Der vierte Spatz - Jan Zweyer - E-Book + Hörbuch

Der vierte Spatz E-Book und Hörbuch

Jan Zweyer

5,0

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Beschreibung

Durch einen Unfall gelangt aus einem Forschungslabor ein für Vögel hochansteckendes und tödliches Virus in die Umwelt. Innerhalb weniger Monate sterben daran fast alle Vögel auf der Erde. Die Folgen sind verheerend. Doch damit nicht genug: Sollte das Virus mutieren und auf den Menschen übergehen, wäre eine Pandemie kaum noch aufzuhalten. Doch warum wurde überhaupt an diesem Virus geforscht? Die Journalisten Karola Rothschild und Alex Stewart kommen einem Verbrechen auf die Spur, das nicht nur sie, sondern die gesamte Menschheit auszulöschen droht. Jan Zweyers düsterer Thriller stellt brisante und hochaktuelle Fragen: Wie weit geht man für den Profit? Ist man bereit, Millionen Menschenleben dafür zu riskieren?

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Zeit:8 Std. 44 min

Sprecher:Stefan Lehnen

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Jan Zweyer

DER VIERTE SPATZ

Jan Zweyer

DER VIERTE SPATZ

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2020

© 2020 by Lago, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© Jan Zweyer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Cozine, AlekseyKarpenko

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95761-190-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-260-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-261-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Und er öffnete den Schacht des Abgrunds. Da stieg Rauch aus dem Schacht auf, wie aus einem großen Ofen, und Sonne und Luft wurden verfinstert durch den Rauch aus dem Schacht.

Aus dem Rauch kamen Heuschrecken über die Erde und ihnen wurde Kraft gegeben, wie sie Skorpione auf der Erde haben.

Und die Heuschrecken sehen aus wie Rosse, die zur Schlacht gerüstet sind; auf ihren Köpfen tragen sie etwas, das goldschimmernden Kränzen gleicht, und ihre Gesichter sind wie Gesichter von Menschen.

Offenbarung des Johannes, 9,2–3 und 7

Inhalt

Pandora – JAHR EINS: APRIL BIS MAI

Menetekel – JAHR ZWEI: MAI BIS OKTOBER

Apokalypse – JAHR DREI: NOVEMBER

Futurum – JAHR ZEHN: APRIL

Über den Autor

Pandora

JAHR EINS: APRIL BIS MAI

1

Mario Zimmermann steuerte einen fast voll beladenen MAN durch die Bochumer Straßen. Das Papier aus den Containern, das er den ganzen Tag über eingesammelt hatte, wog an die zwanzig Tonnen. Noch zwei weitere Sammelstellen und er konnte zurück zum Recyclingpark fahren.

Zimmermann fühlte sich schon seit Stunden nicht wohl und sehnte den Feierabend herbei. Eine Kleinigkeit essen, ein Bierchen auf der Couch, die Glotze anmachen. Morgen würde es ihm sicher besser gehen.

Er war spät dran, denn sein Kollege, der ihn üblicherweise begleitete, hatte sich krankgemeldet. Da auf die Schnelle kein Ersatz bereitgestanden hatte, musste er die Schicht allein bewältigen.

Er stoppte den Lkw im Bochumer Univiertel neben den drei Altpapiercontainern, stieg aus dem Führerhaus und kletterte hinüber zum Kran. Dort schwenkte er den Ausleger über den ersten Behälter und verließ wieder seinen Platz, um den Container an den beiden Kranhaken zu befestigen. Der größere trug das Gewicht, der andere öffnete mit einem Seilzug die Bodenplatte, damit das Papier in die Ladefläche des Fahrzeugs fiel. Diese Arbeit erledigte normalerweise sein Beifahrer, Zimmermann blieb sonst auf dem Steuerstand stehen. Jetzt musste er die Haken anlegen. Das bedeutete zweimaliges Hinauf- und Hinunterklettern für jeden der verdammten Container.

Der dritte Papierbehälter stand endlich wieder an seinem Platz. Zimmermanns Herz schlug bis zum Hals. Seine Hände zitterten. Mit fünfundsechzig Jahren war er zu alt für die anstrengende Arbeit. Aber die wenigen Monate bis zur Rente würde er auch noch schaffen, dachte er. Der Rentenantrag war gestellt und bewilligt, seine Frau freute sich darauf, mit ihm endlich das nachzuholen, was sie im Leben versäumt hatten.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er den schweren Wagen startete. Einmal noch diese Prozedur. Dann war sein Arbeitstag vorbei.

Er fuhr los. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Schnell hörte das Schwindelgefühl auf. Nicht schlappmachen, redete er sich Mut zu. In einer guten halben Stunde bist du zu Hause. Das schaffst du.

Er lenkte den MAN Richtung Lottental. Dort standen die letzten Container.

Die Stiepeler Straße verlief über einige Hundert Meter fast wie ein Strich bergab. Durch eine Rechtskurve gelangte man weiter ins Tal, während geradeaus ein Anrainerweg zu mehreren Gebäuden führte, die zum Gesundheitscampus-Süd der Ruhr-Universität gehörten.

Zimmermann hatte die Gefällstrecke erreicht. Er wollte gerade einen Gang hinunterschalten, als ein stechender Schmerz seine Brust zerriss. Er griff sich an die Herzgegend und öffnete wie ungläubig Augen und Mund. Kein Laut kam über seine Lippen und er stürzte in ein unendliches, schwarzes Loch. Sein lebloser Körper sank auf dem Sitz in sich zusammen. Lediglich der Gurt verhinderte, dass er zur Seite fiel.

Ungebremst beschleunigte das schwere Entsorgungsfahrzeug auf seinem Weg ins Tal.

Ein Fußgänger, der den Lkw auf sich zurasen sah, sprang in den Graben, um dem sicheren Tod zu entgehen. Fassungslos schaute der Mann dem die Straße hinunterdonnernden Fahrzeug hinterher.

Der Schwerlaster schoss über die Kurve in die Anrainerstraße, touchierte einen der dort parkenden Wagen und schob diesen in den Straßengraben, ohne seine Fahrt nennenswert zu verlangsamen. Dann durchbrach er einen Metallzaun, zerpflügte eine dahinter liegende Rasenfläche und drückte zwei Hinweisschilder wie Strohhalme um. Die Hecke, die vor dem flachen Gebäude stand, auf welches der MAN zudonnerte, stellte kein Hindernis dar. Ungebremst bohrte sich das Entsorgungsfahrzeug wie eine Kanonenkugel in die Wand des Anbaus. Metall traf kreischend auf Beton, ein Knall wie bei einer Bombenexplosion folgte und die Druckwelle des Aufpralls ließ in der Umgegend die Fensterscheiben klirren. Der Lkw riss Teile des Dachs herunter, die krachend zu Boden fielen. Die Holzbalken der Tragkonstruktion knickten wie Zündhölzer. Am Ende seiner Fahrt knallte der Wagen an die Außenwand des Hauptgebäudes und wurde so endgültig gestoppt. Staub und Qualm stiegen auf.

Vögel flatterten aus der dichten Wolke und suchten ihr Heil in der Flucht. Eine seltsame Ruhe trat ein, die von Sirenengeheul unterbrochen wurde.

Zeitgleich mit der Feuerwehr trafen Rettungswagen, Notarzt und die Polizei am Unfallort ein. Der Arzt verließ schnell wieder den Ort des Geschehens, denn Mario Zimmermann war nicht zu helfen. Der Herzinfarkt hatte ihn bereits vor dem Aufprall seines Lasters auf die Hauswand umgebracht. Die Blessuren, die sein Körper aufwies, fielen nicht ins Gewicht.

Die Feuerwehr musste zwar keinen Brand bekämpfen, allerdings hatte der Lkw das Gebäude eines gentechnischen Labors beschädigt. Es bestand die Gefahr einer Umweltkontaminierung. Deshalb zogen die Beamten einen darauf spezialisierten Brandoberinspektor hinzu, der den Schaden begutachten und das Gespräch mit den Leitern der wissenschaftlichen Einrichtung führen sollte.

Matthias Strauss war seit über dreißig Jahren Feuerwehrmann und traf bereits zehn Minuten später ein. Er ordnete das Tragen von Schutzkleidung an und ließ das Gelände weiträumig absperren. Alle Beamten, deren Anwesenheit nicht unmittelbar erforderlich war, verbannte er hinter diese Sicherheitsabsperrung. Schließlich wartete er auf den mittlerweile alarmierten Laborleiter, der aus seinem Büro herbeigerufen worden war.

Es dauerte nicht lange, da bog ein Porsche mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf den Parkplatz ein. Der Wagen stoppte und ein drahtiger Mittvierziger sprang heraus, schob sich eine Maske vor den Mund und warf einen prüfenden Blick auf den Unfallort. Nachdem er genug gesehen hatte, streifte er den Atemschutz wieder ab, ließ ihn um seinen Hals baumeln und näherte sich Strauss. Auf dem Weg hob er die Hand und grüßte mehrere in weiße Kittel gekleidete Wissenschaftler, die von dem Einsatzleiter ebenfalls hinter die Absperrung geschickt worden waren.

»Bader«, meinte er knapp, als er vor dem Beamten stand. »Sie sind …?«

»Brandoberinspektor Strauss«, stellte sich dieser vor und streckte Bader die Hand entgegen. Seine Stimme klang dumpf unter der Schutzmaske.

»Sie können das Ding ablegen«, sagte Bader. »Es droht keine Gefahr.«

Der Feuerwehrmann sah zu dem anderen Mann hoch. Obwohl er mit seiner Größe wahrlich nicht klein gewachsen war, überragte ihn Bader um fast eine Kopflänge. Strauss fragte sich, wie sich ein solcher Riese in einen Sportwagen falten konnte. Er selbst hatte einmal im Porsche eines Freundes auf dem Beifahrersitz gesessen. Das Einsteigen war schon beschwerlich genug gewesen, aber als es ans Aussteigen ging, waren entweder seine Beine, sein Bauch oder der Fahrzeugholm im Weg. Er war aus der Karre nur deswegen wieder herausgekommen, weil er sich zur Seite gedreht, halb auf den Fahrersitz gelegt, seine Beine zuerst nach draußen gesteckt und sich dann mit ruckartigen Bewegungen Stück für Stück aus dem Sportwagen ins Freie geschoben hatte. Eine solche Konservendose betrachtete Strauss als Zumutung. Und Bader war mindestens zwei Meter groß.

»Welche Art von Forschung findet in diesem Labor statt?«, fragte der Feuerwehrmann.

»Wir arbeiten an einem Impfstoff gegen H5N1.« Er erkannte Strauss’ irritierten Blick: »Entschuldigung, so bezeichnen wir einen der Subtypen des Influenza-A-Virus. Besser bekannt als Vogelgrippe.«

»Die kann für Menschen ansteckend sein, oder nicht?«

»Sicher. Wenn Sie gern mit Vögeln schmusen.« Bader grinste sein Gegenüber an. »Viele Vögel tragen den Erreger in sich, ohne dass er jemals ausbricht. Wollen wir uns zuverlässig dagegen schützen, müssten wir ständig mit einer Atemschutzmaske herumlaufen.«

Strauss verstand die Anspielung und zog die Maske vom Kopf. »Ihre Einrichtung ist ein Institut der Ruhr-Universität?«

»Nein. Ich habe dort zwar einen Lehrstuhl, bin jedoch als Institutsleiter privat tätig. Die Räumlichkeiten sind von der Uni gepachtet.«

Der Brandoberinspektor schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Baders Lehrtätigkeit schien ihm Zeit für diese Nebentätigkeit zu lassen. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn einige der Forscher seines Labors auf der Gehaltsliste der Uni standen.

Bader ergänzte: »Die Ergebnisse unserer Forschung fließen in meine Tätigkeit an der Uni ein, bereichern sie sogar. Deshalb arbeiten auch Promovenden und Diplomanden in meinem Labor. Sämtliche Aktivitäten sind der Universitätsverwaltung bekannt und mit ihr abgestimmt.«

Strauss zeigte auf das Schild im Eingangsbereich. »GTLB steht für was?«

»Gentechnisches Labor Bader.« Wieder grinste der Professor. »Sehen Sie mir meine Eitelkeit nach.«

»Sie dürfen mit hochansteckenden Viren arbeiten?«

»Kommt darauf an, für wen sie ansteckend sind. Bei Vögeln sind solche Forschungen kein Problem. Bei Menschen wäre das anders. Mein Labor ist zertifiziert, Untersuchungen nach der Stufe zwei der Gentechnik-Sicherheitsverordnung durchzuführen. Das sagt Ihnen etwas?«

»Natürlich.« Der Brandoberinspektor wusste, was Bader meinte. Diese Verordnung unterschied vier Sicherheitsstufen. Für jede galten besondere technische und bauliche Auflagen. Einrichtungen, die nach Stufe zwei klassifiziert waren, durften gentechnische Arbeiten ausführen, bei denen von einem geringen Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt auszugehen war. Strauss hatte erst vor Kurzem einen entsprechenden Lehrgang besucht, der obligatorisch für Feuerwehren war, in deren Einzugsbereich solche Labore lagen, egal ob staatlich oder privat geführt. »Ich gehe davon aus, dass Sie über die notwendigen Prüfbescheinigungen verfügen?«

»Sicher.«

Der Brandoberinspektor zeigte auf die Trümmer vor ihnen. »Das war ein Teil des Labors?«

Bader ging auf die Unfallstelle zu. Strauss folgte ihm.

»Nicht im engeren Sinn. In diesem Anbau standen die Tierkäfige. Sehen Sie die aufgeplatzten Kästen dort? Sie sind bei dem Unglück beschädigt worden. Darin waren unsere Versuchstiere untergebracht. Jetzt sind sie natürlich fortgeflogen. Aber, wie gesagt, H5N1 kommt in der Natur recht häufig vor. Da droht durch drei, vier Vögel zusätzlich keine wirkliche Gefahr.«

»Mehr Tiere benutzen Sie nicht?«

Bader zuckte mit den Schultern. »Die genaue Zahl habe ich nicht parat. Wenn Sie sie wissen wollen, frage ich den Versuchsleiter.«

»Nein.« Strauss winkte ab. »Das reicht mir. Sterben die Vögel bei Ihren Versuchen?«

»Die meisten.«

»Was passiert mit den Kadavern?«

»Sie werden gesammelt, in sicheren Containern in Tierkörpervernichtungsanstalten verbracht und dort verbrannt.« Bader umkreiste den Lkw und nahm die Schäden genauer in Augenschein.

»Der Brummi hat ganze Arbeit geleistet«, bemerkte der Professor lapidar. »Ich hoffe, dass es keine Schwierigkeiten mit der Versicherung des Halters gibt.«

»Ich denke nicht. Das Unternehmen arbeitet seit Jahren für die Stadt. Der Geschäftsführer ist verständigt und trifft sicher bald hier ein. Mit ihm können Sie die Formalitäten besprechen. Eine Frage habe ich noch. Das eigentliche Labor befindet sich im Gebäude dahinter?« Der Feuerwehrmann zeigte auf ein dreigeschossiges Haus, das an die Ruine vor ihnen grenzte.

»Genau. Die Tür hinter dem Schuttberg ist die Schleuse zum Labor, das glücklicherweise unbeschädigt geblieben ist. Bevor Sie mich darauf hinweisen: Natürlich werde ich die Standfestigkeit des Labors und die ordnungsgemäße Funktion der Sicherheitseinrichtungen prüfen lassen.«

»Bemühen Sie sich nicht«, wies ihn Strauss zurecht. »Das sind unsere Aufgaben. Ich habe eine entsprechende Untersuchung bereits veranlasst. Der Sachverständige ist unterwegs. Bis dahin bleibt das Gelände abgeriegelt und alle Arbeiten werden eingestellt. Unverzüglich!«

2

Gestern hatte er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, den er gemeinsam mit seinem einzigen Freund erst in einem Kino, später in einer Kneipe in einem der Gelsenkirchener Vororte verbracht hatte. Ihre Hoffnung, dort Mädchen kennenzulernen, hatte sich leider zerschlagen. Sie tranken einige einsame Biere und verließen das Lokal – eine Scheißfeier wie alle anderen davor auch, an die sich Klaus Fuchs erinnerte.

Nach mehreren Anläufen in unterschiedlichsten Berufen hatte der junge Mann seit etwa einer Woche wieder einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger im Gelsenkirchener Zoo. Kein schlechter Job, wie er fand. Gewiss, das Ausmisten der Ställe war anstrengend und manchmal roch er am Abend ein wenig streng. Aber die Arbeitskleidung verblieb im Spind in den Umkleideräumen im Zoo und ein Bad und frische Klamotten vertrieben den Gestank.

Bis zur Öffnung des Zoos dauerte es noch eine Stunde, Zeit genug, die notwendigen Vorbereitungen für den Besucheransturm zu treffen. Heute durfte er beim Füttern der Vögel helfen. Diese Arbeit machte Spaß. Die Piepmatze waren den Pflegern gegenüber recht zutraulich, vor allem, wenn sie ein paar Leckereien aus den Händen der Menschen erhielten. Manche Tiere setzten sich bei der Fütterung sogar auf die Schultern oder ausgestreckten Arme der Tierpfleger.

Klaus schleppte zwei Sack Trockenfutter vom Lager zum Eingang der großen Voliere der Mohrenkopfpapageien. Er bog in den versteckt liegenden, nur für Personal zugänglichen Weg ab. Vor ihm lag eine tote Taube auf dem Pflaster.

Für einen Moment blieb Fuchs unschlüssig stehen. Dann wuchtete er seine Last von der Schulter, griff das verendete Tier und warf es kurz entschlossen in einen der Müllbehälter, die an vielen Stellen abseits der Hauptwege angebracht waren, und setzte seinen Marsch fort. Später wollte er seinen Fund melden, so wie es ihm bei einer der Unterweisungen eingeschärft worden war.

Die Fütterung dauerte länger als geplant und schnell hatte er den Vogelkadaver vergessen. Stunden vergingen, bis er ihm wieder einfiel. Er würde wegen einer verspäteten Meldung gescholten werden. Das stand für ihn fest. Weshalb den Vorfall nicht einfach verschweigen? Niemand hatte ihn gesehen und der Kadaver landete schon bald im Müllwagen und auf irgendeiner Kippe. Warum also eine Rüge kassieren?

Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er frisches Stroh zu den Antilopen in die Erlebniswelt Afrika schaffte.

Einer seiner Vorgesetzten half ihm beim Verteilen und meinte, als sie die Arbeit beendet hatten: »Geh jetzt nach Asien. Melde dich im Vogelhaus. Du kannst dich da nützlich machen.«

Das Vogelhaus lag nicht weit entfernt. Eine Tierärztin und ein anderer Pfleger bemühten sich, zwei Tiere von ihren Artgenossen zu separieren. Sie traten zwischen die aufgeregt herumflatternden Vögel und mühten sich, die beiden in einen Bereich zu treiben, der mit einem Gitter abgetrennt werden konnte. Aber der Käfig war groß. Immer, wenn die Vögel isoliert waren und einer der Zooangestellten versuchte, das Drahtgeflecht vorzuschieben, musste er seinen Platz, von dem er die Tiere in Schach hielt, verlassen, was diese sofort zur Flucht nutzten. Und die ganze Prozedur begann von vorn.

»Sie schickt der Himmel«, meinte die Tierärztin, als sie Fuchs kommen sah. »Betreten Sie den Käfig und passen Sie auf, dass kein Vogel abhaut. Dann helfen Sie uns, das verdammte Abtrenngitter in die richtige Position zu bringen.«

Der Achtzehnjährige folgte der Anweisung und nach zwei weiteren Versuchen hockten die beiden Tiere zitternd vor Angst in ihrem Gefängnis.

»Haben Sie diese Vögel schon einmal gesehen?«, fragte die Tierärztin Fuchs.

Fuchs verneinte.

Sie setzte ihre Erklärung fort: »Das sind Jungtiere, Männchen und Weibchen. Diese Kahlkopfgeier, ihr lateinischer Name lautet Sarcogyps cavus, sind in Südostasien zu Hause und von der Ausrottung bedroht. In freier Wildbahn leben nur noch einige Dutzend Paare. Um sie vor dem Aussterben zu bewahren, züchten wir sie nach. Wir sind einer der wenigen Zoos weltweit, dem das bisher gelungen ist. Wir geben diese zwei an einen Zoo in New York weiter. Im Gegenzug schicken sie uns Tiere, über die wir nicht verfügen. So profitieren beide Einrichtungen.«

»Wie kommen sie dorthin?«, erkundigte sich Fuchs.

»Mit dem Flugzeug. Sie erhalten gleich von mir eine Beruhigungsspritze, die zwanzig Stunden wirkt. Im sedierten Zustand verpacken wir sie in Spezialkäfige für den Transport und schaffen sie direkt im Anschluss zum Düsseldorfer Flughafen, wo sie noch heute in die USA fliegen. Dort nehmen die Tierärzte des amerikanischen Zoos sie in Empfang, und dann müssen sie wegen der Einreisevorschriften für lebende Tiere zunächst in Quarantäne. Normalerweise dauert die bis zu drei Wochen. Da wir über jahrelange Geschäftsbeziehungen zum Zoo in New York verfügen und diese Zusammenarbeit durch Bescheinigungen der amerikanischen Gesundheitsbehörden testiert wurde, kommen die beiden Schätzchen hier rund acht Tage später wieder frei und können den Rest ihres Lebens in ihrer neuen Heimat genießen. So, und nun ziehen Sie die Lederhandschuhe über und helfen Ihrem Kollegen, die Vögel festzuhalten.«

Beim ersten Geier funktionierte alles problemlos. Auch der zweite Vogel ließ sich nach geringer Gegenwehr sedieren. Nur zog Fuchs seine Schutzhandschuhe zu früh aus und das Männchen, noch nicht vollständig betäubt, wagte einen letzten verzweifelten Angriff und hackte mit seinem scharfen Schnabel in Fuchs’ linke Handfläche.

»Au«, rief der erschrocken und hob die Hand Richtung Mund, um das austretende Blut mit der Zunge abzulecken.

»Lassen Sie das«, befahl die Ärztin. »Sie könnten sich infizieren.«

Sofort senkte Fuchs den Arm. »Mit was?«, fragte er verunsichert.

Die Medizinerin antwortete nicht. Stattdessen erkundigte sie sich: »Welche Impfungen haben Sie erhalten?«

»Ich glaube, Tetanus und Tollwut.«

»Das reicht nicht. Sie kommen mit in meine Praxis. Ich werde Ihnen eine weitere Schutzimpfung verpassen.« Die Tierärztin griff seine Hand und sah auf die kleine Wunde. »Schmerzt es?«, fragte sie ohne wirkliches Mitleid.

»Das ist nur ein Kratzer«, erwiderte Fuchs und kam sich ungemein männlich vor.

Die Ärztin nickte. »Ich werde die Verletzung desinfizieren und verbinden.«

»Darf ich damit weiterarbeiten?«

»Wenn Sie wollen. Ich kann Sie auch zu einem Arzt schicken, der Sie vermutlich krankschreiben wird.«

»Bitte nicht. Ich bin erst seit einigen Tagen beim Zoo und möchte meine Ausbildung nicht mit einem Schein beginnen.«

»Das verstehe ich. Sehen Sie zu, dass kein Schmutz in die Wunde gerät.«

3

Er brauchte keinen Wecker mehr. Es war Zeit, aufzustehen. Der Bauer warf einen Blick nach links, wo seine Frau Annemarie tief und fest schlief, und schob sich aus dem Bett. Obwohl keine Milchkühe im Stall auf das Melken warteten, ließ ihn seine innere Uhr mit gnadenloser Konsequenz aufwachen, egal ob Werktag oder nicht.

Andreas Eichel schlupfte in seine Latschen und schlich aus dem Schlafzimmer. Im Flur schlug die Standuhr fünf Mal. Seine übliche Zeit.

Er kam aus dem Bad. Das Haus duftete nach frisch gebrühtem Kaffee. Wie immer war Annemarie kurz nach ihm aufgewacht und hatte angefangen, das Frühstück zu bereiten.

Er drückte seiner Frau in der Küche einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen.«

»Morgen. Hast du gut geschlafen?«

»Es ging.« Er setzte sich auf seinen Stammplatz auf die Bank, das Fenster im Rücken.

»Wieder die Bandscheiben?«, erkundigte sie sich.

»Hm.« Ihn ärgerten seine kleinen Zipperlein, die ihm immer mehr zu schaffen machten.

»Du solltest zum Arzt gehen.«

»Demnächst.«

»Das sagst du jedes Mal.«

Er grinste schief, schwieg aber.

»Wenigstens für die groben Arbeiten wie das Ausmisten des Schweinestalls könnten wir uns Hilfe suchen. Dein Rücken wird nicht besser.«

»Du weißt, dass das der Hof nicht hergibt.«

»Wir haben genug gespart.«

»Das ist für Thomas, wenn er den Hof übernimmt.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er keine weitere Diskussion über das Thema wünschte.

Ihr Sohn hatte das Elternhaus zum Studieren verlassen und war außer zu Besuchen bisher nicht ins Hertener Umland zurückgekehrt. Er arbeitete nach dem bestandenen Diplom in Agrarwissenschaften bei einem der großen Anbauverbände, die für eine ökologische Landwirtschaft eintraten. Thomas hatte sie damals beraten, als ihr Hof kurz vor dem Ruin stand. Er war zu klein, um mit konventioneller Viehwirtschaft kostendeckend zu arbeiten, und für Erweiterungen fehlte ihnen das Geld. Also hatten sie die Kühe und einen Großteil der Borstentiere abgeschafft und sich auf umweltbewusste Fleischzucht spezialisiert. Diese Umstrukturierung hatte sie gerettet. Zwar scheffelten sie keine Reichtümer, aber sie kamen über die Runden. Das Fleisch ihrer Tiere war bei ihren Kunden begehrt. Viele kauften die Schweine kurz nach dem Wurf, ließen sie auf dem Hof aufwachsen und nahmen sie später als Biokoteletts mit in die heimische Küche. Das Geflügel und die Eier vermarktete weitgehend der Anbauverband, für den ihr Sohn arbeitete. Lediglich einen kleinen Teil verkaufte Annemarie im eigenen Hofladen. Thomas hatte seinen Eltern immer wieder erklärt, dass er sich nicht vorstellen könne, als Bauer zu arbeiten. Aber Andreas Eichel hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihr Sprössling eines Tages den Betrieb übernahm.

Seine Frau stellte Brot und Butter auf den Tisch und holte Käse und Aufschnitt aus dem Kühlschrank.

Beim Frühstück fragte sie: »Du reparierst heute die Klappe vom Hühnerstall?«

»Sicher.«

Der vollständig aus Metallbauteilen errichtete Stall stand auf langen Schienen, die auf einem Feld verliefen. Auf einem abgeteilten Teil davon suchten die Hühner tagsüber nach Nahrung. Beigefüttert wurde nur wenig. Gab der zur Verfügung stehende Bereich nicht mehr genug zu fressen her, zog Eichel den Stall mit seinem Traktor über die Spur fünfzig Meter weiter, sperrte einen neuen Abschnitt des Feldes und das Federvieh pickte dort. Das aufgegebene Feldstück regenerierte sich in den nächsten Monaten. Nachts fand das Geflügel im Stall Schutz vor Füchsen und anderen Räubern. Die Türklappen schlossen automatisch.

Bei einer dieser Klappen war seit einigen Tagen der Schließmechanismus defekt, sodass Eichel sie manuell bedienen musste. Erst gestern war das fehlende Ersatzteil geliefert worden, welches er heute einbauen wollte.

Nachdem er sein Frühstück beendet hatte, holte er aus der Werkstatt das erforderliche Werkzeug. Es war kurz nach sechs Uhr. Die Sonne war gerade aufgegangen und ihn fröstelte.

In der Nacht hatte es geregnet. Die Pfützen standen noch in den Vertiefungen des Pflasters. Die Hühnerställe lagen dreihundert Meter vom Hof entfernt. Andreas Eichel machte sich auf den Weg.

Irgendetwas war anders an diesem Morgen. Er ließ den Schweinestall hinter sich, passierte den aufgegebenen Kuhstall, und als er in den Weg einbog, der zum Geflügelstall führte, entdeckte er den ersten Vogel. Ein Spatz lag regungslos vor ihm in der Furche, die von seinem Traktor stammte.

Eichel tippte das Tier mit der Fußspitze an. Es war tot. Nachdenklich ging er weiter. Andere Vogelkadaver lagen auf dem angrenzenden Acker.

Das war es, was er an diesem Morgen vermisste: das Zwitschern und Trällern der Vögel. Und das Kikeriki der drei Hähne und Gackern der Hühner, die um diese Zeit ihr sicheres Nachtlager schon längst hätten verlassen haben müssen.

Von düsteren Vorahnungen getrieben, beschleunigte Eichel seinen Schritt. Schnell kam der Stall in sein Blickfeld. Kein einziges Huhn scharrte auf dem Feld. Er ließ die Werkzeugkiste einfach fallen und rannte los, den Schmerz in seinem Rücken ignorierend.

Schwer atmend erreichte er den Hühnerstall, fingerte mit zitternden Händen den Schlüssel aus der Tasche und öffnete.

Was er sah, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Nicht ein Huhn hockte mehr auf den Stangen über dem Band, das die Eier zur Sortiermaschine transportierte. Alle lagen dicht gedrängt und teils übereinander auf dem Boden vor ihm, sodass er den Stall nicht betreten konnte, ohne auf einen der toten Körper zu treten.

Wie ein Teppich, schoss es ihm durch den Kopf. Ein weißer Teppich aus Hühnerkadavern. Dem Bauern liefen Tränen über das Gesicht.

4

Patrick Bohm kam von Ratingen und wollte nach Mülheim. Um Staus auf den beiden Autobahnen, die Richtung Norden führten, zu umfahren, nahm er den Weg über die Landstraße durch den Oberbusch, ein Waldstück westlich von Eggerscheidt.