Der Trubel um Diversität - Walter Benn Michaels - E-Book

Der Trubel um Diversität E-Book

Walter Benn Michaels

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Beschreibung

Gefeiert als »eloquent« (Chicago Tribune) und »stichhaltig« (The New Yorker), verströmt das Buch »einen Hauch von Genialität« (The Economist) und macht es unmöglich, mit den Thesen von Walter Benn Michaels »nicht übereinzustimmen« (The Washington Post). Michaels behauptet in »Der Trubel um Diversität«, dass unsere Fokusierung auf die »Differenz« den Unterschied außer Acht lässt, auf den es wirklich ankommt: den Unterschied zwischen Reichen und Armen. Respektlos nimmt Walter Benn Michaels sich die vielfältigen Ausprägungen unserer Besessenheit vor – Affirmative Action, Multikulturalismus, Kulturerbe und Identität – und zeigt, dass Diversität keine Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit schafft. In einer Absage sowohl an die Linke als auch an die Rechte fordert er, wir möchten uns weniger um die unwichtigen Unterschiede der Kulturen kümmern als um das wirkliche Missverhältnis der Klassen und die Verteilung des Reichtums. Ein Debattenbeitrag zur Diskussion über Herkunft und Identität, aus der immer neue Opfergruppen entstehen.

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Walter Benn Michaels

Der Trubel um Diversität

Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren

Mit einem Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe

Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Hesse

Über dieses Buch

Gefeiert als »eloquent« (Chicago Tribune) und »stichhaltig« (The New Yorker), verströmt das Buch »einen Hauch von Genialität« (The Economist) und macht es unmöglich, mit den Thesen von Walter Benn Michaels »nicht übereinzustimmen« (The Washington Post). Michaels behauptet in »Der Trubel um Diversität«, dass unsere Fokusierung auf die »Differenz« den Unterschied außer Acht lässt, auf den es wirklich ankommt: den Unterschied zwischen Reichen und Armen. Respektlos nimmt Walter Benn Michaels sich die vielfältigen Ausprägungen unserer Besessenheit vor – Affirmative Action, Multikulturalismus, Kulturerbe und Identität – und zeigt, dass Diversität keine Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit schafft. In einer Absage sowohl an die Linke als auch an die Rechte fordert er, wir möchten uns weniger um die unwichtigen Unterschiede der Kulturen kümmern als um das wirkliche Missverhältnis der Klassen und die Verteilung des Reichtums. Ein Debattenbeitrag zur Diskussion über Herkunft und Identität, aus der immer neue Opfergruppen entstehen.

Pressestimmen

»Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels kritisiert das Diversitätsparadigma von links. Sein Schluss lautet: Je mehr die Linke von Identität spricht, desto ungestörter kann sich neoliberale Sozialpolitik ausbreiten.« (Till Randolf Amelung, Jungle World)

»Erfrischend… Der größte Vorzug von ›Der Trubel um Diversität‹ ist die Beharrlichkeit und Genauigkeit, mit der Michaels unsere verworrenen Vorstellungen von Rassen und Ungleichheit auseinandernimmt.« (The Nation)

»Der Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels schlachtet eine ganze Herde heiliger Kühe … Indem wir die Welt von Diskriminierung befreien und Diversität feiern, so hält Michaels uns entgegen, machen wir sie zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus und rechtfertigen ökonomische Ungleichheit als natürliche Eigenschaft einer vorurteilslosen Gesellschaft. Er kommt zu dem Schluss: ›Um das Problem des Rassismus zu lösen, müssen wir bloß unsere Vorurteile aufgeben.‹« (Allan C. Hutchinson, The Globe and Mail (Toronto))

 

 

 

Vorwort zur deutschen Ausgabe

 

Im Herbst 2020 lud mich eine Gruppe deutscher Akademiker zu einem Vortrag ein, den ich im Juni 2021 halten sollte. Im Dezember 2020 wurde ich bereits wieder ausgeladen; ich war nicht länger erwünscht. Warum? Weil einer aus der Gruppe, ein farbiger Professor, das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, auf englisch gelesen und das Gefühl bekommen hatte, in Gegenwart des Autors (selbst nur bei Zoom!) würde er sich einer Art von »Gewalt« aussetzen. Um sicherzustellen, dass sich alle sicher fühlen, lud die Gruppe jemand anderen ein.

Als bloße Leser – in Gegenwart nur des Buches, nicht seines Autors – werden Sie vermutlich weniger zu befürchten haben. Doch erzähle ich Ihnen die Geschichte nicht, um Sie zu erschrecken, und auch nicht, um sie zu beruhigen. Ich möchte Ihnen damit lediglich sagen, dass »Der Trubel um Diversität« zwar auch 2006, als die amerikanische Erstausgabe erschien, schon umstritten war, die Dinge sich jedoch noch nicht so weit entwickelt hatten, dass Einspruch gegen Diversität als eine Form fortschrittlicher Politik etwa als Gewalt erachtet worden wäre. Als im Jahr 2016 die zweite Auflage erschien, war das bereits anders. Die Entstehung der »Black Lives Matter«-Bewegung und die im politischen Mainstream geführte Diskussion um Entschädigungen für die Sklaverei hatten dem Thema Antirassismus (und Antidiskriminierung im allgemeinen) – und mithin all dem, was ich daran problematisch finde – neuen Schwung verliehen und es in den Mittelpunkt linker Politik gerückt; das Nachwort zur Neuausgabe versucht zu erklären, warum.

Nun, im Jahr 2021, nach dem unerträglichen Anblick George Floyds und anderer, die um ihr Leben flehten, und nach den politischen Aktivitäten, die diese Szenen hervorgerufen haben, ist der Antirassismus sogar noch fundamentaler geworden. Fundamental aber ist er nicht für eine linke Politik; vielmehr ist er ein »militanter Ausdruck eines Liberalismus der Hautfarben«, wie Cedric Johnson es ausdrückt, eines Liberalismus, der »nicht als Bedrohung, sondern als Bollwerk« der amerikanischen Version des Neoliberalismus fungiert.1 Warum? Weil er die zunehmende Ungleichheit, die der amerikanischen Bevölkerung zugemutet wird, verteidigt, anstatt sie zu bekämpfen. Dies bleibt wahr auch angesichts des bestehendes Missverhältnisses zwischen den ethnischen Gruppen auf der untersten Ebene der amerikanischen Gesellschaft; denn ebenso wahr ist, dass, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates sagt, »keine Statistik das fortdauernde Erbe der schändlichen Geschichte unseres Landes, das Schwarze wie Unterbürger, Unteramerikaner und Untermenschen behandelte, besser vor Augen führt als das Wohlstandsgefälle.«2

Die Statistik, an die Coates dabei denkt, ist folgende: Im Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Vermögen weißer Familien 983.400 Dollar, das schwarzer Familien 142.000 Dollar.3 Und obschon es viele unterschiedliche Meinungen darüber gibt, wie man diese Kluft verringern könnte, herrscht weitreichende Einmütigkeit darüber, was sie verursacht hat, nämlich über zweihundert Jahre Sklaverei und weitere hundert Jahre Rassismus. Diese Tatsachen haben die weitverbreitete Ansicht befördert, dass Sklaverei und Rassismus die »Erbsünde« der USA seien, und ebenso die Behauptung, die Vorherrschaft der Weißen sei »die entscheidende Herausforderung, mit der die Vereinigten Staaten fertigwerden müssen, um das Versprechen unserer Demokratie zu erfüllen.«4 Sie nähren auch das gegenwärtige Gefühl, dass vor allem die zwischen den Hautfarben herrschende Ungleichheit – was nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Polizeigewalt, der Nichtweiße im besonderen ausgesetzt sind, sowie die Gesundheitsversorgung und die Lebenserwartung selbst betrifft – überwunden werden müsse, um eine wirklich gerechte Gesellschaft zu schaffen.

Wenn wir jedoch wie Coates mit dem Wohlstandsgefälle beginnen und uns fragen, wer denn den weißen Reichtum tatsächlich besitzt, wird sogleich klar, wie irreführend überhaupt die Vorstellung weißen Reichtums ist. Denn die reichsten 20 Prozent der Weißen besitzen mehr als 85 Prozent dieses Reichtums und die mittleren 50 Prozent den Rest, während die unteren 30 Prozent gar nichts haben.5 Das heißt, nahezu alle Weißen verfügen über so gut wie keinen weißen Reichtum. Wenn wir uns statt der Ungleichheit des Reichtums die der Einkommen anschauen, wird dieser Eindruck sogar noch deutlicher. Die meisten Menschen, die über 200.000 Dollar im Jahr verdienen, sind weiß – doch ebenso die meisten derjenigen, die unter 10.000 Dollar verdienen, sowie derer, die unter 15.000, und auch derer, die unter 20.000 verdienen. Wenn man diesen Menschen erzählt, die Hauptursache der Ungleichheit in den USA sei die Vorherrschaft der Weißen, wissen sie, dass das nicht stimmt. Ebensogut könnte man auf die zweitgrößte Gruppe reicher Leute verweisen – die Asiaten, die genauso wie die Weißen unter den Reichen überrepräsentiert und unter den Armen unterrepräsentiert sind – und etwa behaupten, die Vorherrschaft der Asiaten sei ein grundlegendes Problem Amerikas. Fragen Sie mal einen armen Asiaten: Es stimmt nicht.

Die grundlegende ökonomische Ungleichheit in den USA besteht nicht zwischen Weißen und Schwarzen, sondern zwischen einer relativ kleinen Anzahl reicher (hauptsächlich weißer) Leute und allen anderen: Schwarzen, Weißen, Asiaten. Die Lage ist, mit anderen Worten, gar nicht so verschieden von der in Deutschland, wo die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über etwa 66 Prozent des Nettovermögens verfügen.6 Und wenn Deutschland den USA darin folgen sollte, Angaben zu Hautfarbe und ethnischer Herkunft in die Bevölkerungsstatistik einzubeziehen (was nach meiner Voraussage eher früher als später geschehen wird), würde die Frage der Ungleichheit zwischen Hautfarben und Ethnien zweifellos große Bedeutung gewinnen. Warum? Weil mit zunehmender Ungleichheit unserer Gesellschaften diejenigen, die von dieser Ungleichheit profitieren, um so weniger erpicht darauf sind, über Klassenunterschiede zu sprechen, und darum desto begieriger von »Rassen« reden.7

In den USA hat die Rede von »Rassen« diese Aufgabe immer schon erfüllt. Gleich nach dem Bürgerkrieg erwies sich der Rassismus in Gestalt einer Vorherrschaft der Weißen auf zweierlei Weise als nützlich. Zum einen schied er die weiße Arbeiterklasse von der schwarzen. »Schwarz und Weiß, kämpft vereint« (Negro and White, Unite and Fight), lautete das Motto der radikalen Linken zu einer Zeit, da man weiße Arbeiter anspornte, ihre schwarzen Kollegen gleichermaßen zu verachten und zu fürchten, was sich als wirkungsvolles Mittel erwies, ihre Einheit zu verhindern. Zum andern, und das verstanden die radikalsten rassistischen Schriftsteller wie Thomas Dixon sehr wohl, trennte der Rassismus nicht nur arme Weiße von armen Schwarzen, sondern er einte auch arme und reiche Weiße. In dem ersten Roman seiner überaus erfolgreichen Trilogie über den Ku Klux Klan beschreibt Dixon eine Gruppe von Weißen, die erfährt, dass ein weißes Mädchen von »einer verfluchten schwarzen Bestie« vergewaltigt und ermordet worden ist. »Im Nu«, schreibt er, »verschmolz die weiße Rasse zu einer einheitlichen Masse der Liebe und Anteilnahme, des Hasses und der Rache. Der Reiche und der Arme, der Gebildete und der Ungebildete, der Bankier und der Schmied, der Große und der Kleine, sie alle waren nun eins.«8 Auf sich allein gestellt, mögen die Reichen die Armen als Klassenfeinde ansehen; angesichts der »schwarzen Bestie« aber erkennen sie sie als »Rassenbrüder«. Wenn es etwas wie eine weiße Rasse nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Was wir, da es eine weiße Rasse ja tatsächlich nicht gibt, auch getan haben.

Damals, sagt der afroamerikanische Schriftsteller George Schuyler, ging es darum, »die Arbeiter rassenbewusst statt klassenbewusst zu machen.«9 Die große Neuerung unserer Zeit besteht in der Entdeckung, dass der Antirassismus das ebensogut erledigen kann wie der Rassismus. Eigentlich ist es ganz leicht: Die Oberschicht, die weiße Arbeiter einst dazu beglückwünschte, »einer Rasse von Welteroberern« anzugehören, klagt sie nun des irrigen Glaubens an, »einer Rasse von Welteroberern« anzugehören. Wohl wahr, das einzige, was gebildete Weiße mit Hochschulabschluss noch lieber mögen, als sich für ihren eigenen Rassismus zu entschuldigen (der Fachausdruck lautet »Privilegien checken«), ist, ungebildete Weiße ohne Hochschulabschluss als Rassisten anzuklagen. Und zwar zu einer Zeit, da das steilste Gefälle in der amerikanischen Gesellschaft das zwischen Gebildeten mit Hochschulabschluss und Ungebildeten ohne Hochschulabschluss ist und nicht etwa das zwischen Weißen und Schwarzen. In einer Untersuchung der sich verändernden Lebenserwartung von 1980 bis 2018 zeigen Anne Case und Angus Deaton, dass der Abstand zwischen der Lebenserwartung der Schwarzen und der der Weißen sich verringert hat, während der zwischen der Lebenserwartung von Menschen mit und der von solchen ohne Hochschulabschluss größer geworden ist. Heute, schließen sie daraus, »gleichen Menschen mit einem Hochschulabschluss, ungeachtet ihrer Hautfarbe, einander mehr als Menschen derselben Hautfarbe, die kein Bachelorexamen haben.«10 Während der Covid-Pandemie lautete die übliche Geschichte in den amerikanischen Medien, das Virus wüte unverhältnismäßig stark unter schwarzen und braunen Menschen. Allerdings wissen wir – und ein solcher Schluss entspräche dem gemeinen Alltagsverstand, wenn nicht der Liberalismus so versessen darauf wäre, jedwede Ungleichheit zu »rassifizieren« –, dass die meisten Covid-Toten unter Angehörigen der Arbeiterklasse zu finden waren.11

Problematisch ist jedoch nicht, dass die Klage über Unverhältnismäßigkeit etwa unberechtigt wäre, sondern dass sie zutrifft. Im Jahr 2020 tötete die Polizei 32 unbewaffnete Schwarze, unter ihnen George Floyd und Breonna Taylor, deren Todesfälle landesweite Proteste und eine fortdauernde »Abrechnung mit dem Rassismus« hervorriefen. Im selben Jahr 2020 tötete die Polizei 32 unbewaffnete Weiße.12 Zweifellos trauerten ihre Familien auch um sie, doch das Land als ganzes tat es nicht; niemand kennt ihre Namen. Warum nicht? Der Grund liegt auf der Hand. Selbst wenn es mehr weiße als schwarze Todesfälle gäbe, stünden letztere in einem Missverhältnis zur Anzahl der Schwarzen in der Bevölkerung. Und dieses Missverhältnis – die Tatsache, dass Schwarze mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als Weiße von der Polizei getötet werden – ruft Empörung hervor. Denn es legt Zeugnis ab von der Rolle, die der Rassismus dabei spielt, und der Rassismus, die Unverhältnismäßigkeit des Unglücks mehr als das Unglück selbst, wird als das eigentliche Problem betrachtet.

Vielleicht lässt sich das etwas verdeutlichen, wenn man in Betracht zieht, dass die Opfer von Polizeigewalt zwar unverhältnismäßig oft schwarze, in überwältigendem Maße jedoch arme Menschen sind. Wir haben keine verlässlichen Angaben über den wirtschaftlichen Status der von der Polizei Getöteten, wohl jedoch über den der Inhaftierten.13 Deren durchschnittliches Einkommen beträgt weniger als die Hälfte des Einkommens derer, die nicht ins Gefängnis kommen, und diese Statistik dürfte niemanden überraschen, denn wir wissen, dass das Drangsalieren, Festnehmen und sogar Töten unverhältnismäßig vieler armer Menschen nun einmal die Aufgabe der Polizei ist. Im 19. Jahrhundert konzentrierte sich die Verantwortung der Polizei von Chicago für das, was man bezeichnenderweise die Aufrechterhaltung der »öffentlichen Ordnung« nennt, insbesondere auf Arbeiter; allein zwischen 1875 und 1900 schickte sie »beinahe eine Million Arbeiter … wegen belangloser Verstöße gegen die öffentlichen Ordnung« ins Gefängnis.14 Heute ist die Arbeiterbewegung von der Bildfläche weitgehend verschwunden, doch die Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten – zumal in einer Gesellschaft, die sogar noch ungleicher sein mag als damals – ist mindestens ebenso dringlich. Wenn wir die Polizei der unverhältnismäßigen Gewalt gegen schwarze und nicht der gegen arme Menschen anklagen, so deshalb, weil wir sehr wohl wissen, dass wir sie für die Aufrechterhaltung der Ordnung unter den und auch gegen die Armen bezahlen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Armen den Reichen nichts wegnehmen.

Darin besteht die konservative Funktion der »Rassifizierung«. Sie nimmt ein System, das dazu da ist, die Arbeiterklasse in Schach zu halten, und deutet es um in ein System rassistischer Unterdrückung – somit verwandelt sie das sozialistische Ziel, die Klassenverhältnisse abzuschaffen, in das liberale Ziel, sie fairer zu gestalten. Ich möchte, um es noch einmal zu sagen, nicht etwa behaupten, dass Rassismus bei der unverhältnismäßig häufigen Tötung unbewaffneter Schwarzer keine Rolle spiele; und gewiss nicht bestreiten, dass die Tötung von George Floyd ein abscheuliches Verbrechen war. Es geht darum, dass, wenn wir diese Unverhältnismäßigkeit und den Rassismus zum Hauptproblem erklären (darum nennt sich die Bewegung »Black Lives Matter« »Black Lives Matter«), wir ein Problem schaffen, das der neoliberale Kapitalismus lösen will, indem er der Diskriminierung ein Ende setzt – während wir zugleich das Problem ignorieren, das der neoliberale Kapitalismus selbst darstellt: die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital. Falsch an der Identitätspolitik ist, mit anderen Worten, dass sie nur solche Ungerechtigkeiten zur Kenntnis nimmt, die durch Diskriminierung (Rassismus, Sexismus, Homophobie) hervorgebracht werden. Die Ungleichheiten, die jedem von uns in jedem Augenblick dadurch entstehen, dass Arbeiter weniger bezahlt bekommen als den Wert dessen, was sie produzieren, werden außer Acht gelassen oder, schlimmer, als normal erachtet.

Oder sie werden, noch schlimmer, gegen jedwede Klassenpolitik in Anschlag gebracht. Deutlich wurde das während des Vorwahlkampfs der Demokraten im Jahr 2016, als Hillary Clinton anfing, Bernie Sanders seine Kritik des Kapitalismus vorzuwerfen, indem sie die versammelte Menge fragte: »Wenn wir die großen Banken morgen auflösten, würde das dem Rassismus den Garaus machen… würde es dem Sexismus ein Ende setzen?«15 Sie wollte zeigen, dass Sanders’ Beschäftigung mit Klassen all die Themen – nämlich Identitäten – ignoriere, die ihre Leute beschäftigten. Eingehämmert wurde einem das noch einmal von Nobelpreisträger Paul Krugman, der in der New York Times behauptete, Sanders’ Engagement für die Gleichheit aller Einzelnen sei ein »Hirngespinst«, denn »dass einer sich zumindest teilweise durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert, ist Teil der menschlichen Natur.«16 Die Gruppen, die er im Sinn hatte, waren »ethnische Minderheiten«, und er wollte damit sagen, dass »individuelle« Gleichheit weniger wichtig sei als das, was Entwicklungsökonomen »horizontale« Gleichheit nennen, nämlich eine Gleichheit zwischen Gruppen. Es ging also darum, Schwarze und Weiße gleichzustellen. Doch selbst wenn es irgendwie gelänge, das Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Schwarzen zu beseitigen, bliebe das zwischen Reichen und Armen davon natürlich unberührt. Ökonomisch gesprochen: Gleichheit der »Rassen« ist Gleichheit ohne Gleichheit.

Darum ist sie bei amerikanischen Unternehmen so beliebt. Dem Wall Street Journal zufolge haben die Unternehmen bis Ende 2020 insgesamt 35 Milliarden Dollar für die Förderung dieser Art Gleichheit ausgegeben.17 Es gibt eine Internetseite – den Corporate Racial Equity Tracker, schauen Sie sich den mal an!18 –, die einen über all das auf dem laufenden hält, nicht nur über finanzielle Zuwendungen, sondern auch über Diversitätstrainings, Entgeltgleichheit, schlechthin alles. Doch es gibt keine Internetseite, die den Fortschritt der Unternehmen in Richtung Sozialismus verfolgt. Manche leitende Angestellte mögen weniger enthusiastisch sein als andere, die Unternehmen selbst jedoch begreifen sehr wohl, dass die Förderung solcher Gleichheit gut für ihr Geschäft ist. Wenn eine Firma wie Goldman Sachs erklärt: »Die Schaffung und Erhaltung einer diversen und inklusiven Arbeitsumgebung ist absolut unabdingbar«, und sodann eine Milliarde Dollar stiftet, um Geschäfte von Schwarzen zu fördern, wird die Begeisterung mancher Partner gewiss weniger absolut sein als die anderer. Doch das muss sie auch gar nicht. Das Geschäft von Goldman Sachs besteht darin, den Kunden »Rat und Kapital« bereitzustellen, und weder Rat noch Kapital nähmen Schaden, wenn eine Belegschaft sie bereitstellen würde, die, so Goldmans Ziel, künftig aus 50 Prozent Frauen, 11 Prozent Schwarzen und 14 Prozent Hispanos und Latinos bestehen soll.19 Wäre Goldman dem Sozialismus gleichermaßen verpflichtet wie dem Antirassismus, wäre der Widerspruch zwischen seinem Geschäft (Bereitstellung von Kapital) und seinem Ideal (den Kapitalismus zu beenden) wahrhaftig »absolut«.

Solcherart Großzügigkeit verstehen nicht nur Gemäßigte wie Clinton und Biden, sondern auch Leute, die auf der von Kimberlé Crenshaw so genannten »tiefen Kluft zwischen Liberalen und Radikalen in Fragen des Rassismus« bestehen und sich selbst als Radikale begreifen.20 Doch was sollen wir mit einem Radikalismus anfangen, der jemanden kritisiert, der einem linken Präsidentschaftskandidaten zumindest näherkommt als sämtliche Kandidaten, die die USA in den letzten 75 Jahren hervorgebracht haben, und ihn im Vergleich ausgerechnet mit amerikanischen Unternehmen heruntermacht? Der New York Times erzählte Crenshaw (nach dem »elektrisierenden« Tod von George Floyd): »In diesem Augenblick sagt jedes Unternehmen, das sein Geld wert ist, etwas über strukturellen Rassismus und Vorurteile gegen Schwarze, und das geht sogar weit über das hinaus, was Kandidaten der Demokratischen Partei [sie meint Bernie Sanders] von sich geben.«21 Nach welchem Kriterium ist Sanders’ Klassen-Egalitarismus weniger radikal als Goldman Sachs’ »Rassen«-Egalitarismus?

Die Antwort können wir Crenshaws eigener Erfindung der Intersektionalität entnehmen, die anfangs kritisierte, wie die »vorherrschenden Konzepte von Diskriminierung« die Position schwarzer Frauen unkenntlich machten. Im Falle geschlechtlicher Diskriminierung, schrieb sie, »richtet sich die Aufmerksamkeit auf Frauen, die durch Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit privilegiert sind« (das heißt weiße Frauen der Mittelschicht), im Falle rassistischer Diskriminierung »auf Schwarze, die durch Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit privilegiert sind« (das heißt hauptsächlich Männer der Mittelschicht):22 mit dem Ergebnis, dass man sich auf die »privilegiertesten Mitglieder der jeweiligen Gruppe« konzentriert und diejenigen marginalisiert habe, die »mehrfach belastet« waren (arme, schwarze Frauen). Indem sie »Rasse«, Klasse und Geschlecht sowie den jeweiligen Unterschied in Betracht zog, wollte die Intersektionalität den Blick neu justieren. Was sie radikal macht, ist genau das: dass sie sich nicht auf eine Form der Unterdrückung beschränkt, sondern jede Form von Unterdrückung berücksichtigt.

In den USA klagen Leute manchmal (nicht zu Unrecht) darüber, dass man bei der Dreifaltigkeit von »Rasse, Klasse, Geschlecht« dazu neigt, mit der Klasse kurzen Prozess zu machen. Doch der wesentliche Beitrag (und das Problem mit) der Intersektionalität wird sogar noch deutlicher, wenn man die Klassenzugehörigkeit ernst nimmt, wie es in dem faszinierenden Buch »Rückkehr nach Reims« (Retour à Reims, 2009) des französischen Soziologen Didier Eribon der Fall ist. Da versucht ein Autor, der so erfolgreich über die Mechanismen der Herrschaft geschrieben hat (insbesondere in den »Betrachtungen zur Schwulenfrage«), seine Nachforschungen auf die »gesellschaftliche Herrschaft« auszudehnen.23 Ein Vorhaben, das besonders dadurch hervorsticht, dass Eribon einerseits schwul und andererseits in eine Arbeiterklassenfamilie hineingeboren worden ist; weswegen er über die Konstruktion sowohl einer Arbeiterklassenidentität als auch einer schwulen Identität Auskunft geben kann. »Rückkehr nach Reims« zeigt exemplarisch, was es bedeutet, als schwuler Mann und als Angehöriger der Arbeiterklasse gleichermaßen unterdrückt zu werden, und hilft uns, das Verhältnis von beidem zu verstehen.

Eribon begreift Homophobie als eine von einer heterosexuellen Gesellschaft auferlegte »Bestimmung dessen, was ein Paar, was eine Familie sein sollte«. Nicht Heterosexualität als solche sei das Problem, sondern das Bestreben, sie zur Norm zu erheben und somit Homosexualität für »minderwertig« zu erklären. Ein Problem deshalb, weil Homosexualität in keiner Hinsicht schlechter als Heterosexualität ist. Das ist in der Tat das überzeugendste Argument aller identitären Bewegungen: Frauen sind nicht schlechter als Männer, Schwarze nicht schlechter als Weiße. Die ganze Identitätspolitik beruht auf der Erkenntnis, dass alle Identitäten gleich sind und darum die Techniken der Herrschaft, die eine der anderen unterordnen, allem Anschein nach illegitim.

Wenn man es so darstellt, erkennt man jedoch bereits das Missverhältnis zwischen der Beherrschung sexueller oder ethnischer Minderheiten einerseits und Klassenherrschaft andererseits: was auch Eribons Bemerkung nahelegt, es sei ihm »leichter« gefallen, »über sexuelle als über Klassenscham zu schreiben«. Was er im Grunde meint, ist, dass er sich seiner sozialen Identität sogar noch mehr schämte als seiner sexuellen. Das Problem ist allerdings noch gravierender. Denn zum einen handelt die Geschichte seiner sexuellen Identität davon, wie er akzeptierte, wer er ist, wohingegen die Geschichte seiner sozialen Identität besagt, dass er aufhörte zu sein, wer er war. Zum andern findet die sexuelle Geschichte der Verwandlung von Scham in Stolz in der ökonomischen keine Parallele. Wer seine Scham, schwul zu sein, überwindet, akzeptiert seine Sexualität; wer hingegen seine Scham, arm zu sein, überwindet, akzeptiert noch keineswegs seine Armut. Es ist eine Sache, sich seines Armseins nicht länger zu schämen; eine ganz andere aber, seine Armut bereitwillig anzunehmen.

Der Grund ist natürlich, dass die vermeintliche Minderwertigkeit farbiger Menschen, Frauen und Schwuler ein Effekt der schameinflößenden Disziplinartechniken ist, denen sie unterworfen sind. Beseitigt man diese Techniken oder erkennt sie auch nur als illegitime Konstrukte einer falschen Normativität, kann man das Gefühl von Minderwertigkeit überwinden. Beseitigt man jedoch die Scham, die Eribons Mutter empfand – die gezwungen war, Knochenarbeit in zwei Jobs zugleich zu verrichten, und selbst davon kaum leben konnte –, hat man an ihrer Klassenlage nicht das geringste geändert. Eribon fragt, warum bestimmte Teile der Bevölkerung – Schwule, Lesben, Transsexuelle oder Juden, Schwarze etc. – die »soziale« und »kulturelle Last« der Herrschaft tragen müssten. Niemand aber braucht zu fragen, warum das Kapital über die Arbeit herrscht – einfach deshalb, weil es sie ausbeuten muss.

Von diesem Standpunkt lassen sich die befreiende Wirkung ebenso wie die konservative Funktion der Kritik der Normativität begreifen. Die befreiende Wirkung auf jedwede Identität besteht darin, dass man nicht länger verfolgt wird, weil man ist, wer man ist. Die Arbeiterklasse aber ist keine Identität, und wenn man sie wie eine behandelt, nämlich Opfer von Ausbeutung behandelt, als wären sie solche von Diskriminierung, bestätigt man die Schichtung der Klassen und stellt sie nicht in Frage. Genau das tut Eribon. Seine Arbeiter stellt er sich als unterwürfige Identitäten vor, als Opfer von »Scham« (diese Beschreibung kommt mindestens ein dutzendmal in diesem kleinen Buch vor). Sobald er aber von der Scham auf die materiellen Bedingungen der Ungleichheit zu sprechen kommt (etwa das Bildungswesen, das Arbeiterkinder in unqualifizierte Berufe drängt), verwandelt er sie in Opfer von Diskriminierung.24 Das Problem, das er beschreibt, besteht darin, wie man das Stigma loswird, das Leute davon abhält, der Arbeiterklasse zu entfliehen. Das eigentliche Problem besteht jedoch nicht darin, wie man Leuten helfen könnte, ihr zu entfliehen – es geht darum, die Bedingungen der Arbeiterklasse selbst zu ändern.

Wenn es um »Rasse« und Geschlecht geht, schafft Antidiskriminierung soziale Gerechtigkeit; was die Klassenlage betrifft, so schafft sie soziale Gerechtigkeit nur für Liberale. Für die Linke besteht das Problem mit der Arbeiterklasse allerdings nicht darin, dass die Menschen, die ihr angehören, unfair behandelt würden; die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse selbst ist die Ungerechtigkeit, die notwendig ist für den Kapitalismus, damit er überhaupt bestehen kann. Aus diesem Blickwinkel erscheint Eribons Karriere durchaus faszinierend, weil sie den Unterschied zwischen der Überwindung der Hindernisse eines Schwulen in einer heteronormativen Gesellschaft und der Überwindung der Hindernisse eines Abkömmlings der Arbeiterklasse in einer kapitalistischen Gesellschaft exemplarisch vor Augen führt. Die Beseitigung der Homophobie bedeutet einen Sieg für jeden Schwulen; die der Vorbehalte gegen Arme wäre ein Sieg aber nur für Leute, denen es dadurch gelingt, der Armut zu entkommen, sowie für die Klassenverhältnisse selbst, die somit vollständig intakt blieben.

Das gleiche gilt für Crenshaws Intersektionalität. Sie beschreibt eine Kontroverse aus den 1980er Jahren über die Beschäftigung von Minderheiten an der juristischen Fakultät der Universität Harvard als Durchbruch für die »entstehende rassismuskritische Bewegung«, weil damit »ein neues Konzept der Verteilung von Juraprofessuren zum Ausdruck gebracht« worden sei, nämlich von »Ressourcen, die mit farbigen Communitys geteilt werden sollten.«25 Inwiefern jedoch sollte die Berufung farbiger Professoren als eine Teilung der Ressourcen mit »farbigen Communitys« in Betracht kommen? Damit arme schwarze Arbeiter glauben könnten, sie bekämen einen Teil der Ressourcen reicher schwarzer Angestellter, müssten sie erst einmal vergessen, dass die Gehälter der sehr gutbezahlten Leute, die den amerikanischen Kapitalismus am Leben erhalten, von der Arbeit der sehr schlechtbezahlten Leute bezuschusst werden, die dasselbe leisten. Vor einem Jahrhundert hofften die Rassisten, die Weißheit allein möge aus Klassenfeinden »Rassenbrüder« machen. Bisweilen tun die Antirassisten heute so, als könne die Zugehörigkeit zu »farbigen Communitys« das gleiche Ziel erreichen; so als könnten sie, frei nach Zine Magubane, das Unrecht der Sklaverei wiedergutmachen, indem sie die Klasse der Sklavenhalter diversifizieren.26

Besonders bemerkenswert ist, dass Crenshaw die im wesentlichen durch ihren Gegensatz bestimmten Klassenunterschiede auch dann nicht wahrhaben will, wenn sie über ein Buch wie Mark Lillas »Der einstige und künftige Liberale« (The Once and Future Liberal, 2017) spricht. Lilla wettert in diesem Buch gegen Identitätspolitik, und Crenshaw nimmt ihm das in ihrer Rezension übel (denn Lilla verkörpert den Liberalen im Unterschied zu dem von ihr imaginierten Radikalen). Tatsächlich haben sie jedoch vieles gemein. Auch wenn er glaubt, er sei gegen Identität, so ist das, was er wirklich will, nur eine andere Form derselben: nicht schwarz oder braun, sondern »amerikanisch«. Und was diese Identität seiner Ansicht nach überwinden müsse, sei die »Fixierung der amerikanischen Progressiven auf Klassen«.27 Anders gesagt, Lilla wünscht sich von der amerikanischen Identität das gleiche, was Crenshaw sich von der Zugehörigkeit zu farbigen Communitys erhofft: »eine Art Identifikation der Begünstigten und der Benachteiligten«.

So betrachtet, beschreiten Crenshaws liberaler Identitarismus und Lillas liberaler Antiidentitarismus nur zwei unterschiedliche Wege zu ein und demselben Ziel, das in der amerikanischen Politik traditionell darin besteht, die allgemein egalitären Ziele des Sozialismus vom Tisch zu wischen. »Der Trubel um Diversität« lautet im Untertitel »Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren«, da ich die Beschäftigung mit Identitäten nicht einfach deshalb für falsch halte, weil sie von ökonomischer Ungleichheit ablenkt, sondern weil sie ein Modell liberaler Gerechtigkeit bereitstellt, das seinerseits eine Alternative zu ökonomischer Gleichheit bietet. Mehr noch, sie hat kein Problem mit ökonomischer Ungleichheit, solange diese nicht das Produkt von Rassismus, Sexismus oder einer anderen Art von Diskriminierung ist. Somit ignoriert sie das Ausmaß, in welchem Ungleichheit das unvermeidliche Produkt selbst eines antirassistischen ebenso wie antisexistischen Kapitalismus wäre. Es geht nicht darum, dass Antirassismus etwa nicht gut wäre – vielmehr darum, dass er an sich nicht gegen den Kapitalismus ist und selbst sogar eine Möglichkeit bietet, diesen zu legitimieren.

Darum hat der deutsche Autor Ingo Ahrend, wenn er »kulturelle« und »symbolische« Kämpfe gegen »die heteronormative Zwangsjacke« und den »materiellen Klassenkampf« als »zwei Seiten einer Medaille« beschreibt, teils recht und zugleich vollkommen unrecht. Recht hat er, wenn er sagt, dass wir unbedingt gegen Heteronormativität ebenso wie gegen Rassismus, Sexismus und Transphobie kämpfen sollten. Unrecht aber mit der Behauptung, diese Kämpfe seien eher symbolisch als materiell und die andere Seite der antikapitalistischen Medaille. Die durchaus materielle Politik der Antidiskriminierung bietet eine Möglichkeit, die Klassenverhältnisse zu erhalten, und wenn man gewährleistet, dass kein Rassismus schwarze Menschen daran hindert, reich zu werden, ist das nicht die andere Seite des Kampfes für materielle Gleichheit, sondern das genaue Gegenteil.

Ob das Engagement für Identitäten sich bei der Kaltstellung jedweder Klassenpolitik in Deutschland als ebenso nützlich erweisen wird wie in den USA, weiß ich nicht. Doch es scheint, wie bereits angedeutet, zumindest eine Faustregel zu sein, dass Länder, je weniger Interesse sie an einer Änderung der Verhältnisse haben, die die Kluft zwischen Reich und Arm erhalten und sogar vergrößern, desto mehr Interesse daran haben, Antirassismus und Antisexismus in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen. Wenn es stimmt, dass »aus den 28 Ländern, die der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Daten über die Verteilung des Reichtums übermitteln, Deutschland und die Vereinigten Staaten hervorstechen«,28 und zwar deshalb, weil »die Lage sich verschlechtert«, mögen Sie daraus Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Meine Vermutung ist, dass Sie verloren sind. Meine Hoffnung allerdings, dass ich unrecht behalte.

 

 

Einleitung

 

»Die Reichen sind anders als Sie und ich«, lautet eine bekannte Bemerkung, die F. Scott Fitzgerald einmal gegenüber Ernest Hemingway gemacht haben soll. Was sie allerdings bekannt machte – oder jedenfalls Hemingway dazu brachte, sie bekanntlich zu wiederholen –, war nicht die Bemerkung selbst, sondern dessen Entgegnung: »Ja, sie haben mehr Geld.« In der von Hemingway erzählten Geschichte ging es, mit anderen Worten, darum, dass die Reichen in Wirklichkeit nicht sehr viel anders sind als Sie und ich. Fitzgeralds Irrtum, dachte er, bestand darin, dass er die Reichen mythologisierte oder verkitschte, indem er sie so darstellte, als seien sie eine andere Art von Menschen und nicht dieselbe nur mit mehr Geld; so als unterscheide sie nicht, was sie haben, nämlich ihr Geld, sondern was sie Fitzgerald zufolge sind: »eine besondere, bezaubernde Rasse«.

Hemingway schien der Unterschied zwischen dem, was Leute besitzen, und dem, was sie sind, offensichtlich; ebenso, dass es darauf ankommt, was sie sind. In dem Roman »Fiesta« (The Sun Also Rises, 1926) interessiert sich niemand für Robert Cohens Geld, doch merkt jeder sofort, dass er ein »rassenbewusster kleiner Judenbengel« ist. Ganz gleich, ob Fitzgerald die Reichen verkitschte und sie zauberhafter machte, als sie wirklich sind: Gewiss glaubte er ebenso wie Hemingway, die grundlegenden Unterschiede – die, auf die es wirklich ankommt – reichten tiefer hinab als die Frage, wieviel Geld einer hat. Darum ist es in »Der große Gatsby« (The Great Gatsby, 1925) auch keineswegs genug, dass Gatsby einen Haufen Geld gemacht hat, um Daisy Buchanan zurückzugewinnen. Reich, wie er geworden ist, bleibt er gleichwohl »Herr Niemand aus Nirgendwo«, nicht Jay Gatsby, sondern Jimmy Gatz. Auf den Namenswechsel kommt es an. Man kann »Gatsby« als eine Geschichte über einen armen Jungen lesen, der es zu etwas bringt, das heißt einen Jungen, der reich wird: der sogenannte amerikanische Traum. Doch geht es in diesem Roman in Wahrheit nicht um jemanden, der viel Geld macht, sondern um einen, der zu ändern versucht, wer er ist – und scheitert. Oder genauer: um einen, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist; es geht um Jimmy Gatz, der vorgibt, Jay Gatsby zu sein. Wenn schließlich Daisy Buchanan sich von Jimmy Gatz deutlich unterscheidet, so nicht deshalb, weil sie reich ist und er nicht (denn am Ende ist auch er reich), sondern weil Fitzgerald sie beide so darstellt, als gehörten sie tatsächlich verschiedenen »Rassen« an: als ob arme Jungs, die viel Geld machen, nur als reich »durchgingen«. »Wir sind hier alle weiß«, wendet jemand ein, um Tom Buchanans rassistische Tiraden zu unterbrechen. Jimmy Gatz aber ist nicht weiß genug.

»Der große Gatsby«, das ist das Entscheidende, nimmt einen bestimmten Unterschied, den zwischen Reichen und Armen, und deutet ihn um in einen anderen Unterschied, nämlich den zwischen Weißen und Nicht-so-Weißen. Allgemeiner ausgedrückt: Bücher wie »Der große Gatsby«, und davon gibt es eine Menge, stellen uns die Gesellschaft als eine in »Rassen« und nicht in ökonomische Klassen geteilte vor. Diese Vorstellung ist außerordentlich attraktiv; so sehr, dass sie selbst das Verschwinden der Rassen, oder was wir einst dafür hielten, überdauert hat. In den 1920er Jahren stand die Rassenforschung in ihrer Blüte; heute glauben nur noch wenige Wissenschaftler, dass es etwas wie Rassen überhaupt gibt. Viele jedoch, die uns sogleich daran erinnern, dass es unter Menschen keine biologischen Wesen gibt, die als solche zu bezeichnen wären, machen uns ebenso geschwind darauf aufmerksam, dass »Rassen« darum keineswegs verschwunden seien; sie sollen statt dessen nunmehr als soziale Wesen verstanden werden. Und diese wiederum erweisen sich als bemerkenswert hartnäckig, und zwar sowohl in einer Weise, die wir für schlecht, als auch in einer, die wir für gut halten. Schlecht ist der Rassismus, die Unfähigkeit oder Ablehnung, Menschen zu akzeptieren, die sich von uns unterscheiden. Gut das genaue Gegenteil: nämlich den Unterschied bereitwillig anzunehmen und zu feiern, was wir heute Diversität nennen.

In den Vereinigten Staaten ist das Engagement für Diversität aus dem Kampf gegen Rassismus hervorgegangen. Das Wort selbst gewann seine uns heute geläufige Bedeutung 1978, als der Oberste Gerichtshof in dem Verfahren Allan Bakke gegen die Universität von Kalifornien29 entschied, die Berücksichtigung der ethnischen Herkunft eines Bewerbers um einen Studienplatz (in diesem Fall an der medizinischen Fakultät der UC Davis) sei akzeptabel, wenn sie »dem Interesse der Diversität« diene. Auf die Begründung des Gerichts kommt es an. Denn der Beschluss lautete nicht, dass bei der Zulassung etwa schwarze Menschen zu bevorzugen seien, weil sie zuvor diskriminiert worden waren. Statt dessen hieß es, die Universitäten hätten ein berechtigtes Interesse daran, die ethnische Zugehörigkeit eines Bewerbers ebenso in Betracht zu ziehen wie dessen Herkunftsort oder andere außerakademische Belange. Sie hätten, mit anderen Worten, ein berechtigtes Interesse an einer »vielfältigen Studentenschaft«, und ethnische Vielfalt – das heißt Diversität – könne ebenso wie geographische Vielfalt als Ziel ihrer Zulassungspolitik akzeptiert werden.

Zwei Dinge sind dort geschehen. Erstens wurde der Begriff der Diversität mit dem der Rasse, mit dem er ursprünglich nichts zu tun hatte (die Universitäten hatten sich lange schon um eine vielfältige Studentenschaft bemüht, ohne sich dabei um »Rassen« zu kümmern), fortan fest verbunden. Wenn Universitäten heute ihre Diversitätsstatistiken veröffentlichen, ist nicht mehr davon die Rede, wie viele Kinder aus Oregon kommen. Meine Universität, die von Illinois in Chicago, steht als eine der vielfältigsten des Landes da, doch weit mehr als die Hälfte ihrer Studenten kommen aus Chicago. Entscheidend ist die Zahl der Afroamerikaner, der asiatischen Amerikaner und der Latinos, die wir haben, nicht die der Studenten aus Chicago.

Zweitens wurde das Engagement für Diversität, obschon man den Begriff als eine Art Ausweichmanöver im Kampf gegen Rassismus eingeführt hatte (denn hauptsächlich ging es darum, dass man eine vielfältige Studentenschaft für wünschenswert erklären konnte, ohne auf die Geschichte der Diskriminierung von Schwarzen einzugehen, um nicht von Leuten wie Allan Bakke der umgekehrten Diskriminierung von Weißen angeklagt zu werden), ebenso fest mit dem Kampf gegen Rassismus verbunden. Das Ziel, Rassismus zu überwinden, das man einst mit der Schaffung einer »farbenblinden« Gesellschaft erreichen zu können glaubte, wurde neu bestimmt: Geschaffen werden soll nunmehr eine diverse, das heißt farbenbewusste Gesellschaft.30 Statt zu versuchen, Menschen so zu behandeln, als spiele ihre Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle, sollen wir ihre dadurch bestimmte Identität nicht nur anerkennen, sondern geradezu feiern. Tatsächlich hat sich »Rasse« als Einstiegsdroge aller möglichen Arten von Identität erwiesen: kultureller, religiöser, sexueller, ja selbst medizinischer. Um einen dem Anschein nach extremen Fall zu nennen: Fürsprecher behinderter Menschen fordern, wir sollten uns Behinderung nicht länger als einen Zustand vorstellen, der »geheilt« oder »überwunden« werden könnte, sondern sie wie eine »Rasse« begreifen. Da wir ja auch nicht glauben, Schwarze wollten aufhören, schwarz zu sein, warum glauben wir dann, Gehörlose wollten hören?31

Unser Engagement für Diversität verlangt, ganz allgemein, den Widerstand gegen Diskriminierung als Wertschätzung (nicht Abschaffung) des Unterschieds neu zu bestimmen. Was den Begriff der Rasse betrifft, so geht es nicht mehr nur darum, dass Rassismus schlecht ist (was er natürlich ist), sondern dass »Rasse« selbst etwas Gutes sei. In der Tat sind wir ihren Reizen dermaßen erlegen, dass unsere Begeisterung für derlei Identitäten sich durch wissenschaftliche Zweifel, ob es etwas wie Rassen überhaupt gibt, nicht im mindesten beeinträchtigen lässt. Kaum haben die Studenten meines Seminars über amerikanische Literatur einen Kurs in Humangenetik belegt, hören sie auf, über schwarze, weiße und asiatische »Rassen« zu reden, und fangen statt dessen an, über schwarze, europäische und asiatische Kulturen zu reden. Wir lieben das Konzept der Rasse, und wir lieben die Identitäten, die es hervorgebracht hat.

In diesem Buch soll vor allem erklärt werden, warum das so ist. In seiner schlichtesten Fassung lautet das Argument, dass wir Identitäten lieben, weil wir Klassen nicht lieben.32 Wir lieben den Gedanken, dass die Unterschiede, die uns trennen, nicht solche zwischen denen sind, die Geld haben, und denen, die keines haben, sondern zwischen denen, die schwarz, und denen, die weiß, asiatisch, hispanisch oder was auch immer sind. Eine Welt, in der einige von uns nicht genug Geld haben, ist eine, in der die Unterschiede zwischen uns ein Problem darstellen: die Nötigung nämlich, die Ungleichheit abzuschaffen oder sie zu rechtfertigen. Eine Welt, in der einige von uns schwarz und andere weiß sind – oder gemischt, indigen oder transgeschlechtlich –, ist eine, in der die Unterschiede zwischen uns bereits eine Lösung darstellen: die Wertschätzung unserer Diversität. Also sprechen wir lieber über die Unterschiede, die wir gutheißen können, und nicht über die, die wir nicht gutheißen können. Wir möchten sogar, was die letzteren betrifft, nicht einmal anerkennen, dass sie bestehen. Wie eine Umfrage nach der anderen zeigt, begreifen Amerikaner sich nur widerwillig als Angehörige der Unterschicht und noch weniger gern als Angehörige der Oberschicht. Die Klasse, die wir mögen, ist die Mittelschicht.33

Dass wir alle uns gern derselben Klasse zugehörig fühlen, bedeutet natürlich nicht, dass wir tatsächlich derselben Klasse angehören. Denn das trifft offensichtlich – und in zunehmendem Maße – nicht zu. »Die letzten Jahrzehnte«, so steht im Economist zu lesen, »zeigen eine gewaltig zunehmende Ungleichheit in Amerika.«34 Die Reichen sind anders als Sie und ich, jedenfalls in der Hinsicht, dass sie reicher werden und wir nicht. Während es kaum überrascht, dass die meisten Reichen und ihre Apologeten auf der intellektuellen Rechten sich von dieser Entwicklung unbeeindruckt zeigen, ist es immerhin einigermaßen überraschend, dass die intellektuelle Linke es fertiggebracht hat, beinahe genauso unbeeindruckt zu bleiben. Sie spricht lieber über Themen wie Affirmative Action und gibt sich der Feier der Differenz hin, in Anbetracht zunehmender ökonomischer Ungleichheit betont sie beharrlich die Bedeutung kultureller Identität. Über dreißig Jahre, in denen die Kluft zwischen Reich und Arm angewachsen ist, hat man uns Respekt vor Identitäten abgenötigt – so als würde das Problem der Armut gelöst, wenn wir die Armen nur zu würdigen wüssten. Vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet, wollen die Armen zur Diversität aber gar nichts beitragen, sondern ihren Beitrag dazu verringern: Sie wollen nicht länger arm sein. Indem sie die Diversität des gesellschaftlichen Lebens in Amerika hochhält, akzeptiert die Linke auf ihre Art Armut und Ungleichheit.

Drei Ziele verfolge ich mit diesem Buch. Als erstes möchte ich zeigen, dass der uns geläufige Begriff kultureller Identität, der als Ablehnung von Rassismus und biologischem Essentialismus hinausposaunt wird, tatsächlich dem Konzept entspringt, das überwunden zu haben er sich rühmt, obwohl er es selbst aufrechterhält. Zweitens soll gezeigt werden, wie und warum die amerikanische Liebesaffäre mit der »Rasse« fortdauert und sogar noch inniger wird. Fast alles, was wir über Kultur sagen (dass die bedeutenden Unterschiede zwischen uns kulturell seien; dass diese Unterschiede respektiert werden sollten; dass unser jeweiliges kulturelles Erbe erhalten werden sollte; dass es wichtig sei, das Überleben unterschiedlicher Kulturen zu sichern), scheint mir falsch, und dieses Buch versucht zu erklären, warum. Drittens schließlich möchte ich dazu beitragen, das politische Terrain des geistigen Lebens in Amerika heute zu verändern, indem ich die Aufmerksamkeit von kultureller Diversität auf ökonomische Gleichheit lenke.

Im letzten Jahr kam es mir manchmal so vor, als sei dieses Terrain tatsächlich schon im Begriff, sich zu ändern; zumindest sah es so aus, als gebe es ein neues Interesse an dem Problem ökonomischer Ungleichheit. Verschiedene Zeitungen brachten Artikelserien über wachsende Ungleichheit und den Verfall der Klassenmobilität. Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass der amerikanische Traum im Stile Gatsbys – ein armer Junge bringt es zu etwas und kauft schöne, schöne Hemden – nun wahrscheinlich besser in Schweden als in Amerika verwirklicht werden könnte und ebensogut wie hier in Westeuropa (das heißt: nicht sehr gut). Wenn jemand wie der New York Times-Kolumnist David Brooks mit Genugtuung beobachtet, dass, was er für das »Gangsta«-Gebaren junger schwarzer Randalierer in französischen Vorstädten hält, sich von dem entsprechenden Verhalten in den Vereinigten Staaten unterscheide, weil hier »der Gangsta-Fan an einem College oder in einer juristischen Fakultät landet«, wohingegen drüben »in Frankreich die Aufstiegsbarrieren höher sind«, hat seine eigene Zeitung seinen Irrtum bereits eingeräumt. Der New York Times zufolge ist es nämlich »eine überraschende Tatsache, dass die Mobilität in den Vereinigten Staaten nicht höher ist als in Großbritannien oder Frankreich.«35 Die Leute merken allmählich auch, dass das starke Interesse am Wettlauf der Studenten an unseren Universitäten mit der mehr oder minder vollkommenen Gleichgültigkeit gegen ihren Wohlstand zusammenfällt. Wir erreichen bald den Punkt, an dem mehr schwarze als arme Menschen an Elite-Universitäten studieren (obschon dort noch immer herzlich wenige schwarze Menschen studieren). Der Hurrikan Katrina – mit den Fernsehbildern von Leuten, die in einem überfluteten New Orleans sich selbst überlassen blieben – erinnerte uns daran, dass es noch immer Arme in Amerika gibt, und er gab uns zugleich eine Vorstellung von den Folgen dieser Armut.

Indessen gibt sich die Auffassung dieser Probleme eher als Symptom denn als wirkliche Diagnose zu erkennen. In der Artikelserie »Class Matters« der New York Times zum Beispiel wurden als die gravierendsten Klassenunterschiede die zwischen Reichen und wirklich Reichen herausgestellt, Unterschiede zwischen neuen und alten Reichen sowie solche zwischen Reichen, die sich entschieden haben, Geld zu sparen, indem sie bei Costco36 einkaufen, und solchen, die Geld sparen müssen, um bei Chanel einzukaufen. An einem bestimmten Punkt dieser Serie fing die New York Times an, Klassen nicht mehr als ein Thema zu behandeln, über das man zusätzlich zu (geschweige denn anstelle von) »Rassen« sprechen könnte, sondern selbst als eine Art von »Rassen«, als ob Reiche und Arme wirklich, wie Fitzgerald glaubte, unterschiedliche »Rassen« seien und als ob die gelegentliche Heirat zwischen ihnen eine Art »Mischehe« darstelle. Was bloß noch fehlte, war ein Bericht über die Kinder solcher Wohlstandsmischehen, die sich halb reich, halb arm einer Welt gegenübersehen, in der sie keinen rechten Platz finden können. Und tatsächlich präsentierte die New York Times in einem ihrer biographischen Profile einen (der seltenen) Menschen, der sich eine Klasse aufwärts bewegt hatte, indem sie dessen missliche Lage mit all dem Pathos einer Geschichte darstellte (hin- und hergerissen zwischen den Welten und in keiner ganz zu Hause), wie man sie in der amerikanischen Literatur zuhauf findet, seit die erste tragische Mulattin sich nirgends heimisch fühlte. Die Amerikaner mögen Geschichten, in denen das große Problem darin besteht, ob man dazugehört oder nicht. Wenn einmal ein armer Mensch es in die Mittelschicht geschafft hat, kommt es einem so vor, als wäre ein hellhäutiger Mensch in eine dunkelhäutige Familie geboren worden – zu weiß, um schwarz zu sein, und zu schwarz, um weiß zu sein; oder, unsere allerliebste Geschichte, als wäre er das Kind von Einwanderern, das zwei unterschiedlichen Kulturen verpflichtet ist.

Klassen aber sind, wie ich zeigen möchte, nicht wie Ethnien und Kulturen: Sie wie solche zu behandeln – verschieden und doch gleich –, darin besteht eine der Strategien der Verwaltung, nicht etwa der Verringerung oder gar Abschaffung der Ungleichheit. Weiß ist nicht besser als Schwarz, aber Reich ist ganz bestimmt besser als Arm. An Elite-Universitäten sind arme Leute eine gefährdete Art, nicht weil die Universitäten ihnen Quoten auferlegen (wie dazumal den Juden), und nicht einmal deshalb, weil sie es sich nicht leisten könnten, dort zu studieren (die Universität Harvard würde ihnen das nötige Geld schon leihen oder sogar schenken), sondern weil sie gar nicht erst so weit kommen. Daher die Vergeblichkeit der meisten Vorschläge, was gegen den systematischen Ausschluss armer Menschen (tatsächlich von drei Vierteln der Bevölkerung) von den Elite-Universitäten zu tun sei; darunter Ideen zu mehr finanzieller Hilfe für Studenten, die sich die hohen Studiengebühren nicht leisten können, und zur Unterstützung einiger armer Studenten, die es ohnedies dorthin schaffen, sowie ganz allgemein der Versuch, das »kulturelle Kapital« der Armen aufzustocken. Heute, sagt David Brooks (der unbeschadet seiner Horatio-Alger-Phantasien über »Gangstas« in juristischen Fakultäten die Vorherrschaft reicher Kinder allmählich bemerkt), »beuten die Reichen die Armen nicht aus, sie schlagen sie einfach aus dem Feld.«37

Wenn aus dem Feld schlagen heißt, dass man ihnen die Füße zusammenbindet und zusätzliches Gewicht auflädt, während man selbst die teuersten Trainer und das beste Übungsgelände anmietet, hat er recht. Das gesamte Bildungssystem der USA ist von Anfang an, von der Vorschule aufwärts, darauf angelegt, dass die Reichen die Armen aus dem Feld schlagen, was bedeutet: Das Rennen ist verschoben. Vorschläge, wie man wirklich etwas ändern könnte – jeden Schulbezirk gleich finanzieren, Privatschulen abschaffen, jeder Familie eine Kinderbetreuung von hoher Qualität zugänglich machen – werden abgetan, als wären sie absolut unamerikanisch.

Höchst erhellend für unsere Zwecke ist allerdings die Antwort auf Katrina, insbesondere die Antwort der Linken, nicht die der David-Brooks-Rechten. »Seien wir ehrlich«, sagte Cornel West seinen Zuhörern im Paul Robeson Student Center an der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey), »wir erleben einen der düstersten Momente in der Geschichte der Schwarzen dieser Nation.« »Sehen Sie sich den Superdome an«, fuhr er fort, das sei »eine Hölle auf Erden für schwarze Menschen. Es ist kein großer Schritt vom Rumpf eines Sklavenschiffes zur Hölle auf Erden des Superdome.«38 Dies wäre die »George Bush kümmert sich nicht um Schwarze«-Interpretation des Versagens der Regierung vor der Katastrophe zu nennen. Niemand zwar bezweifelt, dass George Bush sich um Condoleezza Rice39 kümmert, die durchaus schwarz ist und gern darauf hinweist, dass sie seit ihrer Geburt schwarz ist. Und da gibt es natürlich noch etliche andere Schwarze – wie Clarence Thomas, Thomas Sowell, Janice Rogers Brown und, zumindest irgendwann einmal, Colin Powell40 –, für die George Bush bestimmt etwas empfindet. Die amerikanischen Liberalen aber wollen, dass unsere Konservativen Rassisten sind. Wir wollen, dass die Schwarzen, um die George Bush sich kümmert, »Einige meiner besten Freunde sind schwarz«-Schwarze sind. Wir wollen lieber einen fiktiven George Bush, der sich nicht um schwarze Menschen kümmert, als den George Bush, den wir wirklich haben, nämlich einen, der sich nicht um arme Menschen kümmert.

Wenngleich man das so wiederum nicht sagen kann. Zunächst einmal deshalb, weil George Bush, soviel ich weiß, sich durchaus um arme Menschen kümmert; zumindest kümmert er sich so sehr um sie wie jeder andere auch. Worum er sich nicht kümmert – und worum Bill Clinton, nach seinen acht Jahren im Amt zu urteilen, sich ebensowenig kümmerte, worum auch John Kerry, nach seinem Präsidentschaftswahlkampf [2004] zu urteilen, sich nicht kümmert und worum wir auf der sogenannten Linken, die wir John Kerry bereitwillig als Alternative zu George Bush zu akzeptieren, uns ebenfalls nicht kümmern –, ist, irgend etwas zu unternehmen, damit die Armen nicht länger arm bleiben. Wir würden eher den Rassismus als die Armut loswerden. Und lieber feiern wir kulturelle Diversität, als zu versuchen, ökonomische Gleichheit herzustellen.