Der weiße Adler - Thomas Wünsch - E-Book

Der weiße Adler E-Book

Thomas Wünsch

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Beschreibung

GOLDENE FREIHEIT, TOLERANZ, FREMDBESTIMMUNG Polen ist seit tausend Jahren ein Nachbarland Deutschlands, und doch erschöpft sich das Allgemeinwissen oft in wenigen, meist negativen Stereotypen. Dabei hat Polen in seiner Geschichte immer wieder sehr erfolgreiche Phasen zu bieten: als slawisches Staatswesen im Mittelalter, das die Zersplitterung überwinden und zu einem Königreich zusammenwachsen konnte; als adelige Republik in der Frühen Neuzeit, die für zahlreiche Nationen und Konfessionen eine friedliche Heimstatt war; und schließlich als Musterland der demokratischen Opposition im 20. Jahrhundert, als der Gewerkschaft "Solidarnosc" der Ausbruch aus dem Staatssozialismus gelang. Thomas Wünsch erarbeitet und bewertet die Hauptlinien der polnischen Geschichte, informiert über alle Epochen und stellt die Verbindungen zur deutschen Geschichte heraus. Wer Polen, sein kulturelles Erbe und seine Rolle in Europa über die Zeiten hinweg verstehen will, liegt mit diesem Buch genau richtig.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Thomas Wünsch

Der weiße Adler

Die Geschichte Polens vom 10. Jahrhundert bis heute

»Polen besteht aufgrund seiner Anarchie.«

Krzysztof Opaliński (1611–1655)

»Zwei Dinge imponieren den Außenstehenden bei uns immer: jedes Anzeichen der Anarchie und jedes Anzeichen der Disziplin.«

Adolf Nowaczyński (1876–1944)

Inhalt

Vorwort

1 Das piastische Polen

Ursprungsmythen als Vorgeschichte

Christianisierung und frühe Reichsbildung

Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel

Die Zeit der späten Piasten

Fokus: Heiligenkult und nationale Identität

Exkurs: Polens Westgrenze – Schlesien, Pommern, Preußen

2 Das jagiellonische Polen

Die »jagiellonische Wende«

Außenpolitik zwischen dem Moskauer Reich und dem Habsburgerreich

König und Sejm

Katholische Kirche, Reformation und Multikonfessionalität

Fokus: Konziliaristen und Humanisten

Exkurs: Polens Ostgrenze – Rotreußen / Ruthenien

3 Das Polen der Wahlkönige

Der Unionsstaat und die Zeit der Wasa-Könige

Die Gefährdung der »Adelsrepublik«: Kosaken, Schweden, Osmanen

»Magnatenoligarchie« und »Sachsenzeit«

Reformen und Teilungen

Fokus: Der polnische Adel und der Sarmatismus

4 Das geteilte Polen

Russisches Teilungsgebiet

Österreichisches Teilungsgebiet

Preußisches Teilungsgebiet

Polen im Exil

Fokus: Deutsche Polenbegeisterung und Polenfeindschaft

5 Polen im 20. und 21. Jahrhundert

Wiederherstellung Polens

Besetzung Polens

Das sozialistische Polen

Das demokratische Polen

Fokus: Alte und neue »polnische Legenden«

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Vorwort

Das hier als Auftakt verwendete Bonmot des Politikers und Dichters Krzysztof Opaliński aus dem 17. Jahrhundert erklärt eine verfassungsmäßige Erscheinung zum Wesensmerkmal Polens. Gemeint ist die Staatsform, die auswärtigen Beobachtern merkwürdig vorkam, möglicherweise auch den Bewohnern des Staates selbst. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zu den Formen der meisten anderen europäischen Staaten der Zeit, relativ schwach zentralistisch und alles andere als absolutistisch war. Deshalb erscheint es auch statthaft, statt des deutschen Wortes »Unordnung« den klassischen staatsrechtlichen Begriff der »Anarchie« als Verständnishilfe zu benutzen. Wenn nun gesagt wird, Polen bestünde aufgrund seiner Unordnung oder Anarchie (poln. nierządem Polska stoi), und nicht etwa trotz dieser, dann äußert sich darin zweierlei: Verwunderung, die beim Blick von außen durchaus angebracht war; und ein Schuss Sarkasmus, der den Bewohnern dieses so fremdartig aussehenden Staatswesens nicht fremd gewesen sein dürfte. Die Spannung aus dieser doppelten Wahrnehmung spiegelt auch, in umgekehrter Gewichtung, die Sentenz des Satirikers und Pamphletisten Adolf Nowaczyński aus dem Jahr 1904: Hier wird die Tatsache verarbeitet, dass Polen als Staat nicht mehr existierte, und das Ausland mal die Schwäche, mal die Stärke Polens zum Anlass nahm, um in die Geschicke des Landes auf unfreundliche Weise einzugreifen.

Die Mischung von Respekt einerseits und Unverständnis andererseits gegenüber der Geschichte und Gegenwart Polens scheint ein durchgehendes Merkmal der Bewertung von außen zu sein. In Polen selbst haben sich kritische Selbstsicht, oft gepaart mit Ironie und Witz, zu einem Markenzeichen der intellektuellen Kultur, gerade auch der politischen, entwickelt. Vielleicht hängt es mit dem europäischen Sonderfall einer adeligen Republik im Format der Monarchie zusammen, dass Staatslehre und politische Wissenschaften in Polen besonders systematisch und auf internationalem Niveau gepflegt wurden; der Reigen illustrer polnischer Denker hebt an mit Paulus Wladimiri (Paweł Włodkowic) zu Beginn des 15. Jahrhunderts, und er reicht bis zu den Wortführern der Gewerkschaft »Solidarität« (Solidarność) am Ende des 20. Jahrhunderts. Politische Philosophie und Staatswissenschaften als Form der Selbstreflexion sind vielleicht die typischen Merkmale der polnischen Kultur schlechthin – wenn man sich auf eine solche Festlegung überhaupt einlassen will. Im polnischen Fall aber beinhaltete sie immer auch eine Abstraktion von sich selbst, eine Überschreitung der eigenen Belange, die die angestellten Überlegungen auch für andere Fälle und andere Staaten fruchtbar machten.

Grund dafür waren ungewöhnlich dichte Außenbeziehungen. Polens Geschichte ist, um auch dieses Wagnis einer Definition von »roter Linie« innerhalb einer Landes- oder Nationalgeschichte einzugehen, eine Geschichte besonders intensiver Interaktionen mit auswärtigen Mächten. »Geschichte Polens« ist nicht gleichzusetzen mit »polnischer Geschichte«, denn das, was wir im Bestand einer nationalen Auffassung von Landesgeschichte vorfinden, war nicht immer Polen. Es beginnt mit der Staatswerdung im 10. Jahrhundert, die an ein Magnetfeld erinnert, als dessen Endergebnis dann ein Staatswesen steht, das – aufgrund der Anziehungskräfte auswärtiger Mächte – auch anders hätte aussehen können. Es setzt sich fort mit der Übernahme von Landesteilen im Südosten des Landes aus der Konkursmasse der Kiewer Rus’, die einem ganz anderen politischen und kulturellen Kontext angehörten und doch im Lauf der Jahrhunderte zu »polnischen« Landschaften wurden. Daneben stehen Verluste, wie derjenige Schlesiens, das sich der Krone Böhmen unterstellte und damit für Jahrhunderte nicht mehr zu Polen gehörte – und doch in weiten Teilen der polnischen Kultur weiterhin verbunden blieb und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zum polnischen Staatsgebiet wurde. Dazwischen ist die fast symbiotische Beziehung zu Litauen zu nennen, deren Kuriosität darin liegt, dass sie mit einem litauischen Königsgeschlecht auf dem polnischen Thron beginnt, von einer Personal- zu einer Realunion wechselt, und doch nie deckungsgleich wird mit der Geschichte Polens. Nur leicht überspitzt ausgedrückt, können selbst die Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck (negativ) intensivierter Außenbeziehungen gesehen werden: Waren es doch nur zu einem Teil bösartige Manöver auswärtiger Mächte mit dem Ziel der Vernichtung eines souveränen Staates, zum anderen Teil hingegen (aus der Sicht der Teilungsmächte) Versuche, mit diesem europäischen Krieg gegen einen einzelnen Staat einen europäischen Krieg aller Staaten zu vermeiden. Dass das Polen nach dem Ersten Weltkrieg, genauso wie das Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, jeweils nur einen Bruchteil seines »historischen Staatsgebiets« mit eigenen Grenzen versehen konnte, ist in gewisser Weise eine Bestätigung der Beobachtung, dass die Geschichte Polens eben nicht nur mit Polen zu tun hat.

Geschichte Polens kann, so die Grundhypothese dieses Buches, nur nahegebracht werden als multi-national verflochtene Geschichte. Deutschland, Böhmen/Tschechien, die Ukraine, Russland, Litauen, Ungarn und phasenweise Schweden sind Mitspieler in einem Konzert von wechselnden Machtbalancen, das für die vielen Veränderungen der Grenzen Polens sorgte. Alle diese Staaten besaßen in bestimmten Epochen Anteile an dem, was wir gemeinhin zu Polen zählen, bzw. waren teilweise in den polnischen Staat integriert. In Polen herrschten bis zur Auflösung des Staates 1795 sechs Dynastien, von denen nur zwei (Piasten und Jagiellonen) »einheimisch« waren; die anderen vier (die böhmischen Přemysliden und französischen Anjou, sowie im Rahmen der Wahlmonarchie die schwedischen Wasa und sächsischen Wettiner) spiegeln die gesamt-europäische Bedeutung der Geschichte Polens. Das zeigen auch die Personalunionen im selben Zeitraum, von denen Polen ungewöhnlich viele aufzuweisen hat: mit Böhmen, Ungarn, Litauen, Siebenbürgen, Schweden und Sachsen. Hinzu kommen weitere Mächte, die merklichen Einfluss auf die Geschichte Polens genommen haben, allen voran das Osmanische Reich – wobei gerade hier klar wird, dass sich schwache politische und starke kulturelle Einflussnahme nicht ausschließen müssen. Ein zentrales Element der polnischen Adelskultur, der Sarmatismus als zur Ideologie verfestigte Abstammungslegende von den antiken Sarmaten, belegt das beispielhaft.

Dabei ist der Sarmatismus nicht das einzige Kultursegment polnischer Geschichte, das sich als Resultat von äußeren Anstößen und spezifischen Reaktionen im Inneren zu erkennen gibt. Geht man aufs Ganze, wird man die drei wichtigsten Strukturmerkmale der polnischen Geschichte in dieses Paradigma einordnen können: die Entwicklung eines Parlaments (Sejm) und einer speziellen Verfassungsform, die Herausbildung einer besonderen adeligen Freiheit, und die Praxis einer Multikonfessionalität. Die Erfolgsgeschichte des polnischen Parlaments bis hin zu einer quasi-Entmachtung des Königs als Teil des Parlaments, die zum Paradoxon einer »Adelsrepublik« unter Beibehaltung der Monarchie führte, ist nicht erklärbar, wenn man nicht die Präsenz ungarischer und litauischer Dynasten auf dem polnischen Thron und den Krieg gegen den Staat des Deutschen Ordens mit berücksichtigt. Die »Goldene Freiheit« des polnischen Adels hat mit den Privilegien seitens der Könige Polens zu tun, die in anderen Ländern ebenfalls angewandt wurden, und doch nur in Polen zu einer ungeahnten Machtposition des Adels mit einer eigenen Standesideologie führten. Die Multikonfessionalität als Vielzahl von Konfessionen und Religionen schließlich ist ein direktes Produkt der territorialen Erweiterungen einerseits und der wirtschaftlichen und kulturellen Außenbeziehungen andererseits. Sie bescherten Polen(-Litauen) mit dem Vorkommen der katholischen und protestantischen Konfessionen, der griechischen Orthodoxie, dem Judentum und jüdischen Karäertum, dem sogenannten Monophysitismus der Armenier und schließlich mit der griechisch-katholischen Unierten Kirche nicht nur eine europaweit ungewöhnliche Vielfalt an religiösen Strömungen. Das typisch polnische Ingredienz in dieser konfessionellen Pluralität war, im Unterschied zu den meisten anderen Staaten Europas mit mehreren Konfessionen und Religionen, eine Praxis der Toleranz. Sie hielt nicht für ewig, sorgte aber gerade in Phasen einer erhöhten Kriegsbereitschaft aus religiösen Gründen (in der Frühen Neuzeit) dafür, dass es in Polen-Litauen friedlich blieb.

Wenn heute die Kenntnis der Geschichte Polens wichtig ist, dann vor allem deshalb, weil Polen eine ungewöhnliche Fülle an Rückbezügen bereithält. Man kann sich auf Erfolgsgeschichte(n) beziehen, womit für gewöhnlich die Staatsbildungen der Piasten und der Jagiellonen, aber auch die Zeit des religiösen Pluralismus in der Zeit der Wahlkönige gemeint sind. Man kann sich aber mit ähnlicher Berechtigung auch auf Misserfolgsgeschichte(n) beziehen, womit (mindestens) die Teilungen Polens und die darauffolgende Zeit ohne eigenen Staat, dazu die kurze, aber intensive Epoche des Zweiten Weltkriegs angesprochen sind. Doch sind das keine eindeutigen Geschichten; zu allen Narrativen lassen sich leicht Gegen-Narrative finden. Die Interpretation hängt nicht nur von der nationalen Beheimatung der Interpreten ab; auch die inner-polnischen Diskussionen um Streitfragen der eigenen Geschichte verlaufen für gewöhnlich in mehrere Richtungen. In diesem Sinne war es nicht nur ein Kennzeichen der vergangenen politischen Verfassung, dass Polen »aufgrund seiner Anarchie« bestehen würde; »Anarchie« oder »Unordnung«, hier positiv gefasst als Unmöglichkeit einer Harmonisierung verschiedener legitimer Standpunkte, ist ein Charakteristikum auch des Sprechens über die Geschichte Polens selbst.

Das hier vorgelegte Buch möchte vor allem deutsche Leser dazu befähigen, mitsprechen zu können. Um Verständnisbrücken zu bauen, wurden immer wieder Teile der polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte mit einbezogen. Das Buch ist konzipiert als Auswahl von Problemkomplexen, die für das Verständnis Polens aus historischer Sicht unverzichtbar erscheinen. Damit ist auch gesagt, dass es hier nicht um eine Gesamtgeschichte Polens geht, die allen Epochen und allen Aspekten gleich ausführlich gerecht wird. Eine knappe Darstellung wie diese muss sich beschränken, und sie muss auswählen. Die bei jeder Darstellung unvermeidliche Dosis an Subjektivität wird durch diesen Vorgang noch erhöht, und die Gefahr einer Vereinfachung liegt nahe. Dem soll einerseits die Bibliografie entgegenwirken, die bewusst ausgreifend angelegt ist. Andererseits wurde versucht, mit gezielt gesetzten Akzenten und Exkursen ein tieferes Verständnis der Geschichte Polens wenigstens abschnittsweise zu ermöglichen. Quellenzitate sollen diesen Vorgang, sich exemplarisch auf zentrale Fragen zu konzentrieren, unterstützen. Ziel ist es, durchgehende Linien, Wendepunkte und Zusammenhänge aufzuzeigen – in der politischen Geschichte, aber auch im Sinn einer umfassenderen Kulturgeschichte. Ob es gelungen ist, mögen die Leser entscheiden; Polen selbst jedenfalls hat das Interesse mehr als verdient.

Ohne Unterstützung von außen ist eine solche Publikation nicht möglich. Ich bedanke mich deshalb bei der Universität Passau, die mir durch ein reduziertes Lehrdeputat den nötigen Freiraum für das Schreiben gewährt hat. Mein Dank gilt auch den Freunden und Kollegen, die sich die Mühe gemacht haben, Teile des Manuskripts zu lesen und zu diskutieren; allen voran mein langjähriger Mitarbeiter Sławomir Oxenius. Der Anstoß zu diesem Buch kam vom Verlagshaus Römerweg und seinem Lektor Stefan Gücklhorn; dafür, genauso wie für die Betreuung bei der Umsetzung des Vorhabens, bedanke ich mich besonders. Gewidmet sei der Band meinen beiden Regensburger Lehrern Ekkehard Völkl (†) und Heinz Kneip, die mir die Welt der polnischen Sprache, Literatur und Geschichte eröffnet haben.

Passau, im Februar 2019

Zur Aussprache des polnischen Alphabets

Das Polnische besitzt einen festen Wortakzent, der auf der vorletzten Silbe liegt.

Besonderheiten in der Aussprache:

»Er hat das Ansehen und die Stärke des Königreichs so vermehrt, dass er durch seine Leistung ganz Polen vergoldet hat.«

Der Chronist Gallus Anonymus über den ersten polnischen König Bolesław I. Chrobry (992–1025)

1 Das piastische Polen

Ursprungsmythen als Vorgeschichte

Ursprungsmythen sind mehr als nur Fabeln und Märchen. Sie verweisen in Gestalt von Sagen, Erzählungen oder Legenden auf die ältesten Formen eines Staates oder einer Gemeinschaft. Damit transportieren sie mündlich überliefertes Wissen, das jedoch meist nicht direkt verwertbar ist. Die starke poetische Qualität der Ursprungsmythen lassen sie mehr als Metaphern für eine bestimmte Interpretation von (Ur-)Geschichte vor dem Auftauchen schriftlicher Quellen erscheinen, denn als empirisch abgestützter Bericht darüber. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der solche Ursprungsmythen für die moderne Forschung immer wieder zum Rätsel hat werden lassen: die relativ späte schriftliche Aufzeichnung. Bei allen ostmitteleuropäischen Ländern – sowohl in Polen als auch in Böhmen und Ungarn – sind die Ursprungsmythen eng mit der Nationalgeschichtsschreibung verbunden. Das bedeutet aber, dass der Abstand zwischen der erzählten Zeit und der schriftlichen Fixierung oft Jahrhunderte beträgt. Erfindungen sind nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie zielgerichtete rhetorische Manöver zur Begründung oder Rechtfertigung der jeweils gegenwärtigen Herrschaftskonstellationen oder gar aktueller Politik.

Was solche Mythen trotzdem interessant macht, ist der Umstand, dass sie zugleich ein zeitliches und ein legitimatorisches Vakuum überbrücken. Zunächst einmal geht es im Fall Polens, wie bei den anderen ostmitteleuropäischen Staaten, um die Lücke zwischen einer anzunehmenden Existenz einer strukturierten Gemeinschaft und ihrer ersten Erwähnung. Die Bezeichnungen Polani oder Poloni begegnen erst um das Jahr 1000 in den Quellen, während die frühpiastische Herrschaftsbildung schon an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert anzusetzen ist. Das Bedürfnis, ein Geschehen aufzuhellen, das in schriftloses Dunkel gehüllt ist, steckt als Motor sehr deutlich hinter den späteren Ursprungsmythen. Hinzu kommt aber noch ein anderes Bedürfnis, das umso drängender wurde, je intensiver die Kontakte zwischen der staatlichen Gemeinschaft und seinem außenpolitischen Umfeld wurden: die eigene Herkunft durch die Aufnahme hochgeschätzter Persönlichkeiten in die eigene (Vor-)Geschichte an den Status der anderen Staaten anzupassen.

Der Meister in diesem Fach war der erste aus Polen stammende Geschichtsschreiber, Vincentius Magister, gen. Kadłubek (geboren um 1160, gestorben 1223). Er kam vermutlich aus einer kleinpolnischen Ritterfamilie, hielt sich zu Studienzwecken in Paris und vielleicht Bologna auf, war am Hof von Herzog Kazimierz II. Sprawiedliwy (»dem Gerechten«, 1138–1194) in Krakau tätig, wurde dann Propst in Sandomierz und für zehn Jahre Bischof von Krakau, und beschloss seine Tage als Zisterziensermönch. Seine Chronica Polonorum schrieb er seit den 1190er-Jahren nieder, und ihr Erfolg war überwältigend: 32 mittelalterliche Handschriften sind bekannt, die zwar mehrheitlich erst aus dem 15. Jahrhundert datieren, aber doch insgesamt eine große Wirkung in Polen signalisieren. Das Werk des Vincentius Kadłubek wurde offensichtlich auf Bitten des Herzogs von Polen abgefasst, und es ist aufschlussreich, dass gerade in der Umgebung dieses Herrschers ein Bedürfnis nach einer umfassenden Nationalgeschichte entstand – analog zur Geschichtsschreibung der anderen europäischen Nationen des Hochmittelalters. Kazimierz II. war seit 1177 Seniorherzog von Polen und der politisch wohl aktivste polnische Herzog seiner Zeit, besonders an den nördlichen und östlichen Grenzen seines Herrschaftsgebiets. Daneben engagierte er sich für eine Verfassungsreform, als er das Senioratsprinzip aufheben ließ, das eine Erbteilung im ganzen Fürstenhaus unter dem Vorrang eines Seniors vorsah. Dieser politische Hintergrund macht es verständlich, dass Kadłubeks Chronik nicht nur als historiografischer Text gelesen und rezipiert wurde. Sie wurde auch als staats- und kirchenpolitischer Traktat verstanden, und ihre historiografische Konzeption förderte einen Patriotismus und ein gemeinschaftliches Bewusstsein, das die politische Unabhängigkeit vom Römisch-deutschen Reich beinhaltete.

Ein Mittel dafür ist die Stilisierung einer heroischen Vorzeit, die Kadłubek unter Verwendung älterer Vorlagen durchführt. Das erste Buch der Chronik Kadłubeks, um das es hier insbesondere geht, erzählt aber weder eine zusammenhängende Geschichte, noch erhebt es Anspruch auf die Nachzeichnung eines historischen Ablaufs; es ist episodenartig aufgebaut und gehorcht nur in Teilen der Chronologie. Im Zentrum stehen die Erzählungen zu drei Herrschern namens Lestko und zweien mit Namen Pompilius (Popiel). Die erste Erzählung berichtet von einer Auseinandersetzung der Polen mit Alexander dem Großen, bei der die Polen den Gesandten Alexanders, die von ihnen Tribute forderten, bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen und diese mit Gold und Seetang gefüllt hatten. Alexander rückte nun mit einem Heer nach Polen ein, eroberte Krakau und stand kurz vor der Unterwerfung des ganzen Volkes, als ein listiger Goldschmied die Truppen Alexanders in die Falle lockte, und diese in so heillose Verwirrung gerieten, dass ihre Niederlage besiegelt war. Um die Wahrheit dieser Geschichte zu belegen, führt Kadłubek einen (imaginären) Briefwechsel zwischen Alexander und Aristoteles an, in dem eine als »Krakau« deutbare Stadt Carauca genannt wird; der Kontext der europäischen Aristoteles-Rezeption des Hochmittelalters ist damit hergestellt. Der Goldschmied selbst wurde als Dank zum patriae princeps (»Führer des Vaterlandes«) und später zum König ernannt. Sein Name Lestco ist etymologisch motiviert und leitet sich her von astutus (»schlau, listig«), womit auf den Erfolg seiner Kriegslist angespielt wird. Diese Erzählung Kadłubeks kehrt in allen späteren chronikalischen Werken wieder. Will man für die Rekonstruktion der Geschichte daraus Funken schlagen, dann kann man die Alexander-Episode auch als Reflex auf die zeitweilige mährische Kontrolle über Schlesien und das Krakauer Gebiet lesen. Mit einigem guten Willen lässt sich dafür auch insofern eine Stütze finden, als eine semantische Entsprechung der Namen »Alexander« und »Svatopluk« (für den Herrscher des Großmährischen Reichs Ende des 9. Jahrhunderts) möglich ist.

Nach einem weiteren polnischen König, der sich Lestko II. nannte, folgte dessen Sohn auf dem Thron, Lestko III. – und auch mit seinem Namen verbindet sich in Kadłubeks Darstellung ein Mythos. Er habe Julius Caesar drei Niederlagen zugefügt und das von Crassus geführte Heer beim Krieg mit den Parthern, die unter seiner Macht standen, vernichtet. Schließlich soll er auch noch Julia, die Schwester Caesars, geheiratet haben, die zwei Städte gegründet habe (Lubus an der mittleren Oder und Lublin im heutigen Ostpolen). Als Caesar später ihre Mitgift (Bayern) zurückforderte, wurde sie von Lestko verstoßen – was nicht verhinderte, dass ihr gemeinsamer Sohn Pompilius von seinem Vater nach dem Recht der Primogenitur (iure primogeniture), d. h. als Alleinerbe in der Position des Erstgeborenen, zum König eingesetzt wurde. Von dessen politischen Aktivitäten sind wiederum (auffälligerweise) nur Maßnahmen zur Herrschaftssicherung und Nachfolgeregelung bekannt; allerdings erfolgreiche: Denn Pompilius erreichte, dass sein noch junger Sohn als Thronfolger von seinen 20 Halbbrüdern akzeptiert wurde. Dieser Pompilius II. aber bildet gewissermaßen den narrativen Kontrapunkt zu seinen Ahnherrn namens Lestko: Mithilfe einer List ließ er seine Rivalen bei seinem eigenen, fingierten Totenmahl vergiften und starb selbst auf grausame Weise, als ihn die Mäuse, die aus den (nicht bestatteten) Leichen der ermordeten Halbonkel kamen, bis zu einem hohen Turm verfolgten und dort zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Söhnen zu Tode bissen.

Lässt man die aktuellen politischen Bezüge auf die Frage der Herrschaftsweitergabe und die persönliche Eignung von Herrschern beiseite, die Vincentius Kadłubek in diese Legenden aus einer heroischen (schriftlosen) Frühzeit über die drei Lestko und die beiden Pompilius/Popiel eingebaut hat, dann sticht die Funktion eines mythischen Zeitsprungs ins Auge. Die Herstellung einer zeitlichen Verbindung zur (römischen) Antike war angesichts der unabweisbaren Tatsache, dass die slawischen Länder nie Teil des Römischen Imperiums gewesen waren, gewagt. Der Autor ging dieses Risiko der Unglaubwürdigkeit ein, um ein Defizit zu beseitigen, das offenkundig geworden war: die mangelnde Verbindung zu einer historischen Vorstufe, die bei den Staaten westlich von Polen oder in Byzanz gegeben war, und deren Fehlen als negativ verbucht wurde. Die Kombination aus einheimischen Herrschern, die niemand kennen konnte, und allbekannten antiken Persönlichkeiten sollte den Brückenschlag in eine Zeit herstellen, die als notwendige historische Entwicklungsstufe gesehen wurde. Kadłubek kannte die klassische Literatur wenigstens teilweise, und das versetzte ihn in die Lage, eine Schicht des historischen Geschehens nachzutragen, die man vermisste – und derer man sich zugleich für würdig befand. Militärische Siege über Alexander den Großen, Caesar und Crassus sind dabei nur das erzählerische Vehikel, mit dem sich die Leistung der eigenen Heerführer demonstrieren lässt. Es ist eine symbolische Leistungsschau, die man auch ganz anders ausdrücken könnte, die aber im Verständnis der Zeit so wohl den größten Respekt hervorrufen konnte. Als das tragende Scharnier der Legenden erweist sich dabei eine Frau: Caesars Schwester. Sie stellt nicht nur die entscheidende dynastische Verbindung zu Popiel I. her, repräsentiert also einen Zusammenhalt über die engen Familiengrenzen hinaus im Sinne einer längerfristigen Sicherung der Zentralmacht. Sie war es auch, die kulturstiftend wirkte, als sie zwei Städte gründete. Stadtgründung ist in dieser Zeit das Instrument von Landesentwicklung schlechthin, und es stellt auch eine Parallele her zum böhmischen Fall: Dort hatte, wie der Geschichtsschreiber Cosmas von Prag († 1125) ebenfalls in einer eingeschobenen Episode zur Frühzeit Böhmens berichtet, die ehemalige Richterin Libuše zusammen mit dem von ihr erwählten Gemahl Přemysl die Hauptstadt Prag gegründet.

Kadłubek bewältigte mit seiner Erzählung der Vorgeschichte Polens eine doppelte Aufgabe: Zum einen ergänzte er die fehlende Epoche der antiken Geschichte Polens; zum anderen gliederte er Polen nun – im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts – in eine allgemeineuropäische »Normalgeschichte« ein. Damit stellte er das Land, das von seiner Entwicklung her zweifellos dem »Jüngeren Europa« angehörte, gleichberechtigt auf die Stufe der Länder des »Älteren Europa«. Das Heilige Römische Reich war sicherlich der direkte Bezugspunkt, aber es ging auch um den Nachweis, dass man mit der römischen Antike eine gemeinsame Frühzeit besaß. Polen war kulturgeschichtlich an »Europa« assoziiert.

Christianisierung und frühe Reichsbildung

Die in den Ursprungsmythen verarbeiteten Entwicklungen vor der Christianisierung Polens geben die Richtung an, in die eine Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte Polens gehen kann. Dabei ist die Phase vor der Mission keineswegs bedeutungslos. Ein durchgängiges Manko ist aber, dass wir nur spärliche schriftliche Nachrichten besitzen (etwa von karolingischen und sächsischen Chronisten), und die zu Hilfe gezogenen Beiträge der Archäologen und Linguisten widersprüchlich interpretiert werden können. Versucht man, die wenigen gesicherten Kenntnisse zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Bild: Für das polnische Kerngebiet sind die Stämme der Goplanen im östlichen Großpolen, der Wislanen am Oberlauf der Weichsel und der Lendzice an der mittleren Weichsel zu nennen. Immer wieder bereitet es der Forschung Probleme, dass gerade derjenige Stamm, der später dem ganzen Volk seinen Namen gab, die Polanen, erst im frühen 11. Jahrhundert belegt sind. Nach ihren Zentren um Posen und Gnesen gilt das ganze Gebiet als Zentrum des ersten polnischen Staates; Gnesen fungiert also gewissermaßen als »erste Hauptstadt Polens«. Der Stamm der Masowier begegnet erst Ende des 11. Jahrhunderts in der russischen Nestorchronik. Von Nordosten, wo sich die baltischen Stämme der Pruzzen befanden, drohte die größte Gefährdung des Staatsgebiets. Es ist kein Zufall, dass der Deutsche Orden später gerade zur Missionierung und Unterwerfung dieser Völkerschaften ins Land geholt wurde.

Zunächst ging es bei der im frühen Mittelalter üblichen Vermischung von Mission und Politik aber darum, den richtigen Partner auszuwählen. Das Kunststück bestand überall darin, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen, ohne selbst alle Autonomie einzubüßen. Im Fall Polens stellte sich das so dar, dass der erste historisch gut fassbare Herrscher, der Piastenherzog Mieszko I. (reg. ca. 960–992), zwar im Jahr 966 (oder 965) die Taufe seines Herrschaftsbereiches vollzog, die Hilfe von den deutschen Nachbarn gegen Konkurrenten auch gern annahm, bei alledem aber darauf bedacht blieb, dass seine junge christliche Kirche nicht in die Reichskirche einbezogen wurde. Als erster Bischof des im Jahr 968 gegründeten ersten Bistums auf polnischem Boden firmierte denn auch kein Pole, sondern ein aus Böhmen stammender Missionsbischof namens Jordan. Er regierte bis 984 und war dem Papst direkt unterstellt. Doch war das nicht genug, um eine Unabhängigkeit in kirchlicher und weltlicher Sphäre zu garantieren; im Hintergrund stand das Erzbistum Magdeburg, das von den sächsischen Kaisern explizit als Missionsbistum gen Osten konzipiert war, und das sich nicht ganz unberechtigte Hoffnungen machte, Posen (und damit die ganze polnische Kirche) integrieren zu können. Mieszko, der von dem Chronisten Widukind von Corvey als amicus imperatoris (»Freund des Kaisers«) bezeichnet wird, nach Auskunft des Geschichtsschreibers Thietmar von Merseburg aber dem Kaiser bis zum Fluss Warthe tributpflichtig war, machte deshalb kurz vor seinem Tod einen geschickten Schachzug, indem er sein Land samt der Herrscherfamilie dem heiligen Petrus (in Gestalt des Papstes) übereignete. Dieser im sogenannten Dagome-iudex-Regest überlieferte Rechtsakt war nicht nur die erste Schenkung eines ganzen Staatswesens an den Heiligen Stuhl; sie hatte darüber hinaus für Polen weitreichende Auswirkungen. Der Eintritt Mieszkos in die christliche »Familie der Könige«, einem informellen Verbund der europäischen Dynastien, gestaltete sich so von Anfang an auf der Augenhöhe der anderen christlichen Staaten, denn die Abhängigkeit von Rom war eine rein formale, ohne realpolitische Folgen. Gegenüber der imperialen Kirchenpolitik aus dem Römisch-deutschen Reich jedoch hatte der erste polnische Herrscher seine Kirche und seinen Staat gewappnet – auch wenn die Mehrzahl der Kleriker in Polen noch bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts aus den Provinzen des deutschen Reichs kommen sollte.

Was in dieser Konstruktion einer kirchlich-staatlichen Autonomie noch fehlte, war die Organisation der polnischen Kirche in der Gestalt eines Erzbistums. Nur in dieser Form war im frühen Mittelalter auch eine volle staatliche Souveränität möglich, und die beiden aufstrebenden Staatswesen im Osten des Römisch-deutschen Reichs, Polen und Ungarn, nutzten dieses Machtmittel zur gleichen Zeit. In Polen war es der Sohn und Nachfolger Herzog Mieszkos, Bolesław I. Chrobry (»der Tapfere«, reg. 992–1025), der den entscheidenden Schritt zur kirchlich-staatlichen Emanzipation von seinem westlichen Nachbarn gehen konnte. Unterstützung bekam er dabei von einem Toten: Es war der Märtyrertod des in Pommern missionierenden böhmischen Adeligen Adalbert, der den Weg zu einem eigenen polnischen Erzbistum ebnete. Sowohl der Kaiser (Otto III.) wie der Papst (Silvester II.) verehrten den bei den Pruzzen 997 umgekommenen Missionsbischof, und der Kaiser selbst machte sich auf zu einer Pilgerfahrt, um dem inzwischen kanonisierten und in Gnesen bestatteten Freund seine Ehre zu erweisen. Es war dies die einzige friedliche Fahrt, die je ein Kaiser Richtung Polen unternommen hat. Was genau sich bei dieser Gelegenheit im Frühjahr 1000 abspielte, beschäftigt die Forschung seit Jahrzehnten – und ist dennoch nur lückenhaft zu rekonstruieren. Wenn die deutsche Forschung vom »Akt von Gnesen«, die polnische Forschung vom »Zjazd Gnieźnieński« (»Gnesener Treffen«) spricht, dann stehen immer mehrere Bereiche zur Debatte: Zum Ersten die Errichtung eines Erzbistums in Gnesen, dem die neu errichteten Bistümer Kolberg, Breslau und Krakau als Suffraganbistümer zugeordnet wurden. Damit war der Grundstock gelegt für eine eigene polnische Kirche – auch wenn erst nach einigen Jahrzehnten ein durchgängiges Funktionieren der Bistümer in Breslau und Krakau festzustellen ist, und Kolberg ganz unterging.

Detail der Darstellung des Martyriums des hl. Adalbert (Wojciech) auf der Bronzetür am Südportal der Kathedrale zu Gnesen (Gniezno), aus der Zeit um 1160

Ob Otto III. möglicherweise gar nicht in Gnesen, sondern in Prag das erste Erzbistum im slawischen Siedlungsgebiet errichten wollte, und nur das diplomatische Geschick Bolesławs I. ihn umschwenken ließ, muss Spekulation bleiben. In jedem Fall – und das wäre der zweite entscheidende Punkt – verband sich mit dem Kaiserbesuch in Polen eine symbolische Rangerhöhung des polnischen Herzogs. Bolesław I. hatte zwar keine formelle Krönung zum König erfahren, war aber nach dem Zeugnis des Chronisten Gallus Anonymus zum frater et cooperator imperii (»Bruder und Partner des Reichs«) aufgestiegen. Damit war seine Einbeziehung in die »Familie der Könige« kenntlich gemacht – und mehr: Deutlich wurde damit auch, dass sich die Ostpolitik der Römisch-deutschen Kaiser grundlegend gewandelt hatte. Aus einer missionarisch-imperialen Stoßrichtung der Politik war eine integrativ-autonomistische geworden. Was auch immer den Kaiser dazu bewogen hat, und wo auch immer der Anteil des polnischen Herrschers dabei gelegen hat, bleibt unklar. Sichtbar wird nur, dass dieser Schwenk dem Kaiser in der zeitgenössischen Publizistik nicht als Schwäche ausgelegt wurde; der beste Beleg dafür ist die Miniatur aus der Werkstatt des Reichenauer Skriptoriums, die neben den Figuren der Roma, Gallia und Germania nun auch die Sclavinia zeigt, wie sie dem Kaiser huldigen. Ostmitteleuropa, und darin Polen, stand über die Repräsentation und Personifikation als Sclavinia auch in einem bildlichen Verständnis auf einer Stufe mit den »älteren« europäischen Teilen des gerade von den Ottonen erneuerten Römischen Imperiums. Kirchliche und weltliche Eigenständigkeit Polens waren nach dem Jahr 1000 unumkehrbar geworden; es lag nun an der einheimischen Politik, was daraus gemacht wurde.

Die personifizierten Reichsteile huldigen dem römisch-deutschen Kaiser Otto III.: Sclavinia, Germania, Gallia und Roma (v. l. n. r.)

Wie im »Akt von Gnesen« bereits angedeutet, ruhte die Konsolidierung des polnischen Staates auf drei Säulen: dem Christentum, dem Römisch-deutschen Kaisertum, und der Regierungsleistung der herrschenden Dynastie der Piasten. Was das Christentum als Stabilisierungsfaktor angeht, so wird man den Effekt der damit verbundenen hierarchischen Ordnungsvorstellungen nicht unterschätzen dürfen. Das, was die spätantike und frühmittelalterliche Adelskultur bereits im westlichen Europa geprägt hatte, wurde nun auch im Europa östlich der Elbe zu einer gesellschaftlichen Stütze. Wohl gab es sogenannte »heidnische Reaktionen«, also politische Gegenbewegungen in Opposition zu der von den Piasten praktizierten »Mission von oben«, die ja immer auch eine Festigung der Herrschaft des Geschlechts bedeutete. Und man wird bei der Durchdringung der Gesellschaft mit den Normen und Werten des Christentums nicht allzu euphorisch sein dürfen; letztlich sprechen wir erst von der Zeit des 14./15. Jahrhundert, wenn wir die soziale Breitenwirkung des Christentums in Polen sehen wollen. Aber das Christentum erwies sich als zentralisierende und stabilisierende Kraft, die der Herrschaftsbildung zuarbeitete.

Auch die kaiserliche Politik förderte durch den Gedanken der Kooperation die Festigung des jungen polnischen Staatswesens. Zwar erlangte Bolesław I. Chrobry nicht die Königskrone, wie sie Stephan von Ungarn zur selben Zeit zuteil wurde – aber die hoch politischen Symbole von Mauritius-Lanze (als Replik) und Kronreif, dazu möglicherweise der Titel eines patricius (eine römische Amtsbezeichnung, die von Kaiser Otto III. wieder aufgegriffen wurde), deuten die Richtung an: Polen war vom Ansehen her ein Königreich, auch wenn die formelle Krönung noch bis 1025 auf sich warten ließ. Ablesbar ist dies nicht zuletzt an den Verbindungen, die der polnische und der sächsische Adel miteinander eingingen, dazu die Piasten und das Kaiserhaus selbst. Ohne korrespondierende Aktivität seitens der einheimischen Dynastie der Piasten wäre all dem jedoch keine Dauer beschieden gewesen. Es ist nicht ganz falsch, wenn polnische Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg die Leistung Bolesławs I. Chrobry mit derjenigen Karls des Großen verglichen. Genauso richtig ist aber die Einschätzung, dass Bolesław eine überzogene Eroberungspolitik betrieben hätte, deren Erfolge schon von seinen unmitelbaren Nachfolgern nicht zu halten waren. Dahinter steht der Versuch des Piastenherzogs, seinen Herrschaftsbereich auf das böhmische Herzogtum im Westen und die Kiewer Rus’ im Osten auszudehnen. Die Lösung für die ambivalente Beurteilung Bolesławs liegt darin, dass er als erster polnischer König symbolisch für eine neue Machtbasis steht, die sich in Ambitionen außenpolitischer Natur genauso zeigte, wie in der Fähigkeit, innere Erschütterungen zu verarbeiten. Wie auch immer man den realpolitischen Erfolg Bolesławs bemessen mag: Wenn die schriftlichen Zeugnisse ausweisen, dass sich erst mit seiner Regierung die Selbstbezeichnung natione Polonus für das junge Staatswesen verbindet, dann ist damit eine grundlegende Neuerung beschrieben, die auf eine neue Qualität des Staates und des Gemeinschaftsbewusstseins hindeutet. Die eingangs des Kapitels zitierte lobrednerische Charakterisierung seiner Politik in der ältesten polnischen Chronik des Gallus Anonymus (geschrieben am Beginn des 12. Jahrhunderts) ist Spiegel dieser Wertschätzung und treibende Kraft für ihr Weiterleben.

Hält man sich vor Augen, dass der polnische Herzog Kazimierz I. Odnowiciel (»der Erneuerer«, reg. 1034/38–1058) das Land verlassen musste, und nur die Hilfe seitens des Kaisers (Heinrichs III.) ihm die Rückkehr ermöglichte, dann erkennt man den Anteil der polnisch-deutschen Interaktion an der Stützung des polnischen Staatswesens. Kazimierz I. war es dann auch, der Masowien und Schlesien wieder unter die polnische Herrschaft zurückbrachte. Selbst gemacht war hingegen die Nachfolgeregelung, die im Testament Herzog Bolesławs III. Krzywousty (»Schiefmund«; reg. 1102–1138) getroffen wurde. Danach sollte der jeweils älteste Nachkomme innerhalb der Familie die Herrschaft übernehmen (im Unterschied zur Erbfolge nach Primogenitur, die den ältesten Nachfahren des regierenden Fürsten begünstigte). Dieses Prinzip des Seniorats war dafür verantwortlich, dass sich Polen für eineinhalb Jahrhunderte in von Piasten regierte Teilfürstentümer auflöste. Sieht man auf fundamentale Veränderungen im Europa jener Zeit – Anstieg der Bevölkerungsdichte und damit der wirtschaftlichen Aktivität, Intensivierung der Herrschaftsbeziehungen und der Kulturkontakte –, dann wird klar, warum die Reflexe dieser übergreifenden Entwicklungen in Polen regional sehr unterschiedlich verliefen. Polen erlebte diese Phase einer »Europäisierung Europas« (ROBERT BARTLETT) in Gestalt eines Verbands von Herzogtümern, die nur noch auf einer losen verwandtschaftlichen und einer mentalen Ebene miteinander verbunden waren.

Dabei unterschieden sich die innenpolitischen Voraussetzungen im frühen Piastenreich nicht fundamental von den gesamteuropäischen Verhältnissen. Wie im übrigen Europa sehen wir auch in Polen einen zentralen fürstlichen Herrscher und eine Gruppe von potentes, zwischen denen sich die staatliche Macht teilt. Die Machtverteilung war dabei nicht statisch, sondern unterlag einem Wandel; und sie war auf ein gegenseitiges Einvernehmen hin ausgerichtet. Die Chronik des Gallus Anonymus berichtet von dem Respekt, den der Herzog einem Kreis ausgewählter Familien entgegenbrachte – die ihm im Gegenzug Unterstützung schuldig war. Abgesetzt von diesen Familien, die als meliores, nobiliores oder optimates in den Quellen auftauchen, war diejenige Schicht, die sich aus der alten Gefolgschaft des Fürsten entwickelte und seit dem 11. Jahrhundert den ärmeren, »niederen« Adel bildete. Ein Fortschritt im Sinne einer vermehrten Zentralstaatlichkeit war in Polen, wie im Rest Europas, der Aufbau einer differenzierten Verwaltung. Bemerkbar sind Übernahmen aus Sachsen, Bayern und Mähren, sodass insgesamt auch in Polen die karolingische Tradition der Hofämter in Erscheinung tritt. Wir begegnen den comes palatinus, camerarius, pincerna (Mundschenk), dapifer (Truchsess) und anderen.

Wie in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern Böhmen und Ungarn diente auch in Polen das Kastellaneisystem als Verwaltungsordnung auf regionaler Basis. In deren Mittelpunkt stand eine Burg mit einem Kastellan als Verwalter des zugehörigen Bezirks. Eher in dieser ostmitteleuropäischen Richtung als in Richtung der Entwicklung im Westen und Süden Europas verlief der Ausbau von Siedlungskernen in Polen. Es gab durchaus ansehnliche Bevölkerungskonzentrationen in Wollin, Kolberg, Posen, Kruschwitz, Breslau und Krakau. Markenzeichen der polnischen Entwicklung war aber eine ungleiche regionale Verteilung: Gebiete wie die Ostseeküste, der Posen-Gnesener Raum oder das obere Weichselland unterschieden sich durch ihre relativ hohe Bevölkerungskonzentration deutlich und für lange Zeit von den übrigen polnischen Landschaften. Noch bedeutsamer war möglicherweise die Qualität der Siedlungskonzentrationen, die dafür verantwortlich war, dass wir in Polen ein ostmitteleuropäisches Muster vor uns haben, kein westeuropäisches: Durch das Übergewicht der Burgherrn in den städtischen Siedlungen konnte sich keine Autonomie entfalten, wie sie in der Stadtgeschichte West- und Südeuropas prägend war. Eine tiefgreifende Änderung brachte erst die Phase der (Ost-)Kolonisation und der damit verbundenen deutschrechtlichen Stadtgründungen mit sich.

Zunächst einmal war für den weiteren Verlauf der polnischen Geschichte entscheidend, dass das Testament von 1138 die herrschende Dynastie der Piasten in drei Hauptlinien zerfallen ließ (die ihrerseits wieder in Nebenlinien aufgeteilt waren): die schlesischen, die großpolnischen und die kleinpolnisch-masowischen Piasten, von denen sich die Letzteren bald schon in eine kleinpolnische, masowische und kujawische Linie aufsplitterten. Trotz dieser Teilung der Dynastie und des Staates ging der Gedanke, dass es eine Einheit gebe, nicht ganz unter; er wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts wiederbelebt und hielt sich von da an bis zu den modernen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die polnische (mittelalterliche) Nation entstand im 11. Jahrhundert, als der Stamm der Polanen einen Teil der westslawischen Stämme unter der Herrschaft des Geschlechts der Piasten vereinte. War zunächst die Dynastie das verbindende Element für eine ganze Gruppe von Stämmen, so wurde die sprachlich-symbolische Vereinigung durch die Übertragung des Stammesnamens der großpolnischen Polanen (Poloni) auf die gesamte Bevölkerung des Staatswesens hergestellt. Erleichtert wurde dieser Zusammenschluss dadurch, dass es kaum sprachliche und andere kulturelle Unterschiede zwischen den westslawischen Stämmen gab. Vielleicht hing damit auch zusammen, dass die ersten Piastenherrscher, Mieszko I. und Bolesław I. Chrobry, die Grenzen ihrer Expansion offen ließen. Rein theoretisch hielt man offenbar sämtliche westslawischen Gebiete für den natürlichen Herrschaftsraum der Piasten; davon zeugen die Feldzüge und zeitweisen Übernahmen, die sich auf Pommern, die Lausitz, Böhmen, Mähren, Brandenburg und die Slowakei (Oberungarn) erstreckten. Einem westslawischen Gesamtstaat unter der Herrschaft der Piasten (ähnlich der Herrschaftsbildung der Rjurikiden unter den Ostslawen in Gestalt der Kiewer Rus’) stand das Römisch-deutsche Reich entgegen. Die Interessen dort gingen eher in die Richtung, die böhmischen Přemysliden und Piasten in einem Gleichgewicht zu halten und eine piastische Hegemonie zu verhindern.

Immerhin verfügte der piastische Staat über feste Grenzen, eine sprachlich-kulturell homogene Bevölkerung und eine autonome kirchliche Struktur. Die Ausbildung eines polnischen Nationalbewusstseins konnte auf dieser Grundlage vonstatten gehen. Allerdings bewirkten Faktoren wie die relativ geringe Besiedlung und die daraus resultierende schwache Wirtschaftskraft (bei verhältnismäßig hoher Belastung der Bevölkerung durch Steuern und Abgaben), dass dieses gesamtpolnische Bewusstsein in der Zeit der Teilfürstentümer einer mehr regionalen Identifikation in den einzelnen Landesteilen wich. Nach 1138 und bis ins 13. Jahrhundert hinein sehen wir so nicht nur eine ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung, je nach Region, was die höher entwickelten Landesteile wie Niederschlesien oder Kleinpolen in einen deutlichen Abstand zu schwächer entwickelten Regionen wie Masowien brachte. Es kam auch zu einer sprachlichen Differenzierung und der Verstärkung von Unterschieden zwischen den Dialekten. Ein Separatismus bei der Entwicklung der Teilfürstentümer ist unübersehbar, und er hatte auch Auswirkungen auf den Wandel im Nationsbildungsprozess, der sich im Gefolge der Einwanderung fremder Siedler aus dem Westen (Stichwort »Ostsiedlung«) ergab.

Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel

Die Verzweigung des Piastengeschlechts und das Auseinanderdriften der Teilherzogtümer zwingen dazu, seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nur noch von polnischen Teilgebieten zu sprechen, kaum mehr von einem polnischen Staat. Dennoch wird man größere Einheiten erkennen können, wenn man innerhalb der polnischen Teilgebiete eine gewisse Differenz zwischen Schlesien einerseits sowie Groß- und Kleinpolen andererseits berücksichtigt; Pommern und der Deutschordensstaat in Preußen sind ohnehin separat zu behandeln. Was die Situation in Groß- und Kleinpolen von derjenigen in Schlesien unterschied, war die Ausgangsbasis für das – überall gleiche – Anliegen einer Landesentwicklung: In Schlesien siedelte die Mehrheit der slawischen Bevölkerung auf den fruchtbaren Böden, wie sie etwa um Glogau, Trebnitz, Breslau, Oppeln und Leobschütz gegeben waren. Die Siedlungsgebiete (und Schlesien selbst) waren jeweils von Wald umgeben, der als natürliche Grenze diente und nach Innen hin noch zusätzlich durch ein undurchdringliches Heckenwerk (preseka) bewehrt war. Das Siedlungswerk der Einwanderer, die nicht immer, aber doch in überwiegendem Ausmaß aus den Ländern des Römisch-deutschen Reichs kamen, konzentrierte sich zu Beginn auf die Randzonen des schon besiedelten Bereichs. Hier wurde die Kolonisation gefördert, sei es in Form des Rodens der Grenzwälder, der Urbarmachung des Bodens, des Bergbaus oder in der Anlage neuer Dörfer und Städte. Förderer dieses Landesausbaus waren die schlesischen Herzöge, aber auch die Breslauer Bischöfe, dazu die Zisterzienserklöster und ein Teil des Adels. Der frühe Beginn und die Intensität der Ostkolonisation führten dazu, dass Schlesien so etwas wie ein Paradefall der »deutschen Ostsiedlung« wurde. Davon abgesetzt vollzog sich die Kolonisation in Groß- und Kleinpolen. Auch wenn die politische Absicht, die Wirtschaftskraft der eigenen Länder zu stärken, dasselbe Motiv für den Landesausbau war wie in Schlesien, boten diese polnischen Landschaften doch ein anderes Bild. Die Bevölkerung hier war zahlreicher, und so verlief der Prozess des Landesausbaus hier von Anfang an in engerer Kooperation zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Die Übernahme deutschrechtlicher Formen und auswärtiger Methoden des Feldbaus erfolgte hier erst in der Folgezeit. Zwar gab es eine intensive Kolonisation auch in Groß- und Kleinpolen, gerade auch – wie in Schlesien – durch die Zisterzienserklöster, und es wurden auch zahlreiche neue Dörfer unter der Anleitung von Lokatoren gegründet. Lokatoren waren vom Grundherrn in Dienst genommene Unternehmer, die den Prozess der Urbarmachung und Verteilung von Siedelstellen einleiteten, für die Anwerbung von Siedlern zuständig waren und im späteren Dorf eine sozial herausgehobene Position einnahmen. Sieht man auf die Zahlen, war die Wanderung von Deutschen in die Gebiete Großpolens, Kleinpolens und Kujawiens aber erheblich schwächer ausgeprägt als in Schlesien.

Illustration der deutschen Ostsiedlung um 1300 aus dem Heidelberger Sachsenspiegel. Oben sieht man den Lokator (mit Hut), der eine Gründungsurkunde erhält und ein Dorf gründet. Unten wird er im fertiggestellten Dorf als Richter gezeigt.

Auf eine Formel gebracht, war (deutsche) Kolonisation im östlichen Europa ein Vorgang der Siedlungsintensivierung und des Landesausbaus, der auf Wanderungsbewegungen beruhte, und für den juristische Mechanismen entwickelt wurden, die im Zuge eines Rechtstransfers weitergegeben wurden (Stichwort »deutsches Recht« / lat. ius Teutonicum«). Wie für die östlich von Elbe und Saale liegenden deutsch-slawischen Mischregionen der sogenannten Germania Slavica, worunter Schlesien, Pommern, Preußen sowie Teile Brandenburgs und Sachsens zu verstehen sind, war auch für Groß- und Kleinpolen das deutsche Recht anfänglich sehr stark an deutsche Siedler gebunden. Da der Hauptzweck der Verleihung des deutschen Rechts aber darin bestand, über eine rechtliche Verbesserung der Lage der bewidmeten Bevölkerung sowohl neue Menschen in bevölkerungsarme Gegenden zu locken als auch die Produktivität der Gemeinschaften und damit ihr Steueraufkommen zu erhöhen, erkennt man leicht, warum das deutsche Recht von Anfang an dazu tendierte, sich vom deutschen Ethnikum zu lösen und letztlich eine Sache der Interaktion zwischen verschiedenen Staaten zu werden. Es war im Sinn der Initiatoren der Rechtsverleihung, also der Könige, der Bischöfe und Äbte sowie des Adels, ihre Herrschaftsbereiche zu »modernisieren«, d. h. die Abgabenerhebung durch Rationalisierung und Standardisierung attraktiver und damit letztlich effizienter zu gestalten – und das führte dazu, dass schon in den Anfängen auch slawische Siedler deutsches Recht verliehen bekamen. Entscheidend war die Initiative der einheimischen slawischen Eliten; wie groß deren Interesse war, zeigt das Beispiel Polen: Der letzte Piastenkönig, Kazimierz III. Wielki (»der Große«, reg. 1333–70), gründete im Durchschnitt fast in jedem Jahr seiner langen Regierungszeit eine Stadt. Zeitlich vorangegangen waren ihm in Schlesien Herzog Heinrich I. Brodaty (»der Bärtige«, reg. 1202–38) und die Breslauer Bischöfe – womit neben der königlichen Gewalt auch Adel und Kirche als Initiativkräfte angesprochen sind.

Für die Städte selbst und den Prozess der Urbanisierung war mit dem »deutschen Recht« zweierlei verbunden: Zum einen wurden neue Städte gegründet, wo noch keine oder keine mehr waren – also Stadtgründungen »aus wilder Wurzel« (a crudo radice); die Besiedlung von loca deserta ist eine immer wieder wörtlich zu nehmende Formulierung in zahlreichen Lokationsprivilegien. Zum anderen bekamen bestehende Siedlungen eine neue Rechtsform, wobei mehrere Wege möglich waren: Es konnte eine »Kolonie« von Fremden (»Gäste« / hospites, oft Kaufleute), innerhalb einer bestehenden Siedlung mit dem »deutschen Recht« ausgestattet werden, die dann zu einer Stadt ausgebaut wurde; oder es konnte eine Siedlung als Ganzes mithilfe des neuen Rechts umstrukturiert werden – wie im Falle Krakaus, wo die Lokation, d. h. die deutschrechtliche Umsetzung der Stadt von 1257 durch Herzog Bolesław von Krakau und Sandomir die bestehende Hauptstadt des Königreichs Polen mit einer neuen Rechtsform ausstattete. In allen Fällen wird deutlich, dass die Vergabe von »deutschem Recht«, ja: »deutsche Kolonisation« überhaupt, zwar einen Wandel der sozialen Ordnung bedeutete, indem sie relative Freiheit herstellte – in Form von klar(er) definierten Abgaben, Erbbesitz und eigener Rechtsprechung sowie kommunaler (städtischer wie ländlicher) Unabhängigkeit; dass es aber letztlich um ein Modell fürstlicher Herrschaft ging, ein Set von Prinzipien, das an lokale Bedürfnisse angepasst wurde. Das »deutsche Recht« als Herzstück der Ostsiedlung war ein Herrschaftsinstrument, das allen Herren gehorchte. Der polnische Herzog Heinrich I. von Breslau machte den Anfang, als er eine Kopie des Privilegs von Erzbischof Wichmann für dessen Stadt Magdeburg erbat und auf dieser Grundlage 1211 dann die Stadt Goldberg/Złotoryja in Schlesien gründete.

Was die sichtbaren Folgen der »deutschen Kolonisation« angeht, so fällt sofort ins Auge, dass es mehr Städte, mehr Dörfer, andere Stadtgrundrisse und neue Dorfformen im östlichen Europa gibt als zuvor. Landesausbau und Binnenkolonisation haben, unabhängig von der ethnischen Zusammensetzung, zu einer Siedlungsverdichtung geführt, aber auch zu einer Übernahme neuer Siedlungsformen. Beides ist bis heute erkennbar. So wird man unschwer ein »Städtenetz« ausmachen können, das aus fürstlicher Planung entsprungen ist, und das, wie im Idealfall Schlesien um 1300, eine gleichmäßige Verteilung der Orte mit Abständen von 15 bis 25 km aufweist. Das bedeutet nicht nur eine Vermehrung von Urbanität, sondern gleichzeitig auch eine Vergrößerung der marktwirtschaftlichen Potenz des flachen Landes: Denn dieses Netz an Städten und Märkten brachte für die Dörfer eine maximale Stadtferne von etwa 12 km mit sich – was hieß, dass die Bauern an einem Tag in die Stadt fahren konnten, um dort ihre Waren zu verkaufen und andere zu kaufen, und am selben Tag den Heimweg schafften. Das allein garantierte eine wesentlich intensivere Wirtschaftsbeziehung zwischen Stadt und Land, sowie eine Produktionsankurbelung für beide Seiten. Schaut man auf die Gestalt der Städte und Dörfer, fällt zunächst der Schachbrettgrundriss bei den deutschrechtlichen Stadtgründungen auf. Zwar liegt die Entstehung dieses wirtschaftlich günstigen und optisch eindringlichen Typs von Stadtgestaltung weiterhin im Dunklen, doch macht es dafür keine Mühe, Beispiele zu finden: Sowohl die schlesischen Hauptorte wie Breslau, Schweidnitz und Glogau, als auch die polnische Hauptstadt Krakau profitierten sichtlich von der Idee der sich überkreuzenden Marktstraßen und dem zentral gelegenen Marktplatz (dt. Ring, poln. rynek). Dabei scheint das regelmäßige Straßennetz in Lokationsstädten tatsächlich ein mitteleuropäisches Phänomen und damit Teil der »Ostkolonisation« gewesen zu sein.

Plan Breslaus von 1562, der die Anlage der Stadt und den zentralen Platz (rynek) erkennen lässt

Die mit der Ostsiedlung verknüpften Fortschritte in der Landwirtschaft, in der Forschung immer wieder als »agrartechnische Revolution« bezeichnet, und auch von den Zeitgenossen als melioratio terrae (»Verbesserung des Landes«) oder aedificatio terrae (»Aufbau des Landes«) im engeren Sinn wahrgenommen, beziehen sich sowohl auf die Intensivierung der bisherigen Anbau- und Verarbeitungsmethoden als auch auf die Einbeziehung neuen Landes in die wirtschaftliche Ausbeutung. Wirksam wurden neue Methoden, wie die Dreifelderwirtschaft, die Grundstückseinteilung mit dem Flächenmaß der Hufe (in verschiedenen Varianten) oder die Vergetreidung (also die einseitige Ausrichtung auf den Anbau von Getreide); aber auch neue Arbeitsinstrumente, wie Wendepflug, Pferdegespann oder langstielige Sense kommen auf. In der »kolonialen Phase« der Grundherrschaft wurde, etwa in Schlesien, von den Landes- und Grundherrn in großem Umfang Wald- und Ödland zur Urbarmachung angewiesen. Das führte dazu, dass auch Gebiete fern von den einheimischen polnischen Dörfern, besonders an den Abhängen der Sudeten, nun besiedelt wurden. Die neu zugewanderten deutschen (und bisweilen aus den romanischen Ländern kommenden) Siedler wurden dabei zwar in das bestehende grundherrschaftliche System eingegliedert – aber eben mit dem Unterschied, dass sie als persönlich freie Leute lebten, und zwar nach »deutschem Recht«.

Hinzu kommen Phänomene, die heute unsichtbar sind, den Zeitgenossen jedoch höchst sichtbar vor Augen standen, und die das Gefüge der Einwanderungsgesellschaft verändert haben. Man könnte beginnen mit den herrscherlichen Intentionen der slawischen Fürsten, Adeligen und Prälaten, die zur »deutschen Kolonisation« genauso dazugehören wie die Wanderung von Deutschen. Wir sehen Herzöge wie Heinrich von Breslau und Władysław von Oppeln im Schlesien des 13. Jahrhunderts, die sehr planmäßig die Stadtgründung in ihren Bereichen vorangetrieben haben; und wir sehen die drei Bischöfe Lorenz, Thomas I. und Thomas II. von Breslau im 13. Jahrhundert, die mit der herzoglichen Gewalt konkurrierten und gerade über den Landesausbau den Griff zur Landesherrschaft wagen konnten. Von keinem der Beteiligten besitzen wir ein intentionales Schriftstück, das uns über die Motive ihres Handelns aufklären würde; aber wir haben immerhin die Urkunden, darin besonders die Arengen (also allgemeine Begründungen von rechtsrelevanten Bestimmungen), in denen das Bestreben nach einer Vermehrung des allgemeinen Nutzens zum Vorschein kommt. Der Breslauer Bischof Thomas II. sprach das in seiner Urkunde für die (Bischofs-)Stadt Neisse/Nysa von 1290 auch explizit an; notabene im selben Jahr, in dem der Bischof die Landeshoheit für sein Bistumsland vom Herzog von Breslau erreichte. Und wir haben die Siedlungen selbst, deren Ausstattung und regionale Anordnung sehr wohl einen Plan erkennen lassen. An den Beispielen von Breslau, Krakau und Posen hat man neben urbanistischen Elementen wie Ring, regelmäßiges Straßennetz, Vorstädte, Stadtviertel und Parzellen auch soziale Organisationsformen wie Zünfte und kirchliche Stiftungen ermittelt. Insgesamt wird man von einer »offensiven Territorialkonzeption« (PETER JOHANEK) der Landesherren sprechen können, bei der zwar die Interessen von Herzog/König/Bischof einerseits und den Bürgern/Siedlern andererseits in dieselbe Richtung gingen, der Wille des Herrschers aber ausschlaggebend war.

Dass es bei der deutschrechtlichen Gründung (Lokation) einer Stadt sehr oft nicht um eine eigentliche Neugründung, sondern um die Erweiterung oder sogar nur rechtliche Andersstellung einer bestehenden Siedlung ging, lässt sich gut am Fallbeispiel der Lokation der schlesischen Stadt Brieg/Brzeg studieren. Der aus der Linie der schlesischen Piasten stammende Herzog Heinrich III. von Breslau übergibt im Jahr 1250 die schon bestehende Stadt Wysoki Brzeg (= »hohes Ufer«) an der Oder dem Schulzen Heinrich von Reichenbach zur Gründung nach deutschem Recht, genauer: nach dem Recht der (schlesischen) Stadt Neumarkt. Und er bestimmt weiterhin:

Damit ist die Lokation der Stadt Brieg erfolgt. Spezialisten für Siedlungsunternehmungen, Lokatoren, sorgten dafür, dass die Stadtanlage praktisch umgesetzt wurde; der Landes- bzw. Stadtherr stellte sich hinter die neu angelegte Siedlung und stattete sie mit Rechten aus, die einen wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft versprachen. Aus einer slawischen Stadt wurde so eine deutschrechtliche Gründungsstadt, deren Gründungsurkunde in seltener Ausführlichkeit praktisch alles enthält, was man sich als (Neu-)Bürger wünschen konnte. Vom westlichen Stadtrechtsmodell her bekannt war bereits, dass ein fest umrissener Raum und seine Bewohner privilegiert wurden. Selbstverständlicher Bestandteil jeder Stadtrechtsverleihung waren die persönliche Freiheit der Bürger, die Zollfreiheit und die Gewährung begrenzter Monopole. Der tatsächliche Inhalt der Privilegien wurde indessen zwischen dem Herrn und seinen Bürgern jeweils neu ausgehandelt. Sie betrafen die Verwaltung der Stadt, das Gerichtswesen und das Wirtschaftsleben. In allen diesen Bereichen schnitt Brieg gut ab; zu erwähnen sind hier nur die Faktoren, die auch für die anderen polnischen (und ostmitteleuropäischen) Lokationsstädte kennzeichnend sind:

Verliehen wird ein festes Recht, hier das Magdeburger Stadtrecht in seiner Neumarkter Variante. Damit trat die zu diesem Recht umgesetzte Stadt in eine Stadtrechtsfamilie ein. Das bedeutet, dass die letzte gerichtliche Instanz, der Oberhof, in Magdeburg lag und ein Rechtszug (im Sinne einer Anfrage vor der Urteilsfindung) dorthin erfolgen musste. In der Praxis haben die Landesherren aber immer wieder diesen Rechtszug abgeschnitten und Oberhöfe in ihren eigenen Territorien errichtet; so Neisse für das Bistumsland Breslau oder später Krakau für Polen. Das neue Recht galt für alle Bewohner, gleich welcher Herkunft (seien es Slawen oder Deutsche). Nicht eingeschlossen waren normalerweise andere Religionsgemeinschaften wie die Juden; sie bekamen gesonderte Privilegien, beispielsweise in Form von Judenschutzbriefen, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert in Großpolen und Schlesien ausgestellt wurden. Zweitens bezog das neue Recht auch das ländliche Umfeld mit ein. So entstanden Stadt-Land-Bezirke (sogenannte Weichbilder), die sich – im besonderen Falle Schlesiens – wie ein Netz über das ganze Land legten. Der Warenaustausch und damit die Wirtschaftskraft profitierten davon enorm. Drittens sollten die Freijahre der Stadt wirtschaftlich auf die Beine helfen. Dem dienten auch die zahlreichen Erlaubnisse für Fischfang, Jagd, Mühlenbau, Holzschlag und Jahrmarkt (Letzterer ausgestattet mit einem eigenen Marktrecht, dem ius fori). Die Markt-Wirtschaft zeigte sich auch im Stadtgrundriss als »Markt« oder »Ring«. Schließlich ist festzustellen, dass sich der Stadtherr rechtlich und administrativ teilweise aus dem Gemeinwesen zurückzog. Diese Gratwanderung zwischen Souveränität und wirtschaftlicher Prosperität war jedoch immer problematisch – konnte sie doch zur Emanzipation der Städte führen, was der Stadtherr natürlich vermeiden wollte. Eine Besonderheit Polens (und ganz Ostmitteleuropas) ist, dass die fürstliche Stadtherrschaft dank des deutschen Rechts nie so strangulierend war wie im Moskauer Reich, aber auch nie so weitgehend durchlöchert werden konnte wie etwa in Oberitalien oder in vielen Städten des Römischdeutschen Reichs.

Der durch Kolonisation erzeugte kulturelle Wandel führte in der Regel zu »gelungenen« Prozessen der ethnischen Vermischung. Dennoch sollte man sich vor einem allzu homogenen Bild hüten. Es gab auch kulturelle Abwehr, und zwar auf allen Ebenen: Die Geistlichen wehrten sich dagegen, dass Pfründen an eingewanderte Amtsbrüder gelangten; die Ritter fanden sich nur ungern damit ab, dass deutsche Konkurrenten nun bei Hof in privilegierte Stellungen kamen; die einheimische Bevölkerung der Städte registrierte mit Missvergnügen, wenn neue Bevölkerungsgruppen (wie Deutsche oder Juden) mit Sonderrechten ausgestattet wurden; und auch die städtischen Gremien wie Zünfte oder der Rat zeigten Tendenzen zur ethnischen Ausgrenzung – wenn auch jeweils sehr genau zu prüfen ist, aus welchen Motiven. Nationsbildung ereignete sich immer auch im Gegeneinander, und das betraf nicht zuletzt die kirchliche Hierarchie. Diese befürchtete nicht nur eine Einbuße bei der Postenverteilung, sondern auch eine Spaltung der kirchlichen Einheit. Gerade die Kirche als einzige Institution, die imstande war, eine gesamtpolnische Politik zu führen, stellte sich an die Spitze der Anhänger einer Vereinigung der polnischen Teilfürstentümer. Dies betraf insbesondere die Kirchenführung, vor allen anderen die Erzbischöfe von Gnesen. Unter ihnen tat sich Jakob świnka (reg. 1283–1314) als Verteidiger des Polentums und Kämpfer für die Unabhängigkeit der kirchlichen Strukturen in der Gnesener Provinz hervor – was ihn auch zu einem Protagonisten der Wiedervereinigung Polens machte. Der Antagonismus gegen die Fremden verursachte Maßnahmen, welche die Förderung der polnischen Sprache in der Kirche bezweckten; damit sind wohl auch die ältesten erhaltenen Texte von Predigten und Kirchenliedern in polnischer Sprache verbunden (darunter die ersten Strophen des Gesanges Bogurodzica, dt. »Gottesgebärerin«). Doch gibt es auch Kehrseiten dieser Entwicklung, wofür die Politik des Gnesener Erzbischofs świnka steht.

Das Römisch-deutsche Reich hatte seit dem 10. Jahrhundert für die polnische Kirche als Vorbild gedient, es gab kulturellen Austausch und einen Transfer von Priestern. Über eine lange Zeitstrekke hinweg war dies kaum hinterfragt worden. Die Situation veränderte sich jedoch grundlegend, als im 13. Jahrhundert eine massive Immigration von Deutschen nach Polen einsetzte. Deren Anteil machte sich nicht nur in der Landwirtschaft und den städtischen Berufen oder an den adeligen Höfen bemerkbar, sondern auch im (polnischen) Klerus. Streit kam auf, wer die begehrten kirchlichen Ämter und Pfründen besetzen sollte – und dieser Streit wurde zum Konflikt zwischen den recht verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Deutschen und der Polen. Nimmt man die Perspektive eines »national« gesonnenen Kirchenfürsten ein, dann mussten die Germanisierung Schlesiens und die unübersehbare Präsenz des deutschen Einflusses auch in den anderen polnischen Landesteilen wie eine Bedrohung aussehen.

Genau diese Sicht verkörperte der Gnesener Erzbischof świnka. Er ist einer der Hauptprotagonisten in einem ab diesem Zeitpunkt fassbaren Diskurs um die Bewertung der deutschen Immigration und der Folgen eines kulturellen Wandels in Polen. Seine Antwort war eine explizite Fremdenfeindlichkeit, die nach dem Zeugnis des zeitgenössischen Chronisten Peter von Zittau so weit ging, dass er alle Deutschen pauschal nur noch als »Hundsköpfe« abzuwerten pflegte. Doch sollte man sich von solchen Entgleisungen, wenn sie denn stimmen, nicht irreführen lassen: Mindestens dieselbe Energie wie zur Verunglimpfung der Fremden legte der Kirchenfürst bei der Förderung des Eigenen zu tage. Die Provinzialstatuten, die in seiner Amtszeit für das Erzbistum Gnesen erlassen wurden (1285), spiegeln das. Es sind Anweisungen für das Verhalten des Klerus in seinem Sprengel, und die waren geleitet von dem Bedürfnis, »die polnische Sprache zu schützen und zu fördern« (ad conservacionem et promocionem lingwe Polonice). In der Praxis hieß das, dass die Priester in ihren Gemeinden regelmäßig die zentralen Teile des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers und des Ave Maria in polnischer Sprache vermitteln sollten. Das Sündenbekenntnis sollte ebenfalls auf Polnisch geleistet werden, und die Einstellung von Lehrern und Seelsorgern sollte davon abhängig gemacht werden, dass diese Berufsgruppen die polnische Sprache beherrschten. Es ging dem Gnesener Erzbischof mit diesen klaren Anweisungen, die übrigens sein Nachfolger auf der Provinzialsynode von 1326 bestätigte, um den Stellenwert des Polnischen und die Seelsorge in der Sprache der Einheimischen. Man vergleiche die Situation in Schlesien, wo Synodalstatuten von 1406 und 1446 das Vaterunser, das Ave Maria und das Glaubensbekenntnis in deutscher und polnischer Sprache festhielten – also einen expliziten Beitrag zur Zweisprachigkeit und zur Gleichberechtigung der sprachlichen Kontexte leisteten.

Im Fall świnkas war es damit aber nicht getan. Seine Auseinandersetzung mit dem Krakauer Bischof Jan Muskata (1295–1320) zeigt, dass der Diskurs über die Förderung der autochthonen Kultur hinausging und eine Polarisierung stattgefunden hatte. So, wie man świnka zuschrieb, die Deutschen gezielt zu beleidigen, so konfrontierte man den aus Breslau stammenden Muskata mit dem Vorwurf, er würde ganz bewusst nur Deutsche in kirchliche Ämter kommen lassen, ja wolle sogar den Herzog von Krakau und das polnische Volk aus seinem Land vertreiben, um den Besitz an Ausländer weitergeben zu können. Muskata wurde 1308 seines Amtes förmlich enthoben – was zwar nicht beweist, dass die Anschuldigungen korrekt waren, aber einen Fingerzeig auf die gespannte Atmosphäre gibt, in der sich dieser Diskurs um die Bewertung von Immigration und kulturellem Wandel abspielte. Kein Zufall ist, dass sich der Konflikt gerade auf dem Feld der Sprache entspann: Erst seit Beginn des 13. Jahrhunderts begegnet in den Quellen der Begriff der lingua Polonica, und die Verschriftlichung der polnischen Sprache stieg markant an. Man wird die Genese eines polnischen Nationalbewusstseins im 13. Jahrhundert nicht verkennen können – was zu höchst unterschiedlichen Reaktionen führen konnte. Eine waren jedenfalls Verse eines Mönchs der niederschlesischen Zisterzienserabtei Leubus/Lubiąż aus dem 14. Jahrhundert, in denen er sich über kulturelle Mängel bei den Polen mokierte.

Die Zeit der späten Piasten