Der Unfreihandel - Petra Pinzler - E-Book

Der Unfreihandel E-Book

Petra Pinzler

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Beschreibung

Mehr Freihandel, das bedeutete früher mehr Mangos, mehr Handys - mehr Wohlstand. Zumindest im Westen. Doch heute erleben wir etwas Neues. Abkommen wie CETA, TTIP, TISA sollen längst nicht mehr nur ein paar Zölle senken: Die Regeln der Weltwirtschaft werden gerade umgeschrieben - zugunsten von Konzernen und Kanzleien. Hart erkämpfte Umweltstandards und soziale Errungenschaften werden zu unerwünschten Handelshemmnissen umdefiniert und die Privatisierung von öffentlichem Eigentum wird unumkehrbar gemacht. Sogenannte Schiedsgerichte sollen all das absichern, indem sie unanfechtbare Urteile gegen Staaten fällen, deren Gesetze angeblich den Handel hemmen. Solche Gerichte gibt es heute schon - und dazu eine exklusive Clique von Wirtschaftsanwälten, die daraus ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft gemacht hat. Aber jetzt soll diese Paralleljustiz endgültig globalisiert werden, und zwar mit Hilfe der Europäischen Union – und der Handelsverträge mit Nordamerika. Möglich wurde all das, weil in den vergangenen Jahren ein internationales Schattenregime entstand. Weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit haben Handelspolitiker und Lobbyisten ihr eigenes Regelwerk entwickelt. Wie konnte es so weit kommen? Gibt es noch eine Chance, die Handelspolitiker wieder einzufangen? Mit sicherer Hand entwirrt Petra Pinzler ein scheinbar unlösbares Knäuel aus Strukturen und Interessen und macht das ganze Ausmaß des Problems erst sichtbar und verstehbar.

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Petra Pinzler

Der Unfreihandel

Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Mehr Freihandel, das bedeutete früher mehr Mangos, mehr Handys - mehr Wohlstand. Zumindest im Westen. Doch heute erleben wir etwas Neues. Abkommen wie CETA, TTIP, TISA sollen längst nicht mehr nur ein paar Zölle senken: Die Regeln der Weltwirtschaft werden gerade umgeschrieben - zugunsten von Konzernen und Kanzleien. Hart erkämpfte Umweltstandards und soziale Errungenschaften werden zu unerwünschten Handelshemmnissen umdefiniert und die Privatisierung von öffentlichem Eigentum wird unumkehrbar gemacht.

Sogenannte Schiedsgerichte sollen all das absichern, indem sie unanfechtbare Urteile gegen Staaten fällen, deren Gesetze angeblich den Handel hemmen. Solche Gerichte gibt es heute schon - und dazu eine exklusive Clique von Wirtschaftsanwälten, die daraus ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft gemacht hat. Aber jetzt soll diese Paralleljustiz endgültig globalisiert werden, und zwar mit Hilfe der Europäischen Union – und der Handelsverträge mit Nordamerika.

Über Petra Pinzler

Inhaltsübersicht

MottoEinleitung:«Globalisierung macht reich» – aber wen?Wer verhandelt da eigentlich – und für wen?Die Erde ist nicht flach – noch nichtGATT, GATS und andere KürzelDie Privatisierung der WeltWarum TTIP? Darum!Wie Handelsabkommen wirken1. Wozu Gewerkschaften – geht doch billiger ohne2. Wozu Kulturförderung – geht doch auch ohne3. Delphine, Öl und irre Urteile: Wie der Umweltschutz zum Handelshemmnis umdefiniert wurdeDer schöne Schein obskurer ZahlenHormonsteaks, Armaturen und zwei WeltordnungenWenn das Geschäft das Recht diktiertAbsurd, absurder, EuropaDas Regieren einfrierenSchiedsgerichte kann man reformierenUndurchsichtig, unwiderruflich, undemokratischDer Westen, seine Werte und der Welthandel«TTIP ist böse»Man kann Handelspolitik verbessern – man muss es nur wollen!Und was nun?DankLiteratur zum WeiterklickenGlossarNamenregister

«In einer Marktwirtschaft zu leben ist fast, wie Sprache zu nutzen. Es geht nicht gut ohne sie, aber es hängt viel davon ab, wie man sie verwendet.»

Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen

Einleitung:

Warum hinter Kürzeln manchmal Krimis stecken

Mit dem Welthandel ist es wie mit einer Waschmaschine. Solange sie läuft, will niemand wissen, wie sie funktioniert. Das Leben ist einfach zu kurz für solche Fragen. Die Lage ändert sich, wenn die Maschine komische Geräusche macht und die Hosen nicht mehr sauber werden. Die Störgeräusche, die mein Interesse wecken, rühren von Buchstabenkombinationen her, von Abkürzungen wie ISDS, CETA, TTIP und TISA. Sie alle stehen für Handelsabkommen, die die EU abschließen will – langweiliger, komplizierter Kram, wie ich anfangs dachte. Doch bei der Recherche entwickelte sich vor meinen Augen ein Krimi: Was die Handelspolitiker in den kommenden Jahren durchsetzen wollen, versteckt hinter diesen Kürzeln, wird unser Leben, unsere Umwelt und unsere Gesellschaft massiv beeinflussen. Offiziell geht es um Freihandel. Doch in Wahrheit sollen neue Zäune um das Eigentum von Konzernen gezogen werden. Und es soll privatisiert werden, was bislang noch allen gehört.

Keine Sorge, dieses Buch wird Sie nicht mit Verschwörungstheorien belästigen. Ich neige nicht zu Übertreibungen. Ich bin auch nicht gegen Handel, im Gegenteil. In der Vergangenheit habe ich viele Handelsabkommen begrüßt, mich gefreut, wenn T-Shirts, Bananen und Computer billiger wurden, weil die Zölle fielen. Ich habe es beklagt, wenn Bürokratien den Unternehmern das globale Geschäft schwer machten und die großen europäischen Agrarkonzerne auf Kosten der kleinen Bauern in Afrika subventioniert wurden. Ich war immer für freien und fairen Handel, wobei die Betonung auf frei und fair liegt. Bei meiner Recherche zu den vielen Vier-Buchstaben-Abkommen bin ich jedoch auf bizarre Geschichten, Absurditäten und verblüffenden Etikettenschwindel gestoßen. Da geht es offiziell um Freihandel, in Wahrheit aber um ganz anderes. Ich werde Ihnen berichten, warum sich Regierungen nicht mehr trauen, sinnvolle Gesetze zu verabschieden, ich werde von gefährdeten Küsten, Walen und Milliardenklagen um Patente erzählen und erklären, warum die Stadt Hamburg der Firma Vattenfall erlauben musste, das Wasser der Elbe zu erwärmen. Jedenfalls fürs Erste.

«Die wirklich wichtigen Entscheidungen werden in Gremien gefällt, die keiner kennt», soll der ehemalige FDP-Politiker, Außenminister und Bundespräsident Walter Scheel einmal gesagt haben. Für den Freihandel gilt das erschreckend oft. So manches, was ich lernen musste, hätte ich nicht für möglich gehalten. Beispielsweise, wie große Konzerne heimlich die Verhandlungen der Regierungen dazu nutzen, unmittelbar oder mittelbar ihre Gewinne um Hunderte von Millionen Euro oder Dollar zu steigern. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs nennt das, was wir gerade erleben, eine Globalisierung, die «von einem Prozent der Weltbevölkerung für ein Prozent betrieben wird».

Doch das eigentliche Problem sind nicht irgendwelche «bösen» Konzerne. Natürlich gehören zu den Gewinnern des Welthandels große Teile der internationalen Wirtschaftselite: weil sie billiger produzieren, das Spiel besser beherrschen als andere, weil sie sich mehr (und teurere) Anwälte leisten können und ihre Lobbyisten die Hintertüren der Regierungen kennen oder gleich die Handynummern der Minister. Viel problematischer aber ist etwas anderes: dass die politischen Eliten es stillschweigend billigen, weil Freihandel – oder das, was die Konzerne darunter verstehen – für sie zum Mantra geworden ist und sie deshalb nicht mehr so genau hinschauen, was sich inzwischen dahinter verbirgt und wem es wirklich nützt. Weil sie den Etikettenschwindel nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.

Es gibt Sätze, die man zu Recht nicht in Frage stellt. «Sport ist gesund», ist so einer. Selbst wenn die Regel für den Einzelnen nicht immer stimmt, hat sie sich doch oft genug als richtig erwiesen. Leute, die sich bewegen, sind gesünder als Faulpelze. Meistens jedenfalls. Doch was ist mit der Behauptung, Handel mache reich und noch mehr davon noch reicher? Die wiederholen Politiker, Ökonomen und Unternehmer gern in immer neuen Varianten und verweisen dann auf das Erfahrungswissen: Der Warenaustausch mit anderen Ländern habe die Innovationskraft der Unternehmer angeregt, offene Länder seien interessanter, verrückter, wohlhabender. Ist nicht Deutschland an sich ein schlagendes Beispiel dafür? Wenn wir unsere Maschinen nicht in die ganze Welt verkaufen könnten, ginge es uns schlechter. Das zeigt, wie gut es wäre, auch künftig Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Was ist an dieser Behauptung richtig und was falsch? Ich habe nach den heimlichen Strategien der Gewinner der Globalisierung gesucht und bin der Frage nachgegangen, was daraus folgt. Denn selbst, wenn wir in der Vergangenheit durch eine bestimmte Strategie reich geworden sind, muss das ja nicht automatisch für die Zukunft gelten. Vor allem, wenn neue, ganz andere Regeln gesetzt werden sollen. Außerdem: Wer ist eigentlich dieses «Wir»? Wer gewinnt durch Handel, wer trägt die Kosten: die Deutschen, die Unternehmer, die Arbeitnehmer, die Verbraucher, die Kinder?

Zum ersten Mal stellen sich in diesem Land sehr viele Menschen diese Fragen. Niemals zuvor gab es in Deutschland so viel Unsicherheit, so viel Protest wegen eines geplanten Freihandelsabkommens wie heute. Seit die Europäische Union (EU) das TTIP-Abkommen mit den USA verhandelt, versiegt bei vielen Bürgern der naive Glaube, dass, was in der Vergangenheit richtig war, auch für die Zukunft noch gilt. Da protestieren nicht nur die üblichen Verdächtigen. Da sorgen sich Orchestermusiker um ihre Zukunft, Landräte und mittelständische Unternehmer.

Mit Recht. Denn die Medizin, die in den vergangenen Jahrzehnten gut gewirkt hat, wird in zu hoher Konzentration gefährlich. Ärzte kennen die Wirkung der Überdosierung gut. Ganz ähnliche Phänomene haben die Banker erlebt. Pumpt die Zentralbank Geld in die Wirtschaft, kann sie die ankurbeln. Übertreibt sie es, verpufft der Effekt und schlägt sogar ins Gegenteil um. Er schadet. Auf diesen Punkt bewegt sich Handelspolitik zu. Durch die Abkommen, die die EU will: TTIP mit den USA, CETA mit Kanada und TISA, das gleich mit 23 anderen Staaten abgeschlossen werden soll.

All diese Abkommen werden den Schutz der Umwelt erschweren, den Spielraum der Kommunen verringern, die soziale Sicherheit gefährden. Sie werden das auf den folgenden Seiten anhand vieler, sehr konkreter Beispiele dokumentiert finden. Sie werden Geschichten von Fröschen, Cowboys oder Spermien lesen – und was sie mit der Handelspolitik, mit TTIP und TISA zu tun haben. Der Einwand, dass man, weil es diese besonders umstrittenen Verträge ja noch gar nicht gebe, auch gar nichts über ihre Folgen sagen könne, stimmt nicht. Es existieren ja bereits Vorschläge der EU und auch ältere Verträge, auf die aufgebaut wird. Denn das, was derzeit verhandelt wird, ist ja nur die Spitze des Eisberges. Sie werden deswegen in diesem Buch auch die Vorgänger und ihre sehr konkreten Folgen beschrieben finden.

Tatsächlich können uns nämlich auch Abkommen, die längst in Kraft sind und von denen die meisten noch nie etwas gehört haben, schon bald Schadensersatz in Milliardenhöhe kosten: beispielsweise die Europäische Energiecharta. Möglich wird das durch ISDS. Diese vier Buchstaben stehen für «investor-state dispute settlement» und damit für eines der irrsten Projekte der modernen Zeit: Es ist der Versuch von Anwaltskanzleien und großen Konzernen, rund um die Welt ein rechtliches Netzwerk zu spannen, durch das sie Staaten vor Schiedsstellen auf milliardenschweren Schadensersatz verklagen können. Das passiert schon jetzt immer häufiger, und die Summen, um die es geht, werden immer höher. Noch ist Deutschland davon weitgehend verschont geblieben. Deswegen werden Sie lesen können, was heute schon in anderen Ländern passiert, die uns einen Schritt voraus sind – auf dem Weg in die schöne neue Welt des vermeintlichen Freihandels.

 

Kanada wurde im Frühjahr 2015 zu 300 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt, weil seine Bürger in der Fundy-Bucht in Neuschottland keinen Steinbruch wollten. Die Grundlage dafür bietet das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA. Die Neuseeländer dürfen von ihren lokalen Radios nicht mehr verlangen, dass diese auch lokale Nachrichten senden müssen; das liegt am GATS-Vertrag. Und Uruguay braucht Finanzhilfen von Bill Gates, um sich die Anwälte leisten zu können, die es in Washington beschäftigen muss: Das Land wurde dort von der Zigarettenindustrie verklagt, weil es Warnhinweise auf Packungen hatte drucken lassen. Die juristische Rechtfertigung all dieser Fälle war jeweils ein Freihandelsvertrag. Es gibt noch viele solcher Fälle; manche sind derart absurd, dass man bei der Lektüre zugleich lachen und weinen möchte.

Doch die wirklich große und bislang völlig unterschätzte Gefahr der modernen Handelspolitik liegt woanders: Es ist die Einbahnstraße, in die sie Gesellschaften zwingt. Denn es gibt für Handelspolitiker und deren Abkommen immer nur eine Richtung: mehr Markt. Es öffnen sich durch TTIP und Co nicht nur «die Märkte» für die Unternehmer, wie Angela Merkel, Sigmar Gabriel und die EU-Kommissare so gern behaupten. Da werden in Wahrheit neue Regeln gemacht, die sich nicht mehr ändern lassen. Die schützen aber nicht die Bürger. Sie schützen das private Eigentum und die Rechte der Konzerne auf Kosten der Gesellschaften. Sie machen die Demokratie weltmarktkonform.

An dieser Stelle muss noch einmal betont werden: Liberalisierung ist nicht per se schlecht oder gut. Auch Privatisierung nicht oder dass Unternehmen Gewinne machen. Es kommt, wie so oft, auf das richtige Maß an. Gesellschaften sollten ausprobieren, was sie lieber staatlich und was sie lieber privat organisiert sehen. Frankreich hatte beispielsweise lange kein Problem damit, dass die Wasserversorgung in privater Hand ist. Hierzulande wollen wir unsere öffentlichen Stadtwerke nicht zwangsprivatisiert sehen. Solche kulturellen Unterschiede waren bisher kein Problem, im Gegenteil. Sie sind Ausdruck von Vielfalt. Außerdem konnten öffentliche Diskussionen und Wahlen oft ganz gut klären, was die Bürger wollten – und schlechte Entscheidungen korrigiert werden. Berlin hat seine Wasserversorgung wieder in städtischen Besitz genommen, denn unter dem privaten Besitzer waren die Preise enorm gestiegen. Und Paris auch.

Freihandelsverträge sollen so etwas verhindern. Viele schreiben schon jetzt vor, dass Liberalisierungsschritte, die ein Land gegangen ist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Durch die Sperrklinken-Regel. Von der haben Sie wahrscheinlich noch nichts gehört, ich bis vor kurzem auch nicht. Sie gehört zum Repertoire der Freihändler, wird gern in Verträge geschrieben und macht es, verbunden mit einer Reihe anderer Regeln, Regierungen unmöglich, die Öffnung von Märkten wieder rückgängig zu machen. Damit wird es aber auch unmöglich, dass Politiker aus den Fehlern ihrer Vorgänger lernen. Die ehemalige Bundes-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin hat auf diese Gefahr wiederholt hingewiesen und irgendwann zornig hinzugefügt: «Ich bin nicht für die europäische Integration und dafür, unsere Rechte abzugeben, um dann beobachten zu müssen, wie ein paar Bürokraten aus Brüssel sie missbrauchen.» Die Sozialdemokratin war immer eine überzeugte Europäerin und auch eine Anhängerin der Integration. Wenn sie so etwas sagt, dann hat das Gewicht. Und es beschreibt eine traurige Realität. Die Handelspolitiker und Bürokraten sind heute die Schlüsselfiguren des globalen Kapitalismus.

Und auch das ist ein trauriger Teil der Freihandelssaga: Sie wird betrieben von Eliten, im Namen von uns Bürgern – ohne dass wir jemals gefragt wurden, ob wir das so wollen. Dieses Buch erklärt, wie es so weit kommen konnte. Es schaut hinter die Kulissen und zeigt die Leute, die hinter all dem stecken. Wer etwas dagegen tut. Und es zeigt, wie Alternativen aussehen könnten. Denn es gibt sie.

«Globalisierung macht reich» – aber wen?

Vom Nutzen und Schaden des Handels

Dani Rodrik, Professor an der Universität in Princeton, war von Kollegen zu einem Vortrag an die Harvard University eingeladen worden. Er sollte dort vor Studenten reden. Die Gruppe bestehe überwiegend aus Freihandelsfans, hatte man ihn vorher gewarnt. Bei einer Probeabstimmung seien 90 Prozent von ihnen für die Streichung von Zöllen und anderen Hindernissen für den Export und Import gewesen. Rodrik fand das wenig überraschend, denn er wusste seit langem: Je gebildeter Menschen sind, desto eher sind sie für den Freihandel.

Rodrik machte mit den Studenten das folgende Experiment. Er suchte sich zwei Freiwillige, Nicholas und John, und erklärte ihnen, er beherrsche einen magischen Trick. Er könne 200 Dollar von Nicholas’ Konto verschwinden und im gleichen Moment 300 Dollar auf Johns Konto erscheinen lassen. Gemeinsam seien die beiden also 100 Dollar reicher als zuvor. Dann fragte er in die Runde, wer für das Experiment sei.

Viele zögerten. Die meisten waren schließlich dagegen. Die Operation widersprach ihrem Gerechtigkeitsgefühl, immerhin würde ja einer ganz willkürlich ärmer und der andere reicher. Als Rodrik dann behauptete, genau dies geschehe durch den Abschluss neuer Freihandelsabkommen, auch sie verteilten Einkommen mitunter willkürlich um, fanden die Studenten das erstaunlich und wenig glaubhaft. Darüber hatten sie noch nie nachgedacht. Darüber denken auch die meisten Ökonomen nicht nach. Politiker ebenso wenig.

Ganz lässig sagte die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström 2015 in einem Interview in der ZEIT über das geplante europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen: «Die exportorientierten Branchen werden stärker profitieren. Und manche EU-Länder werden mehr von TTIP haben als andere. Deutschland wird wahrscheinlich zu den Gewinnern gehören.» Sie formulierte ihre Sätze so, als müsse man dieses Ergebnis einfach schicksalsergeben hinnehmen. Weil es fair sei. So, als ob die Umverteilung das gerechte Resultat eines gerechten Prozesses sei, bei dem eben die Besseren gewinnen. So sehen das viele, oberflächlich betrachtet scheint es auch richtig.

Rodrik demonstrierte das seinen Studenten, indem er ihnen folgende Frage stellte: Was wäre, wenn John um 300 Dollar reicher würde, weil er härter gearbeitet und besser investiert hat und deswegen die besseren Produkte als die Konkurrenz anbieten könnte? Nicholas würde dann, so die Annahme, um 200 Dollar ärmer, weil er weniger verkaufen könnte. Alle Studenten fanden das in Ordnung. Sogar der arme Nicholas. Rodrik trieb das Spiel noch ein Stückchen weiter und brachte den Welthandel ins Spiel. Was wäre, wenn John nur deshalb besser anbieten könnte, weil er seine Produktion nach Bangladesch verlagert, wo Näherinnen kaum Rechte haben und für einen Hungerlohn arbeiten? Oder weil er in Vietnam Kinder beschäftigt?

«Um beurteilen zu können, ob wir Umverteilung fair finden, müssen wir die Bedingungen kennen, unter denen sie möglich wurde», so Rodrik. Wir fänden es ziemlich in Ordnung, wenn Leute reich würden, weil sie härter arbeiten oder etwas Neues erfunden haben. Gerade die Folgen neuer Technologien akzeptieren wir sogar oft bereitwillig, weil wir darauf hoffen, dass sie die Gesellschaft als Ganzes langfristig weiterbringen. Sensibel sind wir aber, wenn gegen ethische Prinzipien verstoßen wird. Das interessiert und berührt uns, inzwischen selbst dann, wenn es nicht im eigenen Land passiert. Rodrik findet das auch richtig: Wenn wir zu Hause Kinderarbeit ablehnen, warum sollten wir dann Produkte kaufen, die in anderen Ländern von Kindern hergestellt werden? Zumal deren Herstellung vielleicht auch noch Arbeitsplätze bei uns vernichtet.

Am Ende der Stunde war den Studenten eines klar: Welthandel ist nicht automatisch fair. Er verteilt Einkommen um. Er sorgt bei den einen für mehr Wohlstand und macht andere arm. Ob man das in Ordnung findet, hängt sehr von den Umständen und den Regeln ab. Deshalb ist die Aussage der EU-Kommissarin Malmström, Deutschland werde durch TTIP reicher, ziemlich oberflächlich. «Deutschland» ist ein ziemlich großes Wort. Sollte sie nicht auch wissen, wer in Deutschland reicher wird, wer in Europa? Wo die Verlierer wohnen?

Welche Länder gewinnen und welche verlieren?

«Ich bin für Freihandel.» So begann der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman in den 80er Jahren einen Artikel, der in seiner Zunft großen Streit entfachte. Er trug den Titel: «Ist Freihandel passé?» Krugman schrieb darin, dass seit hundert Jahren das feste Bekenntnis zum Freihandel quasi der Beweis für die Professionalität eines Ökonomen sei. Um ernst genommen zu werden, müsse sich ein Profi dazu bekennen, dass der Abbau von Handelsschranken für eine Nation gut sei. Ohne Einschränkung.

Krugman aber wehrte sich gegen die Allgemeingültigkeit dieser Behauptung. Sie sei falsch und gehöre wie viele Theorien seiner Kollegen eher in den Bereich der Ideologie. Nicht immer sei es tatsächlich für Länder das Beste, bedingungslos alle Grenzen abzubauen. Manchmal könne es ihnen mehr nutzen, wenn ihre Regierungen strategische Handelspolitik betrieben, sich also gut überlegten, wann und wie sie liberalisieren und ob sie nicht bestimmte heimische Industrien fördern sollten. Freihandel sei besser als kein Handel, aber nicht unbedingt besser als eine kluge Intervention des Staates – so Krugmans Fazit. Er warnte allerdings zugleich, dass die langfristigen politischen Folgekosten der Intervention hoch sein könnten, wenn sich Subventionen durch sie hochschaukeln.

Der Artikel sorgte für Unruhe unter den Kollegen, auch weil Krugman bis zu dem Zeitpunkt als einer aus dem Club galt. Ein brillanter Denker, ein guter Mathematiker, ein überzeugter Freihändler, kurz, ein Ökonom, den man ernst nehmen musste und der dann ja auch im Jahr darauf den Nobelpreis gewann. Wie konnte ausgerechnet so einer Zweifel am Glaubensbekenntnis formulieren?

Heute schreibt der Mann als Kolumnist für die New York Times, und sein Blog ist weltweit bekannt. Er wehrt sich gegen vieles, was die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler richtig findet, und scheut dabei auch Zuspitzung und Polemik nicht. Das hat ihm heimlichen Neid und manchmal auch Verachtung bei Kollegen eingebracht: Pop-Ökonomen nennen sie Leute wie ihn, weil er so schreibt, dass viele Leute ihn verstehen. Krugman selbst nennt sich auch heute noch einen «bekennenden Freihändler». Trotzdem erlaubt er sich im Konkreten immer wieder Skepsis. Bei dem geplanten europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen TTIP ist er sogar ganz besonders skeptisch: «Meine Nackenhaare stellen sich auf, und mein Misstrauen wächst, wenn ich den Befürwortern zuhöre.»

 

Kann Freihandel im Allgemeinen gut und im Speziellen schlecht sein? Unzählige Studien aller möglichen Institutionen, seien es der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), scheinen eines klar und eindeutig zu belegen: Die Öffnung der Märkte hat in den vergangenen Jahrzehnten vielen Menschen und den meisten Ländern genützt. Sie brachte mehr Wachstum, mehr Wohlstand und Jobs. Länder, die ihre Grenzen geöffnet haben, sind wirtschaftlich meist schneller gewachsen als die abgeschotteten. Sie waren innovativer. Und die Lebensqualität vieler Bürger war höher. Die offeneren Volkswirtschaften waren die reicheren. Doch eines bleibt bei all den Jubelmeldungen unklar: Waren Länder ökonomisch erfolgreich, weil sie sich geöffnet haben – oder ist das Gegenteil richtig? Konnten sie es sich vielleicht leisten, ihre Märkte weiter zu öffnen, weil sie schon Erfolg hatten?

Schaut man genauer hin, dann wird die Wirklichkeit kompliziert – und interessanter. Die Zahlen belegen Folgendes: In den vergangenen Jahrzehnten nahm das globale Handelsvolumen schneller zu als die Weltwirtschaft. Von 1993 bis 2013 betrug das Wachstum des Handelsvolumens durchschnittlich 5,3 Prozent, das der Weltwirtschaft insgesamt lag gerade mal halb so hoch. Die Länder, die mehr exportierten, haben also tendenziell ein besseres Geschäft machen können als der Rest. Deutschland war da übrigens ganz vorn: Kein anderes Land hat so davon profitiert, dass es immer leichter wurde, Maschinen, Medizin und Autos weltweit zu verkaufen. Dass andere ihre Zölle senkten. Dass sie «Made in Germany» als Garantie für Qualität und Sicherheit akzeptieren. In Zahlen liest sich das so: Die deutsche Wirtschaft hat nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2014 Waren im Wert von 1133,6 Milliarden Euro ausgeführt. Das ist ein Rekord. Und es gibt einen weiteren: Nach einer Studie von McKinsey ist Deutschland nicht nur im Verkaufen gut. Wir sind stärker vernetzt ist als jedes andere Land der Welt.

Deutschland, so könnte man auch sagen, ist der Gewinner der Globalisierung. Der Erfolg ist in der jüngeren Vergangenheit besonders bemerkenswert, weil der globale Trend gegenläufig ist: Zwar steigt das Handelsvolumen weltweit immer noch – in absoluten Zahlen. Die Menschheit schickt also Jahr für Jahr mehr Waren um den Globus. Aber Import und Export wachsen nicht mehr viel schneller als die Weltwirtschaft allgemein. Ökonomen rätseln noch über die Gründe. Ob sich die 2:1-Relation – also die Regel, dass der Handel doppelt so schnell zunimmt wie das Einkommen – jemals wieder erreichen lasse, zweifelt beispielsweise die WTO in ihrem Jahresbericht 2015 an. Andere fragen sich, ob das Volumen des Welthandels möglicherweise seinen Höhepunkt erreicht hat, ob es ähnlich wie beim Wirtschaftswachstum einen Punkt geben kann, an dem eine weitere Steigerung unmöglich ist. Ob wir möglicherweise auf eine Welt zusteuern, in der nicht immer noch mehr Waren um den Globus gekarrt werden können, und welche Konsequenzen das haben wird. Einige wenige warnen, dass mehr Handel um jeden Preis heftige Nebenwirkungen hat. Der Umwelt schadet das «Immer mehr» nachweislich: Jedes neue Freihandelsabkommen hat den Ausstoß des klimaschädlichen CO2 weiter steigen lassen.

Doch noch tun die meisten Wirtschaftspolitiker so, als ob alles gut wird, wenn nur die Handelsströme wachsen. «Dabei zu helfen, dass Handelsströme so frei wie möglich fließen können, ist das alles überragende Prinzip unseres Systems», steht im schon zitierten WTO-Jahresbericht 2015. «Die Europäische Kommission strebt Freihandelsabkommen mit wichtigen Weltmärkten an, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und damit Wohlstand und Beschäftigung in Europa zu stärken», heißt es auf der Internetseite des deutschen Wirtschaftsministeriums. Und auf Schloss Elmau in Bayern bekräftigten im Juni 2015 Angela Merkel und die anderen Regierungschefs der G7: «Die Förderung des weltweiten Wirtschaftswachstums durch den Abbau von Handelsschranken bleibt unabdingbar.» Und dann folgt eine Liste der gerade fertigen oder noch geplanten Liberalisierungsabkommen: TISA, TPP, TTIP, CETA und EPA.

Bleiben zwei Fragen: Ist der Wohlstand tatsächlich durch Freihandelspolitik in die Welt, nach Europa und Deutschland gekommen? Und lässt er sich dadurch retten?

Die heimlichen Rezepte der Reichen

«Mit nur sehr wenigen Ausnahmen sind die meisten wohlhabenden Länder durch eine Kombination von Protektionismus, Subventionen und anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, von denen heute den Entwicklungsländern in der Regel abgeraten wird, reich geworden», schreibt Ha-Joon Chang in seinem Buch mit dem Titel «23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen». In englischsprachigen Ländern landete der Südkoreaner, der heute an der britischen Cambridge University lehrt, mit seinen Thesen einen Bestseller. Er bürstet in leichtem Ton vieles gegen den Strich und widerlegt so scheinbare ökonomische Gewissheiten. Doch Chang provoziert nicht um der Provokation willen. Er hat einfach die Geschichte analysiert, sich mit den Strategien der großen Wirtschaftsmächte beschäftigt und dabei erstaunt entdeckt, dass sich vieles, was die Mehrheit seiner Kollegen heute behauptet, historisch nicht belegen lässt. Sein Fazit lautet: «Freihandel hat nur wenige Länder reich gemacht, und er wird auch in Zukunft nur wenige reich machen.»

Der Wissenschaftler überrascht seine Leser mit der Beschreibung eines Landes: Dort verkaufen die politischen Parteien die Jobs im öffentlichen Dienst an die Meistbietenden. Die Mehrheit der Bürger wählt nicht, überall grassiert Korruption. Ausländische Investoren dürfen keine Banken besitzen. Das Urheberrecht existiert praktisch nicht, Monopole können unbeschränkt wachsen, und wer Waren aus dem Ausland importieren will, muss dafür hohe Zölle zahlen. Dann verrät Chang, dass das Land, um das es geht, die USA im Jahr 1880 sind, und belegt: Trotz all dieser ganz offensichtlichen Entwicklungshemmnisse ist die amerikanische Wirtschaft damals schneller gewachsen als die der meisten anderen Länder.

Nun würde Chang sicher nicht dafür plädieren, dass Bürger sich möglichst korrupte Politiker, gekaufte Ämter und verschlossene Grenzen leisten sollten. Er will aber ein paar Klischees untergraben, an die sich die meisten gewöhnt haben. Dieses historische Beispiel werde wahrscheinlich die meisten Leser verstören, schreibt Chang: Schließlich hören wir ständig, dass nur eine freie Marktwirtschaft dauerhaft Wohlstand schaffen könne. Weshalb neoliberale Ökonomen denn auch immer argumentierten: Die USA seien trotz einer solchen Politik erfolgreich gewesen, weil sie eben zusätzlich einen großen Binnenmarkt und kluge Migranten hatten. Beides sei zwar richtig, so der Wissenschaftler, aber nur ein Teil der Wahrheit. Auch andere, kleinere Länder ohne Bodenschätze, ohne großen Binnenmarkt und Einwanderer seien in jener Zeit reich geworden – obwohl sie lange die «falsche» Politik gemacht hätten. Dänemark oder Großbritannien beispielsweise. Großbritannien habe zu Beginn der Industrialisierung wenig Wert auf Patentrechte gelegt und stattdessen deutsche Ideen gestohlen. Es habe seine Textilindustrie durch hohe Zölle geschützt. Wirtschaftsliberal sei es erst 1860 geworden, als es technologisch an der Weltspitze stand. Dass sich dafür heute nur noch wenige seiner Kollegen interessieren wollen, erklärt Chang folgendermaßen: Die ökonomische Wissenschaft sei «ahistorisch» geworden. Sie habe die Analyse der Vergangenheit und der Wirklichkeit durch Mathematik ersetzt, durch theoretische Annahmen und Postulate.

Dabei seien Entwicklungsländer, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten neoliberale Rezepte besonders radikal umgesetzt und Schranken für Importe radikal und ohne staatliche Flankierung abgeschafft haben, damit nicht besonders gut gefahren. In Lateinamerika und den Ländern des südlichen Afrika lag die Wachstumsrate von 1980 bis 2009 bei 1,1 Prozent: Damals liberalisierten viele ihre Märkte freiwillig oder auf Druck der Weltbank stark. In den angeblich so schlechten alten Zeiten davor, als sie viel protektionistischer handelten, also in den 60er und 70er Jahren, betrug das Wachstum 3,1 Prozent.

Der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz hat sich nie gescheut, auch diesen Teil der Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Er hat sich lange und sehr konkret mit der Frage beschäftigt, was für die Entwicklung eines Landes nötig ist. Der Amerikaner war Chefökonom der Weltbank, kündigte jedoch in den 90er Jahren, als die Bank von den Entwicklungsländern verlangte, das komplette neoliberale Einmaleins umzusetzen: Abbau von sozialem Schutz, Privatisierung, die radikale Kürzung der Staatshaushalte, auch wenn deswegen Schulen und Krankenhäuser geschlossen werden mussten. Stiglitz fand, das sei genau der falsche Weg, und legte seine Schlussfolgerungen später in einem Buch mit dem Titel «Fair Trade» vor: Liberalisierung nützt danach vor allem denen, die vorne sind. Also dem Norden.

Die Erklärung ist einfach: Industrieländer konnten es sich wegen ihres technologischen Vorsprungs einfach früher als andere leisten, den Schutz für die heimische Wirtschaft abzubauen. Die wurde durch die Konkurrenz dann sogar stärker und gewann zugleich Kunden in der ganzen Welt. Die Regierungen konnten dann ihr Modell mit Hilfe der internationalen Organisationen als allgemeingültig vermarkten und die Entwicklungsländer drängen, ihre Grenzen auch zu öffnen und damit auf den Schutz der eigenen Industrie zu verzichten – auch wenn sie noch nicht reif dafür war. Chang nennt das «die Leiter wegstoßen» und fragt: «Verstecken die Reichen ganz bewusst die Rezepte, die bei ihnen erfolgreich waren, vor den Armen?»

Tatsächlich verschweigen viele Ökonomen gern, dass die Industrieländer ihre strategischen oder besonders sensiblen Branchen sehr lange ziemlich gut geschützt haben.

In den USA verbirgt sich die Scheinheiligkeit hinter der Zahl 8704.21. So lautet der Zolltarif für leichte Lastwagen, der dafür sorgt, dass ausländische Fahrzeuge an der Grenze mit 25 Prozent ihres Wertes verzollt werden müssen. Ein «Light Truck» kann in den USA vieles sein, die Definition ist sehr weit gefasst. Er muss nur eine der folgenden Eigenschaften haben: eine Ladefläche, die größer ist als die Fläche für die Passagiere; Sitze, die entfernt werden können; Allradantrieb oder Platz für mehr als zehn Leute. Die amerikanische Autoindustrie hat das übrigens ausgenutzt und auch viele PKW gebaut, die eine dieser Bestimmungen erfüllen. Denn Light Trucks fallen nicht unter die Bestimmungen für den Benzinverbrauch, dem normale PKW unterliegen. Sie dürfen echte Spritfresser sein, was in den USA bei den niedrigen Preisen keine Rolle spielt – wenn man die Klimafolgen mal kurz verdrängt.

In der EU liegt der Einfuhrzoll auf Autos übrigens auch immer noch bei zehn Prozent. Der Norden gönnt sich also auch heute noch das, wovon er vielen Entwicklungsländern abrät. Heribert Dieter von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der die amerikanischen und europäischen Tricks untersucht hat, kennt noch viele andere Absonderlichkeiten des Welthandels. Er hat unlängst vorgeschlagen: «Wenn Europa und die USA den Freihandel wirklich so gut finden, dann sollten Sie das ganz einfach beweisen. Öffnen Sie Ihre Märkte einfach für die Produkte dieser Welt!» Bisher wartet Dieter vergeblich.

Auch die EU sorgt lieber dafür, dass zwar Rohstoffe aus dem Süden ohne Abgaben hierher verschifft werden können, verarbeitete Produkte aber mit Zöllen belegt werden. Deshalb sitzen die guten Kaffeeröstereien bis heute im Norden. Und in Peru, wo der Kaffee wächst, trinken die Leute Nescafé.

Die Welt besteht nicht nur aus Gewinnern im Norden und Verlierern im Süden

Doch die Welt ist nicht schwarz-weiß. Es wäre falsch, die Geschichte der Globalisierung so zu erzählen, als ob alle Gewinner im Norden und alle Verlierer im Süden sitzen. Viele Länder in vielen Gegenden der Welt haben ganz unterschiedlich auf die Globalisierung reagiert und sind sehr eigene Wege auch in der Handelspolitik gegangen. Schauen wir nach Asien. Da gibt es Nordkorea. Und damit den sicheren Beweis: Die komplette Abschottung des eigenen Landes von der Welt funktioniert offensichtlich nicht. Die Bürger leben im Elend. Gleich daneben liegt Südkorea, und das ist eines der ökonomisch erfolgreichsten Länder der Welt.

Malaysia ist einen anderen Weg in die globale Marktwirtschaft gegangen als Singapur, China einen anderen als Brasilien, und doch wächst überall die Mittelschicht und die Zahl der Armen sinkt. Längst existiert zudem der Norden im Süden und der Süden im Norden. In Asien boomen ganze Regionen und manche Innenstadt ist dort heute moderner als das Zentrum von London, die S-Bahnen sind schicker als die in Paris und die Flughäfen auf besserem Stand als in Berlin; Letzteres ist ja auch nicht mehr besonders schwer. Beim OECD-Mathematiktest, bei dem die Kinder der Mitgliedsstaaten auf ihre Fähigkeiten geprüft werden, schneiden Kinder aus Südkorea längst besser ab als die deutschen. Am Ende der Tabelle liegen die USA.

Südkorea ist noch in anderer Hinsicht interessant. Das Land war ökonomisch noch in den 60er Jahren etwa so entwickelt wie Ghana. Dann aber begann es mit einer rasanten Industrialisierung, während die Wirtschaft in dem afrikanischen Land stagnierte. Heute gilt Korea als das Musterbeispiel dafür, dass eine nachholende Entwicklung funktioniert, arme Länder auch unter den herrschenden Verhältnissen zu den reichen aufschließen können. Wenn sie es nur richtig anstellen. Gern rufen die Nutznießer des derzeitigen Welthandelsregimes deswegen auch Südkorea als Kronzeugen auf: dafür, dass man es in dieser Welt schaffen kann.

Doch in Wahrheit eignet sich Südkorea bestenfalls als Beweis dafür, dass für Entwicklung mehr als Liberalisierung nötig ist. Dafür, dass es nicht immer klug ist, auf die Berater von Weltbank, IWF und EU zu hören. Dafür, dass der eine Weg zum Wohlstand nicht existiert, sondern dass es verschiedene Pfade gibt. Dass es dabei auf einen klugen politischen Mix ankommt: auf eine geschickte Öffnung, die die heimische Industrie dem Welthandel und damit den Wettbewerbern aus den anderen Ländern nur allmählich aussetzt, sie dadurch zur Innovation treibt und nicht in den Ruin. Eine Politik, die ihr zugleich neue Märkte eröffnet. Wichtig ist eine kluge Spezialisierung. Südkorea hat genau das getan und viel Geld in Bildung und Infrastruktur gesteckt.

Joseph E. Stiglitz nennt das die richtige «regulatorische Struktur». Entscheidend sei, wie ein Land den Prozess der Liberalisierung gestaltet, sagt auch Dani Rodrik von der Princeton University: China habe beispielsweise mit seiner Liberalisierung so viel Erfolg, weil die schrittweise Integration in den Weltmarkt mit dem Aufbau der einheimischen Wirtschaft abgestimmt sei. Weil es den Ausbau von arbeitsintensiven Industrien gefördert hat, in denen viele Leute Jobs fanden. Mitnichten habe das Land sofort alle Grenzen geöffnet. Auch in Lateinamerika gebe es ähnliche Strategien. In Brasilien habe die Regierung Programme gegen Armut, zur Gesundheitsvorsorge und für bessere Bildung umgesetzt. So sei es gelungen, die Einkommen gerechter zu verteilen und damit wiederum die Wirtschaft anzukurbeln.

Arancha González leitete das International Trade Center (ITC) in Genf. Sie kümmert sich heute um die, die noch nicht gewonnen haben. Die Spanierin will, dass auch die ganz armen Länder von den Erfahrungen der erfolgreichen Vorbilder profitieren und von deren Fehlern lernen können. Sie berät deswegen ihre Regierungen. Sie hilft ihnen, die Zollbehörden zu professionalisieren, einen Weg durch den Dschungel des globalen Rechts zu finden und ihre eigenen Stärken zu entdecken. González glaubt daran, dass Handel gut für die Entwicklung sein kann, und sie glaubt auch, dass die ganz armen Länder von der Globalisierung profitieren können: wenn sie es richtig anstellen und die Industrieländer sie lassen.

Dabei helfen, so glaubt Arancha González, könnte die radikale Veränderung der Warenströme. Sie hat das vor ein paar Jahren gelernt, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. González arbeitete damals noch bei der WTO, zu einer Zeit, in der Unternehmen ihre Produktion massiv verlagerten – vom Norden in den Süden und vom Westen in den Osten. Es entstanden in jenen Jahren immer mehr «globale Lieferketten». Am Beispiel des 787 Dreamliners von Boeing lässt sich leicht illustrieren, was das bedeutet: Das Flugzeug wird im amerikanischen Bundesstaat Washington zusammengebaut. Doch den Rumpf produziert Alenia in Italien, die Sitze kommen von Ipeco aus Großbritannien, die Räder sind von Bridgestone aus Japan, die Bremsen von Messier-Bugatti-Dowty aus Frankreich und die Cargo-Türen von Saab aus Schweden. Boeing gilt zwar als «made in the US», in Wirklichkeit aber ist das Flugzeug «made in the world.»

Boeing verändert durch seine Strategie die Handelsströme, und die verändern wiederum Boeing. Auch bei Apple und vielen anderen Firmen ist das so. Dabei hilft ihnen, dass es immer billiger wurde, Waren in Containern um die Welt zu schippern. Dass sie per Computer leicht überwachen können, was im Werk auf der anderen Seite des Globus gerade passiert. Dass sie immer leichter und schneller ihre Produktion verlagern können. In ihrem Weltinvestitionsbericht 2013 schreibt die UNCTAD, die UN-Organisation für Handel und Entwicklung, dass fast 80 Prozent des globalen Handels heute durch internationale Produktionsnetzwerke entsteht, also dadurch, dass Firmen ihre Mitarbeiter, ihr Kapital, Produktionsstätten und Technologie über den Globus verteilen.

Für die Wirtschaftspolitik von Regierungen hat das radikale Folgen: Ökonomischen Erfolg kann ein Land auch dann haben, wenn es zum Teil einer solchen Kette wird, ohne dass es jemals ein einziges Produkt als «Made in» vorzeigen kann. Südkorea hat das geschafft, aber auch die Philippinen und Tschechien. Zwar ist es in einer Welt, in der die Länder nicht mehr einfach in «Arm» und «Reich» aufgeteilt werden können, zunehmend schwierig, Faustregeln zu finden, doch eine Tendenz ist klar: Diejenigen, die darauf gesetzt haben, arbeitsintensive Produktionen anzuziehen, stehen heute besser da als andere. Besonders, wenn eine Mischung aus kluger Industriepolitik und Investition in Infrastruktur und Bildung hinzukam. «Wir lassen unsere Leute im Ausland nicht mehr vor allem danach schauen, welche tschechischen Produkte dort verkauft werden könnten. Sondern danach, was dort gebraucht wird, und ob wir das bieten können», sagt der stellvertretende tschechische Außenminister Martin Tlapa. Er war lange für die Exportförderung seines Landes zuständig und ist damit einer der Urheber des tschechischen Erfolges. Heute berät sein Land die Kollegen aus Myanmar. Ihm helfen dabei auch die Erfahrungen mit der EU. Denn die EU ist ein einziges, riesiges Argument – zugleich für die Marktöffnung und gegen den radikalen Freihandel.

Was Europa lehrt – und was nicht

Die europäische Integration hat zwar zur gegenseitigen Öffnung von Märkten geführt, allerdings flankiert durch Sozial-, Struktur- und Wettbewerbspolitik. Also durch aktives Regieren und nicht durch Laissez-faire. Davon haben die Deutschen besonders profitiert, auch weil die Bundesregierung viele Regeln in ihrem Sinne mitsetzen konnte. Indem sie beispielsweise ihre Kohle- und Stahlindustrie zunächst mit der von Frankreich verknüpfte und zugleich schützte, dann aber nach und nach die Subventionen reduzierte. Auch die Textilindustrie wurde erst der billigeren Konkurrenz aus dem Ausland ausgesetzt, als andere Industrien neue Arbeitsplätze geschaffen hatten und höherwertige Produkte herstellten.

Auch innerhalb der EU, die seit 1992 den unbegrenzten Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften als sogenannte «Grundfreiheiten» in ihre Verträge geschrieben hat, hat es Jahrzehnte gedauert, bis es so weit war: bis ein italienischer Schuh in Bremen genauso leicht verkauft werden konnte wie in Genua und ein Spanier in Deutschland ohne Extraerlaubnis arbeiten durfte. Trotzdem war für einige sogar das abgefederte europäische Liberalisierungsprogramm noch brutal: Als Griechenland in die Eurozone eintrat, sanken zwar dort die Zinsen und Geld wurde billig, aber der Schritt ruinierte ziemlich schnell Teile der heimischen Wirtschaft. Die war der Konkurrenz aus der EU schutzlos ausgeliefert. Deswegen kann man heute auf Kreta bei Lidl einkaufen. Das ist schön für die deutschen Urlauber. Es ist aber nicht immer schön für die griechischen Arbeiter.

Das heißt nicht, dass ein komplett abgeschotteter Markt die bessere Alternative gewesen wäre und dass Griechenland nicht noch ganz andere, größere Probleme hat als die Stärke der deutschen Industrie. Aber es zeigt: Liberalisierung produziert immer auch Verlierer. Über die wird aber wenig geredet. Eine Untersuchung der db research, des Forschungsinstitutes der Deutschen Bank, kam 2014 zu dem erstaunlichen Ergebnis: «Zum Teil basierte der europäische Binnenmarkt auf unrealistischen Erwartungen und dem einseitigen Fokus auf mögliche Vorteile.» Das bedeutet nicht, dass die EU das grundsätzlich falsche Projekt war. Aber man sollte schon genauer hinschauen, wem sie mehr genutzt hat und wem weniger.

Dani Rodrik, der Professor aus Princeton, erforscht schon seit den 90er Jahren, wem innerhalb eines Landes oder eines Binnenmarktes mehr Handel auch mehr bringt und wem er schadet. Er will wissen, ob die Globalisierung tendenziell die Reichen ärmer oder die Armen reicher macht. Sein Ergebnis: Freihandel erhöht den Druck auf die ungelernten Arbeiter im Norden. Denn ihre Verhandlungsmacht sinkt. Und damit sinken tendenziell auch die Löhne. «Wenn die Kräfte des Welthandels immer wieder die gleichen Leute schädigen, die weniger gebildeten Arbeiter», dann sollten wir vielleicht die Globalisierung weniger enthusiastisch sehen», lautet deswegen eine Schlussfolgerung von Rodrik. Das ist auch für ihn kein Grund, Handel grundsätzlich abzulehnen. Immerhin entstehen ja Arbeitsplätze im Süden. Zudem kann die Bilanz trotzdem auch für das reichere Land insgesamt gut sein – sogar für dessen Arbeiter. Aber nur, wenn gleichzeitig genug gute, neue Arbeitsplätze entstehen, wenn der Staat durch kluge Programme die ungebildeten Arbeiter weiterbildet. Wenn über die Verteilung und die Verlierer nachgedacht wird.

Aber denken die Leute, die gerade die wichtigen Freihandelsabkommen dieser Welt verhandeln, darüber nach?

Wer verhandelt da eigentlich – und für wen?

Über Lobbyisten, Prämien und das Kleingedruckte

Diese Kündigung hat sich gelohnt. Als Michael Froman Ende 2008 seinen Job bei der Citibank aufgab, wurde er auf einen Schlag über vier Millionen Dollar reicher. Seine Chefs schenkten ihm das Geld. Einfach so. Angeblich aus Dankbarkeit für die loyalen Dienste, die er der Bank in den Jahren zuvor geleistet hatte.

Die Großzügigkeit hatte vermutlich noch einen anderen Grund, auch wenn das keiner der Beteiligten zugeben würde. Sie war eine Investition in die Zukunft. In seinem neuen Job ist Michael Froman für die Bank ungleich wichtiger als zuvor. Der Mann ist als United States Trade Representative (USTR) Handelsbeauftragter des amerikanischen Präsidenten. Er verhandelt Abkommen mit anderen Staaten und Regionen. Er soll den globalen Markt für «amerikanische Güter und Dienstleistungen öffnen» und «Amerikas Rechte im globalen Handelssystem durchsetzen». So steht es auf der Webseite seines Büros. So will es der Präsident im Weißen Haus.

Noch wichtiger für amerikanische Unternehmen ist allerdings, was dort nicht steht: In der Behörde von Froman wird festgezurrt, was nationale Interessen sind. Für welche Branche die Regierung im Ausland kämpfen wird und für welche nicht. Ob sie beispielsweise einen stärkeren Schutz von Patenten fordert, wie es die Pharmafirmen wünschen. Ob sie eher an die Wünsche der großen Sojafarmer oder die der kleinen Biobauern denkt. Ob sie für gentechnisch veränderte Nahrungsmittel kämpft. Wie stark sie andere Regierungen drängt, Zölle zu senken oder Quoten zu erhöhen.

Michel Froman und seine Mitarbeiter entscheiden also, für welchen Produzenten sich ein neues Handelsabkommen mit China oder Europa lohnt, weil er dadurch leichter an neue Kunden herankommt. Für wen es schwerer wird, weil er zusätzliche Konkurrenz bekommt. An ihm liegt es, ob die Zukunft einer Branche neue Gewinne oder Verluste bringt. Manchmal geht es dabei um viele Milliarden Dollar. Der Handelsbeauftragte ist ein Mann, den jedes Unternehmen gern zum Freund hat. Und den sich niemand gern zum Feind macht. Es ist wichtig, das zu wissen, wenn man begreifen will, wer die Regeln für die globale Handelspolitik macht.

Nur wenn man weiß, wer die Regeln schreibt, versteht man, warum sie so sind, wie sie sind. Und wer sie weiterentwickelt. Zu wessen Nutzen. Dann begreift man auch leichter, warum und für wen aus dürren Paragraphen scharfe Waffen werden können. Warum die Idee, dass da Regierungen immer für das Wohl ihrer Völker miteinander verhandeln, zwar schön ist, aber auch ziemlich romantisch. Und mit der wirklichen Welt der Handelsexperten in Washington und Brüssel wenig zu tun hat.

Froman, der wichtigste amerikanische Handelspolitiker, hat schon häufiger die Seiten gewechselt. Vor seinem Job bei der Citibank arbeitete er für die Regierung von Bill Clinton, er beriet den Präsidenten damals in Wirtschaftsfragen. Er kennt sich also gut aus im Regierungsgeschäft. Als dann George W. Bush und die Republikaner die Macht übernahmen, ging er, wie viele andere hochrangige Clinton-Leute, in die Wirtschaft. Er bekam, wie die meisten von ihnen, einen hochbezahlten Job. So etwas ist in den USA nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil. Auf das Prinzip