Der verborgene Garten - Kate Morton - E-Book
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Der verborgene Garten E-Book

Kate Morton

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Beschreibung

Als die junge Australierin Cassandra von ihrer Großmutter ein kleines Cottage an der Küste Cornwalls erbt, ahnt sie nichts von dem unheilvollen Versprechen, das zwei Freundinnen ein Jahrhundert zuvor an jenem Ort einlösten. Auf den Spuren der Vergangenheit entdeckt Cassandra ein Geheimnis, das seinen Anfang in den Gärten von Blackhurst Manor nahm und seit Generationen das Schicksal ihrer Familie bestimmt.

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Seitenzahl: 937

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Kate Morton

Der verborgene Garten

Roman

Aus dem Englischen von Charlotte Breuerund Norbert Möllemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem TitelThe Forgotten Garden bei Allen & Unwin, Crows Nest, Australien

Von Kate Morton sind im Diana Verlag erschienen: Das geheime Spiel, Der verborgene Garten, Die fernen Stunden, Die verlorenen Spuren, Das Seehaus, Die Tochter des Uhrmachers

Copyright © Kate Morton 2008

Copyright der Karte: Ian Faulkner

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Diana Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion | Angelika Lieke

Covergestaltung: t.mutzenbach design

Covermotiv: Trevillion Images (Ilina Simeonova) und shutterstock.com (Paul shuang, Bernulius, Supitcha Yang)

Herstellung | Helga Schörnig

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-02779-7V008

www.diana-verlag.de

www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis
Teil eins
1 London England, 1913
2 Brisbane Australien, 1930
3 Brisbane Australien, 2005
4 Brisbane Australien, 2005
5 Brisbane Australien, 1976
6 Maryborough Australien, 1913
7 Brisbane Australien, 2005
8 Brisbane Australien, 1975
9 Maryborough Australien, 1914
10 Brisbane Australien, 2005
11 Indischer Ozean vierhundert Meilen jenseits des Kaps der Guten Hoffnung, 1913
12 Über dem Indischen Ozean 2005
13 London England, 1975
14 London England, 1900
15 London England, 2005
16 London England, 1900
17 London England, 2005
18 London England, 1975
19 London England, 2005
20 London England, 1900
 
Teil zwei
21 Cornwall England, 1900
22 Cornwall England, 2005
23 Blackhurst Manor Cornwall, 1900
24 Cliff Cottage Cornwall, 2005
25 Tregenna Cornwall, 1975
26 Blackhurst Manor Cornwall, 1900
27 Tregenna Cornwall, 1975
28 Blackhurst Manor Cornwall, 1900
29 Hotel Blackhurst Cornwall, 2005
30 Blackhurst Manor Cornwall, 1907
31 Blackhurst Manor Cornwall, 1907
32 Cliff Cottage Cornwall, 2005
33 Tregenna Cornwall, 1975
Kapitel 34
Deine dich liebende Cousine Rose
Deine Dich ewig liebende Cousine Rose
35 Hotel Blackhurst Cornwall, 2005
36 Pilchard Cottage Tregenna, 1975
 
Teil drei
37 Blackhurst Manor Cornwall, 1907
38 Cliff Cottage Cornwall, 2005
39 Blackhurst Manor Cornwall, 1909
40 Tregenna Cornwall, 2005
41 Cliff Cottage Cornwall, 1975
42 Blackhurst Manor Cornwall, 1913
43 Cliff Cottage Cornwall, 2005
44 Tregenna Cornwall, 1975
45 Cliff Cottage Cornwall, 1913
46 Polperro Cornwall, 2005
47 Brisbane Australien, 1976
48 Blackhurst Manor Cornwall, 1913
49 Cliff Cottage Cornwall, 2005
50 Blackhurst Manor Cornwall, 1913
51 Tregenna Cornwall, 2005
 
Epilog Greenslopes Hospital Brisbane, 2005
Danksagung
Copyright
Für Oliver und Louis - die mir kostbarer sind als alles im Märchenland gesponnene Gold
»Aber warum soll ich drei Locken von der Feenkönigin mitbringen?«, fragte der junge Prinz das alte Weiblein. »Warum gerade drei? Warum nicht zwei oder vier?«
Das alte Weiblein beugte sich vor, ohne seine Spinnarbeit zu unterbrechen. »Es gibt keine andere Zahl, mein Kind.
Drei ist die Zahl der Zeit, denn sprechen wir nicht von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft? Drei ist die Zahl der Familie, denn sprechen wir nicht von Mutter, Vater und Kind? Drei ist die Zahl der Feen, denn suchen wir sie nicht zwischen Eichen, Eschen und Dornen?«
Der junge Prinz nickte, denn die weise Alte sprach die Wahrheit. »Und deswegen brauche ich drei Locken, um meinen magischen Zopf zu flechten.«
 
Aus Der magische Zopf

Teil eins

1 London England, 1913

Es war dunkel in der Ecke, aber das kleine Mädchen tat, was man ihm befohlen hatte, und blieb in seinem Versteck hocken. Die Dame hatte gesagt, sie müssten noch warten, es sei noch gefährlich, und sie müssten sich so still verhalten wie Mäuse in der Speisekammer. Es war ein Spiel, das wusste das kleine Mädchen. Wie Verstecken oder Rundball oder Schweinchen in der Mitte.
Das kleine Mädchen kauerte hinter den Holzfässern und lauschte. Machte sich ein Bild, wie sein Papa es ihm beigebracht hatte. Männer, wahrscheinlich Matrosen, riefen sich Dinge zu. Raue, laute Stimmen, die nach Meer und Salz klangen. Worte, die das kleine Mädchen nicht verstand, die ihm jedoch keine Angst machten. In der Ferne das anschwellende Geräusch von Schiffssirenen, Trillerpfeifen, ins Wasser klatschenden Rudern und von hoch oben das Kreischen von Möwen, die die Flügel ausbreiteten, um das wärmende Licht der Abendsonne aufzufangen.
Die Dame würde zurückkommen, das hatte sie versprochen, und das kleine Mädchen hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Es wartete schon lange, so lange, dass die Sonne bereits über den ganzen Himmel gewandert war und jetzt so tief stand, dass sie die Knie unter seinem neuen Kleid wärmte. Das kleine Mädchen spitzte die Ohren, wartete darauf zu hören, wie die Röcke der Dame über die hölzernen Planken des Decks raschelten, lauschte auf das Klappern ihrer Absätze, die immer hierhin und dorthin eilten, ganz anders als die seiner Mama. Auf die beiläufige, unbesorgte Weise, die innig geliebten Kindern eigen ist, fragte sich das kleine Mädchen, wo seine Mama sein mochte. Wann sie kommen würde. Und es machte sich Gedanken über die Dame. Es wusste, wer die Dame war, es hatte Großmama von ihr sprechen hören. Sie wurde die Autorin genannt und wohnte in dem kleinen Haus am hinteren Ende des Anwesens, hinter dem Labyrinth. Das sollte das kleine Mädchen eigentlich gar nicht wissen. Man hatte ihm verboten, in der Nähe des Labyrinths aus Dornensträuchern zu spielen. Mama und Großmama hatten ihm eingeschärft, es sei gefährlich auf der Klippe. Aber manchmal, wenn niemand hinsah, tat das kleine Mädchen gern verbotene Dinge.
Unzählige Staubpartikel tanzten in einem Streifen Sonnenlicht, der zwischen zwei Fässern hindurchfiel. Das kleine Mädchen lächelte, und die Autorin, die Klippe, das Labyrinth und seine Mama, all das war mit einem Mal vergessen. Es streckte einen Finger aus, versuchte, ein Staubkorn zu erwischen. Lachte darüber, wie nah die Körnchen dem Finger kamen, bevor sie davonschwebten.
Die Geräusche in der Umgebung änderten sich. Das kleine Mädchen hörte Fußgetrappel, aufgeregtes Stimmengewirr. Es beugte sich in den Lichtschleier vor und legte die Wange an das kühle Holz des Fasses. Spähte mit einem Auge auf das Deck.
Beine und Schuhe und Rocksäume. Bunte Luftschlangen, die im Wind flatterten. Gewitzte Möwen, die das Deck nach Krumen absuchten.
Das riesige Schiff schlingerte, und tief aus seinem Bauch ertönte ein lang gezogenes Stöhnen. Die Deckplanken vibrierten, dass das kleine Mädchen es bis in die Fingerspitzen spürte. Ein kurzer Augenblick der Ungewissheit, das Mädchen hielt den Atem an, stützte sich mit den Handflächen am Boden ab, dann hob und senkte sich das Schiff und entfernte sich langsam vom Kai. Die Schiffssirene heulte auf, großer Jubel und »Bon Voyage!«-Rufe erklangen, und sie waren unterwegs. Nach Amerika, zu einem Ort namens New York, wo Papa geboren war. Das kleine Mädchen hatte hin und wieder gehört, wie die Erwachsenen davon geflüstert hatten, wie Mama gesagt hatte, sie sollten so bald wie möglich aufbrechen, sie könnten nicht länger warten. Wahrscheinlich waren Mama und Papa schon vorausgefahren, dachte das Mädchen. Das machten sie manchmal. Gingen fort und ließen es in der Obhut von Großmama und Großpapa zurück.
Wieder musste das kleine Mädchen lachen. Das Schiff glitt durch die Wellen wie ein riesiger Wal, wie Moby Dick in der Geschichte, die Papa ihm so oft vorgelesen hatte. Mama mochte es nicht, wenn er solche Geschichten vorlas. Mama fand, sie würden ihrer Tochter nur Angst machen und ihr Flausen in den Kopf setzen. Papa gab Mama immer einen Kuss auf die Stirn, wenn sie solche Bedenken äußerte, sagte ihr, sie habe recht und er werde in Zukunft besser achtgeben. Aber das hinderte ihn nicht daran, dem Mädchen weiterhin Geschichten von dem großen Wal zu erzählen. Und er las ihm aus dem Märchenbuch vor, das das kleine Mädchen so sehr liebte, Märchen von blinden alten Weiblein und Waisenkindern und von langen Reisen über das Meer. Und er achtete immer darauf, dass es ihr Geheimnis blieb und Mama nichts davon erfuhr.
Das Mädchen verstand, dass sie Geheimnisse vor Mama haben mussten. Mama ging es nicht gut, sie war schon kränklich gewesen, bevor das Mädchen geboren wurde. Großmama ermahnte es stets, brav zu sein, denn, so betonte sie immer wieder, wenn Mama sich aufregte, könne etwas Schlimmes passieren, und dann sei es seine Schuld. Das Mädchen hatte seine Mutter lieb, und da es sie nicht traurig machen wollte und auch nicht wollte, dass ihr etwas zustieß, wahrte es seine Geheimnisse. Es erzählte nichts von den Märchen, verschwieg, dass es manchmal in der Nähe des Labyrinths spielte und dass Papa es hin und wieder zu einem Besuch bei der Autorin in dem kleinen Haus am Ende des Anwesens mitnahm.
»Aha!« Eine Stimme ertönte ganz in der Nähe. »Hab ich dich gefunden!« Das Fass wurde zur Seite geschoben, und das kleine Mädchen blinzelte in die Sonne, bis der Besitzer der Stimme sich ins Licht stellte. Es war ein großer Junge von acht oder neun Jahren. »Du bist nicht Sally«, sagte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Wer bist du?«
Das kleine Mädchen zögerte. Es durfte niemandem seinen Namen nennen. Das war ein Spiel, das die Dame erfunden hatte.
»Nun?«
»Das ist ein Geheimnis.«
Er zog die Nase kraus, sodass seine Sommersprossen dichter zusammenrückten. »Wieso?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern. Es durfte die Dame nicht erwähnen, das hatte Papa ihr oft genug eingeschärft.
»Wo ist Sally dann?« Der Junge verlor die Geduld. Er schaute nach rechts und links. »Sie ist in diese Richtung gelaufen, da bin ich mir ganz sicher.«
Aus einer anderen Ecke des Decks erscholl lautes Gelächter, dann hörte man jemanden davonlaufen. Die Miene des Jungen hellte sich auf. »Schnell!«, sagte er und rannte los. »Sonst entwischt sie uns noch.«
Das Mädchen lugte hinter dem Fass hervor und sah zu, wie der Junge durch die Menge flitzte und hinter weißen Röcken herjagte.
Dem Mädchen juckte es in den Füßen, sich an dem Spiel zu beteiligen.
Aber die Dame hatte gesagt, es solle warten.
Der Junge war schon ziemlich weit weg. Gerade schob er sich an einem beleibten Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart vorbei, der so verdattert die Brauen zusammenzog, dass sein Gesicht aussah wie eine zerdrückte Tomate.
Vielleicht gehörte das alles zum selben Spiel. Die Dame erinnerte das Mädchen viel mehr an ein Kind als die anderen Erwachsenen, die es kannte. Vielleicht spielte die Dame ja auch mit.

2 Brisbane Australien, 1930

Am Ende einigten sie sich darauf, Nells Geburtstagsparty in der Aula der Fakultät für Kunst zu feiern. Hamish hatte vorgeschlagen, die Party im neuen Veteranenklub auf der Given Terrace abzuhalten, doch Nell hatte sich der Meinung ihrer Mutter angeschlossen und erklärt, es sei Unsinn, so viel Geld auszugeben, vor allem in so schwierigen Zeiten. Hamish hatte schließlich nachgegeben, jedoch darauf bestanden, dass sie sich aus Sydney die spezielle Spitze kommen ließ, von der er wusste, dass sie sie so gern für ihr Kleid haben wollte. Lil hatte ihm kurz vor ihrem Tod diesen Floh ins Ohr gesetzt. Sie hatte sich zu ihm herübergebeugt, seine Hand genommen und ihm in der Zeitung die Anzeige von dem Geschäft in der Pitt Street gezeigt. Wie edel die Spitze sei, hatte sie gegurrt, wie sehr Nellie sie sich wünschte. Die Spitze sei vielleicht ein bisschen extravagant, aber man könne sie auch noch für ein Hochzeitskleid verwenden, wenn es so weit sei. Als Lil ihn angelächelte hatte, war sie ihm wieder vorgekommen wie sechzehn, und er war dahingeschmolzen.
Damals arbeiteten Lil und Nell schon seit Wochen an dem Kleid. Nach Feierabend im Zeitungsladen und nach dem Nachmittagstee, wenn die jüngeren Mädchen sich träge auf der Veranda kabbelten und so viele Mücken in der schwülen Luft herumschwirrten, dass das Summen einen ganz verrückt machte, nahm Nell ihren Stickkorb und setzte sich zu ihrer Mutter ans Krankenbett. Manchmal hörte Hamish sie über etwas lachen, was sich im Zeitungsladen zugetragen hatte: ein Streit zwischen Max Fitzsimmons mit irgendeinem Kunden oder Mrs Blackwells genüssliche Klagen über ihre neueste Krankheit. Er blieb an der Tür stehen, stopfte seine Pfeife und lauschte, als Nell mit gedämpfter Stimme aufgeregt von etwas erzählte, das Danny gesagt hatte. Mal ging es um das Haus, das er ihr bauen würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren, mal um ein Auto, auf das er ein Auge geworfen hatte und das er nach Meinung seines Vaters zu einem Spottpreis würde erwerben können, oder um den neuesten Mixer aus dem Kaufhaus McWhirters.
Hamish mochte Danny – einen besseren Mann konnte er sich für Nell nicht wünschen -, und das war gut so, denn seit sie sich kennengelernt hatten, waren Nell und Danny unzertrennlich. Seit zwei Jahren gingen sie nun schon miteinander. Die beiden zusammen zu erleben, erinnerte Hamish immer an seine erste Zeit mit Lil. Sie waren glücklich und zufrieden und immer füreinander da gewesen. Nur selten war in all den Jahren ein böses Wort zwischen ihnen gefallen. Ja, sie führten eine gute Ehe. Anfangs, ehe die Kinder geboren wurden, hatte es ein paar Zerreißproben gegeben, aber auf die eine oder andere Weise hatten sie alle Klippen umschifft.
Wenn seine Pfeife gestopft war und er keinen Vorwand mehr hatte, an der Tür stehen zu bleiben, ging Hamish weiter und suchte sich einen stillen Platz am hinteren Ende der Veranda, eine schattige Stelle, wo er seinen Frieden hatte oder zumindest so viel Frieden, wie man finden konnte in einem Haus voller zänkischer Töchter, eine reizbarer als die andere. Nur er allein und seine Fliegenklatsche auf der Fensterbank für den Fall, dass die Mücken allzu lästig wurden. Und dann hing er seinen Gedanken nach, die unweigerlich zu dem Geheimnis wanderten, das er jetzt schon all die Jahre über hütete. Der Zeitpunkt würde bald kommen, das spürte er. Der Druck, dem er so lange standgehalten hatte, wurde stärker. Hatte sie nicht ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren? Sie war fast einundzwanzig, eine erwachsene Frau, verlobt und drauf und dran, ihr eigenes Leben zu führen – hieß das nicht, dass es so weit war? Was Lil dazu sagen würde, wusste er, und deswegen erwähnte er ihr gegenüber nichts von seinem Vorhaben. Auf keinen Fall wollte er, dass sie sich Sorgen machte und ihre letzten Tage mit dem Versuch zubrachte, es ihm auszureden, wie sie es in der Vergangenheit schon so oft getan hatte.
Manchmal, wenn er sich erneut fragte, wie er es anstellen sollte, welche Worte er für sein Geständnis wählen würde, ertappte er sich dabei, wie er sich insgeheim wünschte, es würde eine seiner anderen Töchter treffen. Und dann verfluchte er sich dafür, dass er eine Tochter den anderen vorzog, auch wenn er es sich nach außen hin nicht anmerken ließ.
Aber Nellie war schon immer etwas Besonderes gewesen, so völlig anders als die anderen. Energischer, fantasievoller. Sie kam viel mehr nach Lil, dachte er immer wieder, auch wenn das natürlich Unsinn war.
Sie hatten die Dachsparren mit Girlanden geschmückt – weiße, die zu ihrem Kleid passten, und rote, die zu ihrem Haar passten. Die alte, aus Holz errichtete Halle mochte vielleicht nicht so elegant sein wie die neuen Backsteingebäude in der Stadt, aber sie machte durchaus etwas her. Im hinteren Bereich, in der Nähe der Bühne, hatten Nells vier jüngere Schwestern einen Gabentisch aufgestellt, auf dem sich bereits eine ganze Reihe Päckchen stapelten. Einige Frauen aus der Kirchengemeinde hatten gemeinsam das Abendessen bereitet, und Ethel Mortimer entlockte dem Klavier romantische Tanzweisen aus der Kriegszeit.
Anfangs standen die jungen Männer und Frauen verlegen in Grüppchen am Rand des Saals herum, aber als die Musik lebhafter wurde und die etwas kontaktfreudigeren Frauen in Stimmung kamen, begaben sie sich paarweise auf die Tanzfläche. Nells kleine Schwestern schauten dem Treiben sehnsüchtig zu, bis sie abkommandiert wurden, um das Essen auf Tabletts aus der Küche zu holen und auf dem Tisch anzurichten.
Als die Zeit für die Reden gekommen war, hatten alle bereits glühende Wangen, und die Schuhe trugen die ersten Spuren vom Tanzen. Marcie McDonald, die Frau des Pfarrers, schlug mit der Gabel an ihr Glas, und alle Augen richteten sich auf Hamish, der neben dem Gabentisch stand und ein kleines Blatt Papier auseinanderfaltete, das er aus seiner Brusttasche gezogen hatte. Er räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über das ordentlich gekämmte Haar. Öffentliche Reden zu halten, war nie seine Stärke gewesen. Er war eher zurückhaltend, behielt seine Ansichten lieber für sich und überließ das Reden gern den wortgewaltigeren unter seinen Geschlechtsgenossen. Aber seine Tochter wurde nur einmal volljährig, und es war seine Pflicht, zu diesem Ereignis ein paar Worte zu sagen. Er war schon immer ein Verfechter der Pflichterfüllung gewesen, einer, der sich an die Regeln hielt. Meistens jedenfalls.
Er lächelte und hob eine Hand, als einer seiner Kameraden vom Hafen ihn laut aufforderte, endlich das Wort zu ergreifen, dann legte er den kleinen Zettel in seine Handfläche und holte tief Luft. Einen nach dem anderen ging er die Stichpunkte durch, die er sich mit schwarzer Tinte auf dem Zettel notiert hatte: Wie stolz er und seine Frau auf Nell waren, dass ihre Geburt ein Segen für sie gewesen war, die Antwort auf all ihre Gebete, wie sehr sie Danny mochten und wie beglückt Lil gewesen war, als sie kurz vor ihrem Tod von der Verlobung der beiden erfahren hatte. Als er seine kürzlich verstorbene Frau erwähnte, brannten Hamishs Augen, und er musste seine Rede kurz unterbrechen. Er blinzelte mehrmals, um die Worte auf seinem Zettel lesen zu können, dann schaute er die Gäste an. Es sei an der Zeit, sagte er trocken, noch einen Mann in der Familie zu haben, damit er nicht länger auf verlorenem Posten stehe. Alle lachten, und seine Töchter verdrehten theatralisch die Augen, wussten sie doch, wie sehr er seine Mädchen liebte. Hamish ließ den Blick über die Gesichter seiner Freunde und seiner Töchter wandern und schaute schließlich Nell an, die lächelnd zuhörte, während Danny ihr etwas ins Ohr flüsterte. Noch einmal atmete Hamish tief ein, und als sein Gesicht sich kurz verdüsterte, rechneten seine Zuhörer damit, dass er eine wichtige Ankündigung machen würde. Doch dann hellte seine Miene sich wieder auf, Hamish steckte den Zettel zurück in seine Brusttasche und wünschte allen guten Appetit.
Die Damen in der Küche traten in Aktion und servierten den Gästen Tee und Sandwiches, doch während alle anderen an den Tischen Platz nahmen, blieb Hamish noch eine Weile stehen, ließ sich von seinen Freunden mit einem »Gut gemacht, Kumpel!« auf die Schulter klopfen und von einer der Damen eine Tasse Tee in die Hand drücken. Die Rede war gut angekommen, und doch konnte Hamish sich nicht entspannen. Sein Herz schlug zu schnell, und er schwitzte, obwohl es nicht heiß war.
Natürlich kannte er den Grund. Noch hatte er nicht alle Pflichten erfüllt, die sich ihm an diesem Abend stellten. Als er sah, wie Nell allein durch die Seitentür auf die kleine Treppe trat, verstand er das als seine Chance. Er räusperte sich, stellte seine Teetasse zwischen zwei Päckchen auf dem Gabentisch ab und trat aus dem mit behaglichem Stimmengemurmel erfüllten Saal in die kühle Nachtluft hinaus.
Nell stand neben dem silbrig grünen Stamm eines einzelnen Eukalyptusbaums. Früher, dachte Hamish, war der ganze Hügel dicht bewachsen gewesen mit Eukalyptusbäumen, ebenso wie die Täler zu beiden Seiten. All diese geisterhaften Baumstämme mussten in einer Vollmondnacht ein beeindruckender Anblick gewesen sein.
Seine Gedanken waren nur ein Ablenkungsmanöver. Immer noch versuchte er, sich vor der Verantwortung zu drücken. Er war drauf und dran, wieder einen Rückzieher zu machen.
Zwei schwarze Fledermäuse flogen lautlos durch den Nachthimmel, als Hamish die wackeligen Holzstufen hinunterstieg und durch das taunasse Gras ging. Sie musste ihn gehört oder vielleicht gespürt haben, denn sie drehte sich um und lächelte ihm entgegen.
Sie habe gerade an ihre Mutter gedacht, sagte sie, als er neben sie trat, und sich gefragt, von welchem Stern sie wohl auf sie herabschaute.
Hamish hätte weinen können, als sie das sagte. Musste sie ausgerechnet jetzt Lil ins Spiel bringen, verdammt. Ihn daran erinnern, dass sie zuschaute und ihm übel nahm, was er vorhatte. Vielleicht hatte sie ja sogar recht. Vielleicht musste es nicht sein. Sie könnten einfach so weiterleben wie bisher. Lils Stimme klang in seinen Ohren, zählte all die alten Argumente auf.
Nein. Er musste die Sache in die Hand nehmen und er hatte seine Entscheidung getroffen. Schließlich war er es gewesen, der das alles angefangen hatte. Es mochte nicht seine Absicht gewesen sein, aber er hatte den Schritt getan, der sie auf diesen Weg geführt hatte, und nun lag es an ihm, die Dinge richtigzustellen. Geheimnisse kamen immer irgendwann ans Tageslicht, und es war besser, sie erfuhr die Wahrheit von ihm.
Er nahm Nells Hände, hauchte auf jede einen Kuss. Drückte ihre zarten Finger fest mit seinen von harter Arbeit schwieligen Händen.
Seine Tochter. Seine Älteste.
Sie lächelte ihn an. Sie wirkte so strahlend in ihrem duftigen, spitzenbesetzten Kleid.
Auch er lächelte.

3 Brisbane Australien, 2005

Cassandra hatte das Krankenhaus seit Tagen nicht mehr verlassen, obwohl der Arzt ihr kaum Hoffnungen machte, dass ihre Großmutter noch einmal zu klarem Bewusstsein kommen würde. Das sei sehr unwahrscheinlich, hatte er ihr erklärte, bei ihrem Alter und angesichts der Menge an Morphium in ihrem Körper.
Die Nachtschwester kam, woraus Cassandra schloss, dass es inzwischen Abend war. Wie spät genau, wusste sie nicht. Hier im Krankenhaus war das schwer zu sagen: Die Beleuchtung war ständig eingeschaltet, ununterbrochen lief irgendwo ein Fernseher, den man hören, aber nicht sehen konnte, Medikamentenwagen wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Korridore geschoben. Es hatte etwas Ironisches, dass ein Ort, an dem so vieles von Routine abhing, völlig außerhalb des normalen Zeitrhythmus funktionierte.
Dennoch wartete Cassandra. Wachte an Nells Bett und tröstete sie, während Nell in einem Meer aus Erinnerungen versank und zum Luftholen aus immer weiter zurückliegenden Zeiten auftauchte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Großmutter entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihren Weg aus der Tiefe zurück in die Gegenwart finden könnte, nur um festzustellen, dass sie allein am äußersten Rand des Lebens trieb.
Die Schwester tauschte den leeren Infusionsbeutel gegen einen vollen aus, drehte einen Knopf an einem Gerät hinter dem Bett und machte sich daran, das Bettzeug zu richten und Nell ordentlich zuzudecken.
»Sie hat noch gar nichts zu trinken bekommen«, sagte Cassandra. Ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren. »Den ganzen Tag noch nicht.«
Die Schwester blickte auf, überrascht, dass sie angesprochen wurde. Über ihre Brille hinweg schaute sie Cassandra an, die, eine zerknitterte blau-grüne Krankenhausdecke auf den Knien, auf einem Sessel saß. »Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie. »Sie sind schon den ganzen Tag hier, nicht wahr? Ist wahrscheinlich auch gut so, es wird nämlich nicht mehr lange dauern.«
Cassandra ging nicht auf die Anspielung ein. »Sollten wir ihr nicht etwas zu trinken geben? Sie hat doch bestimmt Durst.«
Die Schwester schlug die Laken um und steckte sie unter Nells dünnen Armen fest. »Machen Sie sich keine Sorgen. Diese Infusion sorgt dafür, dass sie genug Flüssigkeit bekommt.« Sie überprüfte etwas auf Nells Krankenblatt und sagte ohne aufzublicken: »Am Ende des Korridors steht ein Automat, da können Sie sich einen Tee zubereiten, wenn Sie wollen.«
Als die Schwester gegangen war, sah Cassandra, dass Nell die Augen geöffnet hatte und sie anstarrte.
»Wer bist du?«
»Ich bin Cassandra.«
Verwirrung. »Kenne ich dich?«
Obwohl der Arzt sie darauf vorbereitet hatte, schmerzte es sie, dass ihre Großmutter sie nicht erkannte. »Ja, Nell.«
Nell schaute sie mit ihren grauen, wässrigen Augen an. Sie blinzelte verunsichert. »Ich kann mich nicht erinnern …«
»Schsch … Ist schon gut.«
»Wer bin ich?«
»Du heißt Nell Andrews«, sagte Cassandra sanft und nahm ihre Hand. »Du bist fünfundneunzig Jahre alt, und du wohnst in einem alten Haus in Paddington.«
Nells Lippen zitterten – sie konzentrierte sich, versuchte, den Sinn der Worte zu begreifen.
Cassandra zog ein Kleenex aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und wischte Nell vorsichtig einen Speichelfaden vom Kinn. »Du hast einen Stand auf dem Antiquitätenmarkt auf der Latrobe Terrace«, fuhr sie leise fort. »Wir beide teilen uns den Stand und verkaufen dort alte Sachen.«
»Ich kenne dich«, sagte Nell schwach. »Du bist Lesleys Tochter.«
Cassandra blinzelte verblüfft. Sie sprachen fast nie von ihrer Mutter. In all den Jahren, als sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen war, und in den zehn Jahren, seit sie zurückgekehrt und in die kleine Wohnung im Untergeschoss von Nells Haus gezogen war, hatten sie sie kaum jemals erwähnt. Es war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen, nicht an eine Vergangenheit zu rühren, die sie beide aus unterschiedlichen Gründen lieber vergessen wollten.
Nell zuckte zusammen. Ängstlich musterte sie Cassandras Gesicht. »Wo ist der Junge? Hoffentlich nicht hier. Ist er hier? Ich will nicht, dass er meine Sachen anfasst. Er macht nur alles kaputt.«
Cassandra wurde schwindlig.
»Meine Sachen sind wertvoll. Pass auf, dass er sie nicht anfasst.«
»Nein … Nein«, stotterte Cassandra. »Ich passe schon auf. Keine Sorge, Nell. Er ist nicht hier.«
Später, als ihre Großmutter wieder in die dunklen Gewässer des Schlafs eingetaucht war, dachte Cassandra über die grausame Fähigkeit des Gehirns nach, Schnipsel aus der Vergangenheit in Erinnerung zu bringen. Warum meldeten sich an ihrem Lebensende Stimmen von Menschen im Kopf ihrer Großmutter, die längst nicht mehr da waren? War das immer so? Suchten diejenigen, die die Überfahrt auf dem lautlosen Schiff des Todes antraten, alle den Kai nach den Gesichtern derer ab, die ihnen vorausgereist waren?
Cassandra musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug, hatte sich die Stimmung im Krankenhaus wieder geändert. Sie waren noch tiefer in den Tunnel der Nacht eingedrungen. Das Licht im Korridor war gedämpft, und von überall her waren die Geräusche des Schlafs zu vernehmen. Sie saß in sich zusammengesunken in ihrem Sessel, ihr Hals war steif, und ein Fuß war ganz kalt, weil die dünne Decke verrutscht war. Es musste sehr spät sein, und sie war hundemüde. Was hatte sie bloß geweckt?
Nell. Ihr Atem ging laut. Sie war wieder wach. Cassandra stand auf und setzte sich auf die Bettkante. Im gedämpften Licht wirkten Nells Augen glasig, bleich und trüb wie Wasser, in dem man einen Farbpinsel ausgewaschen hat. Ihre Stimme, ein dünner Faden nur, drohte jeden Augenblick zu zerreißen. Zuerst konnte Cassandra sie gar nicht hören und dachte, dass sich nur ihre Lippen um Worte herumbewegten, die sie vor langer Zeit ausgesprochen hatte. Dann wurde ihr klar, dass Nell mit ihr redete.
»Die Dame hat mir gesagt, ich soll warten …«
Cassandra streichelte Nells warme Stirn und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die einst geglänzt hatten wie aus Silberfäden gesponnen. Die rätselhafte Dame schon wieder. »Sie wird dir bestimmt nicht böse sein«, sagte Cassandra. »Die Dame wird es dir nicht übel nehmen, wenn du gehst.«
Nell presste die zitternden Lippen aufeinander. »Ich darf mich nicht von der Stelle rühren. Sie hat gesagt, ich soll warten, hier auf dem Schiff.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Die Dame … die Autorin … Erzähl niemandem davon.«
»Schsch«, sagte Cassandra sanft. »Ich werde niemandem davon erzählen, Nell, auch nicht der Dame. Du darfst ruhig gehen.«
»Sie hat gesagt, sie würde mich abholen, aber ich bin weggegangen. Ich bin nicht geblieben, wo ich sollte.«
Der Atem ihrer Großmutter ging jetzt sehr schwer, sie geriet in Panik.
»Bitte mach dir keine Sorgen, Nell, bitte. Es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es dir.« Nells Kopf fiel zur Seite. »Ich kann nicht gehen … Ich sollte nicht … Die Dame …«
Cassandra drückte auf den Notrufknopf, aber über dem Bett ging kein Licht an. Sie zögerte, lauschte auf herbeieilende Schritte auf dem Korridor. Nells Lider flatterten, sie dämmerte weg.

4 Brisbane Australien, 2005

Das Haus schien zu spüren, dass seine Besitzerin fort war, und auch wenn es nicht unbedingt um sie trauerte, so hüllte es sich zumindest in trotziges Schweigen. Nell hatte nie viel für Gäste und Partys übrig gehabt (selbst die Küchenmäuse hatten mehr Lärm gemacht als ihre Enkelin), und das Haus war an ein stilles Leben gewöhnt, ohne Gezänk, ohne Aufregung, ohne Lärm. Und so war es ein Schock, als die Leute ohne Vorwarnung eintrafen, in Haus und Garten herumwuselten, Tee verschütteten und Krümel verteilten. An den Hügel hinter dem riesigen Antiquitätenmarkt geduckt, ertrug das Haus die Beleidigung mit stoischer Würde.
Natürlich hatten die Tanten das alles organisiert. Cassandra hätte gern auf den ganzen Rummel verzichtet und sich im Stillen von ihrer Großmutter verabschiedet, aber davon hatten die Tanten nichts hören wollen. Selbstverständlich würden sie Nell eine Totenfeier ausrichten, verkündeten sie. Die Angehörigen würden ihr ebenso die letzte Ehre erweisen wollen wie ihre Freunde. Außerdem gehörte sich das nun mal so.
Einer solch treuherzigen Gewissheit hatte Cassandra nichts entgegenzusetzen. Früher hätte sie sich mit den Tanten angelegt, heute nicht mehr. Die Tanten waren eine nicht aufzuhaltende Sturmtruppe und sie besaßen eine Energie, die ihr hohes Alter Lügen strafte (selbst Tante Hettie, die jüngste, war schon fünfundsiebzig). Cassandra hatte also ihre Bedenken heruntergeschluckt, dem Impuls widerstanden, darauf hinzuweisen, dass Nell überhaupt keine Freunde gehabt hatte, und sich an die Aufgaben gemacht, die man ihr zugeteilt hatte: Teetassen, Teller und Kuchengabeln auf den Tischen zu verteilen und ein bisschen aufzuräumen, damit die Verwandten Platz zum Sitzen hatten, während die Tanten geschäftig um sie herumschwirrten.
Eigentlich waren sie gar nicht Cassandras Tanten. Sie waren Nells jüngere Schwestern, die Tanten von Cassandras Mutter. Aber Lesley hatte nie viel mit ihnen anfangen können, woraufhin die Tanten Cassandra an ihrer Stelle unter ihre Fittiche genommen hatten.
Cassandra hatte irgendwie damit gerechnet, dass ihre Mutter zur Beerdigung kommen, dass sie in die Feierlichkeiten im Krematorium platzen würde, eine Frau, die dreißig Jahre jünger wirkte, als sie tatsächlich war, und immer bewundernde Blicke auf sich zog. Schön und jung und stets beneidenswert unbekümmert.
Aber sie war nicht gekommen. Wahrscheinlich würde sie eine Beileidskarte schicken, dachte Cassandra, mit einem unpassenden Bild vorn drauf. In einer auffälligen, schnörkeligen Handschrift und mit Herzchen und Küsschen am Rand, Verbundenheitsbeteuerungen von der Sorte, die man gedankenlos austeilt.
Cassandra tauchte die Hände ins Spülwasser und bewegte das Geschirr noch ein bisschen hin und her.
»Also, ich finde, es ist großartig gelaufen«, sagte Phyllis, die Älteste nach Nell und bei Weitem die Dominanteste. »Nell hätte es gefallen.«
Cassandra wandte sich ab.
»Na ja«, sagte Phyllis und hielt kurz inne beim Abtrocknen. »Jedenfalls nachdem sie sich darüber ausgelassen hätte, dass sie eigentlich keine Trauerfeier haben wollte.« Dann fuhr sie in einem mütterlichen Tonfall fort: »Und du? Wie kommst du mit alldem zurecht?«
»Ganz gut.«
»Du siehst mager aus. Isst du auch ordentlich?«
»Dreimal täglich.«
»Du könntest ein paar Pfund mehr auf den Rippen gebrauchen. Morgen Abend kommst du zum Tee, ich lade die ganze Familie ein und mache meine Hackfleischpastete.«
Cassandra widersprach nicht.
Phyllis schaute sich argwöhnisch in der alten Küche um und betrachtete die schief hängende Dunstabzugshaube. »Du fürchtest dich nicht, allein hier im Haus?«
»Nein, eigentlich …«
»Aber du bist einsam«, fiel Phyllis ihr ins Wort und zog übertrieben mitfühlend die Nase kraus. »Natürlich. Das ist ganz normal. Schließlich habt ihr beide euch gut verstanden, du und Nell, nicht wahr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie Cassandra eine sommersprossige Hand auf den Unterarm und sagte aufmunternd: »Du wirst bald darüber hinwegkommen, und ich sage dir auch, warum. Es ist immer traurig, wenn man einen geliebten Menschen verliert, aber wenn derjenige schon sehr alt war, ist es nicht so schlimm. Das ist der Lauf der Dinge. Viel schlimmer ist es, wenn ein junger Mensch …« Sie unterbrach sich mitten im Satz, die Schultern angespannt, das Gesicht gerötet.
»Ja«, sagte Cassandra hastig, »das ist viel schlimmer.« Sie nahm die Hände aus dem Spülwasser und schaute durch das Fenster in den Garten. Schaum lief ihr über die Finger, über den goldenen Ehering, den sie immer noch trug. »Ich sollte rausgehen und ein bisschen Unkraut jäten. Wenn ich nicht aufpasse, wuchert die Kapuzinerkresse noch über den ganzen Weg.«
Dankbar stürzte sich Phyllis auf das neue Thema. »Ich werde Trevor herschicken, der kann dir helfen.« Ihre knorrigen Finger verstärkten den Druck auf Cassandras Arm. »Nächsten Samstag, einverstanden?«
In diesem Augenblick schlurfte Tante Dot mit einem Tablett voller benutzter Teetassen aus dem Wohnzimmer herüber. Scheppernd stellte sie das Tablett auf der Bank ab und fasste sich mit ihrer fleischigen Hand an die Stirn.
»Geschafft«, sagte sie, während sie Cassandra und Phyllis durch ihre dicken Brillengläser anschaute. »Das waren die letzten.« Sie watschelte an die Anrichte und lugte in einen runden Tortenbehälter aus Kunststoff. »Von so viel Arbeit kriegt man ordentlich Hunger.«
»Himmel, Dot«, sagte Phyllis, froh, ihre Verlegenheit in einen Tadel ummünzen zu können, »du hast doch gerade erst gegessen.«
»Das war vor einer Stunde.«
»Bei deinen Gallenproblemen! Ich dachte, du würdest auf dein Gewicht achten.«
»Mach ich auch«, erwiderte Dot, richtete sich auf und legte die Hände um ihre umfangreiche Taille. »Seit Weihnachten hab ich drei Kilo abgenommen.« Während sie den Tortenbehälter wieder verschloss, bemerkte sie Phyllis’ zweifelnden Blick. »Ehrlich.«
Cassandra unterdrückte ein Lächeln und fuhr fort, die Tassen zu spülen. Phyllis war kein bisschen schlanker als Dot, die Tanten waren alle kugelrund. Das hatten sie von ihrer Mutter geerbt, und die hatte es von ihrer Mutter. Nell, die auf ihren hageren irischen Vater kam, war diesem Familienfluch als Einzige entgangen. Sie waren immer ein lustiger Anblick gewesen: die große, dünne Nell und ihre pummeligen Schwestern.
Phyllis und Dot kabbelten sich immer noch, und wenn es Cassandra nicht gelang, sie abzulenken, das wusste sie aus Erfahrung, dann würde der Streit eskalieren, bis eine der beiden ein Geschirrtuch auf den Boden warf und empört aus der Küche stürmte. Sie hatte das schon oft genug miterlebt, und doch verblüffte es sie immer wieder, wie bestimmte Worte, bestimmte Anspielungen oder ein Blickkontakt, der eine Winzigkeit zu lange dauerte, einen Jahre zurückliegenden Streit wieder aufflammen lassen konnte. Als Einzelkind fand Cassandra die ausgetretenen Pfade der Geschwisterkommunikation zugleich faszinierend und erschreckend. Zum Glück waren die anderen Tanten bereits von ihren Familien abtransportiert worden und konnten nicht auch noch ihren Senf dazugeben.
Cassandra räusperte sich. »Ich wollte euch die ganze Zeit schon etwas fragen.« Sie hatte schon fast ihre Aufmerksamkeit gewonnen und hob ein wenig die Stimme. »Es hat was mit Nell zu tun. Mit etwas, das sie im Krankenhaus gesagt hat.«
Phyllis und Dot wandten sich ihr zu, die Wangen gerötet. Die Erwähnung ihrer Schwester schien sie zu beruhigen. Es erinnerte sie daran, warum sie hier waren und Teetassen abtrockneten. »Etwas mit Nell?«
Cassandra nickte. »Kurz vor ihrem Tod hat sie von einer Frau gesprochen. Die Dame hat sie sie genannt, die Autorin. Es war, als wähnte sie sich auf einer Art Schiff.«
Phyllis kniff die Lippen zusammen. »Ach, da war sie schon nicht mehr ganz richtig im Kopf, sie wusste nicht, was sie sagt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Figur aus irgendeiner Fernsehshow. Gab es da nicht mal so eine Serie mit einem Schiff, die sie sich immer angesehen hat?«
»Ach Phyll«, sagte Dot kopfschüttelnd.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie öfter davon gesprochen hat …«
»Ich bitte dich, Phyll«, fiel Dot ihr ins Wort. »Nell ist nicht mehr da. Das kannst du dir alles sparen.«
Phyllis verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte verunsichert.
»Wir sollten es ihr sagen«, drängte Dot sanft. »Es kann nicht schaden. Jetzt nicht mehr.«
»Was solltet ihr mir sagen?« Cassandra schaute die Tanten nacheinander an. Ihre Frage war eine Präventivmaßnahme gewesen, um einen größeren Streit zu verhindern, nie hätte sie erwartet, damit so eine Heimlichtuerei aufzudecken. Die Tanten waren so aufeinander fixiert, dass sie Cassandras Anwesenheit offenbar ganz vergessen hatten. »Was solltet ihr mir sagen?«
Dot, den Blick immer noch auf Phyllis geheftet, hob die Brauen. »Besser, sie erfährt es von uns, als dass sie es auf andere Weise herausfindet.«
Phyllis nickte kaum merklich und lächelte grimmig. Ihr gemeinsames Wissen machte sie erneut zu Verbündeten.
»Komm, am besten setzen wir uns hin«, sagte Phyllis schließlich. »Dotty, Liebes, würdest du Wasser aufsetzen und uns einen Tee aufgießen?«
Cassandra folgte ihrer Tante ins Wohnzimmer und nahm auf Nells Sofa Platz. Phyllis machte es sich mit ihrem breiten Gesäß am anderen Ende bequem und begann, an einem losen Faden zu spielen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist schon so lange her, dass ich das letzte Mal über all das nachgedacht habe.«
Cassandra war verblüfft. Was bedeutete all das?
»Was ich dir erzählen werde, ist das große Geheimnis unserer Familie. Jede Familie hat ein Geheimnis, keine Frage, aber manche haben halt ein besonders großes.« Stirnrunzelnd blickte sie in Richtung Küche. »Herrgott noch mal, wo bleibt Dot denn so lange?«
»Worum geht es überhaupt, Phyll?«
Sie seufzte. »Ich hatte mir geschworen, niemals jemandem davon zu erzählen. Die ganze Sache hat unsere Familie so entzweit, dass es leichter wäre, einfach so zu tun, als wäre es nie geschehen. Ich jedenfalls wünschte mir inständig, Dad hätte es für sich behalten. Aber der arme Kerl hat geglaubt, er würde das Richtige tun.«
»Was hat er denn getan?«
Phyllis tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Das war ihre Geschichte, und sie würde sie auf ihre Weise erzählen und sich dafür so viel Zeit lassen, wie sie brauchte. »Wir waren eine glückliche Familie. Wir besaßen nicht viel, aber wir waren zufrieden. Ma und Pa und wir Mädchen. Nellie war die Älteste, wie du weißt, dann kam eine Lücke von zehn Jahren, wegen des Kriegs, und dann kamen wir anderen.« Sie lächelte. »Du würdest es nicht glauben, aber damals war Nellie das Herz und die Seele der Familie. Wir haben sie alle bewundert, für uns Kinder war sie wie eine Mutter, vor allem, als Ma krank wurde. Nell hat sich immer so liebevoll um sie gekümmert.«
Cassandra konnte sich vorstellen, dass Nell ihre todkranke Mutter gepflegt hatte, aber dass ihre kratzbürstige Großmutter das Herz und die Seele der Familie gewesen sein sollte? »Und was ist dann passiert?«
»Lange Zeit hat niemand von uns etwas geahnt. Nell wollte es so. Alles war plötzlich anders in der Familie, und niemand wusste, warum. Unsere große Schwester hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt, es war, als hätte sie aufgehört, uns zu lieben. Nicht über Nacht, so dramatisch war es nicht. Sie hat sich einfach immer mehr zurückgezogen und von uns anderen abgesondert. Es war uns ein Rätsel, und es hat so wehgetan, aber Pa war nicht bereit, sich dazu zu äußern, sosehr wir ihn auch bedrängten.
Es war mein Mann, Gott hab ihn selig, der uns schließlich die Augen geöffnet hat. Nicht absichtlich, wohlgemerkt, er hatte sich nicht vorgenommen, Nells Geheimnis zu lüften. Er hat sich bloß für Ahnenforschung interessiert, das ist alles. Nachdem Trevor auf die Welt gekommen war, wollte er einen Familienstammbaum erstellen. Das war 1947, im selben Jahr, als deine Mutter geboren wurde.« Sie unterbrach sich und schaute Cassandra durchdringend an, wie um zu sehen, ob ihre Nichte bereits ahnte, was auf sie zukam. Aber das war nicht der Fall.
»Eines Tages kam er in die Küche – ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen – und sagte, er könnte im Geburtenregister nichts über Nellies Geburt finden. ›Natürlich nicht‹, sage ich, ›Nellie wurde ja auch in Maryborough geboren, und später sind meine Eltern dann mit ihr nach Brisbane gezogen.‹ Doug nickte und meinte, das hätte er auch angenommen, aber er hatte das Amt in Maryborough angeschrieben und um die Unterlagen gebeten, und zur Antwort erhalten, es wäre kein entsprechender Eintrag vorhanden.« Phyllis warf Cassandra einen vielsagenden Blick zu. »Das bedeutet, dass es Nell gar nicht gab. Jedenfalls nicht offiziell.«
Cassandra blickte auf, als Dot aus der Küche kam und ihr eine Tasse Tee reichte. »Das verstehe ich nicht.«
»Natürlich nicht, Liebes«, sagte Dot, während sie sich in einem Sessel neben Phyllis niederließ. »Und lange Zeit haben wir es auch nicht verstanden.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Bis wir mit June gesprochen haben. Das war auf Trevors Hochzeit, nicht wahr, Phyllis?«
Phyllis nickte. »1975. Ich war sauer auf Nell. Pa war erst kürzlich gestorben, und mein ältester Sohn heiratete, immerhin Nellies Neffe, und sie fand es nicht mal nötig, zur Hochzeit zu erscheinen. Hat es vorgezogen, in Urlaub zu fahren. Deswegen hab ich mit June geredet. Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich ganz schön über Nell hergezogen bin.«
Cassandra war verwirrt. Es war ihr noch nie gelungen, einen Überblick über das weitläufige Netz aus Freunden und Verwandten zu gewinnen, über das die Tanten verfügten. »Wer ist June?«
»Eine unserer Cousinen«, sagte Dot. »Mütterlicherseits. Die hast du doch bestimmt mal kennengelernt, oder? Sie war ungefähr ein Jahr älter als Nell, und die beiden waren als Mädchen unzertrennlich.«
»Sie müssen sich wirklich sehr nahegestanden haben«, bemerkte Phyllis. »June war die Einzige, der Nell sich anvertraut hat, als es passiert ist.«
»Als was passiert ist?«, fragte Cassandra.
Dot beugte sich vor. »Pa hat Nell gesagt …«
»Pa hat Nell etwas gesagt, das er nie hätte aussprechen dürfen«, fiel Phyllis ihr hastig ins Wort. »Aber er hielt es für das Richtige, der Arme. Und dann hat er es sein Leben lang bereut, denn von da an war es nie wieder wie früher zwischen den beiden.«
»Dabei war Nell immer sein Lieblingskind gewesen.«
»Er hat uns alle geliebt«, fauchte Phyllis.
»Ach Phyll«, sagte Dot und verdrehte die Augen. »Selbst jetzt kannst du es nicht zugeben. Nell war sein Liebling, Punkt, aus. Im Nachhinein betrachtet eigentlich ziemlich paradox.«
Als Phyll nichts entgegnete, fuhr Dot – froh, das Ruder übernehmen zu können – mit der Geschichte fort. »Es war an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag«, sagte sie. »Nach der großen Party …«
»Es war nicht hinterher«, unterbrach sie Phyllis, »sondern während der Party.« Sie wandte sich wieder an Cassandra. »Wahrscheinlich dachte er, es wäre genau der richtige Moment, um es ihr zu sagen, wo sie am Anfang eines neuen Lebens stand und alles. Sie war verlobt, weißt du. Aber nicht mit deinem Großvater, sondern mit einem anderen jungen Mann.«
»Wirklich?« Cassandra war überrascht. »Davon hat sie nie was erwähnt.«
Phyllis nickte bedächtig. »Das war ihre große Liebe, wenn du mich fragst. Ein Bursche von hier, nicht wie Al.«
Den Namen des Letzteren sprach Phyllis mit einer Spur Verachtung aus. Dass die Tanten Nells amerikanischen Mann nicht gemocht hatten, war kein Geheimnis. Es war nichts Persönliches, eher eine grundsätzliche Abneigung gegen die amerikanischen GIs, die während des Zweiten Weltkriegs mit viel Geld, feschen Uniformen und einem charmanten Akzent in Brisbane eingetroffen waren, nur um sich kurz darauf mit einem Gutteil der örtlichen jungen Frauen aus dem Staub zu machen. »Und was ist passiert? Warum hat sie ihn nicht geheiratet?«
»Ein paar Wochen nach der Party hat sie die Verlobung aufgelöst«, sagte Phyllis. »Gott, war das schrecklich. Wir mochten Danny alle so gern, und ihm hat es das Herz gebrochen, dem armen Kerl. Irgendwann hat er dann eine andere geheiratet, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Aber das hat ihm auch kein Glück gebracht, er ist im Krieg gegen die Japaner gefallen.«
»Wollte euer Vater nicht, dass sie den Mann heiratete?«, fragte Cassandra. »War es das, was er ihr an dem Abend gesagt hat? Dass sie Danny nicht heiraten sollte?«
»Wohl kaum«, schnaubte Dot. »Pa hielt große Stücke auf Danny, da konnte keiner von unseren Ehemännern später mithalten.«
»Aber warum hat sie die Verlobung dann aufgelöst?«
»Das hat sie nicht gesagt, nicht mal Danny hat sie eine Erklärung gegeben. Wir haben uns alle den Kopf zerbrochen«, antwortete Phyllis. »Wir wussten nur, dass Nell weder mit Pa noch mit Danny reden wollte.«
»Mehr wussten wir nicht, bis Phyll mit June gesprochen hat«, sagte Dot.
»Fast fünfundvierzig Jahre später.«
»Und was hat June gesagt?«, wollte Cassandra wissen. »Was ist damals auf der Party passiert?«
Phyllis trank einen großen Schluck Tee und sah Cassandra mit hochgezogenen Brauen an. »Pa hat Nell eröffnet, dass sie keine leibliche Tochter von ihm und Ma war.«
»Sie haben sie adoptiert?«
Die Tanten tauschten einen kurzen Blick aus. »Nicht direkt«, bemerkte Phyllis.
»Eher gefunden«, sagte Dot.
»Mitgenommen.«
»Und behalten.«
Cassandra runzelte die Stirn. »Wo haben sie sie denn gefunden?«
»Am Kai von Maryborough«, sagte Dot. »Da, wo die großen Schiffe aus Europa anlegten. Inzwischen fahren die Schiffe natürlich die größeren Häfen an, und heutzutage reisen die meisten Leute ja sowieso per Flugzeug …«
»Pa hat sie gefunden«, fiel Phyllis ihr ins Wort. »Sie war noch ganz klein. Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Leute haben Europa scharenweise verlassen, und wir haben sie mit offenen Armen hier in Australien aufgenommen. Alle zwei Tage kam so ein großes Schiff im Hafen an. Pa war damals Hafenmeister, und seine Aufgabe bestand darin, die Papiere der Leute zu überprüfen und sich zu vergewissern, dass sie am richtigen Ort angekommen waren. Manche von denen konnten fast kein Englisch.
Soweit ich weiß, hat es dann eines Tages ein ziemliches Theater gegeben. Ein Schiff aus England legte im Hafen an, das eine schreckliche Reise hinter sich hatte. Unterwegs war eine Typhusepidemie ausgebrochen, einige Passagiere hatten einen Hitzschlag erlitten, was weiß ich, und bei der Überprüfung im Hafen gab es plötzlich überzählige Gepäckstücke und Personen, die nicht auf der Passagierliste standen. Es war alles ein Riesendurcheinander. Pa hat natürlich alles geregelt – er hatte ein Händchen dafür, Ordnung zu schaffen -, aber dann ist er länger als gewöhnlich im Büro geblieben, um dem Nachtwächter zu berichten, was vorgefallen war, und ihm zu erklären, warum diese Gepäckstücke im Büro rumstanden. Und während er auf den Nachtwächter wartete, hat er gesehen, dass noch immer jemand am Kai war. Ein kleines Mädchen von höchstens vier Jahren, das auf einem Kinderkoffer saß.«
»Und meilenweit keine Menschenseele«, fügte Dot kopfschüttelnd hinzu. »Sie war ganz allein.«
»Pa hat versucht, aus ihr rauszubekommen, wer sie war, aber sie wollte es ihm nicht sagen. Sie hat immer nur gesagt, sie weiß es nicht, sie kann sich nicht erinnern. Am Koffer war kein Namensschild befestigt, und auch in dem Koffer hat Pa nichts gefunden, was ihm hätte weiterhelfen können. Es war spät, es wurde schon dunkel, und ein Unwetter zog auf. Pa sagte sich, dass die Kleine Hunger haben musste, und am Ende wusste er sich nicht anders zu helfen, als sie mit nach Hause zu nehmen. Was hätte er auch sonst tun sollen? Er konnte sie ja schlecht die ganze Nacht im Regen am Kai sitzen lassen, oder?«
Cassandra schüttelte den Kopf und versuchte, das erschöpfte, einsame kleine Mädchen aus Phyllis’ Geschichte mit der Nell in Übereinstimmung zu bringen, die sie gekannt hatte.
»So wie June es dargestellt hat, ist Pa am nächsten Tag zur Arbeit gegangen in der Erwartung, dort verzweifelte Angehörige, die Polizei und sonst jemanden vorzufinden, der Nachforschungen anstellte …«
»Aber es war niemand da«, sagte Dot. »Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass sich jemand nach dem Kind erkundigte.«
»Es war, als hätte sie keine Spur hinterlassen. Natürlich haben sie versucht, in Erfahrung zu bringen, wer sie war, aber bei den vielen Menschen, die Tag für Tag am Hafen eintrafen … Da waren so viele Papiere auszufüllen, dass ganz leicht etwas übersehen werden konnte.«
»Oder jemand.«
Phyllis seufzte. »Also haben sie sie behalten.«
»Was blieb ihnen denn auch anderes übrig?«
»Und sie haben sie glauben lassen, sie wäre ihre Tochter.«
»Und unsere Schwester.«
»Bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag«, sagte Phyllis. »Da hat Pa sich entschlossen, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass sie ein Findelkind war und es nichts als einen Koffer gab, anhand dessen man sie womöglich hätte identifizieren können.«
Schweigend versuchte Cassandra, das alles zu verdauen. Sie legte eine Hand um ihre warme Teetasse. »Sie muss sich schrecklich verlassen gefühlt haben.«
»Ja, bestimmt«, pflichtete Dot ihr bei. »Die ganze Reise über allein. Monatelang auf diesem großen Schiff, nur um auf einem menschenleeren Kai zurückgelassen zu werden.«
»Und die ganze Zeit danach.«
»Was meinst du damit?«, fragte Dot stirnrunzelnd.
Cassandra presste die Lippen zusammen. Ja, was meinte sie eigentlich damit? Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Nells Einsamkeit. Als hätte sie in diesem Augenblick eine wichtige Eigenschaft von Nell erblickt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Plötzlich verstand sie eine Seite an Nell, die ihr sehr vertraut war. Ihre Verschlossenheit, ihre Selbstständigkeit, ihre Kratzbürstigkeit. »Sie muss sich vollkommen allein gefühlt haben, als ihr mit einem Mal klar wurde, dass sie nicht die war, für die sie sich immer gehalten hatte.«
»Ja«, sagte Phyllis überrascht. »Ich muss gestehen, dass ich das anfangs gar nicht begriffen habe. Als June mir die ganze Geschichte erzählt hat, konnte ich nicht nachvollziehen, warum sich deswegen alles geändert hat. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum Nell sich die Geschichte so zu Herzen genommen hat. Ma und Pa haben sie geliebt, und wir jüngeren Mädchen haben unsere große Schwester bewundert; eine bessere Familie hätte sie sich nicht wünschen können.« Sie stützte sich auf die Stuhllehne, führte die Hand zum Kopf und rieb sich die Schläfe. »Aber mit der Zeit ist mir bewusst geworden – so was dauert manchmal, nicht wahr? -, dass die Dinge, die wir als selbstverständlich hinnehmen, oft sehr wichtig sind. Du weißt schon: Familie, Blutsbande, die Vergangenheit … Das sind die Dinge, die uns zu dem machen, was wir sind, und das alles hat Pa Nell weggenommen. Er hat es nicht gewollt, aber dennoch hat er es getan.«
»Aber für Nell muss es doch eine Erleichterung gewesen sein, als ihr es endlich erfahren habt«, entgegnete Cassandra. »Das muss es doch für sie einfacher gemacht haben.«
Phyllis und Dot sahen einander an.
»Du hast es ihr doch gesagt?«
Phyllis runzelte die Stirn. »Ein paarmal war ich drauf und dran, aber dann hab ich nie die richtigen Worte gefunden, ich konnte es Nell einfach nicht antun. Sie hatte es so lange vor uns allen geheim gehalten, hatte ihr ganzes Leben um ihr Geheimnis herum aufgebaut, alles darangesetzt, es zu hüten. Es kam mir … ich weiß nicht … beinahe grausam vor, diese Mauern einzureißen. Als würde ich ihr zum zweiten Mal den Boden unter den Füßen wegziehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Andererseits ist das vielleicht auch alles Geschwätz. Nell konnte ganz schön heftig werden, wenn sie wollte. Wahrscheinlich hat mir letztendlich der Mut gefehlt.«
»Das hat nichts mit Mut zu tun«, widersprach Dot bestimmt. »Wir waren uns alle einig, dass es besser so war, Phyll. Nell hat es so gewollt.«
»Ja, du hast recht«, sagte Phyllis. »Trotzdem fragt man sich natürlich. Es war ja nicht so, dass es keine Gelegenheit gegeben hätte. Der Tag zum Beispiel, als Doug ihr den Koffer gebracht hat.«
»Kurz bevor Pa gestorben ist«, erklärte Dot Cassandra. »Da hat er Phyllis’ Mann gebeten, Nell den Koffer zu bringen. Natürlich ohne ein Wort darüber zu verlieren, was es damit auf sich hatte, wohlgemerkt. Was Geheimnisse anging, war Pa genauso schlimm wie Nell. Er hatte den Koffer die ganzen Jahre über in einem Versteck aufbewahrt, weißt du. Mitsamt Inhalt, genauso, wie er war, als er Nell vor all den Jahren gefunden hatte. Er hatte ihn irgendwo verstaut, wo ihn höchstens die Ratten und Schaben finden würden.«

5 Brisbane Australien, 1976

Als ihre Mutter das Fenster herunterkurbelte und dem Mann an der Tankstelle zurief: »Volltanken, bitte!«, wusste Cassandra, wohin die Fahrt ging. Der Mann sagte etwas, und ihre Mutter lachte kokett. Er zwinkerte Cassandra zu, dann betrachtete er die langen, braunen Beine ihrer Mutter, die in den abgeschnittenen Jeansshorts besonders gut zur Geltung kamen. Cassandra, die es gewöhnt war, dass Männer ihre Mutter anstarrten, kümmerte sich nicht darum, sondern schaute aus dem Beifahrerfenster und dachte an ihre Großmutter Nell. Denn zu ihr würden sie fahren. Nur wenn sie die einstündige Fahrt über den Southeast Freeway nach Brisbane antraten, tankte ihre Mutter für mehr als fünf Dollar.
Cassandra hatte gewaltigen Respekt vor Nell. Sie war ihr erst fünfmal begegnet (soweit sie sich erinnern konnte), aber Nell war eine Frau, die man nicht so leicht vergaß. Erstens war sie der älteste Mensch, dem Cassandra je begegnet war. Zweitens lächelte sie nicht wie andere Leute es taten, wodurch sie sehr streng und einschüchternd wirkte. Lesley sprach kaum über Nell, aber einmal, als Cassandra schon im Bett lag und ihre Mutter sich mit dem Mann stritt, mit dem sie vor Len zusammen gewesen war, hatte sie gehört, wie Lesley Nell als alte Hexe bezeichnete. Zwar hatte Cassandra damals schon nicht mehr an Märchenwesen geglaubt, aber das Bild war hängen geblieben.
Nell war wirklich wie eine Hexe. Das silbergraue Haar, das sie zu einem Nackenknoten zusammengesteckt trug, die Katzen, die überall auf den Möbeln hockten, das schmale Holzhaus mit der abblätternden gelben Farbe und dem überwucherten Garten auf dem Hügel in Paddington. Und die Art, wie sie einen anstarren konnte, als wollte sie einen mit einem Fluch belegen.
Sie brausten mit offenen Fenstern die Logan Road entlang, während Lesley den neuesten ABBA-Hit mitsang, der zu der Zeit dauernd im Radio lief. Sie überquerten den Brisbane River, ließen die Innenstadt hinter sich und fuhren durch Paddington mit seinen typischen, in die Hänge gebauten Queenslander-Häusern und bogen von der Latrobe Terrace ab in eine Straße, die steil hügelabwärts führte. Auf halber Höhe lag Nells Haus.
Lesley fuhr an den Bordstein, brachte den Wagen ruckartig zum Stehen und schaltete den Motor ab. Cassandra spürte, wie die heiße Sonne durch die Windschutzscheibe auf ihre Beine brannte, wie ihre nackten, verschwitzten Schenkel an dem warmen Vinylsitz klebten. Erst als ihre Mutter ausstieg, sprang sie aus dem Wagen und schaute unwillkürlich an dem hohen schmalen Haus hoch.
Ein mit Rissen durchzogener Betonweg führte um das Haus herum. Am Ende einer steilen Treppe gab es eine Haustür, aber vor Jahren schon hatte jemand die Treppe überbaut, sodass sie von der Straße aus nicht zu sehen war, und seitdem wurde sie so gut wie nicht mehr benutzt, sagte Lesley, und fügte hinzu, das sei Nell ganz recht, denn so komme niemand auf die Idee, unerwartet hereinzuschneien in der Annahme, sein Besuch sei willkommen. Die Dachrinne war alt und schief und in der Mitte so durchgerostet, dass ein großes Loch entstanden war, durch das bei heftigem Regen wahrscheinlich Sturzbäche prasselten. Aber heute sah es nicht nach Regen aus, dachte Cassandra, als eine warme Brise das Windspiel klimpern ließ.
»Gott, Brisbane ist ein stinkendes Loch«, bemerkte Lesley, während sie kopfschüttelnd über ihre große Sonnenbrille hinweglugte. »Gott sei Dank bin ich hier rausgekommen.«
Vom Ende des Wegs her ertönte ein Geräusch, und plötzlich stand eine schlanke, karamellfarbene Katze an der Hausecke, die die Besucher feindselig beäugte. Ein Tor quietschte, dann waren Schritte zu hören. Eine große Gestalt mit silbernem Haar tauchte hinter der Katze auf. Cassandra holte tief Luft. Nell. Es war, als würde sie einer Ausgeburt ihrer Fantasie gegenüberstehen.
Alle drei musterten sie einander, ohne ein Wort zu sagen. Cassandra hatte das seltsame Gefühl, einem Ritual unter Erwachsenen beizuwohnen, das sie nicht durchschaute. Während sie sich fragte, warum sie da herumstanden und wer den nächsten Schritt machen würde, brach Nell das Schweigen. »Ich dachte, wir hätten ausgemacht, dass du in Zukunft anrufst, bevor du herkommst.«
»Wir freuen uns auch, dich zu sehen, Mum.«
»Ich bin gerade dabei, meine Sachen für die Auktion zu sortieren. Alles steht voll mit Kisten und Kartons, und es ist nirgendwo Platz zum Sitzen.«
»Macht überhaupt nichts.« Lesley wedelte mit der Hand in Cassandras Richtung. »Deine Enkelin hat Durst, es ist verdammt heiß hier draußen.«
Cassandra trat von einem Fuß auf den anderen, den Blick auf den Boden geheftet. Irgendetwas war komisch am Verhalten ihrer Mutter, sie strahlte eine Nervosität aus, die Cassandra nicht gewöhnt war und die sie nicht deuten konnte. Sie hörte ihre Großmutter langsam ausatmen.
»Also gut«, sagte Nell. »Dann kommt mal rein.«
Nell hatte mit ihrer Beschreibung des Durcheinanders nicht übertrieben. Auf dem Fußboden türmten sich Berge von zerknülltem Zeitungspapier, auf dem Tisch, der wie eine Insel aus dem Papiermeer ragte, waren zahllose Teller, Tassen und Gläser aufgereiht. Nippes, dachte Cassandra und freute sich insgeheim darüber, dass sie sich an das seltsame Wort erinnerte.
»Ich setze Teewasser auf«, verkündete Lesley und verschwand in der Küche.
Nell und Cassandra blieben allein zurück, und die alte Frau musterte ihre Enkelin auf ihre gewohnt unheimliche Art.
»Du bist groß geworden«, sagte sie schließlich. »Aber du bist immer noch zu dünn.«
Cassandra nickte. Die Kinder in der Schule sagten ihr das auch immer.
»Ich war früher auch so dünn wie du«, sagte Nell. »Weißt du, wie mein Vater mich immer genannt hat?«
Cassandra zuckte die Achseln.
»Spinnebein.« Nell nahm ein paar Tassen vom Haken an einem altmodischen Geschirrschrank. »Trinkst du Tee oder Kaffee?«
Cassandra schüttelte entgeistert den Kopf. Sie war zwar im Mai zehn geworden, aber sie war immer noch ein kleines Mädchen und nicht daran gewöhnt, dass Erwachsene ihr Erwachsenengetränke anboten.
»Ich habe weder Saft noch Limo«, erklärte Nell, »noch sonst irgendwelche neumodischen Getränke.«
Cassandra fand ihre Sprache wieder. »Ich trinke gern Milch.«
Nell blinzelte. »Die steht im Kühlschrank, ich habe immer welche für die Katzen im Haus. Die Flasche ist wahrscheinlich glitschig, lass sie nicht auf den Boden fallen.«
Nachdem der Tee eingeschenkt war, schickte Lesley ihre Tochter nach draußen. Es sei ein sonniger Tag, da sollten Kinder nicht in der Stube hocken, sagte sie. Grandma Nell fügte hinzu, sie könne unten spielen, ermahnte sie jedoch, nichts anzurühren und auf keinen Fall das Souterrain zu betreten.
Seit Tagen herrschte eine für die südliche Hemisphäre typische trockene Hitzewelle, bei der man das Gefühl hat, die Tage gehen ohne Unterbrechung ineinander über. Ventilatoren bewegen lediglich die heiße Luft ein bisschen, Zikaden verbreiten einen ohrenbetäubenden Lärm, allein das Atmen ist schon anstrengend, und man möchte am liebsten nur auf dem Rücken liegen und warten, bis der Januar und der Februar vorübergehen, die Märzgewitter endlich einsetzen und die ersten Aprilstürme aufkommen.
Aber das wusste Cassandra nicht. Sie war ein Kind und besaß die kindliche Unempfindlichkeit gegen extreme Klimaschwankungen. Es würde noch zehn Jahre dauern, bis die unerträgliche, erstickende Hitze des australischen Sommers ihr zu schaffen machte.
Sie ließ die Fliegengittertür hinter sich zuschlagen und ging in den Garten. Jasminblüten, die von den Sträuchern gefallen waren, lagen überall schwarz und vertrocknet auf dem Weg. Cassandra zertrat sie mit den Füßen und genoss es, wie sich schwarze Schmierflecken auf dem hellen Beton bildeten.