Der Weg der neun Welten - Éric Julien - E-Book

Der Weg der neun Welten E-Book

Éric Julien

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Beschreibung

Zurückgezogen in der Stille hoher Berge leben die Nachfahren eines einst blühenden Volksstammes, die Kogi in der Sierra von Kolumbien. Éric Julien schenkten sie ihr Vertrauen – und ihr unschätzbar tiefes Wissen um ein Leben im Einklang mit der Natur und ihren geistigen Kräften. Im Jahre 1985 unternahm der französische Geograph und Alpinist Éric Julien eine außergewöhnliche Expedition in die Berge Kolumbiens, wo er jedoch lebensgefährlich erkrankte. Angehörige der Kogi retteten und heilten ihn. Zehn Jahre später kehrte Julien in die Berge zurück, um den Kogis zu helfen, ihr angestammtes Land zurückzubekommen. In diesem Buch teilt Éric Julien seine Erfahrung, dass die Kogis mit ihren Zeremonien das Gleichgewicht der Erde bewahren helfen und dass es ein für das gesamte Ökosystem nicht mehr gutzumachender Verlust wäre, würden sie ausgerottet und ihre Kultur zerstört. Wir bekommen eine Ahnung, welch tiefes Wissen wir verloren haben und wiedergewinnen müssen, um eine Zukunft zu haben.

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Seitenzahl: 405

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Éric Julien

Der Weg der neun Welten

Die Kogi und ihrUrwissen vom Leben im Einklangmit Himmel und Erde

Vorwort von Pierre Richard

3. Auflage 2022

Originaltitel: Le Chemin des Neuf Mondes

© Editions Albin Michel im Jahre 2001 C.L.E.S. – Paris 2001

Aus dem Französischen übersetzt von Ursula Pezeu.

Für die deutsche Ausgabe © Neue Erde GmbH, Saarbrücken 2005

Alle Rechte vorbehalten.

Titelseite: Dragon Design, GB

unter Verwendung eines Fotos von Éric Julien

Lektorat: Andreas Lentz

eISBN 978-3-89060-481-7

ISBN 978-3-89060-322-3

Neue Erde GmbH

Cecilienstr. 29·66111 Saarbrücken

Deutschland·Planet Erde

www.neue-erde.de

Für Zébulon und Gentil

Vorwort

Zeitungen und Fernsehen überfüttern uns mit Abenteuern: wer am schnellsten fährt; wer am tiefsten taucht; wer am höchsten steigt … Spitzenleistungen, immer wieder Spitzenleistungen!

Bei dieser Geschichte handelt es sich einfach nur um ein menschliches Abenteuer, um das, was im Menschen tief verborgene Gefühle und im dröhnenden Lärm des modernen Lebens erstickte Wahrnehmungen weckt … Es ist die Geschichte eines jungen Europäers, den die Kogi-Indianer vor dem sicheren Tod gerettet haben.

Und jener, der alles zu wissen glaubt, merkt, daß er letztlich gar nicht so viel weiß. Diese Indianer tragen eine einfache Anmut, eine Schwerelosigkeit, eine magische Schönheit in sich, die aus dem subtilen Gleichgewicht zwischen dem Leben und den Dingen hervorgeht.

Und ihre Schönheit ist strahlend. Der Europäer wird in die Kunst des Lebens eingeweiht und versucht danach, uns aus unserer Benommenheit zu erwecken, uns beizubringen, fröhlich, gerecht und aufgeschlossen zu sein, wie die Indianer es ihn gelehrt haben.

Es handelt sich hier um eine Spitzenleistung der Seele, und die zu erreichen, ist viel schwieriger, als einen Ball zwischen zwei Holzpfosten zu schießen.

Nachdem ich Érics Buch zugeschlagen hatte, bin ich aufgestanden und habe versehentlich einen Stuhl angestoßen. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich mich bei ihm entschuldigte.

Nanu! … Ist das nicht ein gutes Zeichen?

Pierre Richard

Inhalt

Einleitung

Die erste Welt

Die zweite Welt

Die dritte Welt

Die vierte Welt

Die fünfte Welt

Die sechste Welt

Die siebte Welt

Die achte Welt

Die neunte Welt

Danksagung

Bibliographie

Anmerkungen

Einleitung

»Du mußt auf mich achten, wenn du mich sehen willst …«

Vers aus einem alten koptischen Evangelium

Ich habe lange überlegt, ob es angebracht ist, diese Geschichte überhaupt zu erzählen. Ist nicht alles schon gesagt und aufgeschrieben worden? Alles über die Blindheit des Menschen und seine Schwierigkeiten, auf den Wegen der Bewußtwerdung voranzukommen zu einem Bewußtsein von der Welt, seinen Verbindungen mit der Welt, von seinem Inneren und seinen Beschränkungen; sich bewußt zu werden, daß es die Hauptaufgabe der Überlieferung und der Bildersprache ist, etwas weiterzugeben, aufzuzeigen und besser zu verstehen.

Seit der Mensch versucht, von seinen Erfahrung zu berichten und sie anderen zu vermitteln, hat er eine Unzahl von Werken geschaffen: Texte geschrieben, Filmen produziert und Rituale ersonnen, die mehr oder weniger gekonnt und zutreffend dieses große Unsichtbare beschreiben, diese versteckte Dimension, welche sich am Ursprung der Wesen und Dinge befindet. Er hat geformt, gemalt, gesungen, er hat sogar Tempel und Kathedralen gebaut, in denen das Wesentliche miteinander verbunden werden und Sinn finden sollte.

Heute sind diese Worte, Sätze, Pinselstriche oder Musiknoten immer noch vorhanden, gegenwärtig und stehen jenen Augen und Herzen zur Verfügung, die imstande sind, sie zu sehen und zu fühlen. Und dennoch! Man könnte fast glauben, daß der Mensch auf ewig dazu verdammt ist, das Offensichtliche immer wieder von neuem entdecken zu müssen, so als könne es nur eine persönliche Erfahrung und ein persönliches Weltverständnis geben. So als wäre diese Kenntnis gar nicht zu vermitteln, sondern nur immer wieder von neuem zu erfahren.

Eigenartig, aber jede Generation, jedes menschliche Wesen muß für sich mit eigenen Worten und aus eigener Anschauung diesen ewigen Weg immer wieder neu finden, der zum Sinn und zur Einheit der Welt führt. Er muß diese Worte wiederfinden: »Jeder muß seinen Platz in der Welt immer wieder neu erobern.«

Wie in einem unendlichen Kreislauf, der den Menschen dazu bringt, die Weltschöpfung noch einmal zu durchleben, muß er seine Welt hinter sich lassen, um »die Welt« wiederzufinden und um die großartige befreiende Erfahung seiner Einheit mit allem Lebendigen und dem Kosmos selbst zu machen, so beängstigend sie auch sein mag. In dieser unendlichen Weite sind wir so viel wie nichts oder so wenig wie ein winziges, durch die Elemente hin- und hergerütteltes Lebensästchen. Und auf fast paradoxe Art und Weise können wir gerade dann anfangen, frei zu sein, wenn wir nichts mehr sind und den Sinn dieser Offensichtlichkeit begreifen.

Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, die dieses Offenkundige – jede gemäß ihrer Kultur mit ihren eigenen Worten und Symbolen– nicht begriffen hätte, keine Gemeinschaft, die nicht versucht hätte, ihren Mitgliedern einen Zugang zu bieten, der es jedem menschlichen Wesen ermöglicht, auf seinem Lebensweg ein Gleichgewicht zwischen den negativen und den positiven Kräften zu finden.

Es geht also demnach nicht um das Wissen an sich, denn es existiert, es steht zur Verfügung, sondern um den Zugang oder vielleicht um die Übermittlung dieses Wissens. Wie findet man den Zugang, wie vermittelt man es? Wie viele gelehrte Menschen, wie viele Weise, wie viele Traditionen haben sich diese einfache Frage gestellt?

Wie soll man das Wesen der Welt und das Wissen darum weitergeben, wo doch allein die Inkarnation dem Menschen die Möglichkeit gibt, menschlich zu sein? Was soll man und wie soll man es tun, daß so oft gebrauchte Worte wie Demut, Harmonie oder Zuhörenkönnen sich endlich im Gebaren und im täglichen Umgang verwirklichen? Welcher Weg könnte den Menschen endlich dazu bringen, sein Herz und seinen Geist dem anderen und der Schwerelosigkeit der Welt zu öffnen?

Auf diese Fragen haben bestimmte Kulturen in Ritualen und Traditionen eine Antwort gefunden, andere haben es dem Zufall überlassen, dem Zufall des Lebens, der durch aufeinanderfolgende Umbrüche den Menschen dazu verdammt, auf dem Weg seines Menschseins voranzuschreiten und »dem Weg der Bewußtwerdung zu folgen«.

Im ersten Fall werden die Lebenskräfte gelenkt und organisiert, um die Gemeinschaft zu nähren und jene, die ihr die Lebensgrundlage verschaffen; im zweiten Fall läßt man dem wilden, brutalen und letztlich zerstörerischen Chaos freien Lauf.

Heute stehen wir vor einer schlimmen Entscheidung: der Entscheidung zwischen ethischen Regeln und der Grausamkeit des Chaos, zwischen Leben und Tod. Nein, es handelt sich nicht um eine totalitäre, von außen kommende Ethik, die auf einer Ideologie beruht, es handelt sich nicht um noch so eine unter vielen anderen von außen aufgezwungenen Ethiken, sondern um eine innere Ethik, die mit der Erfahrung und mit dem Sinn des Lebens, den sie enthüllt, verbunden ist.

Manchmal geschieht es, daß uns das Leben etwas Wundervolles schenkt, nämlich die Begegnung mit einem Ort, einem Bauwerk oder einem Menschen, dem dieser Weg, der zur Erfahrung der Einheit des Geistes führt, noch innewohnt. Diese Menschen oder diese Orte strahlen eine derartige Schönheit aus, eine derartige Kraft, daß unser verlorener, verirrter Geist immer wieder versucht, ihre verborgene Macht zu ergründen; dieses Unsichtbare, das sich uns zwar enzieht, uns aber dennoch trägt und uns innewohnt.

Neben solchen Orten und Personen gehören die Kogis mit ihrer Kultur zu den wenigen, die den Weg des Gleichgewichts zu wahren und zu pflegen wußten. Seit vielen Jahrhunderten erforschen sie die verschiedenen Facetten des Lebens und halten erstaunlich hochentwickelte Kenntnisse und ein tiefes Weltverständnis am Leben; Kenntnisse, die man wiederentdecken sollte, um unserer heutigen Gesellschaft wieder Sinn zu geben.

»Das wirklich Neue entsteht immer, indem man wieder zur Quelle zurückkehrt. Warum war Jean-Jacques Rousseau so ungemein revolutionär? Weil er sich für die Quelle der Menschheit, d.h. den Ursprung der Zivilisation interessierte, und im Grunde muß jede Neuerung über die Rückkehr zur Quelle und die Rückkehr zum Alten führen …«1

Der Zufall des Lebens hat mir erlaubt, mit dem Wesentlichen in Berührung zu kommen und an die Quelle der Menschheit zurückzukehren, indem er mich zu den Kogi-Indianern geführt hat. Er hat mir die Chance geboten, meinen Weg neu zu finden und zu versuchen, ihn auf Worte und Formen einer anderen Zeit auszurichten.

Und dann muß ich an die Freude zurückdenken, die ich verspürt habe, als ich bestimmte Bücher entdeckte; an dieses Gefühl, wie Worte verborgene Gefühle und Erinnerungen wachriefen oder mir einfach ermöglichten, unendliche, durch die menschliche Vorstellungskraft erforschte oder geschaffene Welten zu entdecken; an den Jubel und die Freiheit, die uns das Wissen verschafft; an die Demut, zu der dieses Wissen uns anregt. Also habe ich dieses Buch geschrieben: eine Art Kompromiß zwischen einer Geschichte und der Wirklichkeit, ein unvollkommener Versuch, diese »Zwischenwelt« zu erforschen, diesen Abgrund voller Ungewißheit, der die Welt der Kogis von der modernen Gesellschaft trennt.

Es ist ein Augenzeugenbericht und die Schilderung eines Weges, der mich zu einer Begegnung mit den Kogis geführt hat und zu meiner Verpflichtung diesem Volk gegenüber, ihm zu helfen, Kogis im Lande der Kogis bleiben zu können. Möge dieser Weg eine Einladung zu tausend anderen Wegen sein; Wege, die wir dringend wiederentdecken müssen, wenn wir die für das Überleben nötigen menschlichen Werte wiederfinden wollen.

Jedenfalls hoffe ich, daß es Ihnen genauso viel Vergnügen bereitet, diese Seiten zu lesen und den Weg der neun Welten zu entdecken, wie ich selbst Vergnügen hatte, diesen Text zu schreiben, um das Abenteuer mit Ihnen zu teilen.

Am Ende dieses Buches werden Sie vielleicht wie ich eine eigenartige Entdeckung machen: Man wird nicht als Indianer geboren, man wird zum Indianer.

»Der indianischen Welt zu begegnen, ist heute kein Luxus mehr. Es ist, für den der begreifen will, was sich in der modernen Welt abspielt, zu einer Notwendigkeit geworden. Verstehen ist nichts, sondern versuchen, bis ans Ende all der dunklen Gänge zu gelangen, und versuchen, einige Türen zu öffnen: d.h. im Grunde, versuchen zu überleben.«2

Am Anfang war die Mutter. Alles war dunkel. Es gab weder Sonne noch Mond. Überall war Meer, dann kam die Welt …

Die Welt hat die Form eines Eies, eines sehr großen Eies, das mit der Spitze nach oben steht. In diesem Ei sind die neun Welten. Es handelt sich um große, abgerundete Plattformen, die übereinandergesetzt sind. Wir leben auf der Erde in der Mitte, wir nennen sie Senenùmayang. Oberhalb dieser Welt, bis ganz oben, sind noch weitere vier Welten Bunkuàneyumang, Alunayumang, Elnauyang und Koktomayang. Diese Welten sind gut, sie heißen Nyuinulang, die Sonnenwelten. Darunter sind vier weitere Welten, Kaxtashinmayang, Kaxyùnomang, Munkuànyumang und Séyunmang. Diese Welten sind dunkel, schwierig und heißen Séi-nulang. Das Universum, dieses große Ei, ist sehr schwer. Es wird von zwei Balken gehalten und getragen, und vier Männer stützen diese, zwei im Westen und zwei im Osten. Unter der Welt ist Wasser. Auf dem Wasser ist ein großer, flacher und außergewöhnlich schöner Stein. Auf dieser Erde sitzt die Mutter. Sie gibt den vier Männern, welche die Welt halten, Wasser und Essen, damit sie nicht müde werden. Wenn einer der vier Männer das Gewicht des Balkens von der einen Schulter auf die andere verlagert, ja, dann bebt die Erde. Deshalb ist es nicht gut, sich aufzuregen, Steine zu werfen, Steinschläge im Gebirge zu verursachen oder zu schreien. Wenn man das tut, wird die Welt beben und vielleicht sogar von der Schulter der vier Männer herunterfallen, die sie halten.

Jede der neun Welten hat ihre Mutter, ihre Sonne und ihren Mond, und auf allen Welten leben Leute. In den höchsten Welten leben Riesen. In den tiefsten leben Zwerge. Sie werden Noanayomang genannt.

Vor Urzeiten gingen die Leute unserer Erde die oberen Erden besuchen, die Welten, auf denen man nicht altert. Heute ist das nicht mehr möglich. Unsere Erde ist die neunte Tochter der Mutter, die schwarze Erde. Vorher lebten hier nur Indianer, nur Brüder unter Brüdern. Dann kamen die Weißen. Sie haben die Indianer mit ihren Krankheiten und ihren Boshaftigkeiten verfolgt. Sie kamen von einer anderen Erde, von einer der untenliegenden Erden. Deshalb handelt es sich um schlechte Menschen.

Irgendwann werden die vier Männer, die die Welt tragen, müde sein. Sie werden keine Kraft mehr haben, die Welt zu stützen. Einer von ihnen wird einen Balken fallen lassen, dann noch einer. Daraufhin wird das Universum umkippen und ins Wasser fallen (…) Nur die Mutter wird überleben, ansonsten werden alle Menschen sterben. Wenn das eintrifft, dann wird dies das Ende der Welt sein … Und dann werden von neuem wieder Väter und Mütter kommen.

Kogi-Mythologie

Nach Gerardo Reichel-Dolmatoff

Kapitel 1

Die erste Welt

Die erste Welt, das ist die Mutter, das Wasser, die Nacht, es gibt nichts außer dem Geist (Aluna) und das Mögliche der Dinge. »Alles ist Geist und Gedanke.« Die Mutter hieß Se-nenulàng. Es gab da auch einen Vater, der Katakéne-ne-nulang hieß. Sie hatten ein Kind, das Bùnkua-sé hieß. Aber es waren keine Personen, nichts. Sie waren nur Aluna, d. h. Geist.

Am Anfang ist nichts, nichts und doch alles auf einmal. Die Elemente, Himmel, Luft, mächtige und prachtvolle Gebirge. Und die Lust, die tiefe Urlust, zu marschieren, anderswo hinzugehen, geradeaus, noch weiter. Das Wesen ist da, aber es besteht noch nicht. Es ist unbewußt. Vielleicht kann es werden. Vielleicht … Das hängt von ihm ab. Aber der Weg ist lang, so lang und gleichzeitig doch so kurz. Da sind Labyrinthe, dunkle Texte, da sind Freiheit und Gefängnisse, alles ist da, nichts ist wie am Anfang … das ist das noch nicht existierende Mögliche.

Diese Geschichte beginnt im Oktober 1985. Als junger Entwicklungshelfer von fünfundzwanzig Jahren werde ich von der französischen Regierung nach Kolumbien geschickt, um bei der französischen Botschaft und beim kolumbianischen Fernsehen mitzuarbeiten. Ich weiß von dem Land, seiner Geschichte und seiner Bevölkerung so gut wie gar nichts. Ich weiß, daß es sich um ein lateinamerikanisches Land handelt, in dem man spanisch spricht; ansonsten muß ich mir einen fürchterlichen Wissensmangel eingestehen. Durch Nachstöbern in den Akten meiner Vorgänger erfahre ich, daß die derzeitige Währung der Peso ist, daß man in bestimmten großen Geschäften alles findet, was man braucht; daß überall Kriminalität lauert, daß sie allgegenwärtig ist und daß sie jederzeit und ganz unerwartet zuschlagen kann.

Vor meiner Abreise haben mir Freunde von ihren selbst erlebten oder von anderen erzählten Erfahrungen berichtet, manchmal lustige, manchmal weniger lustige. Da war einer der Entwicklungshelfer, der Bogotá allein verlassen hatte und sehr schnell ausgeplündert und ohne Kleidung dastand. Entsetzt ist er ein paar Tage nach seiner Ankunft wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Oder ein anderer Entwicklungshelfer, der zu einer Konferenz in der Botschaft eingeladen worden war, und, als er diese verließ, von der Guerilla gekidnappt und erst einige Tage später wieder freigelassen worden war. Man hat mir von Ermordungen, Entführungen erzählt, aber man hat mir auch ein warmherziges Land beschrieben, unglaublich schön, zweimal so groß wie Frankreich, in welchem man die ganze Pracht und die ganze Vielfalt des südamerikanischen Kontinents findet. Nun, das ist alles, was ich über Kolumbien weiß, als ich am 25. Oktober 1985 am Flugplatz El Dorado in Santafé von Bogotá ankomme.

Bogotá ist eine in 2600 Meter Höhe gelegene, klobige Stadt, die sich am Fuß einer langen Gebirgskette von Norden nach Süden zieht. Die Strecke zum östlich gelegenen Flugplatz führt direkt ins Stadtzentrum, in das Geschäftsviertel mit seinen Wolkenkratzern und seinen hohen Gebäuden, in denen man Banken und Verwaltungen findet. Die grauen Viertel des Zentrums werden im Norden durch große Villen aus roten Backsteinen allmählich abgelöst, wohin sich die Bourgeoisie und die herrschende Gesellschaftsklasse zurückgezogen haben. Hinter Zäunen, Steinmauern und privater Hilfspolizei verbirgt sich eine wohlhabende Luxuswelt, wo mehr denn je das Äußere, d. h. der Schein des Auftretens dazu dient, sich vom Nächsten, von seiner Armut und der Gefahr, die er darstellt, abzuheben. Gen Süden dagegen gerät man mehr und mehr in die Viertel der Benachteiligten, die von Tausenden von Landflüchtigen in aller Eile errichtet wurden, um der brutalen Gewalttätigkeit und der Armut auf dem Lande zu entkommen.

In diesen riesigen Vierteln, die sich an den steilen Berghängen wellenartig entlangziehen, gibt es unaufhörlich Schwierigkeiten, und das Überleben ist nichts weiter als ein alltäglicher Kampf. Schon vor Morgendämmerung hängen Tausende von Männern und Frauen an den Seiten der bunten Busetas auf dem Weg nach Norden, um zu versuchen, ein paar zum Überleben nötige Pesos zu ergattern. Riesige Völkerwanderungen, Spiegelbild des ewig mangelnden Gleichgewichts zwischen denen, die haben, und denen, die nichts haben, zwischen denen, die essen, und denen, die verzweifelt warten. Im Grunde sind der verbarrikadierte Norden und der ziellose Süden die beiden Pole einer Stadt, die in der Umweltverschmutzung erstickt und in der man die höchste Kriminalitätsrate der Erde verzeichnet.

Nur das Viertel Candelaria verknüpft die Stadt noch mit ihrer Geschichte. Unterhalb der Egypto-Kirche, dem Knotenpunkt zwischen Nordbogotá und Südbogotá, wirken die engen und steilen Gäßchen einladend wie eine warmherzige und gastfreundliche, lebhafte und phantasiereiche Oase. Hinter den kleinen Mauern, ganz hinten in den gepflasterten bunten Höfen wird gespielt und gesungen, dort wird das Leben und der Tod theatralisch aufgeführt, dort versucht man verzweifelt, das Absurde des brutalen und zerstörerischen Alltags zu vergessen.

Als ich im Oktober 1985 mit Bogotá Bekanntschaft mache, liegt die französische Botschaft im Stadtzentrum. Es handelt sich um eine der wenigen abendländischen Botschaften, die sich nicht gen Norden verzogen hat. Ich entdecke eine hinter dicken gelb-weißen Mauern verborgene, in sich abgeschlossene Miniaturwelt, außen von der kolumbianischen Polizei und innen von französischen Gendarmen bewacht, wo man mehr Zeit damit verbringt, Konflikte und Unstimmigkeiten zu regeln, als Frankreichs Ansehen zu fördern oder den Anliegen französischer Staatsangehöriger weiterzuhelfen. Ich weiß nicht, warum, vielleicht sind es die letzten Utopien eines Studenten der Wirtschaftspolitik? Ich hatte jedenfalls etwas ganz anderes erwartet.

Diplomatie, Botschaft, das sind Worte, die mich an Höflichkeit und Eleganz fast im Sinne von Ritterlichkeit denken lassen, ja, sogar an Achtung und die Wichtigkeit eines Postens. Ich bin tief enttäuscht. In diesem kleinen Mikrokosmos, weit entfernt von der Hauptstadt, sind alle menschlichen Fehler und Schwächen am Werke und verursachen Kummer und Leiden, schlechten Geschäftsablauf und Illusionslosigkeit. Glücklicherweise werde ich von einem außergewöhnlichen Ehepaar empfangen. Trotz all der Schwierigkeiten versuchten diese Leute, immer das Beste zu tun, sich an den Sinn ihrer Aufgabe zu halten und weiterzukommen, indem sie ihre Mitarbeiter an ihrer Arbeit teilhaben ließen und sie achteten. Seltene Menschen, die mir Vertrauen schenken und mir helfen würden, meinen Weg durch Kolumbien zu finden.

Eines Abends habe ich Paul-Louis bei einem Treffen von Entwicklungshelfern kennengelernt. Schlank, hochgewachsen, mit kurzem graumeliertem Haar hat er sich mir als Philosophielehrer am französischen Gymnasium in Bogotá vorgestellt. Als großer Gebirgsliebhaber bereitete er eine Expedition ins Herz des höchsten Küstengebirges vor, der Sierra Nevada de Santa Marta. Um seine Mannschaft zu vervollständigen, suchte er noch Teilnehmer, am besten mit viel Erfahrung. Für einen Bergführer wie mich war eine derartige Expedition eine großartige Gelegenheit. Die höchste Gebirgskette aller Meeresküsten der Welt! Ich erinnere mich, daß ich mich gefragt habe, ob man von der Bergspitze aus die karibischen Inseln würde sehen können.

Ein befreundeter Regisseur, bei dem ich damals untergebracht war, vertraute mir an, daß ihn sein Aufenthalt in diesem Gebirge zutiefst beeindruckt hatte.

»Vor ein paar Jahren habe ich dort einen Film gedreht. Ich habe die Sierra von Süden nach Norden durchquert. Du wirst sehen, es handelt sich um ein außergewöhnliches Gebirge, das höchste Küstengebirge der Welt. Dort leben Indianer, die Kogis, seltsame und großartige Menschen. Sie sind immer weiß gekleidet. Ihre Würde und ihre Erhabenheit sind unglaublich. Wenn du ihnen begegnest, spielt sich da wirklich etwas ab, sie leben in einer anderen Welt. Aber man kommt nicht leicht an sie heran.«

Fügung oder Zufall des Lebens, ich sollte das Glück haben, eines der schönsten Gebirge der Welt kennenzulernen und seinen Bewohnern zu begegnen, den Indianern, von denen ich nur wußte, daß sie »seltsam und großartig« waren. Während einer einzigen Reise sollte ich ein Gemisch aus drei Elementen erleben, die immer schon das Wesentliche meines Lebens waren: Gebirge, Natur und Indianer.

Aber am 15. Dezember 1985, als ich am Flugplatz mit Paul-Louis zusammentreffe, habe ich keine Ahnung, was mich da erwartet. Ich weiß nichts über die Kogis, nichts über die Sierra, ich weiß noch nicht einmal, wo sie liegt; ganz zu schweigen davon, mir vorzustellen, daß diese wenigen Wochen mehr als fünfzehn Jahre meines Lebens prägen sollten … Ich weiß nur, daß wir uns nach Santa Marta auf der karibischen Seite am äußersten nördlichen Ende Kolumbiens begeben und daß wir von dort einen Bus nach Valledupar nehmen werden, eine der verloren landeinwärts gelegenen Pforten der Sierra. Was den Rest anbelangt, verlasse ich mich auf Paul-Louis.

Valledupar, die Hauptstadt des Landesteils César, ist eine stickige, seelenlose Stadt. Sie liegt zwischen der Sierra Nevada de Santa Marta und der Sierra del Parija, und man könnte sie als eine kleine Provinzstadt bezeichnen, die sich weder über ihre Größe noch über ihre Entwicklung im klaren ist. Abgesehen von einigen Gebäuden, die im Stadtzentrum aufragen, fühlt man sich wie in einem ausgedehnten Vorstadtgebiet, durchzogen von schnurgeraden Straßen, gesäumt von viereckigen und eingezäunten Häusern. Die Stadt wird größtenteils von Grundbesitzern verwaltet, die die Gegend beherrschen. Einmal im Jahr wird Valledupar für drei Tage die Hauptstadt des Vallenato, dieser so ausgefallenen, vom Akkordeon begleiteten Musik, die von Kolumbien und den Liebesgeschichten seiner Einwohner berichtet. Aus der ganzen Gegend kommt man, um die neuen Talente anzuhören, die manchmal schon im Alter von zehn Jahren begeisterte Massen mitreißen. In den Bussen, den Taxis, den Kneipen, den Straßen der Stadt und den Dörfern gibt es kein Haus, kein Auto, das nicht den Vallenato ausposaunt. Die Legende behauptet, daß ein mit Akkordeons vollgeladener Frachter, nicht weit von Santa Marta entfernt, Schiffbuch erlitt. Seit dieser Zeit ist das Akkordeon das Symbol der ganzen Gegend geworden, ein Musikinstrument, das selbst von einigen Indianerstämmen übernommen wurde. Hier lebt man für, durch und mit dem Vallenato, oder man lebt eben nicht.

Nachdem wir nachmittags an der Omnibus-Endstation der Stadt angekommen sind, nehmen wir ein altes Jeep-Taxi, um die anderen Expeditionsmitglieder zu treffen, die uns in einer benachbarten Familienpension erwarten. Ich erinnere mich sogar an den Namen: »Hotel Exito«, Erfolg. Das wird ja dann was werden! Außer Paul-Louis, mit dem ich angereist bin, sind da noch Marie-Jo, um die vierzig Jahre, ein großes, etwas schlaksiges Mädchen, Mathematiklehrerin im französischen Gymnasium von Bogotá; ihr Bruder, dessen Vornamen ich vergessen habe; Marie, eine junge Studentin, die gerade ihr Medizinstudium beendet hat; Dominique, ihr Mann, ein großer blonder Athlet, der auch gerade sein Studium beendet hat und der einer der einfachsten und nettesten Menschen ist; und dann ist da noch Yves, den man aber Gillou nennt, ein bißchen verloren, zweifellos gegen seinen Willen in diese Geschichte mit hineingeraten. Eine eigenartige Mannschaft, die mich, ohne es zu wissen, in die Urwelt begleiten sollte, diese Welt des Umbruches und der Entdeckungen. Eine eigenartige Mannschaft, die da drei Wochen lang wird zusammenleben müssen, die sich in ihren Wünschen und ihren Vorstellungen wird anpassen müssen, um ein Mindestmaß an Gemeinschaft zu bilden, das für diese Art von Expedition unbedingt notwendig ist.

Wir nutzen unsere letzte Nacht in der Stadt, um uns kennenzulernen, indem wir eine der dortigen Spezialitäten genießen, carne a la llanera, ein riesiges Stück gegrilltes Fleisch, serviert mit einer herrlich pikanten Soße. Paul-Louis, ein noch größerer Organisator als der Herrgott selbst, wahrscheinlich ein von seiner Fallschirmspringer-Vergangenheit beibehaltenes Talent, teilt uns seinen Plan mit. Morgen ganz früh würden zwei Jeeps uns abholen kommen, um uns nach Nabusimaké, »da, wo die Sonne geboren wird«, zu bringen, in ein von der spanischen Kolonisierung übriggebliebenes Steindorf. Dort würden wir Maultiere und Bergführer vorfinden, die uns unterhalb der schneebedeckten Berggipfel in der Sierra Nevada de Santa Marta absetzen würden.

Ich nehme nicht viel von dem, was ich da erlebe, wirklich wahr. So als hätten die Ereignisse und die Begegnungen keinen Einfluß auf mich. Außerdem bin ich noch nicht einmal sicher, ob ich sie wirklich erlebe. Ich verfolge sie, ich sehe sie, aber sie dringen nicht in mich ein. Diesen Eindruck hatte ich schon im Gymnasium und danach in der Universität. Diesen eigenartigen Eindruck, der Zuschauer des eigenen Lebens zu sein, ein unbeteiligter Zuschauer, der keinen Augenblick lang auch nur daran denkt, daß er sein Leben wählen und aktiv mitwirken könnte, um ihm den Sinn zu geben, den er selbst eigentlich wünscht. Und dann, was soll man mit einer solchen Freiheit, mit einer solchen Entdeckung anfangen? Es reicht nicht, frei zu sein, man muß damit auch noch etwas anfangen können. Einmal hat mir ein Freund gesagt, er sei über einen Vogel erstaunt gewesen, dem er den Käfig geöffnet habe und der nicht weggeflogen sei: »Es ist seltsam, ihm ist der goldene Käfig lieber als die Freiheit.« Man kennt die Grenzen seines Käfigs, gegen diese kann man sich auflehnen, aber die Freiheit? Manchmal bringt das Leben wie durch Zauberei einen so ganz beiläufig dazu, zuerst die Nase aus dem Käfig hinauszustrecken, dann eine Hand, dann die andere, dann ein Bein und dann den ganzen Körper. Wenn das Leben einen durch Zufall oder aus Notwendigkeit dazu bringt, zu leben, geboren zu werden und einen dann in das Bewußtsein der Welt hineinbringt, wenn es vor einem den unsichtbaren Weg webt, der die Dinge und die Menschen verbindet, tja, dann …

Aber an jenem Tag bin ich weit davon entfernt, ja, sehr weit davon entfernt, dies überhaupt wahrnehmen zu können. Ich gebe mich damit zufrieden, Bergführer zu sein, dem aufgetragen wurde, seine Hilfe und seine Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, wenn wir die Berghöhen erreicht haben werden. Im Moment habe ich nur der Gruppe zu folgen und mich auf Paul-Louis zu verlassen, was mir auch ganz gelegen kommt.

Um sich in die Sierra zu begeben und indianisches Land zu betreten, muß man eine Genehmigung einholen, die einem bei einer Behörde für indianische Angelegenheiten, die dem kolumbianischen Innenministerium untersteht, ausgehändigt wird. Eine Genehmigung die man in der »Casa indigena«, einem trostlosen Gebäude bekommt. Dort melden sich auch die Indianer, wenn sie in die Stadt hinuntergehen müssen. Manche bleiben nur eine oder zwei Nächte, sie haben es eilig, in ihr Dorf zurückzukehren. Andere, allein oder mit Familienanhang, bringen es so weit, daß sie für immer in eine kleine Stadtwohnung ziehen. Als »Citindianer« oder Stadtindianer, gehen sie an der brüchigen Grenze verloren, die den freien Mann, Indianer oder nicht, vom verlorenen Mann trennt, für den der Sinn des Lebens nur noch eine weit entfernte Erinnerung bleibt. Schirmmütze, T-Shirt und müde Shorts ersetzen die langen, weißen Gewänder, ein Symbol, das ihrer Existenz Sinn und Schönheit verleiht.

Manchmal, so als fühlten sie dunkel das, was ihnen verlorengeht, ziehen sie ihre traditionelle Kleidung über und finden einen Augenblick lang die Würde und das leichte Gefühl ihres eigentlichen Standes wieder. Aber oft handelt es sich nur um ein blasses Aufbegehren des zum Tode Verurteilten, der fühlt, daß das Leben, d.h. sein Leben, ihm entrinnt.

Als junger Europäer war ich damals völlig unfähig, diese Nuancen einzuschätzen, diese subtile Sache, die den Menschen von der Unausgewogenheit und dann die Unausgewogenheit vom Tode trennt. Ich war fasziniert, ich war völlig von der Realität übermannt, die sich mir darbot. Es war zuviel. Zu viele Farben, Düfte, Unterschiede, mein völlig überforderter Geist konnte nur hinsehen und riechen. Kaum hinsehen, nur gerade ein bißchen riechen.

Während Paul-Louis wegen der Genehmigung verhandelt, setze ich mich in den Schatten eines Mangobaumes. Ein paar Aruacos, nahe Cousins der Kogis, sitzen auf den Treppenstufen. Ich bin durch ihre Anwesenheit eingeschüchtert. Erhaben in seinem weiten Wollgewand, fixiert mich einer von ihnen.

Ich erinnere mich an seinen tiefen Blick, leuchtend wie zwei in seinem dunklen Gesicht verlorengegangene Sterne.

Jeder sitzt auf seiner Seite, und jeder begutachtet den anderen auf diskrete Weise. Fremd der eine dem anderen gegenüber, fühlen wir uns doch jeder vom anderen angezogen. Er scheint anwesend und gleichzeitig abwesend zu sein. Vielleicht wartet er auf jemanden, auf einen Freund oder irgend etwas. Im übrigen ist dies nur von geringer Bedeutung, aber das sollte ich erst später verstehen. Im Moment bin ich da und schaue ihn an. Es ist das erste Mal, daß ich einen Indianer sehe, daß ich eine Tatsache, ein Gesicht mit den Träumen und Vorstellungen meiner Kindheit verbinde. Für mich lebten Indianer in einem anderen Universum, auf einer anderen Seite, einer umgekehrten Seite der Welt, weit weg und nicht erreichbar. Er hatte seinen Platz, sein Leben nur in meiner Vorstellung, in einem von mir eingebildeten Durcheinander, erhalten geblieben durch Westernfilme und Comics oder beeindruckende Erlebnisse während der Ferien in den Alpen. Und dann dachte ich, daß das alles weit entfernt liege, daß das alles nicht mehr existiere, daß die Indianer zu einer überholten und vergessenen Vergangenheit gehören, daß sie von der unausweichlichen Logik der blinden Entwicklung mitgerissen worden waren, von der ich übrigens weder die Logik noch die Existenz wahrnahm. Von der Moderne weggefegt. Und da sah ich mich zum ersten Mal in meinem Leben einem Indianer gegenüber, einem richtigen. Was machen, was sagen, wenn man mit einem Traum konfrontiert ist?

An jenem Tag jedoch war es nicht nötig, nach der Antwort zu suchen. Paul-Louis rettete mich. Er kam aus dem schäbigen Gebäude der Casa indigena und schwenkte dabei die wertvolle Genehmigung durch die Luft. »Wir können hingehen!« Ich erhebe mich und erreiche schnell die beiden Jeeps, die uns zur Sierra bringen sollen. Auf dem Fußweg folgt mir der erste Indianer mit dem Blick. An was denkt er wohl, als er unseren Jeep wegfahren sieht? Wahrscheinlich, daß wir ja recht naiv sind; naiv zu denken, daß eine von einem Weißen ausgestellte Genehmigung einem anderen Weißen die Erlaubnis gibt, ein Land zu betreten, das ihnen gar nicht gehört. Wenn ich jetzt wieder darüber nachdenke, bin ich erschüttert über unsere Fähigkeit, etwas als selbstverständlich anzusehen, nur weil es das Resultat unserer eigenen Weltvorstellung ist.

Aber wie soll man sich denn andere Welten vorstellen können, solange man sich noch nicht einmal dessen bewußt ist, daß man Gefangener seiner eigenen Welt ist?

Unsere beiden Fahrer bahnen sich mit fürchterlichem Gehupe einen Weg durch den Betrieb und das Wirrwarr des Stadtzentrums. Es ist erst sieben Uhr morgens, und die Hitze fängt schon an, sich bemerkbar zu machen. Ein letzter Kreisverkehr, der Platz Bolívar, einer der in allen kolumbianischen Städten vertretenen Plätze, und endlich fahren wir Richtung Süden, an den beeindruckenden Viehfarmen entlang, Eigentum der Herrscherfamilien dieser Gegend.

Am Ende der Stadt markiert eine Polizeisperre die Grenze zwischen einem von der herrschenden Obrigkeit mehr oder weniger überwachten Gebiet und einem Niemandsland, wo jederzeit die Guerilla oder die Paramilitärs ihren Angriff verüben können: Personalausweise, Untersuchung des Gepäcks. Ein paar Minuten Wartezeit und wir kehren zu einer bunten Busgruppe zurück, die sich gen Westen auf den Weg macht.

Nach ein paar Minuten kommen uns zwei Busse vor einer Kurve entgegen. Sie nehmen die ganze Straßenbreite in Anspruch. Ein Lenkradreflex nach rechts, und unser Jeep kommt dem Abhang gefährlich nahe. Schallendes Gelächter. Unser Fahrer erklärt uns, daß manche Fahrer Wetten über die für eine Strecke nötige Fahrzeit abschließen, nur um die Monotonie der Fahrerei aufzulockern. Der Sinn des Spiels? So weit wie möglich zu fahren, bevor man dem entgegenkommenden Bus begegnet. Um zu gewinnen, muß man schnell fahren, sehr schnell. Am Steuerrad festgeklammert, manchmal sogar von sich ständig bekreuzigenden Fahrgästen unterstützt, legen die Fahrer einen an Wahnsinn grenzenden Fahrstil an den Tag. Das ist auch so eine Art unter vielen anderen, hinter der Freiheit herzuhetzen und die Absurdität des Alltags zu vergessen, ja, sogar das Leben und den Tod … Wer weiß denn schon, was morgen kommt?

Ein paar Kilometer, und wir lassen die gepflasterte Straße nach Westen hinter uns. Wir wenden uns nach rechts, einer sandigen Piste folgend, die zum Dorf Pueblo Bello führt, dem »schönen Dorf«. Was dieses »schöne Dorf« anbelangt, handelt es sich bei Pueblo Bello um ein Straßendorf, wo die Häuser entlang einer zentralen Landstraße aufgereiht unter der Sonne dösen. Drei Geschäfte, wo alles Mögliche, aber nur gerade das Notwendigste verkauft wird, eine müde Kneipe und natürlich Musik, immer wieder der Vallenato! Als wir ankommen, ist alles ruhig; eine scheinbare Ruhe, hinter der man eine starke Energie ahnt, wie hinter einem Schleier, hinter dem sich ausgesprochen zerstörerische Ausbrüche verbergen. So ungefähr wie der Körper eines Jugendlichen, der weder seiner Kraft noch seiner Bewegungen Herr ist. Eifersucht, Wut, Angst: Gewalttätigkeit ist allgegenwärtig und kann jederzeit ausbrechen. In der Häuserreihe zeugt ein riesiges Loch, das da doch eigentlich gar nicht hingehört, von dieser Allgegenwart. Vor ein paar Tagen hat die Guerilla das Telefonamt und die Bauerngenossenschaft in die Luft gesprengt. Was habe ich gesagt? In die Luft gesprengt? … Weggefegt! Von den Gebäuden ist nichts mehr übrig außer diesem riesigen, etwas blödsinnigen Loch und ein wenig am Boden verstreutem Schutt. Und dennoch ist alles so ruhig!

Nur noch schnell ein Rad wechseln, ein letztes kühles Bier trinken, und schon fahren wir auf die zerfurchte Piste zu, die Pueblo Bello mit Nabusimaké verbindet. Je weiter wir hochfahren, desto kühler wird es. Die Vegetation verändert sich, Bruchstücke von Urwald erscheinen. Ein paar Indianer, beladen mit Holz, mit Gemüse oder an Schnüren befestigten und über die Schultern geworfene Leguanen, steigen langsam am Rande der Piste empor. Hupen, ein Maultier sträubt sich, zwei verschiedene Welten kreuzen sich. Die unsrige hektisch, in Eile, laut. Sie bringt uns innerhalb von vier Stunden durch Steingeröll und Furchen ohne große Schwierigkeiten bis zum Dorf Nabusimaké. Die ihre, schweigend, schwierig, sagen wir weit weg, sicherlich ganz anderswo. Zwei menschliche Welten, die sich ignorieren, zugleich so nah und doch so weit von einander entfernt.

Endlich ein Paß, die Bergspitzen sind da, funkelnd, majestätisch. Anhalten, fotografieren, die ganze Mannschaft ist aufgeregt. Der Anblick dieser vor einen weit entfernten Horizont gesetzten schneebedeckten Berge weckt tiefe Gefühle. Ich habe nie richtig verstanden, was Gebirgswanderer auf Trab hält, was sie dazu verleitet, immer höher zu steigen, immer weiter, immer wieder diese unwirtlichen Plätze anzustreben, mit denen sie innerlich verbunden sind. Ich weiß nur, daß der Anblick der Berge, dieser Berge oder anderer Berge, einen beruhigt, einem Kraft gibt. Ich weiß auch, daß die, die von dort zurückkommen, immer einen kleinen Schimmer von Freude und Glück in den Augen haben. Vielleicht ist es ihre Schönheit und ihre Größe, die uns überwältigt und uns daran erinnert, wie klein wir sind. Vielleicht ist es auch der Horizont, den sie andeuten und der weitere Träume, weitere Möglichkeiten verspricht. Oder vielleicht handelt es sich um die dunkle, kraftvolle Wiederentdeckung einer großen Verbundenheit mit all dem, was lebt. Wie Wüste und Meer, gehört das Gebirge zu den letzten Gebieten, wo nichts mehr zwischen uns und der Welt existiert, nichts außer dem Auf und Ab des Lebens und dem Einssein mit der Natur … Tja, und das ist fantastisch!

»Nabusimaké está allá lejos, abajo en el valle.« (Nabusimaké ist dort, dort unten im Tal).

Türen schlagen zu. Bremsen quietschen leicht, dann schaukeln die beiden Jeeps in Richtung Talsohle. Zwischen den gelben, kahlen Ausläufern der Sierra erspäht man etwas Grün und einige von Bäumen umgebene Häuser. Von hier sieht es fast wie eine Oase aus, eine Insel des Lebens inmitten einer Wüste.

Nabusimaké. Ein Grenzort. Er markiert die Trennungslinie zwischen dem modernen Kolumbien und dem Land der Aruaco-Indianer, nahe Verwandte der Kogi-Indianer. Nabusimaké, »da, wo die Sonne geboren wird«, ist ein kleines, ganz grünes Tal, das sich an das erste rauhe Gebirge der Sierra Nevada und der Santa-Marta-Ausläufer schmiegt. Eines jener Täler, dessen Geheimnis die Natur birgt. Ein Tal, in dem alles sanft und harmonisch wirkt, auf einen subtilen Rhythmus und die vergangenen Jahrtausende abgestimmt. Scheinbare Harmonie der Leute und der Dinge, und man braucht einige Zeit, um dahinter die Spannungen und den tiefen Umbruch zu spüren, von denen die Einwohner durchdrungen und innerlich zerrissen werden. Hier begegnen sich in schmerzhafter und manchmal tödlicher Erschütterung Weltanschauungen, die nichts miteinander gemein haben.

Da gibt es Kolumbianer, die als Touristen hier heraufkommen, um die frische Luft zu genießen. Aus der Stadt bringen sie kistenweise Bier und dröhnende Musik mit, die die Ruhe des Tals zerstört. Manchmal sind es ausländische Touristen, die, wie wir, von der fremdländischen Schönheit des Ortes angezogen werden; Touristen, die kommen, nehmen und wieder gehen. Dann sind da Kolonisten, die, nachdem sie der Gewalt der weiter unten gelegenen Gegenden entflohen sind, sich hier im Tal angesiedelt haben, ohne sich weiter darum zu kümmern, wem es gehört und wer die Indianer sind, die da leben.

Da gibt es die Guerilla und Paramilitärs, die regelmäßig hier eindringen. Manchmal kommen sie nur durch, ein anderes Mal schüchtern sie die Einwohner ein oder sie ermorden einige, die von Nachbarn denunziert wurden, oder andere nur einfach auf Gerüchte hin. Racheakt, politisches Engagement, Irrtum, man weiß das nie so genau.

Da gibt es die Kirche, die Kapuziner, die seit 1917 zu ihrem Vorteil den größten Teil des Agrarlandes im Tal nutzten. Um ihre Vorherrschaft so gut wie möglich zu festigen, spielen sie auf sehr geschickte Weise mit den Konflikten zwischen Indianern, Kolonialherren und Mischlingen. Konflikte, deren Entwicklung sie größtenteils gefördert haben. Mischehen, Trennung der Kinder von ihren Eltern, Erpressung, alles wurde angewandt, um Männer und Frauen zu unterwerfen, deren einzige Schuld es war, anders zu sein. 1985, als sie sich bewußt werden, daß sie ausgebeutet und benutzt werden, tun sich Mischlinge und Indianer zusammen, um die Kapuziner aus dem Land zu jagen, das denen ja gar nicht gehört. Im Dezember, als wir ankommen, packt die Kirche ihre sieben Sachen zusammen, aber die Wunden sind noch offen, und zwar tief, bei denen, welche die Herrschaft akzeptiert haben, die sie gefördert haben, und bei denen, die sie erdulden mußten. Die Gastfreundschaft der einen oder anderen Ansässigen im Tal zu akzeptieren, ist eine subtile Art, sich sein Lager zu wählen und durch eine Tür in die Geschichte des Tals einzutreten.

Ein letztes chaotisches Stück Weg, und unser Jeep hält quietschend vor zwei kleinen weißen Häuschen, umgeben von vielen bunten Blumen an. Links zieht sich ein langer, sauber angelegter Gemüsegarten über mehrere Dutzend Meter dahin.

Wir sind bei Margharita. Eine breite, blumige Schürze, ein gebräuntes Gesicht, das graumelierte Haar straff gekämmt und zu einem Knoten hochgezogen, ist Margharita eine richtige mamá. Eine dieser fülligen Mamas, die einen mit ihrem breiten Lächeln empfängt, so als habe man schon immer zur Familie gehört.

»Euch bei mir aufnehmen? Ja natürlich, aber ich habe nicht genügend Betten für alle. Wenn ihr Zelte habt, könnt ihr sie im Garten aufschlagen.«

Und schon verschwindet unsere Gastgeberin wieder in ihrem Reich, einer dunklen Küche, in der sie schnell den Herd anfeuert. Zelte, Rucksäcke, Lebensmittel, unser Gepäck ist schnell ausgeladen und an einer Steinmauer entlang aufgestapelt. Längs eines kleinen Grabens mit kurzem Gras liegt ein in sein langes weißes Gewand gekleideter Indianer und scheint zu schlafen.

»Está borracho. No te preoccupes, siempre está así.« (Er ist betrunken. Kümmere dich nicht um ihn, er ist immer so.)

Mit der Fußspitze schubst ihn einer unserer Fahrer an und läßt ihn dadurch in den Graben rollen. Sein Gesicht ist verzerrt, sein Blick leer. Ein Streifen Mundschleim läuft ihm über die Wange. Alkohol. Schade, ich hätte gerne das Bild der Würde, des Stolzes bewahrt, das ich von den Indianern hatte. Wie traurig … Aber warum sollte eigentlich ein Indianer nicht das Recht haben, sich zu betrinken? Aber irgendetwas ist da unklar, irgendetwas stimmt da nicht. Ich habe das Gefühl, daß etwas kaputtgegangen ist. In der Küche fragt Paul-Louis schon Margharita aus, denn er versucht, einen Führer und Maultiere zu finden. Wir sind sieben, wir brauchen mindestens fünf Maultiere.

»Einen Führer? Da müßt ihr Gnako fragen, der kann euch da hinaufbringen, der kennt das Gebirge ganz genau.«

Heute abend, die erste Nacht im Zelt, ich suche eine flache Stelle. Im Garten auf langen Betonstreifen trocknet die letzte Kaffeeernte in der Sonne. Schweigende Indianerinnen schälen die Kaffeebohnen aus ihren Hülsen. Die Nacht rückt langsam zwischen den Bäumen voran. Und Abendkühle setzt ein. Nabusimaké liegt in 2000 Meter Höhe. Punkt sechs Uhr lädt Margharita uns ein, das Abendessen mit ihr an einem großen Tisch mit bunter Tischdecke zu teilen. In einer Ecke des Raumes drängen sich etwa zehn junge Indianer vor einem kleinen Fernsehgerät mit wackelndem Bild. Ein brummender Stromerzeuger bringt die paar nötigen Kilowatt hervor, die man braucht, um dem Haus Licht zu spenden und den Fernseher von Nabusimaké in Betrieb zu halten. An den Wänden: die Jungfrau Maria, Jesuskreuz, Diplome und Familienfotos, ein farbiges Patchwork an Kitsch.

»Gnako, entra, entra.«

In Begleitung einer der Töchter Margharitas betritt ein sehniger, ein bißchen linkischer Mann den Raum. Ein schüchternes, jedoch leuchtendes Lächeln erhellt das Gesicht. Kurzes Haar, zerschlissene Jacke und Hosen, Gnako ist einer dieser schmerzhaften Söhne der fortdauernden Kolonisierung, die das Tal und ihre Einwohner niedergewalzt hat. Er ist nicht wirklich ein Aruaco, selbst wenn er von ihnen einige Angewohnheiten beibehalten hat, aber er ist auch kein Abendländer. Er ist ein Mischling, ein Kind dieser »Zwischenwelt«, die noch nicht so richtig das ist, was sie werden will, aber auch nicht mehr ganz das ist, was sie einst war. Der Mann gefällt mir, vor allem das, was er ausstrahlt. Die Sierra? Die kennt er, sein Onkel wohnt zwei Tagesmärsche von hier im Weiler namens Mamankanaka. Er besucht ihn regelmäßig, um ihm die letzten Nachrichten hochzutragen und seine Ernte, Kartoffeln und Zwiebeln, mit herunterzubringen. Seiner Ansicht nach bräuchten wir etwa vier Tage, um die Naboba-Seen zu erreichen, diese vereisten, im Herzen der Sierra versteckten Seen. Im allgemeinen schlagen dort Fremde ihr Hauptlager auf, bevor sie losziehen, um die Berggipfel der Umgebung zu »erobern«. Gibt es einen Weg bis zu den Seen? Wie viel Marschstunden muß man pro Tag rechnen? Wie viele Maultiere werden nötig sein? Kann man sich auf dem Weg mit Proviant versorgen? Die Fragen sprudeln. Man spürt, daß er als Sohn des Ortes und seiner Geschichte über die kleinsten Kleinigkeiten, die feinsten Feinheiten auf dem laufenden ist. Mit einigen Worten beschreibt er die Sierra, ihre Fallen, die Etappen, die wir zurückzulegen hätten. Er ist bestimmt ein guter Führer, jemand mit dem es Spaß machen muß, ins Gebirge zu gehen.

Und was ist mit der Bezahlung! – Nun kommt der Zeitpunkt der Verhandlungen. Da ist Gnako, sein Gehilfe, die Maultiere. Und dann ist da der Maultierbesitzer. Er möchte sie ja ganz gerne vermieten, aber er will mit den Tieren mitkommen. Mit dem Kopf außerhalb des Zeltes, unter dem gestirnten Gewölbe, glaube ich, daß ich glücklich eingeschlafen bin, nur ganz einfach glücklich mit dieser kleinen Aufregung, die große Wettrennen oder Gebirgsreisen immer begleitet.

Fünf Uhr morgens, Dämmerung … der günstigste Augenblick des beginnenden Tages. Dunst und bläulicher Rauch verschleiern noch alles, Wesen und Dinge. Von Gnako und seinem Gehilfen bepackt und beladen, traben die sechs Maultiere in Richtung Bach und Überführung, über die wir die ersten Vorläufer der Sierra erreichen können. Ein klammes Frösteln streicht am Hals entlang, ein paar Schluck frischen Wassers, und schon betritt der erste Maulesel das strömende Flußwasser. Ich liebe diesen Augenblick, den Aufbruch. Die Muskeln sind noch fest, der Geist benommen. Jeder bestimmt seinen eigenen Tagesrhythmus. Wir marschieren los, Richtung Sierra, zum Herzen der Welt. Das Wetter ist klar, der Tag verspricht herrlich zu werden.

Die Sierra ist ein kompaktes, mächtiges Gebirge. Die großen Granitmassen, aus denen es besteht, sind von uralten Gletschermoränen gezeichnet. Die frailejones, diese flaumigen Kandelaber, charakteristisch für tropische Gebirge, überziehen die riesigen Fels- und Sandrücken, denen wir Tag für Tag begegnen werden. Mir gefällt der regelmäßige Marschrhythmus, durch den man die Schwerelosigkeit des Körpers und des Geistes wiederfindet. Im Marsch liegt Regelmäßigkeit, man ist mit dem Leben und der Erde verbunden, man findet Gleichgewicht und Gefühle wieder. Ein Schritt, noch ein Schritt und dann noch einer, der Marsch ist ein wertvoller Gefährte, durch den wir uns Zeit nehmen und der es uns ermöglicht, die Welt im Kleinen zu entdecken. Ein Stein, der unter der Sohle wegrollt, durch die Sonne verbranntes Gras, das Geräusch eines wilden Gewässers, das man hört oder nur vermutet, wo man dann anhält, eigentlich ohne wirklichen Grund, nur für ein oder zwei Schluck frischen Wassers. Dann wieder ein Schritt, noch einer und einsame Gedanken, die einen befallen, die einen begleiten und die einem innewohnen. Zuerst sind sie zahlreich, unruhig, turbulent. Dann beruhigen sie sich und stellen sich auf den Rhythmus des Körpers und des Marsches ein. Bald ist da nur noch des Vorwärtsschreiten, die Ruhe, der Friede … Wandern!

Während der ersten Stunden zieht unsere Karawane in langen Steigungen mit trockenem und von der Sonne verbranntem Gras empor. Vereinzelte stroh- und lehmbedeckte Hütten erscheinen hinter der Wölbung eines Landstreifens, entweder in der Nähe einer Quelle errichtet oder hinter einer kleinen Steinmauer versteckt.

Eine lange Steigung, einige schweigende Indianer, nur ein kurzer Blick. Die Karawane zieht sich in die Länge. Mit seinen Maultieren ist Gnako schon weit voraus. Anfang des Nachmittags kommt uns eine ganze Familie entgegen. Der Vater sehr würdig, großartig in seinem weißen Gewand mit schwarzen Streifen, seinen farbigen mochilas,3 die Mutter mit ihren Halsketten aus Korallen und zwei Kinder auf einem schwarzen Büffel mit langgezogenen Hörnern. Sie strahlen eine große Stärke und Erhabenheit aus. Sie kommen auf uns zu, und dennoch hat man das Gefühl, daß sie uns nicht sehen, so als seien wir durchsichtig. Fiebrig holt Marie-Jo ihren Fotoapparat hervor. Eine Aufnahme machen, ein Bild einfangen, da, jetzt gleich, ohne etwas zu wissen, ohne sie zu verstehen, ohne sie zu kennen. Die junge Frau hält ihren Arm vor ihre Augen sobald sie den Apparat sieht. Das Gesicht ihres Begleiters verschließt sich.

Ein Paß, ein paar weit entfernte Bergspitzen, ein Blick, und schon wende ich mich dem jäh abfallenden Abhang in Richtung eines tiefen, leuchtenden Tales zu. Da unten, schon von den ersten Abendschatten befallen, scheinen dort drei oder vier Hütten auf einen Teppich von trockenem Gras hingesetzt. Ein paar Knoblauch- und Zwiebelsetzlinge klammern sich am Erdboden fest. Duimena, unsere erste Zwischenstation! Hier herrscht nur Schweigen und Wind. Die Maultiere abladen, die Zelte aufschlagen, Essen kochen, schlafen, Frühstück zubereiten, die Zelte abbauen, die Maultiere bepacken; das Expeditionsleben ist einfach und wiederholt sich immer wieder. Immer einfacher und immer mehr in routiniertem Rhythmus, je weiter wir vorwärtskommen. Allmählich ermüden die Mannschaftsmitglieder. Duimena, Mankanaka, die Tage fliegen dahin. Die Vegetation ist nahezu verschwunden, nur ein paar trockene Grasbüschel klammern sich noch zwischen Felsen und Sand fest. Der Weg hat sich in einen Pfad verwandelt, eine Spur, dann nichts mehr. Die Landschaft ist atemberaubend, die Geräusche hallen im Kopf und im All fast kristallklar wider.

Ich erinnere mich an den letzten Tag. Magisch. Leuchtend. Das tiefe Blau des Himmels, das Ocker der Felsen und das Weiß der Gletscher formen eine irreale Landschaft. Eine lange Felswand, dann eine tiefe Schlucht; die Karawane dringt langsam in das Labyrinth der Felsen und des Gesteins vor, welche das Herz der Sierra charakterisieren. Die Gipfel sind da, gleichzeitig ganz nah und doch so weit entfernt. Sie scheinen uns einzuladen, uns die Gnade zu gewähren und uns ein paar Minuten zuzugestehen. Aber täuschen wir uns nicht, es handelt sich nur um eine Einladung. Die Schlucht wird enger, sie fällt steiler ab. Die Maultiere haben Schwierigkeiten, ihren Weg zu finden, ihre Hufe stoßen gegen runde vom Wind glattgeschliffene Felsen. Schließlich noch ein letzter Felsvorsprung. Der Maulesel vor mir arbeitet sich mit einem letzten Schub aus der Hinterhand auf eine kleine, felsige Plattform. Er hält einen Augenblick inne. Seine Schenkel zittern. Ein kalter, trockener Wind schlägt uns ins Gesicht. Vor mir riesige Seen auf einer Hochebene aus weißem Sand. Die Lagune von Naboba, das Herz der Welt. Es ist atemberaubend, einfach herrlich. Die Farben sind leuchtend, fast überirdisch glänzend. Mein Atem geht schwer. Ich bin müde, obgleich der Tag nicht sonderlich anstrengend war. Ich versuche, mich zusammenzunehmen. Ich muß weitergehen, bis zum Hauptlager kommen. Dann werde ich mich ausruhen können. Die beiden Maultiere, die mir vorausgehen, sind schon weit vorn. Von Gnako und seinem Gehilfen geleitet, überqueren sie diese riesige Hochebene von Naboba, um ein paar Felsen zu erreichen, die vom Wind geschützt liegen. Ich bin glücklich, hier in diesem Gebirge zu sein und diese verschneiten Bergspitzen zu sehen. Dort, weit weg und geheimnisvoll, erhebt sich die Reina, die am schwierigsten zu erobern ist; die Guardián, deren Felsbarrieren das Tal beherrschen; die Spitzen von Bolívar und von Colón, die sich gegenüber dem Meer erheben. Diese vier Gipfel bilden eine Art Schatztruhe, einen enormen Kreis aus Felsen, der das Tal einschließt und von außen abriegelt. Kaum sind die Maultiere abgeladen, wendet sich Gnako dem Tal zu, er wird in zehn Tagen wiederkommen, um uns abzuholen. Wir sind allein, im Herzen der Erde.

Trotz der letzten Sonnenstrahlen fällt die Temperatur schnell. Ein knappes Essen, zwei Riegel Marzipan, es ist ja schließlich der 24. Dezember, dann geht jeder, um sich in seinem Schlafsack zu wärmen. Von neuem erhebt sich der Wind, regelmäßig, fast aufdringlich. Die Nacht ist klar, leuchtend, morgen wird das Wetter schön sein. Morgen …