Auch das noch! - Petra Pinzler - E-Book

Auch das noch! E-Book

Petra Pinzler

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Beschreibung

Mit ihrem Podcast »Auch das noch?« landeten Petra Pinzler und Stefan Schmitt einen großen Erfolg. Sie beschäftigen sich in jeder Folge mit einer Krise der Gegenwart: Es geht um Klima, Energie, Ernährung, Gerechtigkeit, Infrastruktur, Biodiversität, Kriege und auch um die Frage, wie diese Krisen zusammenhängen und was das ständige Gefühl einer Vielfach- und Dauerkrise mit uns macht. Jedes Mal hilft eine Expertin oder ein Experte dabei zu verstehen, wie alles zusammenhängt. Nicht um zu verzweifeln, sondern weil Verstehen der erste Schritt zur Lösung ist. Petra Pinzler und Stefan Schmitt kombinieren zwölf zentrale Gespräche aus den wesentlichen Krisenbereichen mit den Einsichten aus fast 70 Podcast-Episoden. Und am Ende jedes Kapitels steht der Beam: Der Blick in eine nahe Zukunft, zehn Jahre von jetzt, in der die Menschen eines ihrer Probleme dank einer guten Idee gelöst haben.

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titelseite

Petra Pinzler | Stefan Schmitt

Auch das noch!

Das freundliche Krisenbuch

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg

Alle Rechte vorbehalten.

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagmotiv: Zeit.de

 

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

 

ISBN Print 978-3-451-39794-3

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83616-9

ISBN E-Bbook (PDF) 978-3-451-83800-2

Inhalt

1 Vorwort: Auch das noch?

2 INTRO: Poly… was?

3 Die Artenvielfalt: Warum wir Pandemien provozieren und das Ende der Evolution riskierenim Gespräch mit Matthias Glaubrecht

4 DIE OZEANE: Wie wir sie zerstören und warum wir sie besser kennenlernen solltenim Gespräch mit Antje Boetius

5 Das Moor: Wieso die Feuchtgebiete beides sein können, schädlich oder hilfreichim Gespräch mit Franziska Tanneberger

6 Das Wetter: Wie die Klimakrise funktioniert und uns Extremwetter bringtim Gespräch mit Özden Terli

7 Die Energiewende: Warum sie so zentral ist und wie wir schneller vorankommenim Gespräch mit Claudia Kemfert

8 Die Gesundheit: Wie das Klima uns krank macht und was wir dagegen tun könnenim Gespräch mit Eckart von Hirschhausen

9 Der Kapitalismus: Warum er süchtig nach Wachstum ist und wie man ihn begrenzen kannim Gespräch mit Jens Beckert

10 Die Gerechtigkeit: Wie auch eine Welt voller Krisen gerechter werden kannim Gespräch mit Norbert Walter-Borjans

11 Der Verkehr: Wie wir das War-schon-immer-so infrage stellen könnenim Gespräch mit Andreas Knie und Katja Diehl

12 Die Polarisierung: Wie gespalten wir sind und welche Rolle Social Media spieltim Gespräch mit Steffen Mau und Christian Stöcker

13 Der Populismus: Was viele Konservative verführt und warum sie dennoch Teil der Lösung sind im Gespräch mit Shalini Randeria und Thomas Biebricher

14 Die Welt(un)ordnung: Was Trump für die Geopolitik und für uns bedeutetim Gespräch mit Constanze Stelzenmüller

15 Die Ernährung: Warum unser Essen praktizierte Veränderung ist, nicht Ideologieim Gespräch mit Sophia Hoffmann

16 DAS ZUSAMMENLEBEN:Wie Freiheit, Demokratie und Vielfalt gelingen könnenim Gespräch mit Jagoda Marinić

17 Die Zuversicht: Wie man dem Pessimismus entkommt und aktiv wirdim Gespräch mit Volker Busch

18 Outro

Dankeschön

Die Gäste

Die Quellen

Über die Autoren

Über das Buch

Vorwort: Auch das noch?

»Moin, Petra!«»Moin, Stefan!«

Als wir uns so das erste Mal vor den Mikrofonen begrüßten, da war uns nicht klar, worauf wir uns einlassen würden. Wir waren aufgeregt und ein bisschen unsicher, unseren Stimmen hörte man das an. Wir wussten aber auch: Etwas Neues war nötig. Wir alle brauchten etwas gegen dieses traurige Gefühl, ein Mittel, das uns helfen würde, all die schlechten Nachrichten besser einzuordnen, das uns positive Energie geben würde und ein wenig Hoffnung, trotz der Weltläufte.

»Ich habe heute Morgen wieder eine ganze Weile gewartet, bis ich das Radio eingeschaltet habe«, sagte Petra in unserer ersten Aufnahme. (Angeschaltet hatte sie es dann natürlich trotzdem.) Und Stefan reagierte so: »Ich lese für den Job regelmäßig die Fachzeitschriften Science und Nature und erfahre da oft mehr, als ich in Wahrheit wissen will – über die Klimakrise, über die Biodiversität, über die Ernährungssicherheit, in was für einem Zustand die Welt ist.« (Weitergelesen hat er trotzdem.) Man kann das professionelle Deformation nennen: Lesen und Lernen, neugierig sein und Nachdenken und dann zu schreiben, ist schließlich unser Job. Aber es ist eben auch eine Art, mit der Welt umzugehen: Dem Widerwillen zum Trotz erst einmal genauer hinzuschauen.

Daraus entstand die Idee, die sich durch dieses Buch zieht: Wir würden dem Impuls, bei jeder neuen Krise am liebsten wegzuhören und abzuschalten, auch künftig nicht (oder nur in den frühen Morgen- und späten Abendstunden) nachgeben. Wir würden im Gegenteil jede Krise genau betrachten – den Wahlsieg des nächsten Populisten, das Artensterben, den nächsten krummen Deal beim Klimaschutz, die wachsende Wut der Menschen aufeinander. Wir würden sie stattdessen in ihrer ganzen Fürchterlichkeit vermessen. Die Fakten prüfen. Und mit klugen Leuten über das ganze Drama sprechen.

So entstand »Auch das noch – der freundliche Krisenpodcast«.

In jeder Folge unterhalten wir uns seither über einen Aspekt des schier unentwirrbaren Knäuels von großen und kleinen Problemen, das die Fachleute inzwischen als »Polykrise« bezeichnen (was genau damit gemeint ist, steht im nächsten Kapitel). Viele von ihnen betreffen unseren Alltag noch nicht oder nicht unmittelbar. Wir gehen ja weiter zur Arbeit und ins Kino, treffen Freunde und treiben Sport. Wir lieben, lachen und leben. Trotz alledem. Gleichzeitig ahnen wir, dass die Zukunft für viele ungemütlich werden wird. Vielleicht auch für uns? Jedenfalls wird es die unbeschwerte Welt, wie wir sie kennen, mit ihren Blumen und Bienen, dem Schnee im Winter, mit sonnigen, aber nicht zu heißen Sommerferien, immer seltener geben.

Also sprechen wir über die Gründe: über die Klimakrise, das Artensterben, das Auseinanderbrechen von Gesellschaften und die Krise der Demokratie. Jedes Mal erzählt eine Expertin oder ein Experte, wo genau das Problem liegt, wie es mit all den anderen Problemen zusammenhängt und wo es Auswege geben könnte. Das Erstaunliche dabei: So groß und vertrackt ein Problem auch ist, eine Ahnung von Lösung, zumindest von der richtigen Richtung, entwickelt sich im Gespräch doch immer. Nicht selten steht am Ende dann die Hoffnung, dass es so gelingen könnte.

Klar hören wir immer wieder mal den Vorwurf: Ihr redet euch die Welt schön! Ihr suggeriert, dass es doch noch ein Happy End für die Menschheit geben kann, wie unterkomplex! Die besten Zeiten liegen hinter uns. Ihr solltet euer Publikum besser darauf einstimmen, dass das Zeitalter des Fortschritts vorbei ist. Ihr solltet den Leuten die Augen öffnen, sie brutal auf unvermeidlichen Verlust, radikalen Verzicht und drastische Veränderung einstimmen, denn nur dann lassen sich wenigstens noch Teile unseres Alltags bewahren. Nur so lässt sich die Heftigkeit der Öko-Katastrophen ein wenig mildern und die Demokratie vor ihren schlimmsten Feinden retten.

Und noch einen zweiten Vorwurf gibt es, nämlich den der Niedlichkeit, und der geht so: Ein einzelner Mensch kann doch sowieso kaum etwas zum Besseren verändern, in Zeiten, in denen Xi Jinping China zur Digitaldiktatur formt, Wladimir Putin und Donald Trump das Schicksal der gesamten Menschheit mit Großmachtsfantasien verändern und Territorialansprüche stellen, die wie aus dem 20. Jahrhundert gefallen erscheinen (manchmal auch aus dem 19. Jahrhundert). Noch dazu in einem Alltag, in dem Populisten die Wut und den Frust der Leute verstärken und dann bei den Wahlen ernten. In einer politischen Lage, in der progressive politische Parteien in vielen Ländern vor den Trümmern ihrer Politik stehen und Klimaschutz- und Gerechtigkeitsfragen immer seltener Wahlen entscheiden. In solchen Zeiten braucht es große Entwürfe und große Wenden, mindestens das Ende des Kapitalismus, gar die Flucht ins Weltall oder die radikale persönliche und gesellschaftliche Umkehr – statt vieler kleiner Korrekturen. In solchen Zeiten kann man doch nicht mehr seriös suggerieren, dass jede und jeder Einzelne die Zukunft zum Positiven verändern könne.

Wir antworten darauf mit folgender Gegenfrage: Wo würde uns solch ein Fatalismus denn hinführen? Ja, die Zukunft scheint nicht rosig. Ja, im Vergleich mit Trump hat jeder von uns wenig Wirkmacht. Ja, es braucht in der Politik große Veränderungen. Ja, die Wirtschaft müsste viel schneller klimaneutral werden. Ja, wir erleben gerade das größte Artensterben seit dem Untergang der Dinosaurier. Ja, es wäre schön, wir würden weltweit wieder abrüsten, statt immer mehr aufzurüsten. Aber darauf zu warten, würde den meisten von uns dann doch den letzten Rest an Zuversicht rauben, also genau die Ressource, die wir mehr als alles andere brauchen. Deswegen sprechen wir immer wieder genau darüber: Über den Wert des Handelns, des Einsatzes, des Etwas-Tuns an sich. Auch weil eine Demokratie – und damit das politische System, das mehr persönliche Freiheit und Unversehrtheit ermöglicht als jedes andere – ohne diese Zutat nicht funktionieren würde. Sie braucht Engagement, um gegen ihre inneren und äußeren Feinde gewappnet zu sein.

Uns jedenfalls überzeugt und ermutigt nun schon seit zweieinhalb Krisenpodcast-Jahren immer wieder aufs Neue das Gespräch mit Menschen, die die Komplexität der Wirklichkeit kennen und trotzdem nicht daran verzweifeln. Viele, die wir zu Gast hatten, haben uns wunderbare Geschichten hinterlassen, die eine neue Sicht auf Probleme ermöglichen und kluge, unkonventionelle Lösungen präsentieren. Deswegen gibt es nun dieses Buch. Wir wollen die Gespräche nicht einfach nach und nach dem Vergessen überlassen. Wir wollen sie nachlesbar und damit weiterdenkbar machen. Wir haben deswegen 18 Menschen gebeten, unsere Aufnahmen mit ihnen kondensieren und redigieren, aktualisieren und abdrucken zu dürfen. Die Texte haben wir so ausgewählt, dass sie ein breites Spektrum von Themen abdecken, und Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Haltungen vorkommen. Ergänzt werden die Interviews durch Ideen aus vielen der anderen Podcast-Gespräche, sie fließen in kondensierter Form mit in die jeweiligen Kapitel ein, als Zitat, Gedanke oder Zahl.

Wir beantworten die Frage, ob wir uns in Deutschland wirklich so viel streiten und warum. Wie es um die Energiewende steht. Warum sich im Verkehr alle über alle ärgern und sich doch so wenig ändert. Wieso die Klimakrise uns krank macht. Warum die Moore nicht nur wunderschön, sondern auch wichtig sind. Welche Rezepte Putin und Trump und all die anderen autoritären Regierungschefs so erfolgreich machen. Warum es bei der Rettung der liberalen Demokratie vor allem auf die Konservativen ankommt. Und, und, und …

Fehlen darf natürlich auch der »Beam« nicht. Diese Erzählform des Rückblicks aus der Zukunft macht uns besonders viel Spaß. Sie funktioniert so: Wir beamen uns gemeinsam gedanklich ein Jahrzehnt in die Zukunft – ins Deutschland des Jahres 2035 – und stellen uns vor, was bis dahin gut gegangen sein wird. Wir sprechen also über die Vergangenheit einer plausiblen Zukunft. Das klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Denn wir alle denken doch immer mal wieder darüber nach, wie es uns wohl in den kommenden zehn Jahren gegangen sein wird: Wie dem Land? Wie uns privat?

»Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.« Dieses Zitat wird gleich mehreren berühmten Männern zugeschrieben, von Karl Valentin bis Mark Twain. So richtig es ist – die Zukunft ist natürlich nicht vorhersehbar – so sehr unterbetont es doch, dass heutiges Verhalten diese Zukunft sehr wohl beeinflussen kann. Es macht bestimmte Zukünfte wahrscheinlicher und andere unmöglich – sowohl privat als auch gesellschaftlich. Rauchen wir Kette, senken wir unsere Lebenserwartung. Stoppen wir das Artensterben nicht, wird es viele Tiere bald nicht mehr geben. Lassen wir die Hetze im Netz wuchern, schwächen wir die Demokratie. Kurz: Wir erhöhen oder senken Wahrscheinlichkeiten, verstärken oder schwächen Trends, die erst in ein paar Jahren ihre ganze Wirkung entfalten. Im Negativen, aber eben auch im Positiven. Ideen, Erfindungen, neue Gesetze und Verhaltensänderungen im Heute verändern das Morgen.

Unsere Beams sind eine kleine Auswahl an Weltverbesserungsideen. Sie sind keine pure Fantasie, sie sind Möglichkeiten, die sich noch nicht entfaltet haben. Jede hat einen realen Kern, der in die Zukunft extrapoliert wird. Mal geht es um eine soziale Veränderung, die es in Anfängen heute schon irgendwo gibt. Mal um eine Technik, deren Grundlagen bereits gelegt sind.

Sie können dieses Buch traditionell von vorne nach hinten lesen. Dann werden sie erst vieles über ökologische Krisen erfahren, später dann über die sozialen und geopolitischen, und ganz am Schluss auch etwas über die Frage, wie man selbst mit den Krisen umgeht – ohne daran zu verzweifeln. Oder sie hüpfen – je nach Lage und Bedürfnis – hin und her. So wie wir es beim Krisen-Podcast auch machen.

»Menschen haben Lust auf Lösungen«, sagt die Schriftstellerin Jagoda Marinić, auch sie war zu Gast im Krisenpodcast. Weil wir das ebenfalls glauben, weil wir selbst erlebt haben, wie zufrieden und manchmal sogar glücklich das Handeln machen kann, ist es uns so wichtig, dass gute Ideen nicht in den Schubladen bleiben. Wir wollen Straßen, Plätze und Podcasts nicht den düsteren Propheten oder den traurigen Prokrastiniererinnen überlassen. Unsere Hoffnung ist, dass das ernsthafte Reden über die Welt dabei hilft, sie zu einem besseren Ort zu machen.

Trotz alledem.

INTRO: Poly… was?

Kann ein Kunstwort ein echtes Gefühl beschreiben? Wie sich unsere Gegenwart anfühlt, welche Ahnung uns beim Stakkato der Nachrichten und der Lektüre des Weltgeschehens beschleicht, das ist nicht leicht in Worte zu fassen. Seit ein paar Jahren scheint es so, als geschehe immer mehr auf einmal. So, als herrsche überall nur noch Krise, Krise, Krise.

Das Jahr 2025 war erst ein paar Tage alt, als der ­österreichische Bundespräsident den Auftrag zur Regierungsbildung an einen rechtsextremen Politiker erteilte (Es kam dann anders.). In Deutschland hatte gerade der vorgezogene Wahlkampf begonnen, nachdem sich die rot-grün-gelbe Bundesregierung Ende 2024 auf keine gemeinsame Politik mehr hatte einigen können. (Zerbrochen war die Koalition am Streit über die Finanzierung der Ukrainehilfe, aber das war nur eine der multiplen Krisen, bei der man sich nicht mehr verständigen konnte.) In Los Angeles, der zweitgrößten Metropole der USA, wüteten die bis dato schlimmsten Brände in der Geschichte der Stadt. Darin konnte, wer wollte, eine zynische Pointe erkennen: ausgerechnet kurz vor dem erneuten Amtsantritt des Klimaschutz-Verächters Donald Trump! Wer, wenn nicht er, steht für die Krise der liberalen Demokratien und ihrer Institutionen, für den Aufschwung des autoritären Populismus, die Rückkehr des Nationalismus und für primitive Ignoranz gegenüber der Natur? Wenige andere politische Ereignisse hätten die Aussichten für eine gute Zukunft unwägbarer machen können als sein neuerlicher Wahlsieg. Spätestens mit Trumps Rückkehr ist die Welt nun mittendrin – in der Polykrise.

Polys heißt im Griechischen »viel« oder »mehrere«. Und Polykrise, das ist das Wort, mit dem der britische Historiker Adam Tooze das Neue, das Andere an der Weltlage beschreibt: Nicht mehr in einer Abfolge von mehr oder minder schweren Problemen, die eines nach dem anderen gelöst werden können, besteht das Zeitgeschehen, sondern aus einer Anhäufung, ja einem Knäuel von Krisen. »Eine Polykrise lässt sich definieren als eine Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile«, schrieb Adam Tooze im Sommer 2022 in einem Essay für DIE ZEIT: »Oder anders gesagt: Die einzelnen Krisen existieren nicht mehr einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind über vielfältige Wirkungskanäle miteinander verbunden.« Wem fiele bei diesen Sätzen nicht ein Beispiel, ach was, eine Handvoll Beispiele aus der aktuellen Weltlage ein: Flüchtlingsströme aus dem Süden in die Länder des Nordens, die in letzteren den Rechtspopulismus wachsen lassen, dessen Vertreter wiederum die Klimakrise leugnen, was wiederum Klimaschutz erschwert, wodurch die Extremwetter gerade in armen Ländern immer schlimmer werden, was zu noch mehr Flüchtenden führen wird …

Falls es also überhaupt so etwas wie ein einziges Wort für solche Problemketten und damit für die Weltlage geben sollte, dann wäre Polykrise ein guter Kandidat. Es sei »das Jahr in einem Wort«, befand die Financial Times Ende 2022. Beim Weltwirtschaftsforum von Davos 2023 war es das Buzzword, das Schlagwort schlechthin. Mittlerweile ist es ins Alltagsvokabular eingegangen.

Tooze hat den Begriff »Polykrise« nie als seine Erfindung in Anspruch genommen. Vielmehr stammt dieser von dem französischen Philosophen und Komplexitätstheoretiker Edgar Morin (der ist zum Zeitpunkt, an dem dieses Buch in den Druck geht, sagenhafte 103 Jahre alt) und seiner Koautorin Anne-Brigitte Kern. Die beiden hatten ihn in ihrem Buch »Heimatland Erde« (»Terre Patrie«) bereits in den 1990er Jahren geprägt und folgendermaßen erklärt: Die Menschheit habe ein Netz aus miteinander verschränkten Systemen geknüpft. Eine Krise in einem davon könne sich leicht auf alle anderen auswirken. Mit dieser Idee hatte Morin damals schon zwei Jahrzehnte gespielt. Bereits in den 1970er Jahren hatte er das Silodenken in Wissenschaft und Politik kritisiert. Denn schon damals erlebte die gesamte Welt Erschütterungen, die man aus heutiger Sicht als Vorboten deuten kann: Die Ölkrise führte den westlichen Industrienationen ihre Abhängigkeit von prekären Energieträgern und fragwürdigen Regimen vor Augen. Die Umweltbewegung lenkte den Blick auf den Raubbau an der Natur, den der wirtschaftliche Fortschritt oft mit sich bringt. Der Club of Rome warnte vor den »Grenzen des Wachstums« und Fachleute des Ölriesen Exxon sagten korrekt die Erderwärmung durch Kohlendioxid voraus (was den Konzern indes nicht daran hindern sollte, über Jahrzehnte Desinformation zu betreiben, so wie andere Petrokonzerne auch). Es zeigten sich also schon damals die Folgen dessen, was Ökonomen und Ökologen heute die »große Beschleunigung« nennen: die beispiellose Zunahme von menschlicher Aktivität in vielerlei Hinsicht. Doch die Appelle, vernetzter zu denken und zu handeln, verhallten ungehört.

Erst viele Jahre später griff der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Begriff »Polykrise« wieder auf und wandte ihn auf die politische Lage an – 2016 sprach er erstmals von einer »Polykrise der Europäischen Union«. Und in der stecken wir, mal mehr, mal weniger, bis heute – weswegen es sich für ein besseres Verständnis der Gegenwart lohnt, noch einmal kurz in die Vergangenheit zu springen. Juncker sah damals, wie die EU ganz offensichtlich unter einem Wirrwarr scheinbar unverbundener und dennoch aufeinander wirkender Probleme ächzte: Zu jenem Zeitpunkt litt Europa noch unter den finanziellen Folgen der Schuldenkrise. Die hatte in den USA begonnen, dann aber auch die europäischen Banken und schließlich ganze Staatshaushalte erschüttert. Griechenland ging fast bankrott, Italien wankte und die Sparpolitik der nationalen Regierungen (»Austerität«) traf besonders die Schwachen in der Gesellschaft. Die milliardenschweren Rettungsschirme, die die europäischen Regierungen derweil organisieren mussten, setzten eine Weile lang sogar den Euro und damit die gesamte EU massiv unter Druck. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung schien es möglich, dass sie auch wieder auseinanderbrechen könnte.

Damals, ab dem Jahr 2015, entfaltete sich jedoch noch etwas, das die Staaten Europas und insbesondere Deutschland zusätzlich erschütterte und bis heute wirkt: die Flüchtlingskrise. Aus Syrien, aber auch aus vielen anderen Ländern kamen Millionen Menschen nach Europa. Die Migrantinnen und Migranten wurden zunächst oft freundlich empfangen, dann aber wuchsen die Integrationsprobleme, die Ressentiments und auch der Zuspruch für rechtspopulistische Parteien. Das wiederum nährte die Zweifel am europäischen Selbstverständnis, über das bis heute gestritten wird: Wie offen kann und soll Europa sein? Für wen muss diese Union sorgen und wie? Mit wem soll sie solidarisch sein und wie lange?

In einer Podcast-Episode zum Thema Flucht sagte die Politikwissenschaftlerin Kira Vinke: »Wir sehen mit der Klimakrise einer Situation entgegen, wo der Druck zum Migrieren höher wird, weil die Lebensgrundlagen zerstört werden.« Die Zukunft wird also künftig noch mehr Flüchtende sehen, und die EU sehr wahrscheinlich weit mehr als 2016. Und das macht vielen Menschen immer mehr Angst. Dass genau in jenem Jahr eine (wenn auch hauchdünne) Mehrheit der Wählerinnen und Wähler Großbritanniens für den Brexit stimmte, das tatsächlich später die EU verließ, vertiefte deren Identitätskrise noch zusätzlich.

Und dann kam auch noch Corona. Viel und ausführlich ist über diese Krise geschrieben worden, meist allerdings mit dem Binnenblick auf die fatalen Folgen der Pandemie, auf Fehler und Versäumnisse hierzulande. Deswegen sparen wir uns diesen Exkurs. Denn ebenso interessant, aber weniger ausgeleuchtet ist, wie sehr diese Pandemie andere globale Krisen verschärfte und wie sie weltweit bis heute nachwirkt. Klar wird das, wenn man gedanklich in den Februar 2022 springt, hin zu dem Moment, als Russland die Ukraine überfiel. Dieser Angriff veränderte nicht nur Europa, sondern auch die Welt. Im Frühjahr 2022 litten nämlich viele Länder des globalen Südens immer noch unter den ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie. Die hatten sie viel härter getroffen als die reichen Länder. Sie hatten keinen oder viel zu wenig Impfstoff bekommen, oft fehlte ihnen zudem das nötige Geld, um umfangreiche Hilfspakete für ihre Wirtschaft und ihre Bürgerinnen und Bürger zu organisieren. »Sehr viele Menschen in der Welt sind in dieser Phase arbeitslos geworden, sind sehr schnell in Armut gerutscht«, beschrieb die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Svenja Schulze (SPD), in einer unserer ersten Podcast-Folgen die verzweifelte Lage in vielen Ländern zu jener Zeit: »Wenn man siebzig Prozent seines Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgibt und die Lebensmittel so enorm teuer werden, dann hat das Folgen.« Die Kinder traf es besonders hart, denn im Lockdown war mit dem Schulunterricht auch das tägliche Schulessen weggefallen, das die Welthungerhilfe als das »größte Sicherheitsnetz der Welt« bezeichnet. Und so war der Hunger in das Leben von Abermillionen Menschen zurückgekehrt.

Als es dann gerade wieder aufwärts zu gehen schien, blockierte Russland nun die Getreideexporte aus der Ukraine. Und prompt mangelte es in vielen Ländern Ostafrikas wieder am Nötigsten. Das verstärkte dort einen Eindruck, den bereits die Corona-Zeit genährt hatte: Die Reichen haben mal wieder Krise, und wir Armen im Süden tragen die Folgen! Wir aber spielen für Europa, die USA und die anderen reichen Länder, die sich zum Westen zählen, schlicht keine Rolle. (»Westen« und »Süden« sind hier weniger geografisch und mehr historisch-kulturell gemeint, und sie fassen nicht alle Länder ganz trennscharf. Und doch helfen sie jedenfalls in diesem Konflikt, die gegensätzlichen Positionen und Interessen zu bündeln.) Entsprechend wurde es in den Folgemonaten für den Westen sehr schwer, globale Solidarität für die Ukraine zu organisieren. So manche Regierung des Südens wollte sich beispielsweise bei den Vereinten Nationen nicht zwischen der EU und den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite entscheiden müssen.

Und noch etwas verschärfte die Lage zusätzlich: Indien hatte in die Bresche springen und die Welt mit Getreide versorgen wollen, doch nach einer ungewöhnlich frühen und verheerenden Hitzewelle (die in einer Welt ohne Klimakrise kaum möglich gewesen wäre) tat die Modi-Regierung rasch das Gegenteil. Im Frühjahr beschränkte sie die Ausfuhr von Weizen erheblich, im Herbst nach einem unterdurchschnittlichen Monsun auch die von Reis. Damit sind wir bei dem entscheidenden Problem, das künftig jede Krise verstärken wird – und das unser Jahrhundert tatsächlich grundlegend von den vorherigen unterscheidet: unser verschwenderischer, zerstörerischer Umgang mit der Natur, der inzwischen immer öfter an die planetaren Grenzen stößt. Er zeigt sich in der Erderwärmung, der Vernichtung von Tier- und Pflanzenarten, unserem Vordringen in bedrohte Lebensräume, in die letzten unberührten Räume der Natur. Der Biologe Matthias Glaubrecht wird die Zusammenhänge in Kapitel 3 genau erklären. Hier nur so viel: Wenn Krankheitserreger wie das Corona-Virus von wilden Tieren, mit denen Menschen bisher keinen Kontakt hatten, überspringen, kostet das Millionen Menschen das Leben. Milliarden führte es die Macht der bedrängten Natur in Gestalt eines winzigen Virus vor Augen. Und solche Zoonosen werden künftig häufiger.

Ein Schwenk fehlt noch, um zu verstehen, wie im Krisenknäuel der Gegenwart ein Problem das nächste verstärkt und warum Lösungen für Krisen heute so ungleich viel schwerer zu finden sind als in der Vergangenheit: der in die internationale Politik. Ausgebrochen war Corona in China schon Ende 2019. Die dortige politische Führung war zu jenem Zeitpunkt allerdings längst auf Konfrontationskurs zu den westlichen Demokratien. Und so verschwieg die bevölkerungsreichste Autokratie der Welt nicht nur wochenlang zuerst das Problem und dann dessen Ausmaße, sie wehrte sich auch gegen globale Zusammenarbeit und wählte für das gesamte Riesenland die Isolation. Als zwei Jahre später Russland in die Ukraine einmarschierte, betonte Chinas Führung weiter den eigenen Kurs. Statt die Weltgemeinschaft durch die gemeinsame Ächtung eines Aggressors zu stärken, versucht Peking seither eine Äquidistanz zwischen dem Westen und Russland zu halten und zugleich das eigene Entwicklungsmodell weltweit zu promoten, diese ganz besondere Kombination von Turbokapitalismus und der Herrschaft einer Partei. In der Podcast-Episode über die Krise des Westens warnte der frühere Diplomat und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, davor, dass die »chinesische Form der Wettbewerbsfähigkeit und der Kontrolle des gesamtgesellschaftlichen Lebens« auch für viele andere Staaten attraktiv erscheinen könne. Wer hier gewinne, das sei »nicht ausgemacht«. Klar ist nur: Es gibt eine »systemische Rivalität« zwischen China und den Demokratien westlichen Typs – deren Zahl und deren globale Attraktivität zudem schrumpft.

Globale Antworten auf globale Krisen, Menschenrechte, internationale Solidarität, Welthandel zum Nutzen aller, Klimaschutz als internationale Aufgabe, das Eintreten für gemeinsame Werte wie die Unantastbarkeit nationaler Grenzen – solche Ideen verblassen zunehmend. Heute haben die Nationalisten, die Demokratiezerstörer und -zermürber immer mehr Fans in immer mehr Ländern. Die Europäische Union ist eine der letzten Bastionen des schrumpfenden Westens (oder der Idee, die es von ihm einmal gab), und auch sie steht unter einem bis dato nie gekannten Druck. Nicht nur wird sie durch Populisten im Inneren angegriffen, sie ist auch jenseits des Atlantiks mit einem Zerrütter-in-chief im Weißen Haus konfrontiert und im Osten mit einem aggressiven Imperialisten im Kreml, dessen Kriegslust jede internationale Kooperation belastet. Und noch östlicher erwartet sie ein China, das sich nicht nur als ideologischer und ökonomischer Gegenpol versteht, sondern aktuell auch verantwortlich für mehr CO2-Ausstoß ist als jedes andere Land. Und dann gehört zur neuen Geopolitik auch noch die Vielfalt all jener Staaten, die allzu lange mit dem Euphemismus »globaler Süden« gleichgemacht und kategorisiert worden sind. Diese Pauschalbezeichnung verdeckt unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Viele von ihnen, allen voran Indien als bevölkerungsreichstes Land der Welt, sind längst ökonomisch gereift, leiden besonders unter den ökologischen Schäden, die sie nur zu einem geringen Teil zu verantworten haben, und wollen sich als allerletzte Vorschriften von denjenigen machen lassen, die zur gegenwärtigen Krise am meisten beigetragen haben.

Nun sind es aber nicht nur die klassischen geopolitischen Krisen – Blockbildung, Rivalität, Vormachtstreben und Stellvertreterkonflikte –, bei denen man sich eine Lösung nur kaum anders als durch einen Kompromiss zwischen mehreren oder sogar sehr vielen Staaten vorstellen kann. Dasselbe gilt stärker noch für die großen planetaren Existenzkrisen, das Triple aus Klima, natürlicher Umwelt und menschlicher Gesundheit. Sie zu lösen wäre wahrlich ein hehres Ziel. Aber existiert das überhaupt, wenigstens als Erzählung? Als Ideal, nach dem die Welt streben könnte? Gibt es noch, wenigstens in Ansätzen, den Traum einer fairen, gerechten und heilen Welt?

Zur ernüchternden Wahrheit unserer Gegenwart gehört: An Utopien, mit denen sich Gesellschaften freundlicher, solidarischer, fairer und, ja, auch ökologischer träumen könnten – um es dann auch zu werden –, glaubt heute weltweit nur noch eine Minderheit. Und noch weniger Menschen können sich überhaupt erlauben, frei von Angst und Freude öffentlich dafür zu streiten, denn weniger als acht Prozent der Weltbevölkerung leben heute noch in einer vollständigen, uneingeschränkten Demokratie. Und selbst dort bewegen die Menschen oft nicht Begeisterung und Freude, sondern Hass und Wut.

Längst ist doch der emotionale Kraft-Pol, das Moment der großen Veränderungen weit nach rechts gewandert. Auch weil in vielen Ländern, darunter viele einst liberale Demokratien, rechte Populisten die Wahlen gewinnen. Und die sprechen nicht warme Gefühle wie Solidarität, Freundschaft oder Mitgefühl an. Sie wecken niedere, schon eingehegt geglaubte düstere Regungen: Wut und Frauenverachtung, Ausgrenzung, Hass und Fremdenfeindlichkeit sind ihre Währungen. Sie nähren sich von der Idee, dass nur die Starken überleben werden. Dass nationale Interessen gegeneinander stehen und besser im Konflikt oder durch »Deals« gelöst werden. Und dass die eigene Nation nur überlebt, wenn sie rein und widerstandsfähig wird. Ihre Zukunftsversprechen werden genährt von Bildern einer Vergangenheit, wie es sie so nie gab. Und sie nutzen eine Sprache von gestern.

Selbst die Regierungen, die globale, solidarische und kooperative Lösungen bevorzugen würden, müssen entsprechend reagieren. Die Europäische Union beispielsweise versucht inzwischen die Abhängigkeiten von chinesischen Gütern und künftig womöglich auch vom US-Markt zu mindern. Und sie benennt die Strategie kurioserweise mit dem Anglizismus de-risking. Risiken entschärfen, in dem man versucht, unabhängiger von den anderen zu werden und die gegenseitige Vernetzung zu entwirren? In einer Welt, in der die Risiken nur so sprießen, weil sich im immer schnelleren Takt neue weltumspannende und verwickelnde Krisen auftun, hat die gegenseitige Vernetzung bizarrerweise immer weniger Konjunktur. Das bedeutet allerdings auch, dass viele Vorteile und Gewinne der Globalisierung verloren gehen. Und der Beweis, dass nationale Antworten auf weltweite Krisen tatsächlich besser (oder überhaupt) funktionieren, steht auch noch aus.

Polykrise! Kann ein einziges Kunstwort all das sinnvoll fassen – und beim Verstehen wirklich helfen? Und ist denn schon etwas gewonnen, wenn man die verwickelten Weltprobleme in ein Wort fassen kann? Man kann indessen auch eine andere Haltung einnehmen und fragen: Was wäre denn die Alternative? Wegzuschauen sicher nicht – nicht nur, weil davon ja kein einziges der Probleme verschwinden würde, sondern auch, weil die Analyse an sich schlicht interessant ist. Was die Menschheit da gerade anstellt, ist mindestens so faszinierend, wie es düster ist. Und nein, das ist nicht zynisch gemeint, sondern eher hoffnungsvoll. Eine Spezies, die so weit gekommen ist, sollte doch Auswege finden.

Blicken wir noch einmal auf drei Zahlen: Inzwischen zählt die Welt mehr als acht Milliarden Menschen. Zwei von fünf überschüssigen CO2-Molekülen in der Atmosphäre sind erst nach der Jahrtausendwende ausgestoßen worden – also zu einer Zeit, in der wir längst wussten, was wir da tun. Es scheint die Weltpolitik so instabil wie seit acht Jahrzehnten nicht mehr. Und – ja, auch das noch – die Zukunft ist kein Ort mehr, an dem sich Menschen heimisch fühlen und auf den sie sich freuen.

In dieser Lage bleibt nur ein widerspenstiges: Trotz allem! Trotzdem über die »Polykrise« und ihre Lösung nachzudenken, ist damit zugleich eine Diagnose und eine Lektion in Demut. Sie sagt uns: Wer eine Krise (ziemlich egal welche) verstehen will, muss sie genau analysieren und dann immer auch auf die Verbindungen zu anderen Krisen schauen. Was hängt wie zusammen? Was verstärkt sich wodurch? Und was kann man dagegen tun? Das ist die Perspektive, die wir einnehmen, im Podcast »Auch das noch?« und in diesem Krisenbuch.

Die Artenvielfalt: Warum wir Pandemien provozieren und das Ende der Evolution riskieren

DIE ZAHL

Wir zahlen nicht etwa für den Erhalt der Natur, wir zahlen für das Gegenteil. Weltweit geben Staaten jedes Jahr 500 Milliarden US-Dollar für Umweltzerstörung aus in Form umweltschädlicher Subventionen. Dem stehen nur 70 Milliarden US-Dollar für den Schutz der natürlichen Vielfalt gegenüber. So hat es der Dasgupta-­Report der britischen Regierung nach einer globalen Bestandsaufnahme beziffert.

DAS INTRO

Die Galapagos-Riesenschildkröte Chelonoidis phantasticus. Das Nabelschwein Catagonus wagneri. Die bayerische Kurzohrmaus Microtus bavaricus: Immer mal wieder tauchen unerwartet Tiere einer Art auf, die eigentlich als ausgestorben gilt. Manchmal zeigt sich nur ein einziges Exemplar, aber wo eines ist, muss es mindestens Eltern gegeben haben, vielleicht gibt es also auch noch Nachwuchs. Ganz besondere Tiere wie das Schildkrötenweibchen »Fernanda« machen sogar weltweit Schlagzeilen; wenn sie wiederentdeckt werden, wecken sie doch eine Hoffnung: Ganz so schlimm ist es vielleicht doch nicht mit dem Artensterben?

Leider sprechen die Fakten eine andere Sprache: Normal ist das Schicksal des Auerochsen, des Riesenalks und des Bodensee-Kilchs. Das sind nur drei der vielen Tiere, die es nur noch auf Zeichnungen oder Fotos, als ausgestopfte oder in Alkohol eingelegte Exemplare in Naturkundemuseen gibt. Eine Million Tier- und Pflanzen­arten sind vom Aussterben bedroht, das ist nach Schätzungen des Weltbiodiversitätsrats ein Achtel aller Spezies auf der Erde. Und das Tempo, in dem die Artenvielfalt gegenwärtig schrumpft, ist weit höher, als man es für die vergangenen zehn Millionen Jahre rekonstruiert hat.

Die Täter sind bekannt: Wir sind es, die gut acht Milliarden Menschen. Wir haben nicht nur unfassbare Macht, wir nutzen sie auch, und zwar immer massiver. Wir verlegen Flüsse und versetzen Berge. Wir roden Wälder und fischen Meere leer. Wir erhitzen das Klima. Wir fügen die Bausteine des Lebens neu zusammen und verwandeln Lebendiges in Unbelebtes. Kurz: Wir formen die Erde um und verändern sie dabei unwiederbringlich. Der Nobelpreisträger Paul Crutzen hat dafür Anfang des Jahrtausends als Erster einen Begriff gefunden: Das »Anthropozän«, das »Menschenzeitalter. Nach vielen Millionen Jahren Evolution schafft die Spezies Mensch etwas Einzigartiges: Sie sorgt nicht nur für das größte Massensterben der Erdgeschichte seit dem Ende der Dinosaurier und vieler anderer Arten vor immerhin rund 65 Millionen Jahren – sie zerstört die Grundlagen des eigenen Überlebens.

DER EXPERTE

Matthias Glaubrecht ist Evolutionsbiologe und beschäftigt sich seit Langem damit, was in der Natur im Großen und Ganzen passiert: wie sich Lebensräume verändern, wo Arten verschwinden. Und er weiß, welche Folgen das für uns hat. Er hat das Hamburger Centrum für Naturkunde geleitet und baut nun ein »Evolutioneum« für das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels auf. Wandel? Glaubrecht sorgt sich sehr, dass wir »Das Ende der Evolution« (so heißt eines seiner vielen Sachbücher zu biologischen und wissenschaftshistorischen Themen) einläuten. Er weiß aber auch, worauf wir hoffen dürfen.

DAS GESPRÄCH

Auch das noch Herr Glaubrecht, in der Corona-Zeit haben viele Menschen eine neue Vokabel gelernt: Zoonosen, das sind Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen.

Matthias Glaubrecht Ja, dass die meisten Pandemien und auch die meisten unserer Kinderkrankheiten zoonotischen Ursprungs sind, war bis dahin ziemlich unbekannt. Dabei sind sogar entscheidende historische Wendemarken der Geschichte auf Zoonosen zurückzuführen, etwa der Untergang des Römischen Reichs oder der Kollaps der Gesellschaften Südamerikas nach Ankunft der europäischen Kolonisatoren. Weltgeschichte wird oft durch naturwissenschaftliche Phänomene verändert, Corona hat uns daran erinnert.

ADN Manche Experten haben damals von einer Triple-Krise gesprochen. Was ist damit gemeint?

Glaubrecht Wir leiden nicht nur an einer Krankheit, sondern an dreien. Klimaforscher sprechen oft über die Klimakrise wie ein Kardiologe über ein Herzproblem. Der Arzt sieht zwar das kranke Herz, er übersieht aber die Niereninsuffizienz und noch eine dritte Krankheit. Für eine umfassende Diagnose wäre ein ganzes Ärzteteam nötig. So ähnlich geht es uns auch mit der Welt. Neben der Klimakrise gibt es die Krise der Biodiversität und beide gefährden das Überleben vieler Menschen: Zusammen mit den Zoonosen als dritte Krankheit ist das die Triple-Krise.

ADN Also wir zerstören die Natur und das macht uns selbst krank?

Glaubrecht Genau. Christian Drosten hat Corona ganz zu Beginn einmal eine Naturkatastrophe genannt. Aber das war es nicht! Jedenfalls keine Naturkatastrophe im Sinne eines Erdbebens, für das wir nichts können und das über uns kommt. Vielmehr ist diese Pandemie ein Naturphänomen, für das aber wir Menschen verantwortlich sind. Um das zu verstehen, hilft es, sich an historische Pandemien zu erinnern.

ADN In Ihrem Buch »Die Rache des Pangolin« haben Sie Seuchen nachgezeichnet, die die Menschheit in der Vergangenheit geplagt haben – von der Antoninischen Pest in der Spätantike über den Schwarzen Tod im Mittelalter bis hin zu Ebola und HIV, die alle von Tieren auf den Menschen übergesprungen sind. Was war bei Corona, der ersten Seuche des 21. Jahrhunderts, anders als in diesen historischen Beispielen?

Glaubrecht Bei Corona konnten wir die Zusammenhänge zum ersten Mal in Echtzeit verstehen. Das war noch im vorigen Jahrhundert ganz anders. Nehmen wir die Spanische Grippe als Beispiel: Deren Auslöser, ein Influenzavirus, ist im mittleren Westen der USA in Wildvögeln und Schweinen entstanden und kam dann mit Soldaten im Ersten Weltkrieg nach Europa …

ADN Sie brach in Europa im Jahr 1919 aus.

Glaubrecht Genau. Diese Grippe-Pandemie dauerte drei Jahre und hat schätzungsweise 50 bis 100 Millionen Menschenleben gekostet, wesentlich mehr als beide Weltkriege zusammen. Aber im Mittelalter hatte die Pest sogar die Hälfte der europäischen Bevölkerung eliminiert. Die indigenen Völker Amerikas, die keine Immunabwehr gegen etwa Masern und Pocken der europäischen Kolonisatoren hatten, erlebten Krankheitswellen, in denen bis zu 90 Prozent der Menschen starben. Im Kontrast dazu war die Spanische Grippe nur noch ein kleiner Knick in der Kurve des Bevölkerungswachstums. Und die Zahl der Corona-Toten, die bei über 20 Millionen liegt, ist gemessen an den heute mehr als acht Milliarden Menschen rein demografisch betrachtet fast irrelevant. Auch wenn die Pandemie für jeden Betroffenen sicher tragisch war.

ADN Weil es immer mehr Menschen gibt, rücken wir der Natur immer weiter auf den Leib und machen Pandemien wahrscheinlicher. Zugleich können wir jedoch besser mit den Folgen umgehen?

Glaubrecht Ja, weil wir rasante Fortschritte in Wissenschaft und Medizin machen. Allerdings muss man einschränken, dass Corona eine vergleichsweise niedrige Sterblichkeitsrate hat. Ein hämorrhagisches Fieber wie Ebola hingegen tötet acht oder neun von zehn Erkrankten. Wenn so ein Erreger auf eine große Bevölkerung trifft, sind gigantische Folgen nicht ausgeschlossen. Vor allem aber darf man nicht unterschätzen, was geschieht, wenn Klimakrise, Artensterben und Krankheit zusammenkommen. Die Triple-Krise ist sehr gefährlich für die Menschheit.

ADN Was folgt daraus?

Glaubrecht Die Menschheit ist schon bei einer Pandemie mit vergleichsweise niedriger Sterblichkeit sehr verletzlich. Die Welt ist während der Corona-Pandemie zwei Jahre lang komplett aus dem Ruder gelaufen, es gab immense soziale, gesellschaftliche und ökonomische Folgen! Ganz zu schweigen davon, dass bei vielen Menschen das Misstrauen gegenüber dem Staat wuchs und Gesellschaften sich polarisierten. Bei der Aussicht, dass solche Pandemien immer häufiger werden, muss man sagen: Das gefährdet unsere Zivilisation.

ADN Auch weil die Größe der Weltbevölkerung einen idealen Nährboden bietet?

Glaubrecht Wir haben durch unsere Zahl längst die planetaren Grenzen erreicht. Ernähren können wir uns nur noch unter Ausnutzung aller Ressourcen. Wir plündern die Erde schonungslos seit Jahrzehnten, seit die Weltbevölkerung im vergangenen Jahrhundert exponenziell gewachsen ist.

ADN Wäre die Natur ein beseeltes Wesen, könnte man verstehen, wenn sie das Bedürfnis hätte, zurückzuschlagen …

Glaubrecht Solche Höhere-Gewalt-Erzählungen suchen wir gern. Erst war es ein Gott, der uns für unsere Verfehlungen bestraft hat, und jetzt ist es die Natur. Tatsächlich hängt für den Homo sapiens alles von der Natur ab – für die wir nur eine Eintagsfliege der Evolution sind. Die Welt ist schon 4,5 Milliarden Jahre alt, wir existieren erst seit ungefähr 300.000 Jahren. Und 99 Prozent dieser Zeit haben wir als Nomaden gelebt. Wir haben die Natur ganzer Gebiete ausgenutzt und sind dann weitergezogen. Dieses Verhalten hat uns geprägt: Nehmen und Weiterziehen. Vor 10 000 Jahren aber wurden wir sesshaft, und vieles wurde ganz anders. Es gibt kaum Tiere, die ihre Lebensweise so radikal geändert haben, wie es der Mensch mit Ackerbau und Viehzucht getan hat, und das in einer sehr kurzen Zeit – jedenfalls evolutionsbiologisch betrachtet. Das heißt, wir leben als Spezies in einer Lage, in der wir nachhaltig mit Ressourcen umgehen müssten, hatten aber nicht genug Zeit, das wirklich zu lernen.

ADN Kann man das tatsächlich so generalisieren? Gibt es nicht auf der Welt ganz unterschiedliche Umgänge mit der Natur? Manche Kulturen schützen sie gut, andere zerstören sie und noch andere sind deswegen bereits untergegangen, wie beispielsweise die Kulturen der Osterinsel.

Glaubrecht Die Osterinsel ist ein sehr gutes Beispiel. Da gab es eine wachsende Bevölkerung, die eine Hochkultur entwickelt und riesige Steinfiguren aufgestellt hat. Aber dafür wurden die Ressourcen der Insel ausgeplündert, die Wälder gerodet. Es folgte eine ökologische – und vermutlich auch soziale – Kata­strophe. Ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Zivilisation die Natur zerstört und deswegen untergeht, ist Angkor im heutigen Kambodscha. Dort existierte fünf- oder sechshundert Jahre lang eine Zivilisation, bei der so viele Menschen auf engem Raum lebten wie heute in New York. Diese konnten durch drei Reisernten jährlich satt werden. Aber nach äußeren Krisen – einer Reihe von natürlichen Klimaschwankungen mit Dürren und Überschwemmungen – gelang es den herrschenden Eliten einfach nicht mehr, die Bewässerungsanlagen zu unterhalten. Es folgten innere Krisen, die dann Invasoren aus dem benachbarten Siam ermöglichten, das geschwächte Land zu erobern, und Angkors Kultur ging unter.

ADN Zeigt sich diese Unfähigkeit, nachhaltig zu wirtschaften, nicht auch in der europäischen Geschichte immer wieder?

Glaubrecht Schauen Sie nur, wie die Europäer sich auf der Welt ausgebreitet haben. Auf dem nordamerikanischen Kontinent haben die Europäer auf ihrem Zug nach Westen fast die gesamten indigenen Kulturen ausgelöscht. Das Nehmen und Weiterziehen, diese Pioniermentalität, formt die amerikanische Vorstellung von der unendlichen Natur bis heute. Man könnte sagen, das geht bis zu Elon Musk: Wir müssen eben zum Mars weiter, wenn wir die Erde ruiniert haben …

ADN Aber gibt es nicht Gegenbeispiele?

Glaubrecht Es gibt nur wenige Kulturen, die sich dauerhaft mit den vorhandenen Ressourcen begnügt haben. Es gibt sie etwa in den indigenen Bevölkerungen Südamerikas, Neuguineas und einiger Pazifikinseln. Aber dort herrschen brutale Vorschriften, um in der ökologischen Balance zu bleiben, bis hin zur Zahl der erlaubten Nachkommen.

ADN Ziemlich düstere Analyse! Und wenn die übrige Menschheit so wie bisher weitermache, drohe gar das »Ende der Evolution«. So heißt ein Buch von Ihnen. War das wörtlich gemeint?

Glaubrecht Wir müssen uns schonungslos eingestehen, dass es heute nicht um das Abholzen einiger Wälder geht, sondern um globale Umwälzungen. Die Erde hat bereits die Hälfte ihrer natürlichen Vegetation verloren. Und wir setzen das fort, ausgerechnet in den Regionen, in denen die Artenvielfalt noch besonders groß ist. Wir führen seit Jahrzehnten besonders intensiv Krieg gegen die Natur! Dass wir Teil aller irdischen Natur sind, dieses Rollenverständnis geht uns bis heute ab. Stattdessen empfinden wir uns dank der abendländischen Kultur griechischen Ursprungs als Halbgötter ...

ADN Das müssen Sie erklären!

Glaubrecht