Wout
Köln
Vier Monate später
Nachwort und Dank
Wollen Sie wissen, wie es mit Wout, Tayfun, Kathinka und Frieda weitergehen wird?
Es folgt eine Leseprobe aus»Das Camp (Donkerbloem 2)«
Legwitz
Oberlausitz
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Jana. Für wen auch sonst?
Du bist alles. Ohne dich wäre alles nichts.
Es ist eine wilde, zerklüftete, ja fast schon archaische Landschaft, die sich hinter der deutsch-belgischen Grenze bis nach Luxemburg erstreckt: die Ardennen. Ein Schiefergebirge, geprägt durch dunkle Waldgebiete, Hochmoore und steile Plateaus, die von schluchtenartigen Einschnitten durchbrochen sind. Senken ziehen sich durch schmale Flusstäler, deren Enge eine menschliche Besiedlung lange kaum möglich machte.
Obwohl die Gegend nur dünn besiedelt ist, ist sie zu allen Zeiten Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen gewesen. Cäsars Legionen zogen hier durch, marodierende Wikinger und mehrere Armeen. Am schlimmsten jedoch war die Zeit, als zwei Weltkriege die Region in ein einziges Schlachtfeld verwandelten. Der torfige Boden wurde mit Blut getränkt, und noch heute behaupten manche Einheimische, dass sie in stillen Nächten die Schreie der Verwundeten hören können.
Wenn eine Gegend über Jahrhunderte hinweg so viele Grausamkeiten erlebt, vergisst sie einige auch wieder.
Nur diese Nacht nicht.
Diese eine Nacht vergaßen die Ardennen nie.
Wenn die Wälder reden könnten, würden sie von einer jungen Frau erzählen, die zwischen ihren Stämmen umherhetzte. Von dem maskierten Mann, der ihr folgte, und vom Blut, das im Mondlicht fast schwarz aussah. Sie würden flüstern, wenn es darum geht, was mit dieser Frau geschehen ist, und nur die mutigsten unter ihnen würden sich trauen, den Namen des Ortes auszusprechen, an dem das Grauen begonnen hatte.
Camp Donkerbloem.
Die Bäume wussten, dass die Frau ihrem Schicksal nicht entfliehen konnte. Nicht in jener Nacht, in der es weder Mond noch Sterne gab, nur Wolken, die ein unbarmherziger Wind vor sich hertrieb. So wie die Frau von dem Mann vor sich hergetrieben wurde, das Schicksal von der Schuld, die Gegenwart von der Vergangenheit.
Vierzehn Jahre sind seit dieser Nacht vergangen, aber die Folgen sind bis heute nicht verklungen. Sie schlummern nur. In den zerklüfteten Tälern, den schroffen Felswänden, dem torfigen Boden.
Am liebsten würden die Bäume die Geschichte selbst niederschreiben, um sie der Nachwelt als mahnendes Beispiel zu erhalten, aber das können sie nicht. Irgendjemand muss es jedoch tun, das ist gewiss.
Dieser Jemand bin dann wohl ich.
Lisa kauerte unter dem Fenster ihres Wohnwagens und wagte kaum zu atmen. Eine gespenstische Stille, die nur gelegentlich durch menschliche Schreie unterbrochen wurde, hatte sich über den Campingplatz gelegt. Sie konnte die Stimmen von Männern und Frauen unterscheiden, wobei Letztere in der Unterzahl waren, natürlich waren sie das. Nur nicht, was die Schreie anging.
Camp Donkerbloem war kein guter Ort. Es war ein böser Ort; ein Ort für Männer, die Grausames im Schilde führten. So viel hatte Lisa schon begriffen, auch wenn sie immer noch nicht verstand, was genau vor ihrem Fenster passierte.
In den anderen Wohnwagen.
Die Schreie verklangen wieder, und Lisa erhob sich, um die Gardine einen Spaltbreit zur Seite zu schieben. Vor ihrem Trailer verlief ein kiesbedeckter Weg, der so schwach beleuchtet war, dass der Lichtschein kaum die umliegenden Wohnwagen erreichte. Sie spähte nach links, dann nach rechts, anschließend in die Ferne. Kein Mensch war auf dem Gelände zu sehen, was einerseits gut war, ihre Angst andererseits aber noch verstärkte.
Sie musste weg hier. Nur wie? Handyempfang gab es nicht, und bis zum Ausgang des umzäunten Geländes waren es gut dreihundert Meter. Zu weit, um die Strecke unbemerkt zurücklegen zu können. Wenn die Männer, die dort draußen in der Dunkelheit lauerten, sie entdeckten, würden sie sich auf sie stürzen. Vielleicht, weil sie sie für einen reizvollen Teil des Spiels hielten, eine besondere Attraktion, aber das war sie nicht.
Lisa wollte sich gerade vom Fenster zurückziehen, als der Schatten einer menschlichen Kontur auf den Weg fiel. Scharf zog sie die Luft ein und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Sie ging auf die Knie und hoffte, dass der Unbekannte – warum nur war sie so sicher, dass es ein Mann war? – die Bewegung der Gardine nicht wahrgenommen hatte. Wenn doch, würde er sicherlich die anderen rufen und mit ihnen gegen die Tür ihres Wohnwagens hämmern, sich womöglich sogar gewaltsam Zutritt verschaffen.
Alles, nur das nicht.
Nicht an diesem Ort, der tagsüber einem Ferienparadies glich und nachts zum Vorhof der Hölle mutierte. Noch immer verstand sie nicht, wie sie so dumm hatte sein können. Hatte sie die Anzeichen nicht gesehen oder einfach nur falsch gedeutet? Anfangs war ihr alles eher amüsant als bedrohlich vorgekommen, bis sie die ersten Schreie gehört hatte und die Frau sah, die von zwei Männern in einen der Trailer gezogen wurde.
Das hier war kein Spiel. Das war lebensbedrohlich, obwohl ihr der Tod momentan nicht mal als das Schlimmste erschien.
In den folgenden Minuten blieb vor dem Fenster alles ruhig. Lisa lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und zwang sich, durch die Nase einzuatmen und die Luft dann durch den Mund wieder entweichen zu lassen. So, wie sie es in einem Video gesehen hatte, das einem zeigte, wie man sich in kritischen Situationen beruhigen konnte. Das Dumme war nur, dass keine dieser Situationen mit jener vergleichbar war, in der sie sich jetzt befand.
Nicht mal ansatzweise.
Sie war auf wenigen Quadratmetern gefangen und nur durch eine millimeterdünne Wand von den Monstern getrennt. Sie durfte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn die Monster diese Wand durchbrachen. Wie ihre letzten Minuten dann aussehen würden.
Schmerzhaft, dachte sie.
Voller Qualen und ohne Würde.
Leise kroch sie in die Küche des Wohnwagens, wo sie die Besteckschublade öffnete und das größte Messer herausnahm, das sie finden konnte. Ein Fleischermesser mit geschliffener Klinge und hölzernem Griff. Sie wusste nicht, ob sie es tatsächlich schaffen würde, damit auf einen Menschen einzustechen, aber zumindest verlieh ihr die Waffe ein dubioses Gefühl von Sicherheit. Diese Sicherheit brauchte sie auch, wenn sie ihren Plan umsetzen wollte, wobei Plan für das, was sie vorhatte, ein ziemlich hochtrabender Begriff war.
Sie kroch zur Tür zurück, stand auf und legte das Ohr dagegen. Lauschte. Eine Minute verging, eine zweite, doch das einzige Geräusch, das sie vernnahm, war der eigene Herzschlag, der dumpf in ihren Ohren pochte.
Ruhig jetzt, ermahnte sie sich. Konzentriere dich. Wenn du überhaupt eine Chance haben willst, musst du die Tür aufreißen und sofort losrennen. Sollte sich dir dann jemand in den Weg stellen, hebst du das Messer und hoffst darauf, dass die lange Klinge ihn einschüchtert. Anschließend rennst du weiter, bis zum Ausgang und dem dahinterliegenden Parkplatz, wo dein Auto steht. Du schließt es auf und betest, dass der Motor beim ersten Schlüsseldreh sofort anspringt.
Vor jedem dieser Schritte hatte sie Angst, aber sie musste sie hinter sich bringen, wenn sie in der Enge des silbernen Wohnwagens nicht durchdrehen wollte. Es war sowieso nur eine Frage der Zeit, bis die Männer sie entdecken würden; bis sich jemand an sie erinnerte. An die junge Frau, die in einem der hintersten Trailer untergebracht war und die gesagt hatte, dass sie sich auf den Abend und die Party freuen würde. Allerdings hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen können, um welche Art von Party es ging.
Um eine des Grauens.
Der schmerzvollen Leiden.
Lisa öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Vor ihr lag der schummrig beleuchtete Weg, den sie nehmen musste und von dem aus später ein weiterer Weg zum einzigen Zugang des Geländes führte. Der Moment schien günstig. Links war niemand zu sehen, und rechts war niemand zu sehen.
Sie atmete ein letztes Mal durch, dann rannte sie los.
Mitten in die Nacht hinein.
Als Frieda Stahnke das Polizeipräsidium verließ, hatte sie drei Dinge verloren: ihre Waffe, ihren Dienstausweis und ihre Würde.
Man hatte sie suspendiert. Einfach so. Als Kriminalrat Lüpke ihr die Entscheidung der obersten Dienstbehörde mitteilte, hatte er seine Freude darüber nur schwer verbergen können. Aus Gründen, die Frieda nicht verstand, hatte er sie noch nie leiden können. Vielleicht, weil er in ihr auch eine Bedrohung der eigenen Position sah.
Frieda Stahnke war Hauptkommissarin, eine verdammt gute sogar. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und hatte eine beeindruckende Aufklärungsquote vorzuweisen. Im Kollegenkreis galt sie als kühl und effizient, und nicht wenige sahen in ihr schon die zukünftige Leiterin der Hamburger Mordkommission. Bis Gernot Weber in ihr Leben trat und ihrer Karriere ein vorläufiges Ende bereitete.
Weber war einer von Hamburgs führenden Immobilienmoguln. Ein skrupelloser Mann, der bei der Gentrifizierung ganzer Stadtteile über Leichen ging, und das war durchaus wörtlich gemeint. Um seine Ziele zu erreichen, bediente er sich manchmal auch der Hilfe krimineller Clans, und mindestens einmal waren diese Leute schon zu weit gegangen.
Vor drei Wochen hatten sie unweit des Schanzenviertels den siebenundsechzigjährigen Georg Miesbach zu Tode geprügelt. Miesbach war Mieter in einem Wohnhaus gewesen, dessen Einheiten Gernot Weber kaufen, modernisieren und zu teuren Eigentumswohnungen umgestalten wollte. Außerdem war Miesbach ein erbitterter Gegner der Gentrifizierung, der bei Protestkundgebungen häufig in der vordersten Reihe stand und lokalen Medien gerne als meinungsstarker Interviewpartner diente.
Zeugen hatten die Tat beobachtet und dabei zwei Männer gesehen, die schnell dem Clanmilieu zuzuordnen waren. Kurz darauf hatte man beide Täter identifiziert und verhaftet. Obwohl die Schläger bei den Vernehmungen die Aussage verweigerten, ahnte Frieda, dass sie auf Webers Befehl gehandelt hatten. Gemeinsam mit ihrem Team war es ihr in der Folge sogar gelungen, bei einer Hausdurchsuchung Beweise zu sichern, die der Staatsanwaltschaft helfen konnten, eine Verurteilung zu ermöglichen.
Weber wurde daraufhin aufs Polizeipräsidium geladen, wo dann alles aus dem Ruder lief. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte Frieda gerade erst im Vernehmungsraum Platz genommen, als Webers Anwalt schon behauptete, dass Frieda die Beweise seinem Mandanten nur untergeschoben habe. Außerdem brachte er fingierte Gegenbeweise vor, die Webers Unschuld belegen sollten. Ein solcher Schachzug war zu erwarten gewesen, nicht aber, dass Kriminalrat Lüpke diesen Behauptungen Glauben schenken würde. Am Tag darauf hatte er ein internes Ermittlungsverfahren eingeleitet, das letztlich zu Friedas Suspendierung führte.
Das war der Stand der Dinge, und er sah nicht gut aus.
Frieda hatte bei der Bekanntgabe vor Wut gekocht, sich aber nichts anmerken lassen. Als Frau, die in einer von Männern dominierten Welt arbeitete, war es besser, anderen gegenüber keine Schwäche zu zeigen. Das war eine der wichtigsten Verhaltensweisen, die sie in ihrem bisherigen Berufsleben hatte lernen müssen.
Nachdem Frieda das Präsidium verlassen hatte, ging sie zu ihrem silberfarbenen Passat, der auf dem Parkplatz für Dienstwagen abgestellt war. Sie öffnete die Tür, zog den Rock des dunkelgrauen Businesskostüms höher und ließ sich in den Sitz fallen. Dabei spielte sie unbewusst mit dem kleinen Nasenpiercing, das sie sich vor wenigen Wochen zugelegt hatte – die einzige Extravaganz in einer ansonsten durch und durch dezenten Optik.
Die Suspendierung hatte sie hart getroffen, obwohl sie schon seit Tagen abzusehen gewesen war. Aber Frieda hatte vorgesorgt, um jetzt nicht in ein noch tieferes Loch zu fallen. Zuerst wollte sie nach Südheide fahren – dem Ort, aus dem sie stammte und wo ihre Mutter immer noch lebte – und dann weiter nach Braunschweig, um an einem Podcast teilzunehmen. Das hatte sie sich vor ihrer Suspendierung von der Pressestelle der Hamburger Polizei noch genehmigen lassen.
In dem Podcast sollte es um Lisa Martin gehen, die aus demselben Ort wie sie stammte und seit 2011 spurlos verschwunden war. Die damals Dreiundzwanzigjährige hatte in Belgien Urlaub gemacht und war nie aus dem Beneluxland zurückgekehrt. Sämtliche Suchen waren erfolglos verlaufen, und auch ein Beitrag bei Aktenzeichen XY hatte keine neuen Hinweise gebracht. Lisa war weg, einfach so, als hätte sie sich damals in Luft aufgelöst.
Als Lisa verschwand, war Frieda noch eine junge Polizeischülerin gewesen, die kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung stand. Sie hatte in dem Fall nie aktiv ermittelt, war nicht einmal auf der dafür zuständigen Dienststelle beschäftigt gewesen. Frieda hatte Lisa lediglich gekannt, wie man sich eben kannte, wenn man im selben Ort groß wurde und im gleichen Alter war, aber einen unterschiedlichen Freundeskreis besaß. Besser als nur vom Sehen, aber nicht so gut, dass sie Lisa zu irgendeinem Zeitpunkt als Freundin bezeichnet hätte.
Dennoch hatte das Verschwinden der jungen Frau ihr fortan keine Ruhe gelassen. Sie hatte die Ermittlungen aus der Ferne verfolgt, die zunehmende Ratlosigkeit der Kolleginnen und Kollegen nachempfinden können und die stärker werdende Verzweiflung von Lisas alleinerziehender Mutter gespürt. Dafür hatte schon Friedas eigene Mutter gesorgt, die mit Lisas Familie seit Jahren in Kontakt stand. Ständig wollte ihre Mutter wissen, ob sie denn nichts tun könne, wenigstens die Kollegen fragen, ob es Fortschritte gebe, irgendetwas, das Hoffnung mache.
Dann war die Anfrage für den Podcast gekommen und mit ihr die Gelegenheit, wenigstens auf diese Art aktiv zu werden. Im Vorfeld hatte Frieda dem Podcaster klargemacht, dass sie zu den laufenden Ermittlungen weder etwas sagen konnte noch durfte und dass es ihr ausschließlich darum ging, den in Vergessenheit geratenen Fall wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Er hatte sich damit einverstanden erklärt, natürlich hatte er das. Wenn sie richtiglag, ging es dem jungen Mann eh nur um die Quote, und die Teilnahme einer Hauptkommissarin würde seiner banalen, aber trotzdem beliebten True-Crime-Reihe wenigstens einen Hauch von Seriosität verleihen.
Auf der Fahrt nach Südheide mied Frieda die Autobahn und wählte den Weg über Landstraßen, die sie einmal quer durch die Lüneburger Heide führten. Vorbei an Wiesen und Feldern und durch traumhafte Landschaften. In diesem Umfeld war sie als Kind zweier Angestellten aufgewachsen, die keine großen Träume hatten und mit dem Leben zufrieden waren, das sie führten.
Ein einfaches Leben, das sich in einem geografisch klar umrissenen Rahmen abspielte, war jedoch nicht das Leben gewesen, das Frieda vorschwebte. Sie wollte aus dieser Enge ausbrechen, Karriere machen und in einer weltoffenen Großstadt leben, wo eine unverheiratete Frau nicht permanent gefragt wurde, ob denn der Richtige noch nicht gekommen sei. Ob man kein Kind wolle.
Frieda hatte nie nach der einen großen Liebe gesucht, warum auch? Auch mit mehreren kleinen konnte man seinen Spaß haben.
Für sie war der ideale Mann nicht jemand, der ihr einen Ring an den Finger stecken wollte, sondern einer, der amüsant war und im Bett wusste, was er zu tun hatte. Jemand, der keine Forderungen stellte. Frieda hatte nichts gegen Beziehungen, wohl aber gegen Verpflichtungen. Vor allem, wenn sie bedeuteten, dass man seinem Partner über jeden Schritt Rechenschaft ablegen musste.
Als sie an einer roten Ampel hielt, verband sie ihr Handy via Bluetooth mit dem Autoradio und startete eine Playlist, auf der sich vor allem Songs von David Bowie, Vanessa Paradis und Nick Cave befanden. Schöne und melancholische Lieder, die perfekt zu ihrer momentanen Stimmung passten.
Frieda ließ sich von der Musik berieseln, während die saftig grüne Landschaft weiter an den Fenstern vorbeizog und sie ihrem Heimatort immer näher kam. Dabei schweiften ihre Gedanken ab, hin zu Lisa, dem Mädchen, das sie gekannt hatte, bevor es zu einer Frau geworden war. Sie war nie wirklich schlau aus ihr geworden. Stets hatte Lisa den Eindruck vermittelt, als würde sie die Welt aus einer gewissen Distanz betrachten, amüsiert, aber auch irritiert. Als wäre sie sich nicht im Klaren darüber, welche Rolle sie in dieser Welt spielen wollte.
Als Teenagerin hatte Lisa oft verträumt mit einem Buch auf einer Parkbank gesessen, ohne ihre Umgebung richtig wahrzunehmen. Wenn Frieda sie grüßte, hob sie nur kurz den Blick, winkte oder lächelte, um anschließend wieder in ihrer Gedankenwelt zu versinken. Ein Verhalten, das Frieda anfangs als Arroganz interpretiert hatte; vielleicht auch, weil Lisa ausgesprochen gut aussah. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit ausdrucksstarken Augen und eine fantastische Figur. Bei den Jungs im Ort stand sie hoch im Kurs, auch wenn Frieda nie gesehen hatte, dass Lisa diesen Umstand ausgenutzt hätte. Sie ließ sich in der örtlichen Disco nur selten ein Getränk ausgeben und nie von den älteren Jungs nach Hause fahren.
Für Frieda war Lisa schon damals ein Mysterium gewesen, und das war sie bis heute geblieben. Inklusive ihres Verschwindens, über das es jede Menge Theorien, aber kaum Fakten gab.
Wenn Menschen verschwanden, neigte man dazu, im Nachgang auch den nebensächlichsten Dingen eine Bedeutung beizumessen, die ihnen nicht zustand. Jedem noch so belanglosen Verhalten, jeder noch so lapidaren Aussage.
Frieda wusste aus Erfahrung, dass solche Gedankengänge meistens nichts brachten. Man verkomplizierte die Dinge nur und verlor die entscheidenden Aspekte aus den Augen. Die Wahrheit verschwamm in Nebelschwaden, die mit jeder neuen Theorie nur noch dichter wurden. Dabei war die Lösung in den meisten Fällen ganz einfach, weil das Böse meist banal war.
Auch Friedas Überzeugung war ebenso banal wie einfach: Lisa war nicht nur verschwunden, sie war tot. Und irgendwo da draußen lief immer noch ihr Mörder herum.
»Das ist doch prima gelaufen, oder?«
Frieda nickte, dann nahm sie den Kopfhörer ab. Die Aufzeichnung des Podcasts hatte zwei Stunden gedauert, und dennoch war die Zeit rasend schnell vergangen. Das lag zum einen am Thema, zum anderen aber auch an dem Podcaster selbst. Tobias Vogel war gut vorbereitet gewesen und hatte ihr im Laufe des Gesprächs mehr entlockt, als sie eigentlich hatte sagen wollen. Außerdem war er niedlich. Ende zwanzig vielleicht, schmal und sportlich, dazu wuschelige Haare und Grübchen, die seinen Mund wie Ausrufezeichen zierten.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie.
»Ich schneide noch ein paar Kleinigkeiten raus und stelle das Ganze dann morgen online. Vielleicht kommen durch die Ausstrahlung ja neue Hinweise zutage. Das passiert öfter, als man denkt, weil es immer wieder Menschen gibt, die sich durch die Ausstrahlung an etwas erinnern oder die damals …«
»Ich verstehe schon«, unterbrach sie ihn, bevor er ihr einen längeren Monolog über die Bedeutung seiner Sendung halten konnte.
»Sorry, was erzähle ich da eigentlich?« Er kniff entschuldigend die Lippen zusammen. »Ich hatte ganz vergessen, mit wem ich da spreche.«
Frieda stand auf und griff nach ihrer Jacke. »Dann sind wir also durch?«
»Ja, und vielen Dank nochmals, dass Sie gekommen sind.«
»Gerne.«
»Fahren Sie jetzt eigentlich sofort wieder nach Hamburg zurück, oder bleiben Sie noch in der Gegend?«
»Heute Nacht werde ich noch in Braunschweig bleiben. Ich wohne übrigens im Penta Hotel. Zimmer 217. Allein.«
»Ah, okay, das kenne ich …«
Jetzt war Wuschelköpfchen verwirrt. Eine Reaktion, die Frieda kannte. Sie war eine Frau, die oft bewundert und zugleich beneidet wurde. Alles an ihr war perfekt abgestimmt, auch an diesem Tag, von der weißen Bluse über die tadellos sitzende Hose bis zu den Stiefeln mit den flachen Absätzen. Ihre Haare hatten die Farbe von Honig und waren hinten zusammengebunden, was die Form ihres Gesichts unterstrich. Auf Fremde wirkte sie häufig kühl und unnahbar, was aber im Widerspruch zu ihrem eigentlichen Wesen stand.
Frieda schenkte dem Schnuckelchen noch ein Lächeln, dann verließ sie das in einem Kellerraum untergebrachte Studio. Ihr Magen knurrte, also suchte sie einen nahe gelegenen Italiener auf, wo sie sich eine Portion Penne all’arrabbiata gönnte. Anschließend ging sie in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite, um eine Flasche Rotwein zu kaufen, die sie mit auf ihr Zimmer nahm. Dort duschte sie und legte sich anschließend ins Bett, um lustlos durch die Programme zu zappen.
Sie musste nicht lange warten, bis es an der Zimmertür klopfte.
Wout schaute seinen Freund Tayfun an, der ihm am Tisch gegenübersaß. Dann deutete er auf die geöffnete Packung mit dem Big Mac, die zwischen ihnen lag.
»Was zur Hölle soll das sein?«
»Ein Big Mac?«
»Nee, eben nicht! Das Teil hier sieht einfach nur ekelhaft aus. Der Käse ist vertrocknet, der halbe Salat liegt daneben, und schief zusammengebaut ist das Ganze auch noch.«
»Ja, aber das ist doch …«
Wout ließ Tayfun sitzen und stürmte zur Theke.
»He, du Spacken!«, rief er einem der Mitarbeiter zu und deutete auf das unter der Decke hängende Leuchtdisplay mit der Speisekarte. »Siehst du den Big Mac da oben?«
»Äh, ja klar«, erwiderte der junge Mann verwirrt.
»Direkt daneben steht der Preis, 5,49 Euro. Genau den habe ich auch bezahlt, aber das hier bekommen.« Wout klatschte die Packung auf den Tresen. »Sieht der hier etwa wie der da oben aus? Nee, tut er nicht, aber du hast mir trotzdem die gleiche Kohle abgenommen. Also schwing deinen Hintern in die Küche und besorg mir, wofür ich bezahlt habe.«
Der junge Mann zögerte und tat dann wie geheißen, was offensichtlich an Wouts Ausstrahlung lag. Trotz seines leichten Übergewichts und der bunten Hemden, die er trug, wirkte er auf andere häufig bedrohlich. Das lag sicher auch an seinem Gesichtsausdruck, dem man ansehen konnte, dass er zu cholerischen Ausbrüchen neigte.
Zufrieden mit sich und dem Burger, den er von dem Mitarbeiter kurz darauf erhielt, kehrte Wout an den Tisch zurück. Tayfun sah ihn nur kopfschüttelnd an.
»Was?«, wollte Wout wissen.
»Wenn ich mir deinen Bauch so ansehe, solltest du vielleicht weniger Fast Food essen. Denk daran: Du bist über vierzig, da nimmt der Stoffwechsel rapide ab.«
»Wer bist du eigentlich?«, fragte Wout, bevor er in den Burger biss. »Mein Ernährungsberater?«
»Ich meine ja nur.«
»Und ich meine, dass du dich lieber um Dinge kümmern solltest, von denen du Ahnung hast.«
»Die habe ich, das ist es ja. Schließlich hat sich mein halbes Leben um Ernährung gedreht. Um Proteine, Ballaststoffe und um das, was zu viel Fett und Zucker in einem Körper anrichten können. Oder hast du schon vergessen, dass ich Profisportler war?«
»Ja, aber leider ein erfolgloser. Jetzt bist du Türsteher in meiner Bar.«
»Ich habe immerhin um die Deutsche Meisterschaft geboxt.«
»Stimmt, und haushoch verloren! Echt jetzt, Digga … Glaubst du ernsthaft, dass dich zehn Jahre später noch jemand für eine Niederlage beklatscht?«
Tayfun zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Muskelbepackte Mimose, dachte Wout. Ein Körper wie ein Berg, aber nicht in der Lage, mit der Wahrheit umzugehen.
»Wie läuft es eigentlich mit deinem Comeback?«, heuchelte er anschließend Interesse, um den Türken wieder zu besänftigen. »Ist da schon irgendwas fix?«
Tayfun sagte nichts.
»Hallo?«
»Ich arbeite daran«, ließ der Boxer sich entlocken.
»Mann, jetzt sei doch nicht beleidigt! Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Vielleicht könnte ich ja sogar als Sponsor auftreten. Natürlich nur, wenn es nicht zu teuer wird.«
»Ein bisschen Unterstützung könnte ich tatsächlich brauchen.« Die harten Gesichtszüge seines Gegenübers entspannten sich ein wenig. »Momentan summieren sich die Kosten. Bis zur ersten Gage muss ich den Trainer und alles andere ja noch aus eigener Tasche bezahlen.«
Wout stopfte sich den Rest des Burgers in den Mund und leckte sich die Finger ab.
»Wenn du willst, kannst du in meinem Laden ja mal ein öffentliches Sparring machen. Um die Werbetrommel zu rühren, meine ich. Wir lassen auf der Tanzfläche einen Boxring aufbauen, und du …«
Er brach ab, als er am Nebentisch eine Unterhaltung mitbekam, die aus einem auf dem Tisch liegenden Handy drang. Drei Jugendliche hörten interessiert zu. Nett aussehende Jungs mit ordentlicher Kleidung und sauber frisierten Haaren. Nicht so ein Gesocks, wie es normalerweise in dem Schnellrestaurant verkehrte und zu dem auch Wout gehören würde, wenn er jünger wäre.
»Das ist eine gute Idee! Wir könnten …«
Er unterbrach Tayfun mit einer Handbewegung.
Normalerweise interessierten ihn Podcasts nicht, und in diesem Fall wäre es nicht anders gewesen, wenn da dieses eine Wort nicht gefallen wäre.
Donkerbloem.
Ein einziges Wort nur, und plötzlich war alles wieder da.
Belgien.
Die Ardennen.
Der See und die schroffen Felsen, die ihn umgaben. Die Bäume oberhalb der Klippe, manche so überhängend, als wollten sie sich ins Wasser stürzen. Und der Campingplatz, der am anderen Seeufer lag. Das hübsche Mädchen in einem der Wohnwagen und der Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Die darauffolgende Nacht, als sie nackt aus der Dusche trat und sich beim Anziehen vorbeugte, ihm ihr Hinterteil entgegenstreckte.
Wout wusste sogar noch, dass es eine außergewöhnlich dunkle Nacht gewesen war.
Kein Mond.
Keine Sterne.
»Hey, ihr da«, rief er der Gruppe zu, die hinter einer niedrigen Trennwand saß. »Macht mal lauter!«
Die Jugendlichen hoben den Kopf und sahen ihn verwirrt an. Augenscheinlich hatten sie keine Ahnung, was er wollte.
»Das Handy, meine ich. Worum geht’s da?«
»Das ist ein Podcast, Alter«, sagte einer der Jungs, wahrscheinlich ihr Anführer. »Wenn du ihn hören willst, musst du dir selbst ein Handy anschaffen.« Er sah sich beifallsuchend zu seinen Freunden um. »Ich meine, es wird doch sicher bald Bürgergeld geben, oder?«
Die anderen lachten, und Wout dachte, dass sein gefälltes Urteil vorschnell gewesen war. Von wegen nette Jungs.
»Du sollst lauter machen, habe ich gesagt!«, fuhr er den Wortführer an.
»Und wenn nicht, Fettsack?«
Tayfun erhob sich, sodass die Jungs auch ihn sehen konnten. Glatze, Vollbart und Muskelpakete, die fast das T-Shirt sprengten.
»Mein Freund hat euch gebeten, ihm zu sagen, was genau das ist«, sagte er mit dunkler Stimme. »Muss ich rüberkommen und noch mal fragen?«
»Ein Podcast«, stammelte der Anführer. »True Crime and Cold Cases. So heißt der. Es geht um den Donkerbloem-Fall. Um das verschwundene Mädchen. Damals, in Belgien. Wenn ihr Spotify habt, könnt ihr …«
»Danke«, sagte Wout und schnaufte. »Geht doch!«
Dann drehte er sich zu Tayfun um. »Lass uns abhauen. Ich will mir das in Ruhe anhören.«
Ohne auf den verblüfften Gesichtsausdruck seines Freundes zu reagieren, stand Wout auf und verließ das Schnellrestaurant. Er wollte jetzt nur noch so rasch wie möglich nach Hause und herausfinden, was die Leute in dem Podcast zu sagen hatten.
Vor allem, ob irgendeine der Aussagen auf ihn hindeutete.
*
Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von True Crime and Cold Cases! Ich bin Tobias Vogel, und ich bin heute nicht allein im Studio. Mir gegenüber sitzt Frieda Stahnke, siebenunddreißig Jahre alt und Hauptkommissarin aus Hamburg. Für ihren Besuch gibt es einen besonderen Grund: Wir sind hier, um über Lisa Martin zu sprechen. Eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren, die seit einem Urlaub in den Ardennen im Jahr 2011 spurlos verschwunden ist. Hauptkommissarin Stahnke hat in dem Vermisstenfall zwar nicht selbst ermittelt, kannte die verschwundene Lisa aber aus dem Ort, in dem die beiden aufgewachsen sind. Habe ich das korrekt wiedergegeben?
Das ist richtig.
Für die Zuhörenden, die mit Lisa Martins Verschwinden nicht vertraut sind: Was macht diesen Fall in Ihren Augen so außergewöhnlich?
Vor allem die Umstände. Jedes Jahr verschwinden in Deutschland unzählige Menschen, aber die meisten davon tauchen binnen weniger Tage wieder auf. Bei Lisa Martin ist das nicht geschehen. Seit nunmehr vierzehn Jahren gibt es kein Lebenszeichen von ihr.
Welche Gründe kann es dafür geben?
Wenn jemand so lange verschwunden ist, bleiben nur wenige Möglichkeiten übrig. Eine solche Person kann beispielsweise untergetaucht sein und an irgendeinem Ort unter falscher Identität leben. Sie kann einen Unfall gehabt oder Selbstmord begangen haben. Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist jedoch leider, dass sie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.
Davon gehen in Lisas Fall wohl auch die zuständigen Ermittlungsbehörden aus. Gibt es in Lisas Vorgeschichte denn Hinweise, dass sie in kriminelle Machenschaften verstrickt war?
Überhaupt keine. *Räuspern* Nach allem, was mir bekannt ist, war Lisa Martin eine junge Frau, die ihr Leben im Griff hatte. Sie hat in Aachen Pädagogik und Psychologie studiert, hatte einen großen Bekanntenkreis und ist in ihrer Freizeit gerne gereist, um mehr von der Welt zu sehen. Häufig auch allein und auf eigene Faust, so wie in diesem Fall nach Belgien.
Wie erinnern Sie sich selbst noch an Lisa?
Dazu muss ich erst einmal sagen, dass Frau Martin und ich keine engen Freundinnen gewesen sind. Wir kannten uns mehr oder weniger nur vom Sehen. Obwohl sie im selben Viertel wohnte, hatten wir unterschiedliche Freundeskreise, und Frau Martin ist auch auf eine andere Schule gegangen. Trotzdem kannte ich sie gut genug, um sagen zu können, dass sie ausgesprochen freundlich war. Intelligent und aufgeschlossen und meiner Meinung nach niemand, der sich leichtfertig in Gefahr begab.
Sie sprechen die ganze Zeit in der Vergangenheitsform über sie. Heißt das, Sie glauben, dass Lisa Martin tot ist?
In erster Linie heißt das nur, dass ich sie so beschreibe, wie ich sie damals wahrgenommen habe. Wie sie heute ist – sofern sie noch lebt –, kann ich nicht sagen.
Dann lassen Sie uns konkreter auf die Umstände ihres Verschwindens zu sprechen kommen. Wann hat man Lisa Martin zuletzt lebend gesehen, und wo verliert sich ihre Spur?
Frau Martin war mit ihrem silberfarbenen VW Polo bereits zehn Tage lang in Belgien unterwegs gewesen, wo sie teilweise in Hotels und Pensionen, teilweise aber auch auf Campingplätzen übernachtete. Sie hatte Brügge und Gent besucht, Brüssel und Namur. Die Ardennen sollten ihr letzter Halt werden, bevor sie wieder nach Hause fahren wollte. Dort hat sie sich auf einem Campingplatz in der Nähe von Malmedy eingemietet, Camp Donkerbloem.
Zur besseren geografischen Einordnung: Malmedy liegt gut zwanzig Kilometer von der Formel-1-Rennstrecke in Spa-Francorchamps entfernt, die den meisten Zuhörenden etwas sagen dürfte. Von dort aus braucht man mit dem Auto nur eine gute halbe Stunde nach Deutschland.
Das ist richtig. Lisa Martin hat in Camp Donkerbloem für drei Tage einen der Wohnwagen gemietet, die auf dem Gelände angeboten werden. Die zuständigen Kolleginnen und Kollegen gehen davon aus, dass sie in der zweiten Nacht ihres Aufenthalts verschwunden ist. Seitdem hat sich ihr Handy zumindest in kein Netz mehr eingewählt. Auch mit ihrer Kreditkarte wurden seither keine Zahlungen mehr getätigt.
Das mögliche Verbrechen ist also auf dem Campingplatz passiert?
Sicher lässt sich nur sagen, dass sich dort ihre Spur verliert. Alles andere wären Vermutungen.
Was vermutet die Polizei denn, was sich an dem Tag oder in der betreffenden Nacht abgespielt hat?
Wie gesagt, ich bin mit den Einzelheiten der Ermittlungen nicht vertraut und kann dazu auch nichts sagen.
Aber eine Meinung werden Sie doch haben? Etwas, das vielleicht auf Erfahrungswerten beruht?
Generell betrachtet erweisen sich ähnlich gelagerte Fälle – sollte es tatsächlich ein Gewaltverbrechen gewesen sein – meist als solche, bei denen das Opfer zufällig ausgewählt wurde. Bei diesen Taten gibt es also zwischen Täter und Opfer keine frühere Verbindung, was die Aufklärung wesentlich schwieriger macht. Gerade wenn wie bei Lisa Martin keine forensischen Spuren vorhanden sind.
Damit meinen Sie eine Leiche?
Nicht nur. Forensische Spuren können auch Fingerabdrücke, DNA-Nachweise oder Ähnliches sein. Ich bin mir aber sicher, dass damals jemand etwas gesehen haben muss! Dass es Zeugen gibt. Was das angeht, hilft uns die Zeit sogar.
Inwiefern?
Manchmal haben Zeugen Angst, wegen unterlassener Hilfeleistung oder Ähnlichem zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Angst ist meistens unbegründet und in diesem speziellen Fall ganz besonders. Mittlerweile sind vierzehn Jahre vergangen, und auch wenn sich jemand tatsächlich strafbar gemacht haben sollte, ist die Angelegenheit mittlerweile verjährt. Außer für den Täter natürlich. Mord verjährt nie.
Wir haben hier übrigens Fotos des Campingplatzes, auf dem Lisa Martin zuletzt gesehen wurde. Um es unseren Zuhörenden zu erklären: Das Gelände liegt an einem See, hinter dessen gegenüberliegender Seite sich Berge oder Felshügel erheben. Man sieht nur wenige Fahrzeuge mit Anhängern oder Zelten dort stehen. Die meisten Besucher quartieren sich wohl ähnlich wie Lisa Martin in einen der bereitgestellten Wohnwagen ein oder haben auf dem Gelände kleinere Häuser gemietet, in denen man auch dauerhaft wohnen kann. Wer die Fotos sehen möchte, kann dazu unsere Website besuchen. *Räuspern* Frau Stahnke, haben Sie sich den Campingplatz jemals selbst angesehen?
Nein. Meine Verbindung zu Lisa Martin beruht ausschließlich auf der Jugendzeit, in der wir uns flüchtig gekannt haben. Ich habe nie auf einer der Dienststellen gearbeitet, die für die Ermittlungen zuständig sind.
Und dennoch sind Sie heute hier.
Ja, weil ich bedauere, dass der Fall öffentlich so schnell in Vergessenheit geraten ist. Und weil ich hoffe, dass es unter den Zuhörerinnen oder Zuhörern Menschen gibt, die vorher noch nie etwas von Lisa Martins Verschwinden gehört haben, die aber zur selben Zeit vor Ort waren und den Behörden jetzt neue Hinweise liefern können. Oder dass sich einer der angesprochenen Zeugen entschließt, seinem Gewissen Ruhe zu verschaffen und zur Aufklärung beizutragen. Außerdem kann man die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass Lisa Martin immer noch lebt. Vielleicht hört sie ja gerade zu und meldet sich. Sie hat wegen eines möglichen Untertauchens ebenfalls keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten, und ein kurzes Lebenszeichen würde ihrer Mutter schon genügen. Die Gewissheit, dass es ihrem Kind gut geht.
Dann lassen Sie uns detaillierter darüber sprechen, was man über die letzten Tage von Lisa Martin weiß und wie genau ihre Reise abgelaufen ist. Wir fangen am besten an dem Punkt an, an dem …
Wout hörte sich auch noch den Rest der Folge an. Die wissen gar nichts, dachte er, als sie fertig waren. Die sind noch nicht einmal nah dran. Der blöde Moderator hätte lieber ihn einladen sollen, er hätte ihm was erzählen können. Über Lisa und über die Dinge, die damals in Camp Donkerbloem geschehen waren.
So ein Blödsinn, dachte er und musste lachen.
Natürlich würde er das nicht tun.
Wout mochte kein belesener oder studierter Mann sein, aber er war clever genug, um sich nicht selbst mit Anlauf auf Platz eins der Verdächtigen zu schießen. Im Leben nicht, und außerdem war das alles schon so lange her, dass es bald schon nicht mehr wahr war.
Er trank sein Bier aus, während lang vergessen geglaubte Bilder in ihm aufstiegen. Die Hitze, der Grillgeruch und die Menschen, die ausgelassen im See planschten. Die meisten waren Holländer gewesen, die ab dem frühen Nachmittag grausam klingende Partylieder sangen; Männer mit Bierdosen und Frauen in knapp sitzenden Bikinis. So viele Ärsche und Titten, aber keine waren wie die von Lisa gewesen. Zwei Pampelmusen im Körbchen, ohne Verhüllung noch schöner.
Es waren Bilder aus einer Zeit, in der Wout noch ein anderer gewesen war. Er hatte damals Dinge getan, die er heute nicht mehr tun würde. Nicht weil er seine Taten bereute oder weil sein Drang verschwunden war, sondern weil er es sich nicht erlauben konnte, erneut ins Visier der Polizei zu geraten.
In den vergangenen Jahren war ihm dieser Verzicht mal leichter und mal schwerer gefallen, und besonders schwer fiel er ihm an Tagen wie diesem. Wenn er spürte, dass der Drang immer noch da war und jederzeit durch einen kleinen Auslöser zum Leben erweckt werden konnte.
Er stand auf und holte sich ein weiteres Bier. Trank die Dose in einem Zug aus, quetschte sie zusammen und schmiss sie achtlos auf den Boden. Dann legte er sich aufs Sofa, um den Podcast erneut anzuhören. Er schloss die Augen, und während die Stimmen der Polizistin und des Moderators in sein Ohr drangen, ließ er sich in die Vergangenheit tragen.
Zum See im Mondlicht.
Zu Camp Donkerbloem.
Zu ihr.
Obwohl Frieda gerade erst aus Braunschweig zurückgekehrt war, fühlte sich die Wohnung ihrer Mutter bald schon wieder zu eng an. Ihr altes Kinderzimmer, die niedrigen Decken und die Küche mit der gemusterten Tapete und dem alten Herd. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können; zu viele Erinnerungen und eine Umgebung, in der sie sich mit ihrem Lebensstil deplatziert vorkam. Mit der teuren Kleidung, die sie selbst zum Frühstück trug, mit ihren politischen Ansichten, mit ihrer sexuellen Freizügigkeit.
Ihr Unbehagen wurde noch dadurch verstärkt, dass ihre Mutter ihr bei jeder noch so nebensächlichen Handlung zusah. Sie sah zu, als Frieda am Kaffee nippte oder dem gekochten Ei den Kopf abschlug; als sie eine Weißbrotscheibe in das noch flüssige Eigelb tunkte und sich nach dem ersten Bissen den Mund abwischte.
Irgendwann hatte Frieda genug von diesen Blicken.
»Mama?«
»Ja?«
»Willst du mir nicht sagen, was dir auf dem Herzen liegt?«
»Lieber nicht, Schatz. Du wirst dann nur böse werden.«
Frieda zog die linke Augenbraue hoch. So, wie sie es auch bei Vernehmungen tat, wenn sie dem Gegenüber signalisieren wollte, dass sie ihm das Gesagte nicht abnahm und weitere Erklärungen erwartete.
»Es geht um den Podcast«, knickte ihre Mutter ein.
»Hat er dir nicht gefallen?«
»Doch, schon, aber … Na ja, ich habe gestern Lisas Mutter im Supermarkt getroffen. Natürlich hat Karin zugehört, was du zu sagen hattest.«
»Prima. Der Podcaster freut sich bestimmt über jede Zuhörerin, die die Quote hochtreibt. Oder wolltest du mir sonst noch was sagen?«
»Also, Karin meinte nur …«
»Was meinte sie?«
»Sie hat wohl gehofft, dass du … wie soll ich es ausdrücken? … bei dem Thema ein wenig engagierter gewesen wärst.«
Frieda legte das Toastbrot zur Seite. »Und was genau hat sie erwartet?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht war sie einfach nur enttäuscht, dass du dir den Campingplatz kein einziges Mal angeschaut hast. Sie dachte wohl, dass du das spätestens vor der Sendung getan hättest, weil du Lisa ja auch gekannt hast.«
»Und was glaubt sie, was ich auf dem Gelände hätte finden sollen? Vierzehn Jahre nach Lisas Verschwinden?«
»Du hättest ja auch schon früher dorthin fahren können.«
»Ich habe es dir doch oft genug erklärt«, seufzte Frieda. »Als Lisa verschwunden ist, bin ich noch eine Polizeischülerin gewesen. Ich hatte mit dem Fall nie etwas zu tun.«
»Und jetzt?«
»Jetzt auch nicht. Außerdem bin ich momentan suspendiert, falls du das vergessen haben solltest.«
»Natürlich nicht, mein Schatz. Ich hoffe nur, dass du dich mit deinem Chef schnell wieder verträgst. Vielleicht kannst du ja zu ihm gehen und ihm sagen, dass du …«
Um die Augen nicht zu verdrehen, schloss Frieda sie. Irgendwie schien es unmöglich zu sein, ihrer Mutter klarzumachen, was eine Suspendierung bedeutete. Geschweige denn, warum sie ihr Verhalten nicht an den Vorstellungen von Lisas Mutter ausrichten konnte.
Sie verstand ja, dass Karin Martin unter dem Verschwinden ihrer Tochter litt, aber offenbar wollte die Frau nicht einsehen, dass Frieda in dieser Angelegenheit die Hände gebunden waren. Ganz abgesehen davon, dass sie im Moment mit anderen Problemen zu kämpfen hatte.
Für sich betrachtet, stellte eine Suspendierung erst mal kein großes Problem dar. Man bekam das volle Gehalt weitergezahlt, und ein angestrebtes Ermittlungsverfahren durfte sich in der Personalakte auch nicht negativ auswirken; vorausgesetzt natürlich, es wurde eingestellt und man wurde von allen Vorwürfen freigesprochen.
Wenn nicht, sah die Sache schon anders aus. Dann drohte die Kündigung, eventuell sogar ein Strafverfahren. Der Rattenschwanz konnte endlos sein, und um beurteilen zu können, wie es in ihrem Fall aussah, musste Frieda wissen, was genau Webers Anwalt gegen sie vorgebracht hatte. Von der Internen würde ihr das jedoch niemand sagen, und ihren Vorgesetzten brauchte sie erst gar nicht zu fragen. Sie wusste nicht, auf welcher Seite Lüpke stand – auf ihrer ganz bestimmt nicht.
Das Schlimmste jedoch war, dass ihre Suspendierung dem Immobilienmogul jetzt die Gelegenheit verschaffte, seine Verbindungen zu der libanesischen Clanfamilie zu verschleiern. Die verhafteten Schläger würden nicht aussagen, das taten solche Leute nie, und die Gründe dafür waren vielfältig. Meist, weil sie Angst hatten oder weil sie mit den Clanführern verwandtschaftlich verbunden waren. Wenn man häufiger in solchen Milieus ermittelte, stieß man regelmäßig auf eine Mauer des Schweigens, und es schien fast unmöglich zu sein, sie mit polizeilichen Mitteln zu durchdringen.
Wenn Frieda ehrlich war, musste sie zugeben, dass die Suspendierung mittlerweile gewaltig an ihren Nerven zerrte. Es gab nichts, was sie tun konnte, und selten war sie sich so nutzlos vorgekommen.
»Ich gehe heute Nachmittag zu Frau Martin und spreche mit ihr«, sagte sie spontan.
Überrascht hob ihre Mutter den Blick. »Das würdest du tun?«
»Warum nicht? Vielleicht kann ich ihr in einem persönlichen Gespräch ja klarmachen, wie die Dinge aus polizeilicher Sicht stehen.«
»Ach, Schatz, das ist ja wunderbar!« Ihre Mutter klatschte in die Hände wie ein Kind, das ein lang ersehntes Geschenk unter dem Weihnachtsbaum fand. »Da wird Karin sich aber freuen. Außerdem glaube ich, dass es dir auch guttun wird, mal direkt mit einer Angehörigen zu sprechen.«
Als wenn ich das sonst nie machen würde, dachte Frieda.
Sie redete andauernd mit Opfern von Straftaten oder deren Angehörigen, und nie war es ihr danach besser gegangen, ganz im Gegenteil. Diese Gespräche zerfraßen sie förmlich.
»Ich gehe nach dem Essen rüber«, bekräftigte sie dennoch. »Aber nur, wenn du mir versprichst, mich anschließend mit der Geschichte in Ruhe zu lassen.«
»Aber natürlich! Ich wollte doch nur …«
»Versprichst du es?«
Ihre Mutter nickte.
Frieda war von der Zusicherung zwar nicht überzeugt, beschloss aber, es dabei bewenden zu lassen. Was hatte sie schon zu verlieren? Nichts. Maximal eine Stunde, in der es eh nichts Besseres zu tun gab.
Außerdem war sie neugierig, was Lisas Mutter berichten würde. Oft hatten Angehörige einen anderen Blick auf das Verbrechen als die mit der Ermittlung betrauten Personen, und wenn sie von Lisas Mutter tatsächlich etwas Neues erfuhr, konnte sie es ja immer noch an die zuständigen Kolleginnen und Kollegen weiterleiten.
Nur daran dachte sie im Moment.
Nicht an das, was sie bei Lisas Mutter sonst noch erwarten würde.
Anschuldigungen, Vorwürfe und Tränen.
Das Leid eines Menschen, dem das Wichtigste genommen worden war.
*
Karin Martin war eine nur gut einen Meter sechzig große Frau, der die Leiden, die sie in den letzten Jahren durchlebt hatte, ins Gesicht geschrieben waren. Scharfe Falten zogen sich von der Nase bis zu einem Mund, der das Lachen verlernt hatte. Ihre Augen glänzten nur dann kurz, wenn ihr Blick auf das gerahmte Foto der Tochter fiel, das auf dem Sideboard stand und vor dem eine Kerze brannte.
Kein Zweifel: Vor Frieda saß ein Mensch, der erbittert um das letzte bisschen Selbstbeherrschung kämpfte.
Als Frau Martin erzählte, was in den Tagen nach Lisas Verschwinden passiert war, tat sie das mit bewundernswert ruhiger Stimme. Sie klagte nicht an, sie erhob keine Vorwürfe, sie schilderte lediglich die Fakten. Doch je länger sie redete, desto stärker wurde Friedas Eindruck, dass bei den Ermittlungen gravierende Fehler gemacht wurden. Der erste und wohl auch entscheidende war, dass man die Vermisstenanzeige der Mutter anfangs nicht ernst genommen hatte.
Übel nehmen konnte Frieda der Dienststelle ihr Verhalten dennoch nicht. Es gab keine Anzeichen für ein Gewaltverbrechen, und Lisa war volljährig gewesen. Sie hatte tun und lassen können, was sie wollte, und war nicht verpflichtet gewesen, ihrer Mutter ihre Pläne mitzuteilen. Wann genau die Polizei in einem solchen Fall einschritt, war reine Ermessenssache, aber in Friedas Augen hatten es die Kolleginnen und Kollegen zu spät getan. Als man erste Schritte unternahm, waren schon sechs Tage vergangen, und zwei weitere vergingen, bevor der erste Beamte den Campingplatz aufsuchte und Befragungen durchführte.
Die Namen der Mieterinnen und Mieter, die sich zum fraglichen Zeitpunkt auf der Anlage aufgehalten hatten, ließen sich anhand des Gästebuchs noch einfach ermitteln, die der möglichen Besucher nicht mehr. Hinzu kam, dass die Erinnerungen der meisten Camper schon nicht mehr frisch oder so vage waren, dass sich mit ihren Aussagen nichts anfangen ließ.
Auch der Wohnwagen, in dem Lisa gewohnt hatte, war zwischenzeitlich zweimal weitervermietet und ebenso häufig gereinigt wurden. In ihm ließen sich keine Spuren mehr finden, die mit dem Fall in Verbindung gebracht werden konnten. Anfangs schien die zuständige Dienststelle nicht mal überzeugt gewesen zu sein, dass es überhaupt einen Fall gab, der für die Polizei relevant gewesen wäre.
Einer der Beamten hatte Lisas Mutter klipp und klar gesagt, dass ihre Tochter wahrscheinlich einen netten Mann kennengelernt hatte und mit ihm ungestörte Tage der Zweisamkeit genießen wollte. Die Frage, warum Lisa sich entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten nicht bei der Mutter gemeldet und auch die Universität nicht wieder aufgesucht hatte, konnte er nicht beantworten. Ebenso wenig, warum Lisa ihr Auto wenige Kilometer vom Campingplatz entfernt auf einem abgelegenen Parkplatz für Wanderer stehen gelassen hatte.
Vom Tag der Vermisstenanzeige an dauerte es fast zwei Wochen, bis ernsthaft Bewegung in die Sache kam, und auch dann hatten die Zuständigen nur wenig, womit sie arbeiten konnten. Es gab keine Zeugenaussagen, keine Hinweise und keinen möglichen Tatort, keine DNA-Spuren und schon gar keine Leiche. Es gab nichts. Nur das gerahmte Foto einer jungen Frau, das im Wohnzimmer ihrer Mutter stand und vor dem jeden Abend eine Kerze angezündet wurde.
Als Karin Martin mit den Schilderungen fertig war, sah sie Frieda in die Augen.
»Frau Stahnke?«
»Ja?«
»Dürfte ich Sie auch etwas fragen?«
»Natürlich. Was immer Sie möchten.«
»Glauben Sie, dass meine Tochter noch lebt?«
Frieda hätte in diesem Moment gerne etwas Tröstliches gesagt. Etwas in der Art, dass dies nicht ausgeschlossen sei und es immer wieder Menschen gab, die auch Jahrzehnte später noch auftauchten. Das Problem war nur: Sie glaubte selbst nicht daran, obwohl sie es gern würde. Frieda würde gerne sagen, dass Lisa nur aus ihrem alten Leben ausbrechen wollte, irgendwo ein neues angefangen habe, dass es ihr gut gehe, aber das konnte sie nicht. Sie wäre sich dann wie eine verdammte Lügnerin vorgekommen.
Wieder schaute sie sich Lisas Bild an, und mit tonloser Stimme versprach sie Karin Martin, sich im Rahmen dessen, was ihr möglich war, mit dem Fall zu beschäftigen. Frau Martin drückte die Hände auf den Mund und schluchzte. So, als wäre diese Zusicherung bereits gleichzusetzen mit der Klärung des Schicksals ihrer Tochter.
Ein Vertrauen, das Frieda nicht verdiente.
Es gab nicht viel, was sie tun konnte. Sie konnte sich nur einen Überblick über die bekannten Fakten verschaffen und bei der zuständigen Behörde nach dem aktuellen Ermittlungsstand fragen. Die letzte Hoffnung wäre ein neuer Hinweis aus einer Richtung, aus der man nicht damit gerechnet hatte. Kam der jedoch nicht, würde der Fall weiterhin versanden, wie er das die letzten Jahre schon getan hatte. Ein paar archivierte Akten und ein paar Dateien in den hintersten Winkeln der Polizeirechner, das war’s.