Der Weimarer Reichstag - Philipp Austermann - E-Book

Der Weimarer Reichstag E-Book

Philipp Austermann

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Beschreibung

Am 24. Juni 1920 trat der erste Reichstag der Weimarer Republik zusammen. Er spiegelte stets den Zustand des Staates wider: seine politische Zerrissenheit, seine Belastung durch den verlorenen Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt die Feindseligkeit, die der Demokratie von links und rechts entgegenschlug. Welche Chancen und Risiken für den Parlamentarismus bestanden, wie er seit 1930 immer mehr an den Rand gedrängt und schließlich zur bloßen Hülle wurde, zeigt dieses Buch. Im Weimarer Reichstag spiegelten sich alle Probleme der jungen Republik wider. Er stand im Zentrum heftiger gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Das Erbe der Kaiserzeit und die Krisen der Republik forderten die Reichstagsabgeordneten und belasteten die Parlamentsarbeit schwer. Philipp Austermann erzählt die Geschichte der Weimarer Republik zum ersten Mal vor allem aus der Sicht ihres Parlaments und seiner Abgeordneten. Er beschreibt, wie häufig die demokratischen Parteien kompromissunfähig waren, wie sehr die Todfeinde der Demokratie von rechts und links den Reichstag als Agitationsbühne nutzten, um die parlamentarische Republik zu zerstören, wie gezielt Reichspräsident Hindenburg ab 1930 den Reichstag an den Rand drängte und wie der mit jeder Wahl in den 1930er Jahren steigende Stimmenanteil der Radikalen das Parlament lähmte und aushöhlte. Das Buch appelliert angesichts stärker werdender Populisten zugleich an die demokratische Wachsamkeit.

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Philipp Austermann

Der Weimarer Reichstag

Die schleichende Ausschaltung, Entmachtungund Zerstörung eines Parlaments

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Berlin, Reichstag. Ansicht der Hauptfront, vom Königsplatz aus.

Foto, um 1930; © akg images

Lektorat: Rainer Landvogt, Hanau

Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln

Satz: Michael Rauscher, WienEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52014-4

»Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.«

Michael Köhlmeier,Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle, 2018, S. 8

Inhalt

Einleitung

1Belastungen der Reichstagsarbeit

Die Vorbelastungen durch die Kriegsniederlage

Todfeinde im Parteienspektrum und politisch motivierte Gewalt

Die KPD

Die DNVP

Die NSDAP

Die Stellung des Reichstages im Verfassungsgefüge

Das reine Verhältniswahlrecht als Grundübel

Die beschränkte Kompromissfähigkeit der Parteien

Das »Erbe« der Kaiserzeit

Die enge Milieubindung

Das Wählerverhalten

Die Folgen für den Reichstag

2Das parlamentarische Leben im Reichstag

Das Reichstagsgebäude

Der Arbeitsalltag der Abgeordneten

Die Fraktionen

Der Reichstagspräsident, die Vizepräsidenten und die Verwaltung

Die Parlamentsausschüsse

Das Plenum

Zeitungen, Broschüren, Hetzschriften, Romane: Informationen und Desinformationen über das Parlament und seine Arbeit

3Tiefgehende Krise und relative Stabilisierung.

Die Arbeit des Reichstages bis Juli 1930

Wie nahmen die ersten drei Reichstage ihre Aufgaben wahr?

Regierungskontrolle und Einflussnahme auf die Regierungsbildung

Gesetzgebung

Arbeitsklima und Debattenstil

Wie nahm der 4. Reichstag seine Aufgaben wahr?

Die Einflussnahme auf die Bildung der Großen Koalition und die Kontrolle der Regierungsarbeit

Die Gesetzgebungsarbeit bis zum Ende der Großen Koalition und die Störungen des Parlamentsbetriebs durch die Radikalen

Der Young-Plan

Das zweite Gesetz zum Schutze der Republik

4Semiparlamentarismus. Die schleichende Entmachtung des Reichstages ab Juli

Der Reichspräsident und »Ersatzkaiser« Paul von Hindenburg

Hindenburgs Umfeld: die »Kamarilla«

Hindenburgs geistige und körperliche Gesundheit

Der Schwenk zum Präsidialkabinett

Der neue Reichskanzler Heinrich Brüning

Der halbparlamentarische Regierungsstil Brünings

Der 5. Reichstag

Parteineugründungen

Wahlkampf

Das Wahlergebnis vom 14. September 1930

Die antiparlamentarischen Wahlgewinner NSDAP und KPD

Brüning sucht einen Bündnispartner im Reichstag

Die Arbeit des 5. Reichstages

Selbstbeschränkung des Reichstages aus Staatsräson

Brünings Sturz

5Antiparlamentarismus. Regieren ohne Reichstag?

Der gescheiterte Versuch einer »nationalen Konzentration«

Die destabilisierenden Maßnahmen der Regierung Papen

Der 6. Reichstag

Die Koalitionsgespräche zwischen der NSDAP und den katholischen Parteien

Hindenburgs Widerstand gegen eine Kanzlerschaft Hitlers

Ein Staatsnotstandsplan

Zwei Plenarsitzungen

Der 7. Reichstag

Die Verhandlungen zur Regierungsbildung

Papens Sturz

6Zurück zum halbparlamentarischen Regieren?

Reichskanzler Schleicher sucht Bündnispartner

Der 7. Reichstag nimmt die Arbeit auf

Schleichers Sturz

7Die Entmachtung des Reichstages

Die faktische Ausschaltung des Reichstages als Folge der Präsidialkabinette

Hitler wird Reichskanzler

Die Auflösung des 7. Reichstages

Kontrolle unerwünscht: die Sprengung des Überwachungsausschusses

Staatsterror und Wahlkampf

Der 8. Reichstag

Das Wahlergebnis vom 5. März 1933

Die Fraktionen

Das Ermächtigungsgesetz

Hitlers Absichten

Verfassungsrechtliche Hürden

Die Haltung der anderen Parteien

Der Propaganda-Staatsakt von Potsdam

Die Erosion der Parlamentstraditionen und des Parlamentsrechts

Das Werben um die Zustimmung des Zentrums

Die Reichstagssitzung vom 23. März 1933

Warum stimmten die katholischen und die bürgerlichen Parteien zu?

Der Reichsrat erhebt keinen Einspruch

Die nur scheinbar legale Ermächtigung

Terror vom Anfang bis zum Ende: die Verfolgung oppositioneller Abgeordneter

8Scheinparlamentarismus

9Schlussbetrachtungen

Anmerkungen

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

Quellen und Literatur

Quellen

Literatur

Anhang

1Gesetzgebung des Reichstages vom 30. März bis zum 18. Juli 1930

2Gesetzgebung des Reichstages in der 5. bis 8. Wahlperiode

3Gesetzesbeschlüsse des Reichstages des »Dritten Reiches«

4Misstrauensanträge in der 5. Wahlperiode

5Aufhebungsanträge zu Notverordnungen in der 5. Wahlperiode

6Ergebnisse der Reichstagswahlen von bis

7Die Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in der Nationalversammlung und im Reichstag

8Text des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Der Reichstag existiert als Parlament nicht mehr. Wer heute vom »Reichstag« spricht, meint damit zumeist das Reichstagsgebäude am Platz der Republik, den Tagungsort des Deutschen Bundestages. Der Bau wurde beim Reichstagsbrand und vor allem in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges stark beschädigt. Er wurde unter Paul Baumgarten (1961 bis 1973) und Norman Foster (1995 bis 1999) entkernt und grundlegend umgebaut. Das heutige Gebäude hat mit dem Reichstag des Deutschen Reiches, der bis 1933 hier tagte, nur noch die Außenfassade und einigen Gebäudeschmuck im Innern gemein. Namentlichen Bezug auf frühere Reichstagsabgeordnete nehmen mehrere Bürogebäude des Bundestages: das Paul-Löbe-Haus, das Jakob-Kaiser-Haus, das Otto-Wels-Haus und das Matthias-Erzberger-Haus.

Außerdem erinnern mehrere Kunstwerke in und vor dem Reichstagsgebäude an den alten Reichstag. Besonders eindrücklich ist die Gedenkstätte für die verfolgten Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik im ehemaligen Abgeordnetenrestaurant. Sie besteht aus einer großformatigen Fotoarbeit Katharina Sieverdings, die an den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erinnert. In drei davor ausliegenden Gedenkbüchern, die Klaus Mettig entworfen hat, wird an die 120 von den Nationalsozialisten ermordeten sowie an die vielen im »Dritten Reich« inhaftierten, in die Emigration getriebenen oder auf andere Weise verfolgten Reichstagsabgeordneten erinnert. Ein Denkmal an der Westseite des Reichstages dient der Erinnerung an 96 Reichstagsabgeordnete (aus neun Parteien), die zwischen der Ernennung Hitlers am 30. Januar 1933 und dem Ende des NS-Regimes am 8. Mai 1945 gewaltsam oder infolge ihrer Inhaftierung zu Tode kamen.

Die Kunstwerke und die Gebäudenamen verdeutlichen die zwei Seiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert: Auf der einen Seite stehen die zwölf Schreckensjahre von 1933 bis 1945. Sie brachten Massenmord, Krieg, Verfolgung, Zerstörung und Vertreibung. Auf der anderen Seite steht eine demokratische Tradition, die bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückreicht: Im Frühkonstitutionalismus nach dem Wiener Kongress (1815) erließen die Fürsten in vielen deutschen Staaten eine Verfassung. Sie sah eine Frühform des Parlaments mit gewählten und ernannten Vertretern vor. Diese war z. B. für die Haushaltsbewilligung zuständig, ansonsten aber noch recht machtlos. Der Reichstag der Kaiserzeit war, nachdem das demokratische Experiment der Frankfurter Nationalversammlung 1849 scheiterte, ein bedeutender Schritt hin zu einem Parlament, dessen Mitglieder von allen volljährigen Staatsbürgern, Frauen und Männern, in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen bestimmt werden und das das höchste Staatsorgan ist. Der Reichstag der Weimarer Republik, um den es in diesem Buch geht, war das erste deutsche Parlament dieser Art.

Wer genau hinsieht, wird noch andere Spuren des Reichstages im Bundestag entdecken. Dessen Verfahrens- und Organisationsregeln entsprechen teilweise noch denen des Reichstages. Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages haben das, was ihnen am vorherigen Recht geeignet erschien, übernommen. Ein kurzer Blick in die Art. 20 bis 40 WRV und in die Art. 38 bis 48 GG zeigt die Traditionslinie. Sie reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Der politische Zustand eines demokratischen Staates spiegelt sich in seinem Parlament wider. Die Art und die Stärke der darin vertretenen Parteien sowie ihr Umgang miteinander sagen etwas über die Lage des Gemeinwesens aus. Je mehr radikale Parteien vertreten sind und je höher ihr Stimmenanteil ist, desto hitziger und auch unsachlicher gestalten sich meist die Debatten. Radikale Parteien sehen ihre Wettbewerber häufig nicht als Gegner, sondern als Feinde an: als »Systemparteien« oder »Altparteien«, deren Ziele es endgültig zu überwinden gelte. Demokratische, gemäßigte Parteien sind hingegen kompromissfähig. Sie wissen, dass sie nicht die Wahrheit gepachtet haben und Zugeständnisse zur Mehrheitsfindung im Parlament nötig sind. Und auf die Mehrheitsfindung kommt es in der Demokratie letztlich an. Ohne stabile Mehrheit gibt es keine stabile Regierung.

Seit dem Einzug der AfD, einer jedenfalls in Teilen rechtsextremen Partei, in den Bundestag im Jahr 2017 fragen sich viele, ob sich hier etwas wiederholt, das im September 1930 begann: der parlamentarische Aufstieg einer illiberalen und antidemokratischen Partei. Der Blick in die östlichen Bundesländer mag die Sorgen noch bestärken. Dort ist nicht nur der Stimmenanteil der AfD größer, sondern auch die aus der SED hervorgegangene, in Teilen radikale Partei Die Linke stark. Bei der Landtagswahl in Thüringen vom Oktober 2019 vereinigten die AfD und Die Linke mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich – mit der Folge, dass die Regierungsbildung nahezu unmöglich wurde. Nur unter Einbeziehung einer der beiden Randparteien konnte die Wahl eines Ministerpräsidenten auf die Beine gestellt werden.

Was in der Weimarer Zeit die radikale, demokratie- und parlamentsfeindliche Parteipresse war, sind heute Beiträge in den »sozialen Medien«. Politisches Handeln erhält heute viel unmittelbarer als früher Resonanz. Oftmals fällt diese ätzend und vernichtend aus. Tatsachen werden erfunden oder verdreht. Sogar Kommunalpolitikerinnen und -politiker werden, häufig aus der Anonymität heraus, beleidigt, herabgesetzt und bedroht. Selbst zu körperlichen Angriffen bis hin zum Mord ist es leider schon gekommen.

So verwundert es nicht, dass manche schon »Weimarer Verhältnisse« befürchten: ein instabiles politisches System mit schwieriger Mehrheitsfindung im Parlament und kurzlebigen Regierungen. Solchen Befürchtungen ist entgegenzuhalten, dass die Umstände 1930 andere waren als heute. Die Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands ist deutlich stabiler. Die Vorbelastungen eines verlorenen Krieges fehlen. Außerdem ist keine der heutigen im Bundestag oder in einem Landesparlament vertretenen sehr rechten Parteien mit der NSDAP zu vergleichen: Keine Partei hat eine paramilitärische Schlägertruppe, keine hat einen Demagogen wie Adolf Hitler, der viele der damaligen Zeitgenossen mitreißen konnte. Straßenkämpfe zwischen Anhängern miteinander verfeindeter Parteien gibt es nicht. Auch sind die heutigen Stimmenanteile aller sehr rechten und rechtsradikalen Parteien auf Bundesebene geringer als im September 1930 und in den Folgejahren. Dasselbe gilt für die weit links stehenden und linksextremen Parteien.

Und dennoch, bei allen Unterschieden: Wer die Äußerungen von AfD-Vertretern im Bundestag und in den Medien verfolgt, fragt sich, ob sich hier vielleicht – unter heutigen Vorzeichen – etwas wiederholt, das man lange Zeit für endgültig überwunden hielt. Wer kann schon vorhersagen, wie sich eine erneute starke Zuwanderung oder eine wirtschaftliche Rezession auf das Wahlverhalten auswirken würde?

Die Arbeit an einem Parlamentsrechtslehrbuch und die mich aufgrund meiner früheren Berufstätigkeit als Parlamentsbeamter besonders bewegende Frage, ob seit 2017 Parallelen zu 1930 und den Folgejahren bestehen, haben mich veranlasst, mich mit den letzten Jahren des Reichstages der Weimarer Republik genauer zu befassen.1 Ich wollte sehen, welche Störungen des Parlamentsbetriebs es gab und wie sich die radikalen Abgeordneten geäußert haben. Zugleich wollte ich feststellen, welche Faktoren – neben dem Verhalten der Radikalen – den Reichstag als politischen Faktor ausgeschaltet haben. Das Ergebnis ist dieses Buch. Es zeigt den Weimarer Reichstag als Spiegel der Republik. Sein und ihr Ende hängen eng miteinander zusammen.

Dieses Buch ist nicht nur eine Darstellung eines Teils der Parlamentsgeschichte und ein Nachschlagewerk für denjenigen, der sich über die Reichstagsarbeit informieren möchte. Es soll zugleich ein Plädoyer für einen freiheitlichen Parlamentarismus sein. Es soll dazu aufrufen, die demokratischen Institutionen des freiesten und wohlhabendsten Staates auf deutschem Boden – der Bundesrepublik – zu schützen und das eigene Wahlrecht bewusst wahrzunehmen. Jeder darf wählen, was und wen er möchte (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Alles andere wäre nicht demokratisch. Aber jeder sollte genau wissen, was und wen er wählt. Stimmen für Radikale sind nie eine gute Idee (auch nicht als Protesthaltung). Das zeigt uns das Schicksal des Reichstages.

1Belastungen der Reichstagsarbeit

Die junge Weimarer Republik befand sich in ihren ersten fünf Jahren, also bis 1924, in einem dauerhaften Krisenmodus. Die Gründe dafür waren die Vorbelastungen durch den Krieg und die Niederlage sowie der Kampf der Extremisten von links und rechts gegen die demokratische Republik. Ab 1929 setzte dann, nach den relativ »Goldenen Zwanzigern«, eine erneute, letztlich tödliche Krisenphase ein.

Die Vorbelastungen durch die Kriegsniederlage

Die Weimarer Republik war ein Kind der Revolution im November 1918. Die Revolution wiederum war ein Kind der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Der Aufruhr begann, als sich die Matrosen in Wilhelmshaven Ende Oktober 1918 dem Befehl zu einem letzten Auslaufen in die Nordsee widersetzten. Er breitete sich von Kiel, wohin die verhafteten aufständischen Matrosen gebracht worden waren, über das ganze Deutsche Reich aus. In wenigen Tagen fegte er die Monarchie im Reich und in seinen Mitgliedstaaten hinweg. Am 9. November 1918 waren der Kaiser und die Landesfürsten Geschichte. An diesem Tag verkündete Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers und übergab in den Mittagsstunden die Regierungsgeschäfte an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Die Sozialdemokraten stellten seit 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag. Philipp Scheidemann rief am 9. November gegen 14 Uhr von einem Balkon vor dem Lesesaal des Reichstagsgebäudes die Republik aus – übrigens sehr zum Unwillen seines Parteigenossen Ebert. Scheidemann erinnerte sich einige Jahre später, Ebert sei »vor Zorn dunkelrot im Gesicht geworden«. Er habe »mit der Faust auf den Tisch geschlagen« und Scheidemann angeschrien: »›Ist das wahr?‹« Scheidemann habe, so Ebert, »kein Recht, die Republik auszurufen«, was aus Deutschland werde, »ob Republik oder was sonst, das [entscheide] eine Konstituante«,1 also eine verfassunggebende Versammlung. Scheidemann kam mit seiner Proklamation Karl Liebknecht zuvor. Dieser rief etwa eineinhalb Stunden später von einem Lastwagen am Berliner Lustgarten und dann von einem Portal des Stadtschlosses die »sozialistische Republik« aus. Liebknechts Ausrufung blieb folgenlos. Die beiden sozialdemokratischen Parteien, die Mehrheits-SPD und die davon am 6. April 1917 abgespaltene Unabhängige SPD (USPD), bildeten am 10. November 1918 eine provisorische Regierung: den sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten. Beide Parteien entsandten je drei Mitglieder. Trotz aller Widerstände stellte die SPD die Weichen in Richtung Parlamentarismus. Sie setzte Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung an. Am 19. Januar 1919 wählten die Deutschen – Männer und erstmals auch Frauen – die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung. Sie trat am 6. Februar 1919 im Weimarer Nationaltheater zusammen. Friedrich Ebert hatte durchgesetzt, dass die Versammlung nicht in Berlin tagte. Durch die Wahl der mitteldeutschen Stadt Weimar sollte ein Zeichen des gesamtdeutschen Zusammenhalts gegeben und an den durch die Weimarer Klassik verkörperten Geist appelliert werden.2 Die unruhige Lage in Berlin oder ein befürchteter »Druck der Straße« spielten demgegenüber – anders als landläufig behauptet wird3 – eine geringere Rolle bei der Wahl Weimars.

Die SPD, das katholische Zentrum und die neu gegründete linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) gewannen mit zusammen 60,3 % der Stimmen die deutliche Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung. Sie bildeten als »Weimarer Koalition« eine Regierung. Die drei Parteien, die selbst oder deren Vorgänger im Kaiserreich lange Zeit in der Opposition gestanden und seit Juli 1917 im Interfraktionellen Ausschuss des kaiserzeitlichen Reichstages zusammengearbeitet hatten, prägten die neue »Weimarer Verfassung«, die in wenigen Monaten ausgearbeitet wurde und am 11. August 1919 in Kraft trat. SPD, Zentrum und DDP setzten die parlamentarische Demokratie als Regierungsform und die freiheitliche Grundordnung der Republik durch. Sie waren die staatstragenden Parteien der Republik. Das Zentrum und die DDP (ab 1930: Deutsche Staatspartei) waren bis 1932 durchgehend oder fast durchgehend an der Reichsregierung beteiligt. Die SPD stellte von 1919 bis 1925 den Reichspräsidenten sowie von 1919 bis 1923 und von 1928 bis 1930 mehrere Reichskanzler und Reichsminister. Auch in Preußen, dem nach Fläche und Bevölkerung weitaus größten Reichsland, waren alle drei Parteien von 1920 bis 1932 (mit kleinen Unterbrechungen) an der Regierung beteiligt. Die SPD stellte mit Otto Braun über ein Jahrzehnt den Ministerpräsidenten. Preußen wurde unter der Ägide der drei Parteien von einer monarchischen Hochburg zu einem demokratischen Bollwerk.

Die Kriegsniederlage war aus mehreren Gründen eine schwere Bürde für die junge Republik. Bereits der Waffenstillstand vom 11. November 1918 hatte dem Reich harte Bedingungen auferlegt. Die Hoffnungen, der Friedensvertrag möge weniger streng ausfallen, wurden enttäuscht. Der Regierungschef, Reichsministerpräsident Scheidemann, opponierte gegen die Vertragsunterzeichnung in der Sitzung der Nationalversammlung am 12. Mai 1919 in der Aula der Berliner Universität in einer kämpferischen und umjubelten Rede: »[…] – ich frage Sie: wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen als Deutscher, nur als ehrlicher vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?«4 Doch die Mehrheit der Nationalversammlung erkannte, dass ihr bei allem Widerwillen nur die Zustimmung zu dem Vertrag blieb. Andernfalls hätte sich das erschöpfte und immer wieder von lokalen Aufständen erschütterte Deutsche Reich erneut im Krieg befunden und wäre mit Sicherheit besetzt worden. Die Friedensbedingungen wären dann womöglich noch härter gewesen. Die Nationalversammlung erklärte sich am 22. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des in Versailles von den Siegermächten ausgehandelten Friedensvertrages durch die Reichsregierung einverstanden: Von 393 Mitgliedern stimmten 236 mit Ja, 89 mit Nein, 68 enthielten sich.5 Scheidemann war am 20. Juni 1919 zurückgetreten, da er den Vertrag nicht unterzeichnen wollte und seine Meinung innerhalb der SPD nicht durchsetzen konnte. Schließlich reisten Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes (Hans) Bell (Zentrum) nach Versailles und unterzeichneten unter Protest am 28. Juni 1919 den Vertrag.

Der »überaus harte«6 Versailler Friedensvertrag mit den Siegermächten bedeutete für das Deutsche Reich den Verlust eines Siebtels des Staatsgebiets, eines Zehntels der Bevölkerung und aller Kolonien; die Abschaffung der Wehrpflicht, die Reduzierung des Heeres auf 100.000 und der Marine auf 15.000 Mann sowie das Verbot einer Luftwaffe; die Zuweisung der Kriegsschuld und daher sehr hohe Reparationsverpflichtungen. Die Republik und die sie tragenden Parteien befanden sich in der paradoxen Situation, dass sie die Lasten des verlorenen Krieges schultern und bewältigen mussten, den sie nicht begonnen und nicht zu verantworten hatten.7

Die Kriegsniederlage hatte neben den wirtschaftlichen auch immense gesellschaftspsychologische Folgen. Die Niederlage kam für viele unerwartet. Waren die Frontgeschehnisse für viele auch fern und die Entbehrungen durch Hunger und Mängelwirtschaft groß – am Ende schien doch immer der Sieg zu stehen. In den von offiziellen Stellen verbreiteten Nachrichten eilte die deutsche Armee von Sieg zu Sieg. Siegte sie nicht, dann zog sie sich in »sichere Stellungen« zurück (um die nächste Offensive vorzubereiten). Die Werbeplakate für Kriegsanleihen hatten die Siegeszuversicht stets beschworen. In einer Werbung für die achte Anleihe zu Beginn des Jahres 1918 war vom »letzten Hieb« gegen den Feind die Rede gewesen. Die wahre Lage war eine andere. Seit dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensiven, die im März 1918 begonnen worden waren, und insbesondere seit dem »schwarzen Tag des deutschen Heeres« am 8. August 1918, an dem die Frontlinie bei Amiens massiv durchbrochen wurde, stand die Niederlage den verantwortlichen Heerführern, dem Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und seinem Ersten Generalquartiermeister Erich Ludendorff, vor Augen. Mitte August 1918 war den »politisch und militärisch Führenden klar, dass der Krieg verloren war und dass es nur noch darauf ankommen konnte, zu einer Art ›ehrenvollem Frieden‹ zu gelangen, indem man in gesicherten Stellungen so weiterkämpfte, dass die Alliierten zu einem Friedensschluss ohne deutsche Niederlage bereit waren.«8 Im September verstärkte sich die Erosion der deutschen Kampfkraft weiter. Außerdem brachen die Bündnispartner Österreich-Ungarn und Bulgarien weg. Als Letzteres am 29. September 1918 kapitulierte, gestanden Hindenburg und Ludendorff am selben Tag gegenüber (dem nur noch nominellen Oberbefehlshaber) Kaiser Wilhelm II. und dem Reichskanzler Graf Hertling die Niederlage ein. Die OHL forderte sofortige Waffenstillstandsgespräche und die verstärkte Einbeziehung der Reichstagsparteien in die Regierungsverantwortung.9 Durch eine Verfassungsänderung vom 28. Oktober 1918 war der Reichskanzler nun nicht mehr vom Vertrauen des Monarchen allein, sondern auch vom Vertrauen des Reichstages abhängig (Art. 15 Abs. 3 RV). Auch wurden Vertreter der bislang oppositionellen Parteien SPD, Zentrum und FVP in das Kabinett aufgenommen. Dieser Umstand und die Tatsache, dass mit Matthias Erzberger ein Zentrumspolitiker den harten Waffenstillstand am 11. November 1918 unterzeichnete, konnten sich die eigentlichen Kriegsverlierer in der Obersten Heeresleitung zunutze machen, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Ludendorff legte schon im Moment seines Scheiterns als Heerführer das Fundament einer verhängnisvollen Legende. Der Generalmajor Albrecht von Thaer notierte folgende Äußerung Ludendorffs vor Offizieren am 1. Oktober 1918: Die »Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistischsozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlaß mehr.« Ludendorff fügte hinzu:

Ich habe aber S.M. [Seine Majestät] gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!10

Die eigentlichen Verantwortlichen für die Niederlage begannen ab diesem Zeitpunkt damit, ihre Verantwortung auf diejenigen abzuwälzen, die weder für den Kriegsausbruch noch für die Niederlage etwas konnten, beide aber ab nun zu bewältigen hatten. Hindenburg bekräftigte die Legende, als er am 18. November 1919 von einem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung befragt wurde:

Ein englischer General sagte mit Recht: »Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.« Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offizierskorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. […] Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg.11

Hindenburg, Ludendorff und alle, die ihnen bereitwillig folgten, vertraten die für die Militärs sehr bequeme These, dem kämpfenden und unbesiegten deutschen Heer sei von der Heimat aus der vernichtende Dolch in den Rücken gestoßen worden. Daher der Name »Dolchstoßlegende« oder besser: »Dolchstoßlüge«. Auch in seinen Memoiren pflegte Hindenburg die Legende, gab allerdings die Erschöpfung des Heeres zu: »Wir waren am Ende! Wie Siegfried unter dem Speerwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front.«12 Die Dolchstoßlegende existierte in verschiedenen Schattierungen. In der extremsten, von den Deutschnationalen und von völkischen Parteien wie der NSDAP vertretenen Version der Dolchstoßlegende trugen »marxistisch-jüdische« Kräfte die Schuld für die Kriegsniederlage. Führende Politiker vor allem der SPD wiesen solche Vermutungen zurück. Friedrich Ebert ordnete die Verantwortung für die Kriegsniederlage in der Eröffnungssitzung der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 richtig ein: »Wir haben den Krieg verloren. Diese Tatsache ist keine Folge der Revolution. […] Die Revolution lehnt die Verantwortung ab für das Elend, in das die verfehlte Politik der alten Gewalten und der leichtfertige Übermut der Militaristen das deutsche Volk gestürzt haben.«13 Solche Richtigstellungen vermochten aber die Dolchstoßlegende, auch in ihrer extremsten und unglaubwürdigsten Form, nicht aufzuhalten. Sie lebte vor allem in rechten Kreisen bis zum Ende des NS-Regimes fort. Der Grund dafür liegt auch darin, dass die Schuldzuweisung für die Niederlage vielen sehr gelegen kam. Wer als Befehlshaber oder einfacher Soldat am Krieg teilgenommen hatte, vermochte mit der Niederlage leichter umzugehen, wenn sie auf Verrat und nicht etwa auf falschen Annahmen der militärischen Führung oder gar eigenen Fehlern beruhte.

Die Republik war daher für viele das Ergebnis eines Verrats, dessen Folgen wiederum als ursächlich für die harten Friedensbedingungen angesehen wurden. Vor allem die bereits erwähnten Reparationsverpflichtungen wurden als ungerechte Last betrachtet.14 Die jährliche Belastung durch die Reparationen lag zwischen 1920 und 1932 bei ca. 2,7 % des Volkseinkommens. Sie »verschlangen 1920 20 %, 1921 42 % und 1922 29 % des Reichshaushaltes«.15 Allerdings floss im Gegenzug durch ausländische, vor allem amerikanische Kredite und Investitionen viel Geld nach Deutschland zurück.16 Gleichwohl drückte die Reparationslast sehr stark und verhängnisvoll auch auf die Volkspsyche. Die Republik und die sie stützenden Kräfte waren nicht imstande, dem Kriegstrauma, das viele ehemalige Soldaten belastete, einen positiven Zukunftsplan entgegenzusetzen.17 Die hellsichtigeren Politiker wussten, dass eine sofortige Revision des Vertrages nicht zu erwarten und schon gar nicht gegen den Willen der Siegermächte zu erreichen war. Sie setzten daher auf eine Politik der kleinen Schritte, das Bemühen, die Vertragsverpflichtungen zu erfüllen, um zugleich deren Unerfüllbarkeit zu beweisen. Anerkennung erhielten sie dafür von der Mehrheit der Bevölkerung nicht. Vielmehr waren sie Anfeindungen ausgesetzt und wurden von rechten Kreisen als verräterische »Erfüllungspolitiker« geschmäht.

Eine mittelbare Folge des Krieges war die Inflation. Der Geldwert war schon durch die horrenden Kriegskosten massiv gesunken. Um die Wirtschaftskrise nach dem Krieg einzudämmen und die Staatsschulden zu begleichen, hatten die Reichsregierung und die Reichsbank die Geldmenge massiv erhöht. Als im Januar 1923 französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, rief die Reichsregierung die dortige Bevölkerung zum passiven Widerstand und Generalstreik auf (»Ruhrkampf«). Die finanziellen Hilfen für die Streikenden aus dem Reichshaushalt erhöhten die öffentliche Verschuldung stark und beschleunigten die Geldentwertung weiter. Die Inflation wurde zur Hyperinflation.18 Der Umtauschkurs der Reichsmark im Verhältnis zum Dollar stieg bis Mitte November 1923 auf einen Wert von fast 630 Milliarden Mark. Ein Brot kostete Anfang November 420 Milliarden Mark. Der Abbruch des Ruhrkampfes und eine Währungsreform vermochten die Inflation zu beenden und die Wirtschaftslage zu beruhigen. Für das Ansehen der jungen Republik war die Inflation verheerend. (Noch bis heute wirkt die damalige Angst vor einer massiven Geldentwertung nach.)

Todfeinde im Parteienspektrum und politisch motivierte Gewalt

Die Republik wurde als Kind der Niederlage von vielen abgelehnt, ja regelrecht gehasst und bekämpft. Der Hass war nicht nur bei den alten Eliten in Armee, Wirtschaft und Bürokratie zu finden. Er fraß sich von Anfang an durch alle Volksteile. Die Republik war nicht fähig, eine Haltung zur Niederlage und ihren belastenden Folgen zu finden, die den Streit und den Hass hätte zumindest teilweise überwinden und bewältigen können.19 Ausdruck und Katalysator der politischen Feindschaft gegen die demokratische Republik waren die radikalen Parteien vom rechten und linken Rand des politischen Spektrums. Diese Parteien waren alle kurz nach der Novemberrevolution gegründet worden. Die weit rechten und rechtsextremen Gruppierungen wollten die Revolution, nötigenfalls gewaltsam, rückgängig machen und statt der liberalen Demokratie wieder eine Monarchie oder einen nationalistischen und rassistischen (völkischen) Obrigkeitsstaat errichten. Den linksextremen Formationen ging die Revolution noch nicht weit genug. Sie träumten von einer Räterepublik sowjetischen Musters. Die russische Oktoberrevolution von 1917 diente ihnen als Vorbild. Innerhalb der beiden extremistischen Lager waren auf der linken Seite die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und auf der rechten Seite zunächst die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und sodann die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) die stärkste Kraft.

Die KPD

Die KPD wurde von Mitgliedern des linksradikalen Spartakusbundes und der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) während des Reichskongresses des Spartakusbundes gegründet. Er fand vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 im Festsaal des Preußischen Abgeordnetenhauses statt (dem Gebäude des heutigen Abgeordnetenhauses von Berlin). Die bekannten Spartakisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht übernahmen die Führung der KPD. Sie sympathisierten mit einem antiparlamentarischen und antidemokratischen Rätesystem nach sowjetischem Vorbild. Bereits in einem Aufruf vom 10. Novem ber 1918 hatten sie verkündet:

Die rote Fahne weht über Berlin! Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan. Noch viel weniger ist es damit getan, daß ein paar Regierungssozialisten mehr an die Spitze treten. Sorget, daß die Macht, die ihr jetzt errungen habt, nicht euren Händen entgleite und daß ihr sie gebraucht für euer Ziel. Denn euer Ziel ist die sofortige Herbeiführung eines proletarisch-sozialistischen Friedens, der sich gegen den Imperialismus aller Länder wendet, und die Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialistische.

Verlangt wurde die »Beseitigung des Reichstags und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung.«20 Die neu gegründete KPD teilte diese Auffassung. Die Partei propagierte von Anfang an eine sozialistische Räterepublik sowjetischen Musters, eine »Diktatur des Proletariats«. Sie war eine »echt revolutionäre Partei, die für das Morgen existiert.«21 Die radikale Linke war bereit, ihre Ziele gewaltsam durchzusetzen. Als die mitregierende SPD und der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte dem Rätesystem eine deutliche Absage erteilten,22 versuchten die Spartakisten vom 5. bis 12. Januar 1919, die Macht zu übernehmen (»Spartakusaufstand«). Der mittlerweile allein mit SPD-Leuten besetzte Rat der Volksbeauftragten schlug den Aufstand mithilfe von Teilen der alten kaiserlichen Armee und irregulären Truppen, den sog. Freikorps, nieder. In diesen Freikorps versammelten sich monarchietreue und völkisch gesinnte Soldaten. Sie gingen brutal gegen die Spartakisten vor und ermordeten deren Anführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Die KPD beteiligte sich nicht an der Wahl zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919, da sie eine parlamentarische Republik ablehnte. An den folgenden Reichstagswahlen nahm sie aber – mit wachsender Stimmenzahl – teil. Die KPD blieb bei ihrer Ablehnung der Weimarer Verfassung und des Parlamentarismus und nutzte den Reichstag und die Landesparlamente nur als Agitationsbühne. Ihr eigentliches Ziel war eine Revolution mit einem Umsturz der Regierungs- und Vermögensverhältnisse. Die KPD wollte Sowjetdeutschland errichten.23 Dazu sollten Massenstreiks und bewaffneter Aufruhr beitragen. Mehrere kommunistische Aufstände zwischen 1920 und 1923 schlug die Armee, zum Teil mit Unterstützung der Freikorps, mit Gewalt nieder. Zuletzt kam es im Oktober 1923 in Sachsen, wo die KPD gemeinsam mit der SPD an der Landesregierung beteiligt war, zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Reichswehr. Die Armee setzte sich durch. Die KPD-Minister wurden abgesetzt. In Hamburg versuchten die Kommunisten im selben Monat ebenfalls einen Putsch. Die Polizei beendete den Aufstand zwar rasch, doch kamen 24 Kommunisten und 17 Polizisten zu Tode.24 Seit dem November 1923 hielt sich die Partei zwar mit Putschversuchen zurück. Sie behielt ihr aggressives antidemokratisches Gehabe im Parlament und auf den Straßen aber bei. Aus ihrer Zielsetzung machte die KPD im Reichstag und sonst in der Öffentlichkeit keinen Hehl. Fortwährend (und noch im Dezember 193225) riefen KPD-Abgeordnete öffentlich zu Massenstreiks und zum außerparlamentarischen Kampf für den Sturz der Regierung auf. Die KPD unterhielt seit dem Juli 1924 eine paramilitärische Kampftruppe, den »Roten Frontkämpferbund« (RFB), mit ca. 110.000 Mitgliedern. Dieser verübte gezielt Gewalttaten gegen politische Gegner und Polizisten.

Die Parteistruktur orientierte sich dementsprechend am sowjetischen Vorbild. Ein Zentralkomitee (ZK) und ein Politbüro führten die Partei. (Die Staatspartei der DDR, die SED, der viele ehemalige KPD-Mitglieder angehörten, übernahm diese Bezeichnungen ebenfalls.) Seit dem Herbst 1925 war der Hamburger Ernst Thälmann, ein ungelernter Arbeiter (der seit 1921 hauptamtlicher Funktionär war und seit 1924 dem Politbüro angehörte), faktisch Parteivorsitzender. Ihm unterstand seit 1925 auch der RFB. Thälmann »verfügte über keine eigene Idee, kein theoretisches Konzept. Aber dafür verstand er etwas von Machtkonstellationen und wusste, wie man Menschen gegeneinander ausspielt.«26 Unter seiner Ägide richtete sich die KPD strikt an den Vorgaben der sowjetischen KP unter dem Diktator Josef Stalin und des »Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale« (EKKI) aus. Die KPD entwickelte sich wie die kommunistischen Parteien in anderen Ländern zur Kaderpartei. Dies bedeutete, dass nur ein kleiner Führungszirkel, die Kader, das Sagen hatte. Sie lenkten die KPD mit ihren rund 100.000 Mitgliedern27 vom »Karl-Liebknecht-Haus« am Berliner Bülowplatz aus (das heute die SED-Nachfolgerin Die Linke als Parteizentrale nutzt). Die Fluktuation der Mitglieder war – auch bedingt durch die Bedeutung spontaner Eintritte nach Parteiveranstaltungen – sehr hoch.28 Die noch bestehenden Traditionsreste aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der Vorkriegszeit verschwanden. Stalins Arm reichte weit in die KPD hinein. Als Thälmann alle seine Ämter verlor, weil er Unterschlagungen in der Partei vertuscht hatte, intervenierte Stalin und sorgte so dafür, dass Thälmann seine Ämter zurückerhielt. Der XII. Parteitag, der vom 9. bis 15. Juni 1929 in den »Pharus-Sälen« an der Weddinger Müllerstraße stattfand, »feierte ihn in einer Weise, die sich nur als ›Führerkult‹ beschreiben lässt.«29 In der Sehnsucht nach dem »starken weitsichtigen Führer« waren sich alle radikalen Parteien der Weimarer Zeit einig.

Als Hauptfeind galt der KPD die SPD. Die Kommunisten sahen die Sozialdemokraten als Wegbereiter des Faschismus an (»Sozialfaschismus-These«). In diesem Sinne äußerte sich auch eine Resolution des ZK der KPD vom 4. Juni 1930: »Der Kampf gegen den Faschismus ist daher undenkbar ohne den schärfsten Kampf gegen die sozialdemokratische Partei und ihre Führerschaft, die eine entscheidende Waffe der Faschisierung Deutschlands darstellt.«30 In Plenarreden im Reichstag war Ähnliches zu hören. Die KPD war, erst recht ab dem Ende der 1920er Jahre, nicht bereit, diese grotesken Unterstellungen zu revidieren. Sie sah zwar auch die Nationalsozialisten als Gegner an, aber erst an zweiter Stelle. Beispielsweise sprach Ernst Thälmann am 17. Juli 1930 vor dem Plenum des ZK von einer »verstärkte[n] Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialdemokratischen Arbeitern bei gleichzeitiger Steigerung unseres prinzipiellen und schonungslosen Kampfes gegen den Sozialfaschismus, insbesondere den ›linken‹ Sozialfaschismus«. Erst als Zweites forderte der Parteivorsitzende die »weitere Verstärkung unseres politisch-ideologischen und wehrhaften Massenkampfes gegen die Nationalsozialisten.«31

Zwar gelang es der KPD, viele Millionen Wähler zu erreichen und ihre Wahlergebnisse ab 1928 stetig zu verbessern. Eine Massenbasis für ihre Umsturzpläne gewann die KPD aber nie. Zum einen blieben ihre Wahlergebnisse immer deutlich unter 20 %. Zum anderen dürften auch die meisten KPD-Wähler – wie die übrige Bevölkerung – einen Sozialismus sowjetischer Prägung nicht befürwortet und sich vorrangig aus einer Protesthaltung für die KPD entschieden haben. Dies lässt schon die sehr hohe Wählerfluktuation erkennen.32 Die bolschewistische Revolution war ein Minderheitsanliegen, das vor allem die Parteifunktionäre beschworen. Informierte Menschen wurden von der Brutalität, mit der gerade Stalin vorging, abgestoßen. Da die KPD nie an Reichsregierungen beteiligt war, war ihr unmittelbarer politischer Einfluss gering. Auch ansonsten beteiligte sich die Partei nicht konstruktiv. Die mittelbaren politischen Wirkungen der KPD waren bedeutsamer. Erstens wirkte die KPD mit ihrem gewalttätigen RFB als Schreckgespenst für bürgerliche Wähler, die sowjetische Verhältnisse in Deutschland befürchteten. Zweitens beeinflusste die KPD auch die SPD, die ebenfalls um Wähler aus der Arbeiterschaft warb. Dass die KPD als prinzipiell oppositionelle Partei die »reine Lehre« des Sozialismus vertreten konnte, brachte die SPD-Funktionäre vor allem gegenüber ihrer Mitgliedschaft in Rechtfertigungszwang, wenn die Partei an einer Regierung beteiligt war und Kompromisse eingehen sollte. Die direkte Konkurrenz der KPD in der Arbeiterschaft bewirkte, dass die SPD »aus Rücksicht auf den linken Saum ihrer Wählerschaft leicht in eine systemwidrige Oppositionsrolle zurück[fiel] und daher als Stabilisator der Republik gefährdet« war.33

Die DNVP

Den ersten Platz unter den antiparlamentarischen Rechtsparteien nahm in den ersten und in den letzten Jahren der Republik die DNVP ein. Sie strebte eine Rückkehr zur Monarchie an. In der DNVP, die am 24. November 1918 gegründet wurde, sammelten sich die alten kaiserzeitlichen Eliten aus Großgrundbesitz, Adel, Militär und Beamtenschaft, die vor der Revolution die nationalistischen, großmachtorientierten und auf die Besitzstandswahrung ausgerichteten konservativen Parteien gewählt hatten. Ein Gründungsmitglied war Alfred von Tirpitz, der als Großadmiral den verheerenden uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen britische und amerikanische Schiffe geplant und durchgeführt hatte. Ein aggressiver Nationalismus, Antisemitismus und Antiparlamentarismus waren in der DNVP weit verbreitet. Typisch für die Werdegänge und Sichtweisen vieler DNVP-Mitglieder war der preußische Verwaltungsbeamte Wolfgang Kapp, der im Gefolge des (von Erich Ludendorff unterstützten) Generals Walther von Lüttwitz Mitte März 1920 erfolglos versuchte, die Regierung zu übernehmen (»Kapp-Lüttwitz-Putsch«). Zwar musste die Reichsregierung aus Berlin fliehen. Aber nach 100 Stunden brach der Putschversuch infolge eines Generalstreiks, den die Gewerkschaften initiiert hatten, zusammen. Zwischen der DNVP und den rechtsradikalen Freikorps sowie deren Nachfolgeorganisationen bestanden enge programmatische und zum Teil auch persönliche Beziehungen. Angehörige der 1920 aufgelösten Freikorps gründeten die rechtsradikale »Organisation Consul« (O.C.) mit ca. 5000 Mitgliedern, auf deren Konto mehrere Morde gehen. Prominenteste Opfer waren im August 1921 der Zentrumsabgeordnete und frühere Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und im Juni 1922 der Außenminister Walther Rathenau (DDP).

Der am 13. November 1918 gegründete »Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten«, der in der Mitte der 1920er Jahre 300.000 und 1930 schon 500.000 Mitglieder hatte, war politisch ebenso auf die vermeintlich glorreiche Vergangenheit ausgerichtet wie viele rechte Parteien, allen voran die DNVP. Bei Aufmärschen mit mehreren Zehntausend uniformierten Teilnehmern feierte der Stahlhelm Krieger- und Soldatenromantik, beschwor die vermeintliche Größe des Kaiserreichs und schürte den Hass auf die demokratische Republik, die angeblich durch einen verräterischen »Dolchstoß« an die Stelle der Monarchie getreten war und so die Niederlage im Krieg herbeigeführt hatte.

Seit ihrem Görlitzer Parteitag 1922 bemühte sich die DNVP um einen pragmatischeren Kurs, blieb aber demokratie- und parlamentsskeptisch. In dieser kurzen »konstruktiven« Phase beteiligte sie sich an einigen Landesregierungen und an Reichskabinetten: vom 15. Januar bis 26. Oktober 1925 am Kabinett Luther I und vom 29. Januar 1927 bis 28. Juni 1928 am Kabinett Marx IV. Ihre besten Wahlergebnisse erzielte die DNVP bei den Wahlen zum 3. und zum 4. Reichstag (Mai/Dezember 1924). Sie erreichte 19,5 % bzw. 20,5 % der Stimmen und war damit zweitstärkste Kraft. Ihr Mitgliederbestand stieg von 1919 (300.000 bis 400.000) bis 1923 (rund 950.000) stetig an,34 ging aber ab 1924 zurück. Gleichwohl hatte die Partei 1928 noch fast 700.000 Mitglieder.35 Sie dürfte damit zu diesem Zeitpunkt die zweitgrößte deutsche Partei hinter der SPD gewesen sein. Seit der Reichstagswahl im selben Jahr verlor die DNVP konstant Stimmen, vor allem an kleinere rechte Parteien und ab 1930 an die aufstrebende NSDAP. Die Deutschnationalen suchten ihr Heil unter ihrem neuen Vorsitzenden, dem Medienmogul Alfred Hugenberg, ab Oktober 1928 in einem sehr rechten, erneut republik- und parlamentsfeindlichen Kurs. Als Beispiel sei aus dessen Antrittsrede als Parteivorsitzender zitiert: »Es wird einmal der Tag kommen, wo dieses Volk sich aufrafft, um all diesen Plunder von uns zu schütteln, der durch das heutige System auch über uns geworfen wird. Wir müssen uns frei machen von diesem System der Ausschüsse, der Kommissionen, der Verzehrung aller Kräfte in Rede und Gegenrede!«36 Die DNVP forderte, die Monarchie wieder zu errichten, die Reichsregierung und die preußische Regierung wie im Kaiserreich personell zu verbinden, Art. 54 WRV abzuschaffen (wodurch die Regierung im Reich und in Preußen »vom Willen der Parlamentsmehrheit unabhängig« werden sollte), das parlamentarische Haushaltsrecht durch einen Zustimmungsvorbehalt der Reichsregierung zu begrenzen, die Parlamentssitzungen auf wenige Termine im Jahr zu beschränken, die deutschen Kolonien wiederzugewinnen sowie die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und aufzurüsten.37 Wegen der Rechtsaußenposition der DNVP traten gemäßigtere Politiker 1929 und 1930 aus der Partei aus und gründeten zwei neue Formationen. Hindenburgs antidemokratischer Kurs führte schlussendlich am 30. Januar 1933 in die gemeinsame Regierung mit der NSDAP.

Die NSDAP

Diese war am 24. Februar 1920 aus der am 5. Januar 1919 in München gegründeten völkischen Deutschen Arbeiterpartei (DAP) hervorgegangen. Sie war zunächst nur eine von mehreren kleineren rechtsradikalen Parteien, die sich nach der Novemberrevolution gebildet hatten. Ihr Wirkungskreis beschränkte sich in den ersten Jahren im Wesentlichen auf Bayern.38 Die NSDAP bekämpfte alles, was nach ihrer Auffassung mit der Novemberrevolution – verkürzt als »9. November 1918« oder »November 1918« bezeichnet – zu tun hatte: In ihrem »25-Punkte-Programm« lehnte sie die Demokratie, den Parlamentarismus, die rechtsstaatliche und liberale Verfassung, den »Marxismus« (als Chiffre für die SPD) und den Kommunismus ab. Die NSDAP »verkündete [außerdem] einen fanatischen Antisemitismus und aggressiven Nationalismus, der sich mit sozialdarwinistischen [und erbbiologistischen, P.A.] Ideen verband.«39 Seit 1920 war Adolf Hitler der führende Kopf der NSDAP. Er hatte die Parteifahne – das schwarze Hakenkreuz im weißen Kreis auf rotem Untergrund – entworfen. Er war der Hauptagitator und -redner seiner Partei. Wie auch die KPD versuchte die NSDAP das demokratische System gewaltsam zu stürzen. Doch der von Hitler, Ludendorff u.a. initiierte Putschversuch am 9. November 1923 in München misslang. Der später von der Partei verklärte »Marsch auf die Feldherrnhalle« am Münchener Odeonsplatz scheiterte am entschiedenen Widerstand der bayerischen Polizei. Die Anführer des Putschversuchs wurden vor Gericht gestellt. Die NSDAP wurde zunächst verboten. Doch die Strafen und ihre Vollstreckung waren angesichts der Schwere der Tat lachhaft. Hitler wurde zwar zu einer mehrjährigen Festungshaft verurteilt. Aber er war ein privilegierter Gefangener. Er durfte Besuch empfangen und konnte seine berüchtigte Schrift »Mein Kampf« diktieren. Außerdem wurde er bereits kurz vor Weihnachten 1924 schon wieder aus der Haft entlassen.

Die Partei hatte sich ohne Hitler in einer tiefen Organisations- und Führungskrise befunden. Dieser machte sich nach der Haftentlassung daran, die NSDAP neu zu organisieren und sich stärker als bislang untertan zu machen. Am 27. Februar 1925 wurde die Partei im Münchener Bürgerbräukeller formell neu gegründet. Hitler sicherte sich von Anfang an »die Stellung eines konkurrenzlosen Parteidiktators. […] Die NSDAP unterschied sich von allen übrigen Parteien der Weimarer Republik durch die unangefochtene Orientierung auf die alleinherrschende Führerpersönlichkeit.«40 Hitler und die Parteipropaganda stilisierten den Parteichef zum »Führer«. Hans-Ulrich Thamer spricht treffend von der »Erfindung des Führers«.41 Programmdebatten kannte die nach dem Führerprinzip organisierte Partei nicht. Was gelten sollte, gab Hitler vor. »Die NSDAP der späten zwanziger Jahre war ganz und gar Hitlers Schöpfung«42 – sie war die Hitler-Partei. Wo andere Parteien mehrere Führungspersonen hatten und ihr Programm in den Vordergrund stellten, stand bei der »Hitler-Bewegung«, wie die Partei auf Stimmzetteln hieß, Hitler im Mittelpunkt. Nationalsozialismus und Hitler waren »eins und dasselbe«.43

Das Programm und die Verlautbarungen der NSDAP oder Hitlers Schrift »Mein Kampf« waren inhaltlich im Vergleich zu anderen rechtsradikalen Gruppen nicht originell. Die Partei war nationalistisch, rassistisch, antidemokratisch, antiparlamentarisch, antisemitisch und antipluralistisch. Sie trachtete danach, die Weimarer Republik abzuschaffen, und strebte eine totalitäre Diktatur an. Das Parteiprogramm der NSDAP war, über die genannten Grundsätze hinaus, »von herausfordernder Kürze und Unbestimmtheit« und vermied so in vielen Politikbereichen Festlegungen, die Wählergruppen hätten verschrecken können.44 Die Partei versuchte nach der für sie enttäuschenden 4. Reichstagswahl 1928 ihr Wählerspektrum um Angestellte, Handwerker und Landwirte zu verbreitern und scheute sich nicht, auch gegensätzliche Interessen und Forderungen zu vertreten. Der große Unterschied zu anderen rechtsextremen Gruppen und der Grund dafür, warum sich gerade die NSDAP als »die« rechtsradikale Partei im völkischen Lager durchsetzte, war Hitler.45 Keine andere rechtsradikale Partei, auch nicht die DNVP mit ihren vielen Abgeordneten, besaß eine solche herausgehobene Führungsfigur mit solchen demagogischen Fähigkeiten wie die NSDAP. Sebastian Haffner, der den Aufstieg Hitlers und seiner Partei erlebte, meinte rückblickend: »Hitler hatte als Person eine magische Wirkung, die kein anderer der damaligen Politiker ausübte.«46

Öffentlich steuerte Hitler die Partei seit Ende 1924 auf einen vorgeblichen Legalitätskurs. Er und seine Getreuen behaupteten nun, die Macht nicht durch eine gewaltsame Revolution, sondern auf parlamentarischem Wege, durch Mehrheiten im Parlament, erringen zu wollen. Seit dem September 1928 durfte Hitler in Preußen wieder als Redner auftreten und bald auch wieder im gesamten Reichsgebiet. Die Partei versuchte nicht durch ein ziseliertes Parteiprogramm, sondern durch Massenaufmärsche der »Sturmabteilung« (SA) und Großkundgebungen, in denen Hitler und andere Parteigrößen auftraten, für sich zu werben. Der Sehnsucht weiter Bevölkerungskreise nach der Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Instabilität durch einen »Führer«, einen »starken Mann«, kam Hitlers Auftreten entgegen. Aus heutiger Sicht ist sein Redestil, zu dessen Wesensmerkmalen einstudierte Gestik, eine sich immer wieder überschlagende Stimme und eine verbale Rage gehörten, befremdlich, ja geradezu lächerlich. Auf viele seiner Zeitgenossen entfaltete er eine starke Wirkung. Bei vielen Sympathisanten entwickelte sich die Anhängerschaft zur Verehrung, ja zu einer quasireligiösen Anbetung. Ein gutes Beispiel liefert der spätere Propagandaminister Joseph Goebbels. Er stand Hitler anfangs eher ablehnend gegenüber, wurde aber ab 1926 zum inbrünstigen Gläubigen seines »Führers«. In seinem Tagebuch finden sich viele Belege dafür. So notierte Goebbels etwa am 13. Juli 1928: »Gestern Abend mit dem Chef zusammen in großer Runde. Er war in glänzender Verfassung. Ich weiß nicht, ich habe ihn gern wie einen Vater. Hitler ist ein Universalmensch. Er kann herrlich erzählen. Das habe ich wohl am liebsten an ihm. Montag fahre ich mit ihm, seiner Schwester und Nichte nach Helgoland. Darauf freue ich mich.«47

Hitler und die NSDAP setzten im Wahlkampf, in ihren Reden und Publikationen und im Parlament die Weimarer Republik (das ihnen so verhasste »System«), den Reichstag, politische Gegner und Menschen jüdischen Glaubens herab, beleidigten sie und machten sie lächerlich. (In diesem Buch wird davon an mehreren Stellen die Rede sein.)

Neben einer hasserfüllten Sprache setzten die Nationalsozialisten – allen Legalitätsbeteuerungen Hitlers zum Trotz – auf Gewalt. Zu einem wichtigen Instrument wurde hier die Anfang der 1920er Jahre gebildete SA. Die wegen ihrer braunen Uniformen »Braunhemden« genannten SA-Leute waren paramilitärisch organisiert und extrem gewaltbereit. Das hatte sich beim gescheiterten Hitler-Putsch in München gezeigt. Nachdem die SA bis 1924/25 recht ungebunden agiert hatte, ordnete Hitler sie nach seiner Haftentlassung fest in die Parteiorganisation ein und seiner Führung unter. Die SA wurde vor allem zum gezielten Kampf gegen den ebenfalls republikfeindlichen Rotfrontkämpferbund der KPD sowie gegen die demokratische Schutztruppe »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« und andere republiktreue Kräfte und Personen eingesetzt. Vor Übergriffen auf Polizeibeamte schreckte sie nicht zurück. Sie beteiligte sich an Straßen- und Saalschlachten, verstärkt ab 1930. Häufig provozierte die SA solche Gewaltaktionen. Nachdem Joseph Goebbels 1926 Berliner Gauleiter geworden war, setzte er die SA unter ihrem Anführer Kurt Daluege gezielt für demonstrative Gewaltakte ein. Allein von November 1926 bis März 1927 kam es zu vier gewalttätigen Übergriffen auf Kommunisten. Eine NSDAP-Veranstaltung fand im Februar 1927 gezielt in den Pharus-Sälen im Wedding, dem üblichen Versammlungsort der KPD, statt. Eine blutige Saalschlacht zwischen SA und KPD-Leuten war die Folge. Bekannt ist die Randale anlässlich von Aufführungen des Antikriegsfilms »Im Westen nichts Neues« im Jahr 1930 in Berlin und anderen Städten. Der Film widersprach der kriegsverherrlichenden NS-Rhetorik. Die SA besetzte Kinos, warf Stinkbomben und ließ weiße Mäuse im Kinosaal frei. Schließlich wurde der Film vorläufig aus dem Programm genommen. Auch belästigte die SA jüdische Passanten vor Synagogen und richtete Stützpunkte in Arbeitervierteln wie dem Berliner Wedding ein, um ihren Machtanspruch gegenüber der KPD und deren RFB zu zeigen. Über die ganze Stadt Berlin und weitere Städte verteilt existierten »Sturmlokale« als Treffpunkte der SA-Männer. Die SA hatte im November 1930 rund 60.000 Mitglieder. Die »Schutzstaffel« (SS), die zum Inbegriff des mörderischen Rassenwahns wurde, entstand als Untergruppe der SA. Sie besaß in den 1920er Jahren keine größere Bedeutung, sondern beteiligte sich an Aktionen der SA.

Durch mehrere Unterorganisationen wie die Hitlerjugend (HJ, 1926), den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (1926) und verschiedene Berufsorganisationen sowie eine gewerkschaftsähnliche »Betriebszellenorganisation« (NSBO) versuchte die Partei, ihr Wählerspektrum zu verbreitern, um ihre Wählerschaft nach links zu erweitern und der KPD Konkurrenz in der Arbeiterschaft zu machen. Die NSDAP hatte 1928 rund 100.000 Mitglieder48. Die Wahlergebnisse der NSDAP waren und blieben zunächst – wie ihre Mitgliederzahlen – bescheiden. Die höchsten Stimmenanteile – die im Vergleich zu anderen Parteien immer noch sehr niedrig waren – erreichte die Partei in ihrem Ursprungsland Bayern. Bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 durfte die wegen des Hitler-Putsches verbotene NSDAP nicht antreten. An ihrer Stelle kandidierte die politisch ähnlich ausgerichtete Nationalsozialistische Freiheitsbewegung (NSFB), ein Bündnis aus Deutschvölkischer Freiheitspartei und Anhängern der früheren NSDAP. Ihr Erfolg war mit 6,5 % und 3 % der Stimmen überschaubar.

Die Stellung des Reichstages im Verfassungsgefüge

Neben den Vorbelastungen durch den Krieg und dem Kampf der Extremisten gegen die Republik stellte sich dem Reichstag eine weitere Herausforderung: seine Stellung im Verfassungsgefüge.

Zwar verfügte der Reichstag einerseits über gewichtige Aufgaben und Befugnisse. Er war der Gesetzgeber und kontrollierte die Regierung. Der Reichstag hatte das Budgetrecht, schon damals das »Königsrecht« des Parlaments. Er erließ das politisch besonders bedeutsame Haushaltsgesetz. Das Reichsministerium der Finanzen erstellte den Entwurf des Haushaltsgesetzes samt dem Haushaltsplan, in dem die einzelnen Einnahme- und Ausgabeposten vermerkt waren. Während der Haushaltsberatungen des Reichstages hatten die Reichsminister dem Haushaltsausschuss des Parlaments Rede und Antwort zu ihrem jeweiligen Etat zu stehen. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses des Reichstages gehörten – wie ihre heutigen Kolleginnen und Kollegen im Bundestag – zu den wichtigsten Abgeordneten des Reichstages. Sie übten »wirkliche Macht aus. Deshalb trifft man hier auch oft die Vorsitzenden der Fraktionen und erlebt hier auch die dramatischsten Gefechte.«49

Aber andererseits war das Parlament nicht – wie der heutige Bundestag – das einzige vom Volk gewählte Verfassungsorgan. Die Verfassungsschöpfer meinten, ein Gleichgewicht zwischen zwei vom Volk gewählten Staatsorganen sei erforderlich.50 Daher hatte das Deutsche Reich nach der Weimarer Verfassung ein gemischtes Regierungssystem mit parlamentarischen und präsidialen Anteilen. Dem Reichstag stand der Reichspräsident gegenüber, der ebenfalls direkt vom Volk gewählt wurde und eigene umfangreiche Machtbefugnisse besaß: Er durfte den Reichstag auflösen (Art. 25 WRV). Weitere Voraussetzungen, etwa eine Notstandslage oder Ähnliches, gab die Verfassung nicht vor. Das Auflösungsrecht war nur durch die Vorgabe eingeschränkt, dass der Reichstag »nur einmal aus dem gleichen Anlaß« aufgelöst werden durfte (Art. 25 S. 1 WRV). Dieses »Hindernis« ließ sich aber leicht umgehen. Der Reichspräsident brauchte einfach nur einen anderen Grund zu nennen. Belegen musste er seine Begründung nicht. Die vom Reichspräsidenten angeführten Gründe betrafen in den 1920er Jahren (zumeist unklare) die Regierungsarbeit behindernde Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Beispielsweise löste Reichspräsident Ebert den 2. Reichstag auf, da seiner Meinung nach »[p]arlamentarische Schwierigkeiten […] die Beibehaltung der gegenwärtigen Reichsregierung und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher befolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich« machten.51

Nach einer Reichstagsauflösung mussten Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen stattfinden (Art. 25 Abs. 2 WRV). Die Auflösungsanordnung bedurfte – wie alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten – der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder das zuständige Mitglied der Reichsregierung (Art. 50 S. 1 WRV). Eine Auflösung war gegen den Willen der Reichsregierung daher nicht möglich. In der Staatspraxis waren sich das Staatsoberhaupt und die Regierung hinsichtlich einer Parlamentsauflösung immer einig.52

Eine weitere wichtige Befugnis des Reichspräsidenten war seine »Diktaturgewalt«. Er durfte, »wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet [war], die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten« sowie bestimmte Grundrechte (Freiheit der Person, Unverletzlichkeit der Wohnung, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Meinungsäußerung etc.) außer Kraft setzen (Art. 48 Abs. 2 WRV). In der Staatspraxis wurde dieses Recht sehr weit verstanden. Dem Reichspräsidenten wurde die Befugnis zugesprochen, in außergewöhnlichen Notlagen per »Notverordnung« selbst Recht zu setzen.53 Waren auch die Parlamentsfraktionen an der Personalauswahl in den 1920er Jahren in aller Regel maßgeblich beteiligt,54 so lag doch das Recht, den Reichskanzler und die Reichsminister zu ernennen, letztlich beim Reichspräsidenten (Art. 53 WRV). Eine Kanzlerwahl durch das Parlament – wie sie das Grundgesetz kennt (Art. 63, 67 GG) – war nicht vorgesehen.

Der Reichstag konnte auf die Handlungen des Reichspräsidenten reagieren. (Hierin zeigte sich das beabsichtigte »Gleichgewicht« zwischen beiden Verfassungsorganen.) Das Parlament konnte mehrheitlich die Aufhebung der Maßnahmen des Reichspräsidenten verlangen (Art. 48 Abs. 3 GG). Es konnte, unter strengen Voraussetzungen, die Abwahl des Reichspräsidenten durch eine Volksabstimmung in die Wege leiten (Art. 43 Abs. 2 WRV) oder sogar den Reichspräsidenten anklagen (Art. 59 WRV). Beides kam in der Staatspraxis aber nicht vor. Die Mitglieder der vom Reichspräsidenten ernannten Reichsregierung konnte der Reichstag durch ein Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen (Art. 54 S. 2 WRV). Allerdings musste er stets befürchten, vom Reichspräsidenten gemäß Art. 25 WRV aufgelöst zu werden. So geschah es am 13. März 1924. Friedrich Ebert löste den 1. Reichstag wenige Wochen vor dem eigentlichen Wahlperiodenende auf, nachdem, wie er ausführte, »die Reichsregierung festgestellt hat, daß ihr Verlangen, die […] von ihr als lebenswichtig bezeichneten Verordnungen zur Zeit unverändert fortbestehen zu lassen […].«55 Die verfassungsrechtlich zweifelhafte Begründung war also, dass der Reichstag (vielleicht) von seinem Aufhebungsverlangen gemäß Art. 48 Abs. 3 WRV, d. h. seinen verfassungsmäßigen Rechten, Gebrauch machen könne! Ein »verhängnisvoller Präzedenzfall«56, dem weitere folgen sollten.

Das beabsichtigte Gleichgewicht muss als Missgriff der Verfassungsschöpfer bezeichnet werden. Für eine Verfassungsordnung ist es wichtig, dass die einzelnen Verfassungsorgane feste eigene Zuständigkeiten besitzen und sich nicht ständig in die Quere kommen. Ein Gleichgewicht ist allenfalls dann sinnvoll, wenn alle Verfassungsorgane grundsätzlich den Erfolg der Verfassungsordnung wünschen und wenn ein Organ die Schwäche eines anderen ausgleichen hilft. Dem Grundgesetz ist dies gelungen, der Weimarer Verfassung nicht. Nur solange der Reichstag und der Reichspräsident an einem Strang zogen, störten die umfangreichen Befugnisse beider Verfassungsorgane nicht die politischen Abläufe. So setzte der überzeugte Republikaner Friedrich Ebert seine präsidialen Machtmittel zum Schutz der Republik ein und half mehrere Regierungs- und Wirtschaftskrisen zu überwinden. Hingegen zeigte sein Nachfolger Hindenburg ab 1930, was passieren konnte, wenn sich der Reichspräsident und der Reichstag im Konflikt befanden. Dann blockierten sie sich gegenseitig, wobei der Reichspräsident wegen seines Auflösungsrechts die besseren Karten in der Hand hatte. Die Handlungsspielräume des Reichstages waren demgegenüber erheblich eingeschränkt.

Hingegen spielte die Möglichkeit, ein Gesetz durch einen Volksentscheid zu beschließen (Art. 73 Abs. 3 WRV), keine große Rolle. Reichsweit kam es zu nur zwei Volksentscheiden: über die Enteignung ehemaliger Herrscherhäuser (»Fürstenenteignung«, 1926) und über den Young-Plan (1929). Beide blieben erfolglos. In Konkurrenz zur Parlamentsgesetzgebung trat der Volksentscheid nicht. Allerdings konnte er – wie im Falle des Entscheids zum Young-Plan – zur verstärkten Agitation gegen die Republik und die staatstragenden Reichstagsparteien genutzt werden. Das Grundgesetz sieht daher aus guten Gründen Volksentscheide grundsätzlich nicht vor.57

Das reine Verhältniswahlrecht als Grundübel

Der Reichstag wurde – wie schon die Weimarer Nationalversammlung – von allen über 20 Jahre alten Männern und Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit nach dem System der reinen Verhältniswahl gewählt (Art. 22 WRV). Anders als nach dem Bundestagswahlrecht58 hatte jede Wählerin und jeder Wähler nur eine Stimme. Zur Wahl standen in jedem der 35 Wahlkreise Wahlvorschläge (Listen) der Parteien. Die Wahlkreisvorschläge konnten miteinander wahlkreisübergreifend verbunden werden. Die Parteien durften zudem einen Reichswahlvorschlag einreichen. Auf 60.000 Stimmen für einen Kreiswahlvorschlag entfiel ein Mandat. Bekam eine Partei z. B. 600.000 Stimmen, erhielt sie zehn Mandate. Stimmen, deren Zahl für die Zuteilung eines weiteren Abgeordnetensitzes an einen Kreiswahlvorschlag nicht ausreichte (sog. Reststimmen), konnten zu weiteren Mandaten führen.59 Da sich die Mandatszahl an der Zahl der abgegebenen Stimmen ausrichtete, galt: Je höher die Wahlbeteiligung war, desto höher war die Sitzzahl im Reichstag. Alle Stimmen flossen so weit wie möglich in die Sitzverteilung ein. Nur bei sehr geringen Stimmzahlen für einen oder mehrere Wahlvorschläge erhielt eine Partei keinen Sitz. Eine Sperrklausel (wie unsere heutige Fünf-Prozent-Klausel in § 6 BWahlG) kannte das Reichstagswahlrecht nicht.

Kleinere regionale Parteien, z. B. die katholische Bayerische Volkspartei (eine Vorläuferin der CSU), die Deutsch-Hannoversche Partei, das Sächsische Landvolk und der Württembergische Bauern- und Weingärtnerbund, traten nur in bestimmten Wahlkreisen an. Parteiübergreifende Wahlvorschläge waren möglich. Da die Parteien die Wahlvorschläge einreichten, hatten sie »eine monopolartige Stellung bei der Auswahl der Abgeordneten«60. Die »Parteibürokratie« dominierte das Verfahren.61 Je weniger Mitglieder eine Partei hatte, desto mehr dominierte der Parteivorstand. Die meisten Abgeordneten besaßen kein Vermögen, das ihnen erlaubt hätte, »nebenher Politik zu treiben«. Sie waren Berufspolitiker und insofern vom Mandat und damit vom Gutdünken ihrer jeweiligen Partei(bürokratie) abhängig.

Das »freieste Wahlrecht der Welt«62, das sicherstellte, dass »annähernd jede politische Meinung in der gleichen Relation in das Parlament gelangt[e], in der sie in der Bevölkerung vertreten« war,63 hatte eine bittere Kehrseite: Es beförderte die politische Zersplitterung und war damit eine »der Wurzeln des Übels« der Instabilität, die schon Zeitgenossen deutlich erkannten.64 Denn da bereits 60.000 Stimmen in einem Wahlkreis (und ggf. bei den Reichswahlvorschlägen sogar deutlich weniger Stimmen) für ein Mandat ausreichten und da dementsprechend eine Sperrklausel fehlte, konzentrierte sich die Wählerschaft nicht auf wenige mittelgroße und größere Parteien (mit sicheren Erfolgsaussichten). Stattdessen hatten auch Kleinparteien die Chance auf ein Mandat. Im Laufe der Zeit entstanden im Mitte-rechts-Spektrum etwa die Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei), die Deutsche Bauernpartei, die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrechtpartei), die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei (Deutsches Landvolk), die Konservative Volkspartei und der Christlich-Soziale Volksdienst. In jeder Wahlperiode des Reichstages saßen Vertreter von mehr als zehn Parteien im Parlament. Bei der 4. Reichstagswahl am 20. Mai 1928 errangen 15 Parteien Mandate. Bei den folgenden drei Wahlen (1930, im Juli und im November 1932) setzte sich die Zersplitterung fort: Im 5. Reichstag saßen Abgeordnete aus 16 (!) Parteien. Im 6. und im 7. Reichstag waren immerhin noch 13 Parteien vertreten. 1928, 1930 und 1932 erzielten nur vier Parteien ein zweistelliges Ergebnis: SPD, Zentrum, KPD und DNVP bzw. (ab 1930) NSDAP. Zwischen acht (November 1932) und zehn Parteien (1928) lagen jeweils unter 5 %, zwischen drei (1928) und acht Parteien ( Juli 1932) erreichten nicht einmal 1,5 %. Zum Teil erhielten sie nur einen Sitz. Die Kleinparteien konnten im Parlamentsbetrieb keine eigenen Akzente setzen. Denn da sie (zumeist) nicht die Fraktionsstärke von mindestens 15 Abgeordneten erreichten, blieben sie von der Ämterbesetzung und anderen Mitwirkungsmöglichkeiten im Parlament ausgeschlossen. Ihr einziger praktischer Sinn bestand darin, Partikularinteressen in der Wählerschaft durch ihre Anwesenheit und ihre Redebeiträge abzubilden.

Vorteile brachte diese politische Vielgestaltigkeit und Zersplitterung nicht. Im Gegenteil: Sie wirkte sich nachteilig vor allem auf die Mehrheitsbildung im Reichstag und auf die Regierungsstabilität aus. Zwar ernannte und entließ der Reichspräsident den Reichskanzler und die Reichsminister (Art. 53 WRV).65 Aber die Reichsregierung benötigte für eine erfolgreiche (länger dauernde) Tätigkeit eine sie unterstützende Mehrheit im Reichstag. Denn zwei Hauptaufgaben des Parlaments waren die Gesetzgebung (auch die Haushaltsgesetzgebung) und die Kontrolle der Regierung. Ohne eine zumindest einfache Mehrheit im Reichstag gab es – lässt man Notverordnungen des Reichspräsidenten außer Acht – keine Gesetze und kein Budget (Art. 32 Abs. 1 WRV, § 103 S. 2 GO-RT). Außerdem hing das Kabinett vom Vertrauen des Reichspräsidenten und des Reichstages ab (Art. 54 S. 1 WRV).66 Das Parlament war aufgerufen, die Regierungstätigkeit durch sog. Interpellationen und Kleine Anfragen (§§ 55 ff. GO-RT), durch das »Herbeizitieren« (Art. 33 Abs. 1 WRV) und durch Untersuchungsausschüsse (Art. 34 WRV)67 zu kontrollieren. Gewissermaßen der Endpunkt der parlamentarischen Kontrolle der Regierung war das Misstrauensvotum: Sprach das Parlament dem Kanzler bzw. einem Minister das Misstrauen aus, musste der Kanzler bzw. der Minister zurücktreten (Art. 54 S. 2 WRV). Fehlte einer Regierung eine sie dauerhaft unterstützende Parlamentsmehrheit, schwebte sie ständig in der Gefahr, gestürzt zu werden. Zwar waren während der 14 Jahre, die die Weimarer Republik bestand, von vielen Misstrauensanträgen nur zwei erfolgreich: Das Kabinett Luther II und das Kabinett Marx III wurden am 12. Mai bzw. 17. Dezember 192668 aufgrund eines Misstrauensvotums gestürzt. Aber schon die Möglichkeit des Misstrauensvotums vermochte die Regierungsbildung zu beeinflussen und die Kabinettsarbeit zu lähmen. Bereits die Zeitgenossen erkannten die Gefahr des Misstrauensvotums einer »negativen Koalition«, also eines Votums durch Parteien, die sich nur in der Ablehnung der bestehenden Regierung oder eines Ministers einig waren, eine Regierungskoalition aber nicht bilden wollten (z. B. KPD und DNVP/NSDAP). Manchenorts wurde eine Änderung69 oder einschränkende Auslegung70 des Art. 54 S. 2 WRV erwogen, ohne dass dies Folgen gehabt hätte. Zudem konnten Misstrauensanträge die Parlamentsarbeit zeitlich aufhalten, da über sie in der Regel »namentlichfraktion« abgestimmt wurde. Dies bedeutete, dass jedes Reichstagsmitglied eine Stimmkarte in eine Urne warf und die Stimmen anschließend außerhalb des Sitzungssaales ausgezählt wurden. Dieses noch heute gängige Zählverfahren71 kostet(e) sehr viel Zeit.

Eine Reichsregierung konnte also nur dann erfolgreich arbeiten und für längere Zeit bestehen, wenn sie eine Reichstagsmehrheit hinter sich wusste. Üblicherweise wurden Koalitionen zwischen im Parlament vertretenen Parteien geschmiedet, um die Basis für die Regierungsarbeit zu legen. Es wurden politische Ziele vereinbart und Abreden getroffen, welche Partei welchen Ministerposten besetzen durfte. Damals galt wie heute: Je weniger Parteien für die Mehrheitsbildung nötig sind (d. h., je weniger Koalitionspartner es gibt), umso stabiler ist die Regierung. Angesichts der beschriebenen Zersplitterung war die Koalitionsbildung schwierig. Um die absolute Sitzmehrheit im Reichstag zu erreichen, mussten sich stets mindestens drei, häufig noch mehr Parteien verschiedener Ausrichtung zusammenschließen.

Die Klein- oder Splitterparteien (»Zwergparteien«72) der bürgerlichen oder bürgerlich-rechten Mitte, die in größerer Zahl im Reichstag vertreten waren, schieden von vornherein als Koalitionspartner aus. Mit ihren wenigen Mandaten konnten sie keine wirksame Unterstützung für die Regierungsarbeit bieten. Überdies vertraten sie jeweils nur bestimmte Bevölkerungs- und Interessengruppen, z. B. Landwirte, Gewerbetreibende, Inflationsgeschädigte oder die Einwohner bestimmter Regionen. Ihre Kompromiss- und Koalitionsfähigkeit war damit eng begrenzt (genauso wie ihr Wählerpotenzial). Des Weiteren standen die meisten Kleinparteien nicht rückhaltlos hinter der Weimarer Republik. Wer sich die Wahlaufrufe der kleinen Parteien beispielsweise zur 4. Reichstagswahl ansieht, liest harsche Vorwürfe gegen die staatstragenden Parteien und die parlamentarische Republik. Beispielsweise strebte die Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) »eine berufsständische Korrektur des parlamentarischen Systems«73 an. Die CNBL forderte ebenfalls die Schaffung einer berufsständischen Vertretung.74 Konkrete Lösungen, die über die Abschaffung eines Gesetzes oder eines pauschal beschriebenen Umstandes hinausgingen, boten die meisten Kleinparteien allerdings nicht an. Sie bedienten vorrangig Ressentiments. Doch schieden die Kleinparteien nicht nur als Koalitionspartner aus. Vielmehr schadete ihre Präsenz im Reichstag den staatstragenden Parteien. Die für die Kleinparteien abgegebenen Stimmen, die beim Vorhandensein einer Sperrklausel (von z. B. 3 % oder 5 %) mit Sicherheit den größeren Parteien zugefallen wären, fehlten diesen größeren Parteien zur Mehrheitsbildung.

Erschwert wurde die Mehrheitsbildung auch dadurch, dass eine größere Anzahl an Sitzen von Abgeordneten gehalten wurde, die den antiparlamentarischen und republikfeindlichen Parteien angehörten. Die KPD, die NSDAP und (die meiste Zeit) die DNVP lehnten die Republik ab. »Die Weimarer Republik hatte weder von der äußersten Rechten noch von der äußersten Linken anderes zu erwarten als eine unbedingte Feindschaft, die nur aus taktischen Gründen zeitweise zurückgenommen wurde.«75 Die radikalen Parteien wollten nicht konstruktiv mitarbeiten. Sie strebten jeweils einen völlig anderen Staat an und fielen für die Bildung regierungstragender Mehrheiten von vornherein aus. Auch die DNVP stand die meiste Zeit in Opposition zum »Weimarer System«, insbesondere zu Beginn und seit Ende der 1920er Jahre. Der Anteil der republikfeindlichen Abgeordneten betrug im Dezember 1924 rund 30 % und im Mai 1928 immer noch mehr als 25 %. Ab dem September 1930 nahm ihre Stärke dann deutlich zu, bis sie Ende Juli 1932 bei über 50 % lag.

Die NSDAP wollte eine nationalistische Diktatur, einen »Führerstaat«, errichten. Ihr Vorbild waren die italienischen Faschisten Benito Mussolinis. Die monarchistische und antidemokratische DNVP war ebenfalls die meiste Zeit zu den radikalen und republikfeindlichen Parteien zu rechnen. Sie war nur während der 3. Wahlperiode des Reichstages (1925 bis 1928) an Regierungen und damit konstruktiv am Parlamentsgeschehen beteiligt.

Kritische Zeitgenossen erkannten den beschriebenen Mangel des Wahlrechts. Auch die Parteienhoheit über die Wahlvorschläge sahen manche als Unzulänglichkeit des Wahlrechts an. Mehrere Änderungen wurden vorgeschlagen, darunter auch die Einführung einer Sperrklausel (Mindeststimmenzahl in einem Wahlkreis etc.), um einer Zersplitterung vorzubeugen76. Einige Länder änderten ihr Wahlgesetz entsprechend. Der Staatsgerichtshof kassierte manche dieser Änderungen.77 Verschiedene Autoren regten an, das Listenwahlrecht abzuschaffen und wieder zur Personenwahl in Ein-Personen-Wahlkreisen zurückzukehren.78 Sie erhofften sich davon eine bessere Rückbindung der Abgeordneten an ihre Wähler und ein Aufbrechen der Parteienhoheit über die Kandidaturen. Alle Versuche einer Wahlrechtsreform scheiterten aber.

Die beschränkte Kompromissfähigkeit der Parteien