Der Widersacher - Michael Connelly - E-Book

Der Widersacher E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Nach seinem Zwischenstopp in der Abteilung Special Homicide hat Harry Bosch jetzt bei Offen-Ungelöst einen eher geregelten Alltag. Feste Arbeitszeiten, kein Hetzen zu Tatorten und einmal im Monat Weihnachten: Dann werden die gelben Umschläge mit DNA-Ergebnissen zu jahrzehntealten Verbrechen verteilt, die normalerweise bedeuten, dass ein Täter endlich überführt ist. Aber in diesem Fall macht der Gentest stutzig. An der Leiche der 1989 ermordeten Studentin Lily Price soll das Blut von Clayton Pell gefunden worden sein. Doch der wurde erst 1981 geboren. Kann er mit acht Jahren wirklich schon ungeschoren mit einer Vergewaltigung und einem Mord davongekommen sein? Ein Fehler im Labor könnte alle Fälle gefährden, die derzeit vor Gericht neu verhandelt werden! Dann werden Bosch und sein Partner zu einem politisch brisanten Todesfall gerufen: Der Sohn von Stadtrat Irvin Irving ist aus einem Fenster des Chateau Marmont gesprungen – oder gestoßen worden? Boschs langjähriger Erzfeind Irving verlangt, dass er die Ermittlungen übernimmt.

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Seitenzahl: 523

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Connelly

Der Widersacher

Der fünfzehnte Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Rick, Tim und Jay,

ihr wisst, was Harry Bosch weiß.

1

Bei der Einheit Offen-Ungelöst war einmal im Monat Weihnachten: immer dann, wenn Lieutenant Gail Duvall im Bereitschaftsraum ihre Runde wie Santa Claus machte und die neuen Aufträge wie Weihnachtsgeschenke an die sechs Detective-Teams der Abteilung verteilte. Die sogenannten Cold Hits, die kalten Treffer, waren die Daseinsberechtigung der Einheit. Bei Offen-Ungelöst warteten die Teams nicht darauf, zu Einsätzen und frischen Mordopfern gerufen zu werden. Sie warteten auf kalte Treffer.

Die Einheit Offen-Ungelöst stellte Ermittlungen zu ungelösten Mordfällen an, die sich in den letzten fünfzig Jahren in Los Angeles ereignet hatten. Sie bestand aus zwölf Detectives, einer Sekretärin, dem Chef des Bereitschaftsraums, kurz »der Spieß« genannt, und dem Lieutenant. Fünf der Teams aus je zwei Detectives teilten die fünfzig Jahre so unter sich auf, dass jedes Zweierteam für jeweils zehn willkürlich ausgewählte Jahrgänge zuständig war. Ihre Aufgabe bestand darin, alle ungelösten Mordfälle der ihnen zugeteilten Jahrgänge aus dem Archiv herauszusuchen, auszuwerten und lange aufbewahrte und in Vergessenheit geratene Beweise einzureichen, damit sie mithilfe modernster Techniken einer erneuten Analyse unterzogen werden konnten. Die DNA-Proben wurden vom neuen Bezirkslabor in der Cal State untersucht. Stimmte die DNA-Probe eines kalten Falls mit der DNA eines Individuums überein, das in einer der nationalen DNA-Datenbanken gespeichert war, bezeichnete man das als kalten Treffer. Am Ende eines jeden Monats verschickte das Labor per Post seine Ergebnisse. Wenn diese einen oder zwei Tage später im PAB, dem Police Administration Building in Downtown Los Angeles eintrafen, ging am nächsten Morgen – in der Regel spätestens um acht Uhr – die Tür von Lieutenant Duvalls Büro auf, und sie kam mit den Umschlägen in den Bereitschaftsraum. Die Trefferbenachrichtigungen wurden immer einzeln und in gelben Umschlägen versandt, und normalerweise wurden sie denjenigen Detective-Teams ausgehändigt, die die jeweiligen DNA-Proben an das Labor eingeschickt hatten. Manchmal gab es jedoch so viele kalte Treffer, dass ein Team nicht alle bearbeiten konnte. Manchmal waren auch die entsprechenden Detectives im Gericht oder krank oder im Urlaub. Und manchmal waren kalte Treffer darunter, die ein Höchstmaß an Können und Erfahrung erforderten. In diesen Fällen kam das sechste Team zum Einsatz. Es bestand aus den Detectives Harry Bosch und David Chu. Sie waren Springer. Sie übernahmen überzählige Fälle und Sonderermittlungen.

Am 3. Oktober, einem Montagmorgen, kam Lieutenant Gail Duvall mit nur drei gelben Umschlägen in den Bereitschaftsraum. Fast hätte Harry Bosch angesichts des dürftigen Ertrags der DNA-Treffer laut aufgestöhnt. Er wusste, dass bei so wenigen Umschlägen kein neuer Fall für ihn abfiele.

Nach einem zweijährigen Intermezzo bei einer Sondereinheit für Tötungsdelikte war Bosch inzwischen fast wieder ein Jahr bei Offen-Ungelöst. Da es sich dabei bereits um seine zweite Dienstzeit bei der Einheit handelte, hatte er rasch wieder in ihren Arbeitsrhythmus zurückgefunden. Sie waren nicht ständig in Außeneinsätzen unterwegs. Sie mussten nicht loshetzen, um an einen Tatort zu gelangen. Es gab nicht einmal Tatorte. Nur Akten- und Archivboxen. Die Arbeitszeit war im Großen und Ganzen streng auf neun bis vier begrenzt, mit einer Einschränkung: Die Arbeit war mit mehr Reisen verbunden als die der anderen Ermittler. Mörder, die ungeschoren davongekommen waren – oder dies zumindest glaubten –, neigten nicht dazu, in der Nähe des Schauplatzes ihrer Verbrechen zu bleiben. Sie wechselten in der Regel den Wohnsitz, und oft mussten die OU-Ermittler auf Reisen gehen, um sie zu finden.

Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsrhythmus war das allmonatliche Warten auf das Eintreffen der gelben Umschläge. Manchmal schlief Bosch in den Nächten vor diesem speziellen Weihnachten schlecht. Er nahm in der ersten Woche eines Monats nie frei und kam nie zu spät zum Dienst, wenn die Aussicht bestand, dass die gelben Umschläge eingingen. Sogar seiner halbwüchsigen Tochter war dieser von gespannter Erwartung bestimmte Monatszyklus aufgefallen, und sie hatte ihn mit dem Menstruationszyklus verglichen. Bosch fand das überhaupt nicht witzig, es war ihm eher peinlich, als sie es erwähnte.

Und jetzt spürte er beim Anblick der wenigen Umschläge in Lieutenant Duvalls Hand die Enttäuschung wie einen festen Gegenstand in seiner Kehle. Er wollte einen neuen Fall. Er brauchte einen neuen Fall. Er musste den Gesichtsausdruck des Mörders sehen, wenn er an seine Tür klopfte und seine Dienstmarke zückte, die personifizierte Gerechtigkeit, die nach all den Jahren völlig unerwartet doch noch auftauchte. Danach konnte man süchtig werden, und im Moment hielt es Bosch kaum mehr aus ohne diesen Kick.

Den ersten Umschlag gab Lieutenant Duvall Rick Jackson. Er und sein Partner Rich Bengtson waren tüchtige Ermittler, die seit der Gründung der Einheit dabei waren. Daran gab es für Bosch nichts auszusetzen. Der nächste Umschlag wurde auf den leeren Schreibtisch gelegt, der Teddy Baker gehörte. Sie und ihr Partner Greg Kehoe waren gerade auf dem Rückweg von einer Festnahme in Tampa, Florida – ein Pilot, der aufgrund seiner Fingerabdrücke mit einer 1991 in Marina del Rey strangulierten Flugbegleiterin in Verbindung gebracht worden war.

Bosch wollte Lieutenant Duvall schon vorschlagen, den Umschlag einem anderen Team, nämlich seinem, zu geben, weil Baker und Kehoe mit dem Marina-Fall bereits ausgelastet seien. Doch dann sah Gail Duvall ihn an und winkte ihn mit dem letzten Umschlag in ihr Büro.

»Könnten Sie und Chu kurz zu mir kommen? Und Sie auch, Tim?«

Tim Marcia war der Spieß der Einheit, ein 3er-Detective, der hauptsächlich Supervisions- und Organisationsaufgaben übernahm. Er betreute die jungen Detectives und passte auf, dass die Alten wie Jackson und Bosch nicht nachlässig wurden.

Bosch war bereits aufgestanden, bevor Duvall den Satz ganz zu Ende gesagt hatte. Gefolgt von Chu und Marcia, ging er in ihr Büro.

»Schließen Sie die Tür«, sagte Duvall. »Setzen Sie sich.«

Duvall hatte ein Eckbüro mit Fenstern, die sich auf die Spring Street und das Gebäude der Los Angeles Times öffneten. Aus Angst, sie könnte von den Reportern in den Redaktionsräumen auf der anderen Straßenseite beobachtet werden, ließ sie die Jalousien immer unten. Deshalb wirkte ihr Büro düster und höhlenartig. Bosch und Chu nahmen auf den zwei Stühlen vor Duvalls Schreibtisch Platz. Marcia, der das Büro als Letzter betrat, lehnte sich an einen alten Beweismittelsafe.

»Ich möchte, dass Sie beide diesen Fall übernehmen«, erklärte Duvall und reichte Bosch den gelben Umschlag. »Etwas daran ist eigenartig, und deshalb möchte ich, dass Sie möglichst nicht groß darüber reden, solange Sie nicht wissen, was genau Sache ist. Halten Sie Tim auf dem Laufenden, aber ansonsten behalten Sie das Ganze erst mal für sich.«

Der Umschlag war bereits geöffnet worden. Chu beugte sich zu Bosch herüber, als dieser die Lasche hochklappte und den Formularbogen herauszog. Darauf standen die Fallnummer der DNA-Probe sowie Name, Alter, letzter bekannter Wohnsitz und Vorstrafen der Person, mit deren genetischem Profil sie übereinstimmte.

Als Erstes fiel Bosch auf, dass die Fallnummer mit 89 begann. Das hieß, es war ein Fall aus dem Jahr 1989. Weitere Einzelheiten der Straftat waren nicht angegeben, nur die Jahreszahl. Bosch wusste, dass für Fälle aus diesem Jahr eigentlich Ross Shuler und Adriana Dolan zuständig waren. 1989 – er war damals als Mordermittler bei der Sondereinheit gewesen – war ein arbeitsreiches Jahr gewesen, und er hatte sich erst vor Kurzem mit einem seiner eigenen ungelösten Fälle aus diesem Jahr befasst. Shuler und Dolan hießen in der Einheit die »Kids«. Sie waren junge, engagierte und gut ausgebildete Ermittler, hatten aber zusammen nicht einmal acht Jahre Erfahrung mit Mordfällen. Wenn also an diesem kalten Treffer irgendetwas eigenartig war, war es kein Wunder, dass ihn Lieutenant Duvall lieber Bosch gab. Bosch hatte in mehr Mordfällen ermittelt als alle anderen in der Abteilung zusammen. Das heißt, wenn man Jackson nicht mitzählte. Er war schon ewig dabei.

Als Nächstes warf Bosch einen Blick auf den Namen auf dem Formular: Clayton S. Pell. Er sagte ihm nichts. Pells Vorstrafenregister beinhaltete zahlreiche Festnahmen und drei Verurteilungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung. Wegen der Vergewaltigung hatte er sechs Jahre im Gefängnis gesessen und war vor achtzehn Monaten entlassen worden. Seine Bewährungsfrist betrug fünf Jahre, und die Angaben zu seinem letzten bekannten Wohnsitz stammten vom staatlichen Bewährungsausschuss. Er lebte in einem Rehabilitationszentrum für Sexualstraftäter in Panorama City.

Aufgrund von Pells Vorstrafenregister ging Bosch davon aus, dass es sich bei dem Fall von 1989 um einen Sexualmord handelte. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Er würde sich Clayton Pell schnappen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen.

»Sehen Sie es?«, fragte Lieutenant Duvall.

»Ob ich was sehe?«, fragte Bosch. »Dass es ein Sexualmord war? Wie es aussieht, ist dieser Kerl ein typischer Sexualver…«

»Das Geburtsdatum«, unterbrach ihn Duvall.

Bosch schaute auf das Formular. Auch Chu beugte sich vor.

»Ach ja, hier.« Bosch deutete darauf. »9. November 1981. Wieso? Was soll damit …«

»Er ist zu jung«, sagte Chu.

Bosch sah kurz seinen Partner an und dann wieder auf das Formular. Dann schaltete er. Clayton Pell war 1981 geboren. Er war zum Zeitpunkt des Mordes erst acht Jahre alt gewesen.

»Genau«, sagte Duvall. »Deshalb möchte ich, dass Sie sich von Shuler und Dolan die Akte und die Box besorgen und in aller Stille herausfinden, womit wir es hier zu tun haben. Ich hoffe nur, die beiden haben nicht zwei Fälle miteinander verwechselt und Genproben von einem jüngeren Fall versehentlich diesem alten zugeordnet. Wie Sie gerade sagen wollten, ist dieser Kerl eindeutig ein typischer Sextäter, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er schon mit acht einen Mord begangen hat und ungestraft davongekommen ist. Irgendetwas stimmt hier eindeutig nicht. Finden Sie heraus, was das ist, und bevor Sie weitere Schritte unternehmen, kommen Sie erst einmal zu mir. Wenn hier jemand Mist gebaut hat und sich alles wieder ausbügeln lässt, brauchen wir uns wegen der Dienstaufsicht oder sonst jemandem keine Gedanken zu machen. Dann bleibt das Ganze unter uns.«

Auf den ersten Blick schien es, als wollte sie Shuler und Dolan die Dienstaufsicht vom Hals halten, aber Bosch ließ sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auch selbst abzusichern versuchte. Die Aufstiegsmöglichkeiten eines Lieutenant, in dessen Einheit es bei der Beweismittelhandhabung zu einer schweren Panne gekommen war, waren nicht rosig.

»Für welche Jahrgänge sind Shuler und Dolan sonst noch zuständig?«, erkundigte sich Bosch.

»Von den aktuelleren haben sie siebenundneunzig und zweitausend«, sagte Marcia. »Die Beweise könnten also von einem ihrer Fälle aus diesen beiden Jahrgängen stammen.«

Bosch nickte. Er malte es sich bereits aus: die Verschmutzung des genetischen Beweismaterials eines Falls durch das eines anderen, verursacht durch Achtlosigkeit. Das Endergebnis wären zwei kontaminierte Fälle und ein Skandal, der an jedem haften bliebe, der irgendwie damit in Berührung gekommen war.

»Was sollen wir Shuler und Dolan sagen?«, fragte Chu. »Mit welcher Begründung schnappen wir ihnen den Fall weg?«

Duvall blickte zu Marcia hoch.

»Sie haben demnächst einen Prozess«, sagte er in Beantwortung ihrer unausgesprochenen Frage. »Am Donnerstag beginnt die Auswahl der Geschworenen.«

Duvall nickte. »Ich werde ihnen sagen, dass ich ihnen dafür den Rücken freihalten möchte.«

»Und wenn sie den Fall trotzdem wollen?«, fragte Chu.

»Was ist, wenn sie sagen, sie bekommen es schon hin?«

»Dann verklickere ich es ihnen halt anders«, sagte Duvall.

»Sonst noch Fragen, Detectives?«

Bosch sah seine Vorgesetzte an.

»Wir werfen gern einen Blick auf die Sache und sehen, was es damit auf sich hat, Lieutenant. Aber gegen andere Cops ermittle ich nicht.«

»Kein Problem. Verlangt auch niemand von Ihnen. Gehen Sie der Sache nach und sagen Sie mir, wie die DNA einem Achtjährigen zugeordnet werden konnte, mehr will ich nicht von Ihnen.«

Bosch nickte und machte sich daran, aufzustehen.

»Und denken Sie vor allem an eines«, fügte Duvall hinzu.

»Bevor Sie wegen etwas, was Sie rausgefunden haben, konkrete Schritte unternehmen, reden Sie erst mit mir.«

»Alles klar«, sagte Bosch.

Er, Chu und Marcia gingen zur Tür.

Aber Duvall rief Bosch zurück. »Harry, hätten Sie noch einen Moment Zeit?«

Bosch sah Chu an und zog die Augenbrauen hoch. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Nachdem Chu und Marcia das Büro verlassen hatten, kam Lieutenant Duvall hinter ihrem Schreibtisch hervor und schloss die Tür. Sie blieb stehen und fuhr im selben geschäftsmäßigen Ton fort:

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr Antrag auf Verlängerung Ihrer Dienstzeit durchgegangen ist. Sie haben vier Jahre bekommen, rückwirkend.«

Bosch sah sie an und begann sofort, im Kopf nachzurechnen. Schließlich nickte er. Er hatte das Maximum an Dienstjahren bis zu seiner endgültigen Pensionierung beantragt – fünf Jahre, nicht rückwirkend –, aber er würde nehmen, was sie ihm gaben. Viel weiter als über die Highschool hinaus brächte es ihn nicht, aber es war besser als nichts.

»Also, ich freue mich«, fügte Duvall hinzu. »Damit haben Sie noch neununddreißig Monate mehr bei uns.«

Der Ton, in dem sie das sagte, verriet Bosch, dass sie seinen Gesichtsausdruck als Enttäuschung gedeutet hatte.

»Nein«, sagte er deshalb rasch. »Ich freue mich auch. Ich habe nur kurz nachgerechnet, wie weit mich das mit meiner Tochter bringt. Nein, sehr gut. Ich bin wirklich froh darüber.«

»Na, dann gut.«

Das war ihre Art, zu sagen, dass die Besprechung zu Ende war. Bosch dankte ihr und verließ das Büro. Als er in den Bereitschaftsraum zurückkehrte, ließ er den Blick über die Schreibtische, Trennwände und Aktenschränke wandern. Er wusste, dass das sein Zuhause war und dass er – vorerst – bleiben konnte.

2

Die Einheit Offen-Ungelöst teilte sich das Nutzungsrecht für die zwei Besprechungszimmer im vierten Stock mit allen anderen Einheiten der Robbery-Homicide Division, der RHD. Normalerweise mussten die Detectives eins der Zimmer im Vorfeld reservieren, indem sie sich in einem Klemmbrett eintrugen, das an der Tür hing. Aber so früh an einem Montagmorgen waren beide Räume frei, und Bosch, Chu, Shuler und Dolan beschlagnahmten kurzerhand den kleineren der beiden.

Sie hatten die Mordakte und die kleine Beweismittel-Archivbox des Falls aus dem Jahr 1989 dabei.

»So«, begann Bosch, als alle saßen. »Ihr habt also nichts dagegen, wenn wir diesen Fall übernehmen? Wenn doch, können wir noch mal zu Duvall gehen und ihr sagen, dass ihr ihn unbedingt haben wollt.«

»Nein, schon okay«, sagte Shuler. »Wir sind mit dem Prozess voll ausgelastet, deshalb ist es auf jeden Fall besser so. Es ist unser erster Fall bei der Einheit, und wir wollen ihn unbedingt bis zum Schuldspruch begleiten.«

Bosch nickte und schlug beiläufig die Akte auf. »Könntet ihr uns dann vielleicht kurz sagen, worum es hier geht?«

Shuler nickte seiner Partnerin Dolan zu und gab den Kollegen dann eine Zusammenfassung des Falls aus dem Jahr 1989. Bosch blätterte währenddessen den Ordner durch.

»Wir haben ein neunzehnjähriges Opfer, Lily Price. Studentin aus Ohio, grundanständiges Mädchen. Sie wurde in Venice auf offener Straße entführt, als sie an einem Sonntagnachmittag vom Strand nach Hause ging. Der Ort der Entführung konnte schon damals auf die Gegend um die Kreuzung von Speedway und Voyage Street eingegrenzt werden. Price wohnte zusammen mit drei anderen Mädchen in der Voyage. Eine ihrer Mitbewohnerinnen war mit ihr am Strand gewesen, die zwei anderen waren in der Wohnung. Sie verschwand irgendwo zwischen diesen beiden Stellen. Sie hat dem anderen Mädchen gesagt, sie wolle nur kurz nach Hause, um dort auf die Toilette zu gehen, ist aber nie dort angekommen.«

»Sie hat ihr Handtuch und einen Walkman am Strand gelassen«, fuhr Shuler fort. »Und ihr Sonnenschutzmittel. Deshalb war klar, dass sie zurückkommen wollte. Ist sie aber nicht. Und laut den Aussagen ihrer beiden Mitbewohnerinnen, die im fraglichen Zeitraum in der Wohnung waren, ist sie auch dort nicht aufgetaucht.«

»Ihre Leiche wurde am nächsten Morgen auf den Felsen unten am Cut gefunden«, führte Dolan weiter aus. »Sie war nackt, und sie war vergewaltigt und anschließend stranguliert worden. Ihre Kleider wurden nie gefunden. Auch der Strick, mit dem sie stranguliert worden war, ist nie aufgetaucht.«

Bosch blätterte durch mehrere Klarsichthüllen mit verblassten Polaroidaufnahmen vom Tatort. Beim Anblick des Opfers konnte er nicht anders, als an seine Tochter zu denken, die mit fünfzehn noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ihn der Anblick solcher Fotos angestachelt und das Feuer in ihm entfacht hatte, das er brauchte, um vollen Einsatz zu bringen. Aber seit Maddie bei ihm lebte, fiel es ihm immer schwerer, sich Opfer anzusehen.

Es hielt ihn jedoch nicht davon ob, das Feuer zu schüren.

»Woher kommt die DNA?«, fragte er. »Sperma?«

»Nein, entweder hat der Mörder ein Kondom benutzt, oder er hat nicht ejakuliert«, sagte Dolan. »Kein Sperma.«

»Sie stammt von einem kleinen Blutfleck«, sagte Shuler. »Er befand sich am Hals des Opfers, direkt unter dem rechten Ohr. In diesem Bereich hatte sie aber keinerlei Verletzungen. Deshalb haben sie damals angenommen, dass das Blut vom Mörder stammte, dass er sich verletzt oder vorher schon geblutet hatte. Es war nur ein kleiner Tropfen. Eigentlich mehr ein Schmierer. Sie wurde mit einem Strick stranguliert. Wenn sie von hinten erdrosselt wurde, könnte seine Hand an dieser Stelle ihres Halses gewesen sein. Und wenn er eine Verletzung an der Hand hatte …«

»Eine Übertragungsablagerung«, sagte Chu.

»Genau.«

Bosch fand das Polaroidfoto, auf dem der Hals des Opfers und der Blutfleck zu sehen waren.

Die Farben waren im Lauf der Zeit so stark verblasst, dass das Blut kaum mehr zu erkennen war. Um die Größe des Flecks auf dem Foto bestimmen zu können, war ein Lineal auf den Hals des Mädchens gelegt worden. Er war etwa zwei Zentimeter groß.

»Und diese Blutspur wurde abgenommen und aufbewahrt«, sagte Bosch. Diese Feststellung sollte weitere Erklärungen nach sich ziehen.

»Ja«, sagte Shuler. »Weil es ein Fleck war, wurde es abgetupft. Damals konnte allerdings nur die Blutgruppe bestimmt werden. Null, Rhesus positiv. Der Tupfer wurde in einem Röhrchen aufbewahrt, das wir in der Asservatenkammer gefunden haben, als wir den Fall übernommen haben. Das Blut ist inzwischen zu Pulver getrocknet.«

Shuler tippte mit einem Stift auf den Deckel der Archivbox. In diesem Moment begann das Handy in Boschs Hosentasche zu vibrieren. Normalerweise hätte er den Anruf auf die Mailbox gehen lassen, aber weil seine Tochter allein zu Hause war – sie war krank geworden und hatte nicht zur Schule gehen können –, wollte er sichergehen, dass der Anruf nicht von ihr kam. Er holte das Handy aus der Tasche und schaute auf das Display.

Es war nicht seine Tochter. Es war Kizmin Rider, eine ehemalige Kollegin, die inzwischen als Lieutenant im Büro des Polizeichefs arbeitete. Er beschloss, sie nach der Besprechung zurückzurufen. Sie trafen sich einmal im Monat zum Mittagessen, und er nahm an, dass sie heute Zeit hatte oder anrief, weil sie gehört hatte, dass sein Antrag auf Verlängerung seiner Dienstzeit bewilligt worden war. Er steckte das Handy wieder ein.

»Habt ihr das Röhrchen geöffnet?«, fragte er.

»Natürlich nicht«, sagte Shuler.

»Okay, dann habt ihr also das Röhrchen mit dem Tupfer und dem, was von dem Blut noch übrig war, vor vier Monaten an das Bezirkslabor eingeschickt, richtig?«

»Ja«, bestätigte Shuler.

Bosch blätterte im Mordbuch zum Obduktionsbefund. Er tat so, als interessierte er sich mehr für das, was er sah, als für das, was er sagte.

»Habt ihr damals sonst noch was an das Labor eingeschickt?«

»Vom Price-Fall?«, fragte Dolan. »Nein, das war das einzige biologische Beweisstück, das es damals gab.«

Bosch nickte in der Hoffnung, sie würde weitersprechen.

»Auch sonst ist bei den damaligen Ermittlungen nichts herausgekommen«, fuhr Dolan fort. »Sie haben keinen Verdächtigen gefunden. Auf wen sind sie bei dem kalten Treffer gestoßen?«

»Dazu kommen wir gleich«, sagte Bosch. »Was ich damit gemeint habe, ist, habt ihr auch von den anderen Fällen, die ihr zu der Zeit bearbeitet habt, irgendwas an das Labor geschickt? Oder war das alles?«

»Nein, das war alles.« Shuler verengte argwöhnisch die Augen zu Schlitzen. »Entschuldige mal, aber was soll das eigentlich, Harry?«

Bosch fasste in die Innentasche seines Sakkos und zog das Formular heraus. Er schob es Shuler über den Tisch hinweg zu.

»Der Treffer deutet auf einen Sexualtäter hin, der eigentlich recht vielversprechend scheint – bis auf eins.«

Shuler entfaltete das Formular, und er und Dolan rückten näher zusammen, um es gemeinsam zu lesen; so, wie Bosch und Chu das vorher getan hatten.

»Wieso?«, fragte Dolan, der das Geburtsdatum noch nicht aufgefallen war. »Der Typ passt doch super.«

»Heute wäre er perfekt«, erwiderte Bosch. »Aber damals war er erst acht Jahre alt.«

»Willst du mich verarschen?«, fragte Dolan.

»Das kann doch wohl nicht sein?«, fügte Shuler hinzu.

Dolan zog das Formular zu sich hin, um es sich genauer anzusehen und das Geburtsdatum zu überprüfen. Shuler lehnte sich zurück und sah Bosch misstrauisch an.

»Ihr glaubt also, wir haben Scheiße gebaut und zwei Fälle miteinander vermengt?«

»Nein«, sagte Bosch. »Duvall hat uns zwar gebeten, dieser Möglichkeit nachzugehen, aber wie ich die Sache sehe, ist auf unserer Seite alles korrekt gelaufen.«

»Dann muss es im Labor passiert sein«, sagte Shuler. »Ist dir eigentlich klar, dass künftig jeder Strafverteidiger im County die DNA-Analysen, die von dort kommen, anzweifeln kann, wenn sie dort Scheiße gebaut haben?«

»Ja, kann ich mir gut vorstellen«, brummte Bosch. »Deshalb solltet ihr die ganze Geschichte erst mal für euch behalten, bis wir wissen, was tatsächlich passiert ist. Es gibt nämlich auch andere Möglichkeiten.«

Dolan hielt das Formular hoch. »Und was ist, wenn niemand gepfuscht hat? Wenn das Blut an dem toten Mädchen tatsächlich von diesem Pimpf stammt?«

»Ein Achtjähriger, der auf offener Straße eine Neunzehnjährige entführt und sie dann vergewaltigt, stranguliert und ihre Leiche vier Straßen weiter entsorgt?« Dieser Einwand kam von Chu. »Vollkommen ausgeschlossen.«

»Vielleicht war er nur dabei«, sagte Dolan. »Vielleicht war es der Auslöser, dass er ein Sextäter geworden ist. Ihr habt ja sein Vorstrafenregister gesehen. Der Typ passt hervorragend ins Bild – bis auf sein Alter.«

Bosch nickte.

»Vielleicht. Aber wie gesagt, es gibt auch andere Möglichkeiten. Noch besteht kein Grund zur Panik.«

Sein Handy begann erneut zu vibrieren. Er zog es heraus und sah, dass es wieder Kiz Rider war. Zwei Anrufe in fünf Minuten – er beschloss, lieber dranzugehen. Das war keine Verabredung zum Mittagessen.

»Ich gehe mal kurz nach draußen.«

Bosch stand auf und nahm den Anruf auf dem Flur entgegen.

»Kiz?«

»Harry, ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen.«

»Ich bin gerade in einer Besprechung. Was gibt es so Wichtiges?«

»Du wirst gleich ins OCP gerufen werden.«

»Ich soll in den Zehnten hochkommen?«

Im neuen Polizeigebäude war das Office of the Chief of Police, das Büro des Polizeichefs, im zehnten Stock, komplett mit eigener Dachterrasse und Blick auf das Civic Center.

»Nein, zum Sunset Strip. Sie werden dich an einen Tatort schicken. Du sollst einen Fall übernehmen – über den du nicht begeistert sein wirst.«

»Also, Lieutenant, ich habe erst heute Morgen einen Fall bekommen. Da brauche ich nicht noch einen.«

Er dachte, wenn er sie mit ihrem offiziellen Titel ansprach, brächte das seine Skepsis besser zum Ausdruck. Vorladungen und Aufträge aus dem OCP waren immer mit Vorsicht zu genießen – da war immer Politik im Spiel, und man konnte schnell unter die Räder geraten.

»Er wird dir aber keine Wahl lassen, Harry.«

Mit »er« war der Polizeichef gemeint.

»Worum geht es?«

»Einen Selbstmörder im Chateau Marmont.«

»Wer?«

»Harry, ich finde, du solltest lieber auf den Anruf des Chief warten. Ich wollte dich nur …«

»Wer ist es, Kiz? Wenn du etwas über mich weißt, dann, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann, bis es kein Geheimnis mehr ist.«

Sie zögerte, bevor sie antwortete.

»Soviel ich mitbekommen habe, ist nicht viel von ihm übrig, was noch erkennbar wäre – er ist aus dem siebten Stock gesprungen und auf Beton gelandet. Aber der vorläufigen Identifizierung zufolge ist es George Thomas Irving. Alter sechsundvierzig, wohnhaft in …«

»Irving wie Irvin Irving? Wie Stadtrat Irvin Irving?«

Bosch wusste, dass ein Fall, in den sich das OCP so schnell einschaltete, einen politischen Beigeschmack haben musste. Und der Name Irving machte diesen Zusammenhang ersichtlich.

»Ja, genau der«, sagte Rider. »Die Geißel des LAPD im Allgemeinen und eines gewissen Detective Harry Bosch im Besonderen. Es ist sein Sohn, und Stadtrat Irving hat den Polizeichef angerufen und darauf gedrungen, dass du die Ermittlungen leitest. Und der Chief meinte, kein Problem.«

Bosch war baff.

»Warum will Irving ausgerechnet mich haben? Schon als er noch bei der Polizei war, hat er die ganze Zeit versucht, mich loszuwerden, und das hat sich auch nicht geändert, seit er in der Politik ist.«

»Das weiß ich leider nicht, Harry. Ich weiß nur, dass er dich dafür haben will.«

»Wann ist das Ganze reingegangen?«

»Der Anruf ist heute Morgen gegen Viertel vor sechs erfolgt. Aber wann es genau passiert ist, ist meines Wissens noch unklar.«

Bosch sah auf die Uhr. Der Fall war schon über drei Stunden alt, ein bisschen spät, um mit den Ermittlungen in einem Todesfall zu beginnen. Das war ein schweres Handicap.

»Was gibt es überhaupt noch groß zu ermitteln?«, fragte er.

»Hast du nicht gesagt, er ist gesprungen?«

»Ursprünglich war Hollywood dafür zuständig, und sie wollten es als Selbstmord abhaken. Aber dann hat sich der Stadtrat eingeschaltet, weil er sich damit wahrscheinlich nicht so einfach zufriedengeben will. Deshalb will der Chief dich haben.«

»Ist denn dem Chief klar, dass ich mit Irving schon den einen oder anderen Strauß ausge…«

»Ja, weiß er. Ihm ist aber auch klar, dass er jede Stimme braucht, die er im Stadtrat ergattern kann, wenn wir jemals wieder Überstunden für die Polizei genehmigt bekommen wollen.«

Bosch sah seine Vorgesetzte, Lieutenant Duvall, aus dem OU-Bereitschaftsraum in den Gang kommen. Mit einer »Da sind Sie ja!«-Geste steuerte sie auf ihn zu.

»Sieht ganz so aus, als würde ich gleich die offizielle Benachrichtigung erhalten«, sagte Bosch ins Telefon. »Danke für die Warnung, Kiz. Leuchtet mir zwar alles nicht so recht ein, aber trotzdem danke. Wenn du sonst was hörst, gib mir Bescheid.«

»Harry, sei bloß vorsichtig. Irving ist alt, aber er hat immer noch Zähne.«

»Ich weiß.«

»Lass von dir hören.«

»Mache ich.«

Bosch klappte sein Handy zu, als Duvall ihn erreichte und ihm ein Blatt Papier hinhielt.

»Tut mir leid, Harry, jetzt ist doch alles anders gekommen. Sie und Chu sollen zu dieser Adresse hier fahren und einen aktuellen Fall übernehmen.«

»Wie bitte?«

Bosch sah auf die Adresse. Es war das Chateau Marmont.

»Anweisung vom Büro des Polizeichefs. Sie und Chu sollen nach Code drei weitermachen und in diesem Fall ermitteln. Mehr weiß ich nicht. Und dass der Chief persönlich dort ist und auf Sie wartet.«

»Und was ist mit dem Fall, den Sie uns gerade übergeben haben?«

»Den legen Sie erst mal auf Eis. Ich möchte, dass Sie sich auch darum kümmern, aber nur, wenn es sich irgendwie machen lässt.«

Sie deutete auf das Blatt Papier in seiner Hand.

»Das hat Vorrang.«

»Wirklich, Lieutenant?«

»Ja, natürlich. Der Chief hat mich persönlich angerufen, und er wird auch Sie noch anrufen. Sagen Sie also Chu Bescheid und fahren Sie gleich los.«

3

Wie erwartet, überschüttete ihn Chu mit Fragen, sobald sie auf dem Freeway 101 waren. Inzwischen waren sie fast zwei Jahre Partner, und Bosch hatte sich daran gewöhnt, dass sich Chus Unsicherheit in einem nicht abreißenden Strom von Fragen, Kommentaren und Mutmaßungen Ausdruck verschaffte. Normalerweise redete er dabei aber über etwas ganz anderes als über das, was ihn wirklich beschäftigte. Manchmal meinte es Bosch gut mit ihm und erzählte ihm, was er wissen wollte. Manchmal ließ er seinen jungen Partner aber auch so lange schmoren, bis dieser es nicht mehr aushielt.

»Harry, was ist hier eigentlich los? Wir haben heute Morgen einen neuen Fall bekommen, und jetzt heißt es plötzlich, wir haben noch einen?«

»Das LAPD ist eine paramilitärische Organisation, Chu. Das heißt, wenn dir jemand Hochrangigeres sagt, dass du etwas tun sollst, tust du es. Dieser Befehl kommt vom Chief, und deshalb führen wir ihn aus. Das ist, was los ist. Irgendwann können wir uns dann auch wieder um den kalten Treffer kümmern. Aber vorerst haben wir einen aktuellen Fall, und der hat Vorrang.«

»Das hört sich ganz nach irgendwelchem politischen Schmu an.«

»High Jingo eben.«

»Was ist das?«

»Die Vermengung von Polizei und Politik. Wir sollen die genaueren Umstände des Tods von Stadtrat Irvin Irvings Sohn aufklären. Du kennst doch Irving, oder?«

»Sicher. Er war Deputy Chief, als ich angefangen habe. Dann hat er aber den Polizeidienst quittiert und für den Stadtrat kandidiert.«

»Das hat er aber nicht freiwillig getan. Er wurde gegangen. Und dann hat er sich als Stadtrat aufstellen lassen, um sich für seinen Rauswurf an der Polizei rächen zu können. Irving geht es nur um eins: dem LAPD das Leben so schwer wie möglich zu machen. Außerdem solltest du vielleicht wissen, dass er damals vor allem mich auf dem Kieker hatte. Wir sind ein paarmal aneinandergeraten, könnte man sagen.«

»Warum will er dann, dass du die Ermittlungen zum Tod seines Sohns leitest?«

»Das werden wir gleich erfahren.«

»Was hat dir Duvall über den Fall erzählt? War es Selbstmord?«

»Erzählt hat sie mir gar nichts. Sie hat mir nur die Adresse gegeben.«

Er beschloss, Chu nicht zu erzählen, was er von Kiz Rider über den Fall wusste. Sonst hätte er ihm verraten, dass er im Büro des Polizeichefs eine Quelle hatte. Er wollte noch nicht, dass Chu das wusste; aus diesem Grund hatte er bisher auch seine monatlichen Mittagessen mit Kiz vor ihm geheim gehalten.

»Hört sich alles ein bisschen dubios an.«

Boschs Handy begann zu summen, und er schaute auf das Display. Die Rufnummer war unterdrückt, aber er ging dran. Es war der Polizeichef. Bosch kannte ihn schon lange und hatte sogar bei einigen Ermittlungsverfahren mit ihm zusammengearbeitet. Der Chief hatte sich von unten hochgedient und war unter anderem lange als Ermittler und Supervisor bei der Abteilung Diebstahl und Tötungsdelikte tätig gewesen. Er war erst zwei Jahre Polizeichef und hatte die Truppe noch auf seiner Seite. Aber die Streichung bezahlter Überstunden und andere budgetbedingte Maßnahmen, wie der kontinuierliche Personalabbau, sorgten an der Basis für Unmut. Der Chief war an einem kritischen Punkt. Wenn er den Rückhalt der Truppe verlor, verlor er die Chance, der Polizei seinen Stempel aufzudrücken.

»Harry, hier Marty. Wo bist du gerade?«

»Auf dem Eins-null-eins. Wir sind sofort los, als ich es erfahren habe.«

»Ich will das unbedingt geklärt haben, bevor die Medien Wind davon bekommen, was nicht mehr lang dauern kann. Kein Grund, noch mehr Kriegsschauplätze zu eröffnen. Wie du sicher bereits weißt, ist das Opfer der Sohn von Stadtrat Irving. Irving hat darauf bestanden, dass du die Ermittlungen leitest.«

»Warum?«

»Seine Gründe hat er mir nicht genannt. Ich weiß, dass ihr euch ein paarmal in die Wolle gekriegt habt.«

»Allerdings. Was kannst du mir über den Fall erzählen?«

»Nicht sehr viel.«

Er gab Bosch die gleiche Zusammenfassung, die Rider ihm gegeben hatte, nur mit ein paar zusätzlichen Details.

»Wer ist aus Hollywood dort?«

»Glanville und Solomon.«

Bosch kannte die zwei Ermittler von früheren Fällen und Sondereinheiten. Beide waren für ihre breite Statur und ihr ausgewachsenes Ego bekannt. Sie wurden Fass und Kiste genannt und fanden das gut. Sie kleideten sich auffällig und trugen dicke Ringe. Und Boschs Kenntnis nach waren sie kompetente Ermittler. Wenn sie den Fall als Selbstmord einstuften, lagen sie höchstwahrscheinlich richtig.

»Sie werden unter deiner Leitung weitermachen«, sagte der Chief. »Das habe ich ihnen persönlich zu verstehen gegeben.«

»Okay, Chief.«

»Harry, ich erwarte, dass du dich voll reinhängst. Deine Vorgeschichte ist mir da herzlich egal. Vergiss sie am besten. Wir können es uns nicht leisten, dass der Stadtrat hinterher sagt, wir hätten keinen vollen Einsatz gezeigt.«

»Alles klar.«

Bosch blieb eine Weile still und überlegte, was er noch fragen könnte.

»Wo ist übrigens der Stadtrat, Chief?«

»Unten im Foyer.«

»War er im Zimmer?«

»Darauf hat er bestanden. Ich habe ihm erlaubt, sich dort umzusehen, solange er nichts anfasst, und dann haben wir ihn sofort wieder rausgeführt.«

»Das hättest du nicht tun sollen, Marty.«

Bosch wusste, es war nicht ganz ungefährlich, dem Polizeichef zu sagen, dass er etwas falsch gemacht hatte. Da tat es auch nichts zur Sache, dass sie mal gemeinsam Leichen auf den Rücken gedreht hatten.

»Aber wahrscheinlich hattest du keine andere Wahl«, fügte er hinzu.

»Sieh einfach zu, dass du möglichst schnell herkommst, und gib mir Bescheid, wenn du da bist. Falls du mich nicht direkt erreichst, wendest du dich am besten an Lieutenant Rider.«

Aber seine unterdrückte Handynummer rückte er nicht heraus. Damit war für Bosch der Fall klar. Er würde mit seinem alten Kumpel, dem Polizeichef, nicht mehr länger auf direktem Weg kommunizieren. Nicht klar war dagegen, wie der Chief die Ermittlungen von ihm geführt haben wollte.

»Chief«, sagte er deshalb ganz förmlich, um klarzustellen, dass er nicht auf alte Verbindlichkeiten zurückgreifen wollte. »Wenn ich da jetzt raufgehe und es ist ein Selbstmord, werde ich es auch als Selbstmord einstufen. Wenn du was anderes willst, musst du dir jemand anders suchen.«

»Nein, nein, schon gut, Harry. Du machst es so, wie du es für richtig hältst. Egal, was dabei herauskommt.«

»Bist du da sicher? Ist das auch, was Irving will?«

»Es ist, was ich will.«

»Verstehe.«

»Hat dir Duvall übrigens schon wegen des Verlängerungsantrags Bescheid gesagt?«

»Ja, hat sie.«

»Ich habe für die vollen fünf Jahre plädiert, aber in der Kommission gibt es ein paar Leute, denen in deiner Personalakte nicht alles gefallen hat. Wir haben so viel rausgeholt wie möglich, Harry.«

»Danke.«

»Keine Ursache.«

Der Chief beendete das Gespräch. Bosch hatte kaum sein Handy eingesteckt, als Chu ihn bereits mit Fragen bombardierte. Bosch schilderte ihm den Inhalt des Telefonats, während er vom Freeway auf den Sunset Boulevard bog und nach Westen weiterfuhr.

Chu nutzte Boschs Auskunftsbereitschaft dazu, die Frage zu stellen, die ihm schon den ganzen Morgen auf der Zunge brannte.

»Was war eigentlich mit Lieutenant Duvall, Harry?«, fragte er. »Willst du mir nicht langsam sagen, worum es da ging?«

Bosch spielte den Begriffsstutzigen.

»Worum soll es wann gegangen sein?«

»Jetzt tu doch nicht so, Harry. Als sie in ihrem Büro allein mit dir geredet hat, was hat sie da gesagt? Sie will mich loswerden, oder? Ich bin eigentlich auch nie richtig warm geworden mit ihr.«

Bosch konnte einfach nicht anders. Das Glas seines Partners war immer halb leer, und deshalb ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, ihn aufzuziehen.

»Sie hat gesagt, sie will dich seitlich versetzen – also schon im Morddezernat behalten. Anscheinend werden demnächst im South Bureau ein paar Stellen frei, und sie will mal mit ihnen reden.«

»Nein!«

Chu war erst vor Kurzem nach Pasadena gezogen. Von dort täglich zum South Bureau fahren zu müssen wäre ein Albtraum.

»Und, was hast du ihr gesagt?«, fragte er. »Hast du wenigstens ein gutes Wort für mich eingelegt?«

»Was hast du eigentlich gegen South, Mann? Ich habe ihr gesagt, in zwei Jahren hast du dich dort unten so richtig schön eingelebt. Woanders würde das fünf Jahre dauern.«

»Harry!«

Bosch begann zu lachen. Es half ihm, die Spannung abzubauen. Das bevorstehende Treffen mit Irving lag ihm schwer im Magen. Es ließ sich nicht umgehen, und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

»Verarscht du mich etwa?«, quiekte Chu und drehte sich ganz zu Bosch herum. »Sag bloß, du verarscht mich?«

»Jetzt reg dich erst mal wieder ab, Chu. Sie hat mir nur gesagt, dass mein Verlängerungsantrag durchgegangen ist. Du darfst dich noch drei Jahre und drei Monate länger mit mir rumärgern, mehr nicht.«

»Ach so … aber, ist doch super, oder?«

»Sicher. Klar.«

Chu war zu jung, um sich über Dinge wie einen Verlängerungsantrag Gedanken zu machen. Fast zehn Jahre zuvor hatte Bosch seine Pensionsansprüche geltend gemacht und in einer unbedachten Entscheidung den Dienst quittiert. Nach zwei Jahren als Zivilist war er jedoch im Zuge des sogenannten DROP, des Deferred Retirement Option Plan des LAPD, in den Polizeidienst zurückgekehrt. Diese Regelung diente dem Zweck, erfahrene Ermittler weiter zu beschäftigen und ihnen zu ermöglichen, das zu tun, was sie am besten konnten. In Boschs Fall war das, in Mordfällen zu ermitteln. Er war ein Runderneuerter mit einem Sieben-Jahres-Vertrag. Nicht alle beim LAPD waren über diese Regelung glücklich, vor allem nicht die Detectives der Außenstellen, die auf eine prestigeträchtige Stelle bei der renommierten Robbery-Homicide Division in Downtown spekulierten.

Eine DROP-Wiedereinstellung in den Polizeidienst konnte einmalig um drei bis fünf Jahre verlängert werden. Danach war die Pensionierung unumgänglich. Einen solchen Verlängerungsantrag hatte Bosch ein Jahr zuvor gestellt, und wie es sich für eine Bürokratie, die etwas auf sich hielt, gehörte, war ihm erst jetzt mitgeteilt worden, dass sein Dienstvertrag verlängert worden war. Für ihn war es eine Zeit angespannten Wartens gewesen, denn er wusste, dass er jederzeit in den Ruhestand geschickt werden konnte, wenn die Polizeikommission seinem Antrag nicht stattgab. Es war auf jeden Fall eine erfreuliche Nachricht, auch wenn jetzt ganz deutlich abzusehen war, wie lange er noch eine Dienstmarke tragen würde. Deshalb erfüllte ihn die gute Nachricht auch mit einer gewissen Wehmut. Wenn er die offizielle Benachrichtigung der Kommission erhielt, würde darin das genaue Datum seines letzten Tags als Polizist stehen. Und ob er es wollte oder nicht, um nichts anderes kreisten jetzt seine Gedanken. Seine Zukunft hatte Grenzen. Vielleicht gehörte er ja auch zu denen, für die das Glas immer halb leer war.

Danach ließ ihn Chu mit seinen Fragen in Ruhe, und Bosch versuchte, nicht an den DROP zu denken. Stattdessen dachte er an Irving, als er in Richtung Westen fuhr. Der Stadtrat war über vierzig Jahre im Polizeidienst gewesen, hatte es aber nie an die Spitze des LAPD geschafft. Nachdem er seine ganze Karriere darauf zugeschnitten hatte, sich für das Amt des Polizeichefs in Stellung zu bringen, war es ihm in einem politischen Wirbelsturm weggeschnappt worden. Und ein paar Jahre danach war er – unter Boschs Zutun – ganz aus dem Polizeidienst gedrängt worden. Derart düpiert, hatte er für den Stadtrat kandidiert, war gewählt worden und hatte es sich fortan zur Aufgabe gemacht, sich an der Strafverfolgungsbehörde zu rächen, für die er sich so viele Jahre abgerackert hatte. Dabei ging er sogar so weit, gegen jede Gehaltserhöhung und Personalerweiterung bei der Polizei zu stimmen. Zugleich war er immer der Erste, der bei jeder Unregelmäßigkeit und jedem vermeintlichen Verstoß seitens eines Polizisten nach einer unabhängigen Untersuchung und nach einer Aufarbeitung des Vorfalls rief. Den schwersten Schlag hatte er dem LAPD jedoch vor einem Jahr beigebracht, als er mit allem Nachdruck die Kostensenkungsklage befürwortet hatte, die das LAPD-Budget für die Überstundenvergütung um 100 Millionen Dollar beschnitt. Das tat jedem Polizisten, egal welchen Rangs, weh.

Bei den Wahlen im November kandidierte Irving erneut für den Stadtrat, wobei sein Gegenkandidat nur auf dem Papier existierte. Ein junger Geschäftsmann aus der Westside hoffte, sich gegen den in die Jahre gekommenen Politikveteranen Irving als jugendlicher Außenseiter profilieren zu können, konnte damit aber bei den Wählern nicht punkten. Irvings Wiederwahl stand so gut wie fest, ohne dass er auch nur ein Wahlkampfbüro eröffnen musste.

Bei einem mit allen Wassern gewaschenen Politiker wie Irving stand für Bosch außer Frage, dass der gegenwärtige Polizeichef irgendeine Art von Deal mit ihm ausgehandelt hatte. Ein Quidproquo. Bosch würde sicher nicht ohne Gegenleistung für den Fall zur Verfügung gestellt. Obwohl sich Bosch in Sachen Politik nie für besonders hellsichtig gehalten hatte, war er sicher, bald herauszufinden, was dahintersteckte.

4

Das Chateau Marmont thronte über dem SunsetStrip wie eine mittelalterliche Burg mit einem Neonschild davor. Der kultige Bau vor der Kulisse der Hollywood Hills zog schon seit Jahrzehnten Filmstars, Schriftsteller, Rock ’n’ Roller und ihre Entouragen an. Bosch war schon einige Male dienstlich in dem Hotel gewesen, um zu ermitteln und nach Zeugen und Verdächtigen zu suchen. Er kannte das Foyer mit seiner Holzbalkendecke, den heckengesäumten Vorplatz und die Lage der geräumigen Suiten. Andere Hotels boten ein hohes Maß an Komfort und Service. Das Chateau bot Alte-Welt-Charme und Desinteresse am Tun und Treiben seiner Gäste. In den meisten Hotels gab es in allen öffentlich zugänglichen Bereichen, ob nun versteckt oder offen, Überwachungskameras. Im Chateau gab es davon nur wenige. Das Besondere, was das Chateau zu bieten hatte und was es in keinem anderen Hotel am Strip auch nur annäherungsweise gab, war dieses hohe Maß an Privatsphäre. Hinter seinen Mauern und hohen Hecken befand sich eine abgeschottete Welt, in der diejenigen, die nicht beobachtet werden wollten, nicht beobachtet wurden. Es sei denn, es ging irgendetwas schief oder privates Verhalten wurde öffentlich.

Das Hotel erhob sich unmittelbar hinter dem Laurel Canyon Boulevard über den zahllosen Reklametafeln, die den Sunset Strip säumten. Nachts wies ein schlichtes Neonschild auf das Hotel hin, für die Verhältnisse des Sunset Strip sehr dezent und bei Tag sogar noch dezenter, da das Licht dann ausgeschaltet war. Eigentlich lag das Hotel an der Marmont Lane, die vom Sunset abging und sich am Hotel vorbei die Hügel hinaufschlängelte. Im Näherkommen sah Bosch, dass die Marmont Lane mit provisorischen Barrikaden gesperrt war. An der Hecke vor dem Hotel standen zwei Streifenwagen und zwei Fernsehübertragungswagen. Daraus schloss Bosch, dass der Tote auf der West- oder Rückseite des Hotels gefunden worden war. Er parkte hinter einem der schwarz-weißen Streifenwagen.

»Die Geier sind schon da.« Chu nickte in Richtung der Übertragungswagen.

In Los Angeles war es unmöglich, ein Geheimnis unter Verschluss zu halten, vor allem eins wie dieses. Es rief immer ein Nachbar oder Hotelgast oder Streifenpolizist bei der Presse an, oder jemand aus der Rechtsmedizin, der bei einer blonden Fernsehreporterin Eindruck schinden wollte. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell.

Bosch und Chu stiegen aus dem Auto und gingen auf die Absperrung zu. Bosch winkte einen der uniformierten Streifenpolizisten von den zwei Kamerateams fort, um mit ihm reden zu können, ohne dass jemand von den Medien mithörte.

»Wo ist es?«, fragte Bosch.

Der Cop sah aus, als hätte er mindestens zehn Dienstjahre auf dem Buckel. Auf dem Namensschild an seinem Hemd stand Rampone.

»Wir haben zwei Tatorte«, erklärte er. »Der Klatscher ist hinten auf der Seite. Und das Zimmer, das sich der Typ genommen hat, ist im obersten Stock, Zimmernummer neunundsiebzig.«

Für Polizisten war es gängige Praxis, den täglichen Schrecken, die der Job mit sich brachte, ihren menschlichen Aspekt zu nehmen. Selbstmörder, die in den Tod sprangen, wurden oft als Klatscher bezeichnet.

Bosch hatte sein Funkgerät im Auto gelassen. Er deutete mit dem Kopf auf das Mikrophon an Rampones Schulter.

»Versuchen Sie rauszufinden, wo Glanville und Solomon sind.«

Rampone neigte den Kopf auf seine Schulter hinab und drückte auf den Sendeknopf. Wenig später hatte er die beiden Ermittler in Zimmer Nummer neunundsiebzig ausfindig gemacht.

»Gut. Sagen Sie ihnen, sie sollen bleiben, wo sie sind. Wir sehen uns kurz hier unten um und kommen dann nach oben.«

Bosch kehrte zum Auto zurück, nahm das Funkgerät aus der Ladestation und ging dann mit Chu um die Absperrung herum und den Gehsteig hinauf.

»Soll ich schon mal nach oben fahren und mit den beiden reden, Harry?«, fragte Chu.

»Nein, angefangen wird immer mit der Leiche. Alles Weitere kommt später. Immer.«

Chu bearbeitete normalerweise ausschließlich kalte Fälle, bei denen es keine Tatorte mehr gab. Nur Berichte und Protokolle. Er hatte Probleme damit, Leichen anzusehen. Das war der Grund, weshalb er sich für die Kalte-Treffer-Einheit beworben hatte. Keine frischen Opfer, keine Tatorte, keine Obduktionen. Aber diesmal war es anders.

Die Marmont Lane führte schmal und steil um das Hotel herum. Sie erreichten den Fundort der Leiche an der Nordwestecke des Hotels. Um die Stelle vor den Medienhubschraubern und den Bewohnern der Häuser abzuschirmen, die sich hinter dem Hotel den Hügel hinaufzogen, war ein Zeltdach darüber errichtet worden.

Bevor Bosch unter die Abdeckung trat, blickte er am Hotel hoch. Im obersten Stockwerk beugte sich ein Mann in einem Anzug über die Brüstung eines Balkons und schaute nach unten. Bosch nahm an, es war Glanville oder Solomon, aber welcher von beiden, konnte er nicht erkennen.

Unter dem Zeltdach wimmelte es von Kriminaltechnikern, Rechtsmedizinern und Polizeifotografen, und inmitten dieses Gewusels stand Gabriel Van Atta, ein alter Bekannter Boschs. Van Atta hatte fünfundzwanzig Jahre als Kriminaltechniker und Supervisor für das LAPD gearbeitet und nach seiner Pensionierung einen Job in der Rechtsmedizin angenommen. Jetzt bezog er ein Gehalt und eine Rente und untersuchte weiterhin Tatorte. Das kam Bosch sehr gelegen. Er wusste, dass Van Atta Klartext mit ihm reden würde. Er würde genau das sagen, was er dachte.

Bosch und Chu waren zwar unter dem Dach, blieben aber am Rand. Im Moment gehörte der Tatort der Spurensicherung. Bosch stellte fest, dass der Tote umgedreht worden war und dass sie schon ziemlich weit waren. Die Leiche würde schon bald vom Tatort entfernt und in die Rechtsmedizin gebracht werden. Das störte ihn, aber es war der Preis, den man zahlte, wenn man so spät in ein Ermittlungsverfahren einstieg.

Das verheerende Ausmaß der von sieben Etagen Schwerkraft verursachten Verletzungen war deutlich zu sehen. Bosch konnte beinahe spüren, wie es seinem Partner bei ihrem Anblick den Magen umdrehte. Er beschloss, Nachsicht mit ihm zu üben.

»Weißt du was? Geh schon mal nach oben. Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Aber um die Obduktion wirst du nicht rumkommen.«

»Das nenne ich ein Angebot, Harry.«

Der Wortwechsel hatte Van Atta auf sie aufmerksam gemacht. »Harry B.«, sagte er. »Machst du nicht kalte Fälle?«

»Das hier ist eine Ausnahme, Gabe. Okay, wenn ich reinkomme?«

Damit war die Mitte des überdachten Bereichs gemeint. Van Atta winkte ihn zu sich. Während sich Chu unter dem Dach nach draußen durchduckte, nahm Bosch ein Paar Papierüberzieher aus einer Box und streifte sie über seine Schuhe. Dann tastete er sich, so gut es ging, an dem geronnenen Blut auf dem Gehsteig vorbei und kauerte neben George Thomas Irving oder dem, was von ihm noch übrig war, nieder.

Der Tod nimmt einem alles, auch die Würde. George Irvings zerschmetterter nackter Körper war umringt von Kriminaltechnikern, die ihn als ein Stück Arbeit betrachteten. Seine irdische Hülle war nur noch ein zerfetzter Hautsack voll zerstörter Knochen, Organe und Blutgefäße. Durch alle natürlichen Körperöffnungen und die vielen neuen, die infolge des Aufpralls auf dem Gehsteig entstanden waren, war viel Blut aus seinem Körper entwichen. Sein Schädel war zerschmettert, Kopf und Gesicht waren wie von einem Zerrspiegel grotesk entstellt. Sein Brustkorb war eingedrückt, und es hatten sich mehrere gebrochene Rippen- und Schlüsselbeinknochen durch die Haut gebohrt.

Bosch studierte die Leiche, ohne mit der Wimper zu zucken, als suchte er auf einer Leinwand, die alles andere als gewöhnlich war, das Ungewöhnliche. An den Innenseiten der Arme hielt er nach Nadeleinstichen Ausschau, unter den Fingernägeln nach Fremdablagerungen.

»Ich bin erst später dazugestoßen«, sagte er. »Irgendwas Wichtiges, was ich wissen sollte?«

»Ich glaube, er ist zuerst mit dem Kopf aufgeschlagen«, sagte Van Atta. »Das ist ziemlich ungewöhnlich, selbst bei einem Selbstmord. Und dann solltest du dir vielleicht das noch ansehen.« Er deutete auf den rechten und dann auf den linken Arm des Opfers; beide waren in der Blutlache vom Körper abgespreizt. »In beiden Armen sind sämtliche Knochen gebrochen, Harry. Eigentlich sogar zerschmettert. Aber es ist kein einziger offener Bruch darunter, nicht ein Knochen, der sich durch die Haut gebohrt hat.«

»Und was heißt das?«

»Es deutet auf eins von zwei Extremen hin. Das eine wäre, es war ihm so ernst mit dem Selbstmord, dass er nicht mal versucht hat, den Aufprall mit den Händen abzubremsen. Sonst hätte er nämlich bestimmt mehrere offene Brüche. Hat er aber nicht.«

»Und das andere Extrem?«

»Dass er den Aufprall deshalb nicht mit den Armen abzumildern versucht hat, weil er bewusstlos war, als er auf dem Boden aufgeschlagen ist.«

»Das hieße, er wurde runtergestoßen.«

»Ja, beziehungsweise regelrecht fallen gelassen. Wir werden ein paar Versuchsreihen machen müssen, aber wie es aussieht, ist er senkrecht nach unten gefallen. Wäre er, wie du meinst, gestoßen worden, wäre er vermutlich mindestens einen Meter weiter von der Hauswand entfernt gelandet.«

»Verstehe. Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?«

»Wir haben die Lebertemperatur gemessen und schon mal erste Berechnungen angestellt. Das ist jetzt nicht offiziell, aber wir schätzen, zwischen zwei und fünf.«

»Ein Zeitfenster von drei Stunden?«

»Wir werden es noch stärker eingrenzen, aber das ist nun mal keine sehr exakte Wissenschaft, Harry. Sagen wir meinetwegen zwischen zwei und vier. Zufrieden?«

»Nur wenn die Angabe verlässlich ist. Wenn es zwischen zwei und vier passiert ist, hätte er hier mindestens zwei Stunden auf dem Gehsteig gelegen, ohne dass ihn jemand gesehen hat.«

Van Atta zuckte mit den Achseln. »Könnte ohne Weiteres sein. Können wir ihn jetzt wegbringen?«

»Wenn das alles ist, was du bisher für mich hast, ja, dann könnt ihr ihn wegschaffen.«

Wenige Minuten später ging Bosch die Zufahrt zur Garage des Hotels hinauf. Auf dem Kopfsteinpflaster stand mit laufendem Motor ein schwarzer Lincoln Town Car mit einem Kennzeichen der Stadtverwaltung. Stadtrat Irvings Auto. Als Bosch daran vorbeikam, sah er am Steuer einen jungen Chauffeur sitzen und auf dem Beifahrersitz einen älteren Mann in einem Anzug. Der Rücksitz schien leer zu sein, aber durch die getönte Scheibe war das schwer zu erkennen. Bosch stieg die Treppe zur nächsten Ebene hinauf, auf der sich Rezeption und Foyer befanden.

Die meisten Leute, die im Chateau abstiegen, waren Nachtgeschöpfe. Bis auf Irvin Irving, der, das Handy am Ohr, allein auf einer Couch saß, war das Foyer leer. Als er Bosch entdeckte, beendete er das Telefongespräch und deutete auf die Couch ihm gegenüber. Bosch hatte gehofft, nur kurz stehen bleiben zu können und den Schwung nicht zu verlieren, aber das war eine dieser Gelegenheiten, bei denen er sich zur Rücksichtnahme verpflichtet fühlte. Er zog sein Notizbuch aus der Gesäßtasche und setzte sich.

»Detective Bosch«, sagte Irving. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Ich hatte keine andere Wahl, Herr Stadtrat.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Zuerst möchte ich Ihnen mein Beileid über den Tod Ihres Sohns ausdrücken. Zweitens wüsste ich gern, warum Sie dafür mich haben wollen.«

Irving nickte und blickte aus einem der hohen Fenster des Foyers. Dahinter war ein Gartenrestaurant mit Palmen, Sonnenschirmen und Heizstrahlern. Es war bis auf das Personal ebenfalls leer.

»Vor Mittag scheint hier niemand aufzustehen«, bemerkte Irving.

Bosch erwiderte nichts. Er wartete auf die Antwort auf seine Frage. Irvings äußeres Erkennungszeichen war sein glatt rasierter Schädel. Er hatte ihn schon gehabt, lange bevor es Mode geworden war. Bei der Polizei hatten sie ihn Mr. Clean genannt, wegen seiner Glatze und weil er in erster Linie geholt worden war, um den politischen Saustall samt seinem Geklüngel auszumisten, der sich in einer schwerbewaffneten und komplexen Behörde mit der Zeit fast zwangsläufig breitmacht.

Im Moment wirkte Irving allerdings sichtlich angeschlagen. Seine Haut war grau und schlaff, und er sah älter aus, als er war.

»Ich habe immer wieder gehört, dass der Verlust eines Kindes am schwersten zu verkraften ist«, sagte er. »Jetzt weiß ich, dass das stimmt. Da spielt es auch keine Rolle, in welchem Alter und unter welchen Umständen … es sollte einfach nicht passieren. Es ist nicht der natürliche Lauf der Dinge.«

Es gab nichts, was Bosch dazu hätte sagen können. Er hatte mit genügend Eltern toter Kinder zu tun gehabt, um zu wissen, dass es an der Feststellung des Stadtrats nichts zu rütteln gab. Irving hatte den Kopf gesenkt und den Blick auf das Muster des Teppichs gerichtet.

»Ich war mehr als fünfzig Jahre lang in allen möglichen Funktionen für diese Stadt tätig«, fuhr er fort. »Und da stehe ich nun und kann keiner Menschenseele trauen. Deshalb suche ich Hilfe bei einem Mann, den ich in der Vergangenheit zu ruinieren versucht habe. Warum? Das weiß ich nicht einmal selbst. Wahrscheinlich, weil unsere Scharmützel etwas Integres hatten. Weil Sie etwas Integres hatten. Ich mochte Sie und Ihre Methoden zwar nicht, aber ich habe Sie respektiert.«

Jetzt blickte er Bosch an.

»Ich möchte, dass Sie mir sagen, was mit meinem Sohn passiert ist, Detective Bosch. Ich möchte die Wahrheit wissen, und ich glaube, dass ich mich darauf verlassen kann, sie von Ihnen zu erfahren.«

»Egal, wie sie aussieht?«

»Egal, wie sie aussieht.«

Bosch nickte.

»Das kann ich machen.«

Er wollte aufstehen, hielt aber inne, denn Irving fuhr fort:

»Sie haben mal gesagt, entweder zählt jeder, oder es zählt keiner. Daran kann ich mich noch erinnern. Dafür wäre das hier die Probe aufs Exempel. Zählt der Sohn Ihres Feindes? Werden Sie für ihn Ihr Bestes geben? Werden Sie sich auch für ihn voll reinhängen?«

Bosch sah den Stadtrat nur an. Entweder zählt jeder, oder es zählt keiner. Das war seine Devise. Aber er sprach sie nie aus. Er befolgte sie nur. Er war sicher, dass er sie Irving gegenüber nie erwähnt hatte.

»Wann?«

»Wie bitte?«

»Wann habe ich das gesagt?«

Als er merkte, dass er sich möglicherweise verplappert hatte, zuckte Irving mit den Achseln und nahm die Haltung eines verwirrten alten Mannes ein, obwohl seine Augen so klar und glänzend waren wie schwarze Murmeln im Schnee.

»Das weiß ich nicht mehr. Es ist jedenfalls etwas, was ich über Sie weiß.«

Bosch stand auf.

»Ich werde herausfinden, was mit Ihrem Sohn passiert ist. Können Sie mir etwas darüber sagen, was er hier wollte?«

»Nein, nichts.«

»Wie haben Sie es heute Morgen erfahren?«

»Ich wurde vom Polizeichef angerufen. Persönlich. Ich bin sofort hergekommen. Aber man hat mich ihn nicht sehen lassen.«

»Völlig zu Recht. Hatte er Familie? Ich meine, außer Ihnen.«

»Eine Frau und einen Sohn – der Junge ist seit Kurzem auf dem College. Mit Deborah habe ich gerade telefoniert und ihr alles erzählt.«

»Wenn Sie wieder mit ihr telefonieren, sagen Sie ihr, dass ich zu ihr kommen werde.«

»Selbstverständlich.«

»Was hat Ihr Sohn beruflich gemacht?«

»Er war Anwalt und als solcher auf Corporate Relations, also auf Unternehmensbeziehungen spezialisiert.«

Bosch wartete auf mehr, aber das war alles, was kam.

»Corporate Relations? Was hat man sich darunter vorzustellen?«

»Er stellte Kontakte her, half Projekte auf den Weg zu bringen. Leute kamen zu ihm. Davor hat er für die Stadt gearbeitet. Zuerst als Cop, dann für den City Attorney.«

»Hatte er ein Büro?«

»Ja, ein kleines. Downtown. Vor allem aber hatte er ein Handy.«

»Wie hieß seine Kanzlei?«

»Das war keine Kanzlei. Er war zwar Anwalt, war aber nicht mehr als solcher tätig. Wie bereits gesagt, half er, Projekte auf den Weg zu bringen. Seine Firma hieß Irving und Partner – nur dass es keine Partner gab. Es war ein Einmannbetrieb.«

Bosch wusste, dass er darauf zurückkommen müsste. Aber es brächte nichts, Irving auf den Zahn zu fühlen, solange er die nötigen Basisfakten noch nicht hatte, um die Antworten des Stadtrats durch sie filtern zu können. Damit würde er warten, bis er mehr wusste.

»Sie hören von mir«, sagte er deshalb nur.

Irving hob die Hand und ließ zwei Finger vorschnellen. Zwischen ihnen steckte eine Visitenkarte.

»Das ist meine private Handynummer. Ich rechne damit, bis spätestens heute Abend von Ihnen zu hören.«

Weil du sonst das Überstundenbudget um weitere zehn Millionen kürzt? Bosch gefiel das ganz und gar nicht. Aber er nahm die Karte und ging zum Lift.

Auf der Fahrt in den siebten Stock dachte er über die befangene Unterhaltung mit Irving nach. Am meisten störte ihn daran, dass Irving sein Motto kannte, und er glaubte auch schon zu wissen, wie der Stadtrat an diese Information gekommen war. Das war etwas, womit er sich später befassen würde.

5

Die oberen Etagen des Hotels waren L-förmig ange-legt. Bosch verließ den Fahrstuhl im siebten Stock und ging links um die Ecke zu Zimmer Nummer neunundsiebzig, das am Ende des Flurs lag. An der Tür stand ein Polizist in Uniform. Bosch unterschrieb auf dessen Klemmbrett, trug die Zeit ein und betrat die Suite. Die offenen Glastüren des Wohnzimmers führten auf einen nach Westen gelegenen Balkon. Der Wind bauschte die Vorhänge, und Bosch sah Chu auf dem Balkon stehen. Er schaute nach unten.

Im Zimmer befanden sich Glanville und Solomon. Fass und Kiste. Sie machten keinen glücklichen Eindruck. Als Jerry Solomon Bosch sah, breitete er in einer »Was gibt’s?«-Geste die Hände aus. Aber eigentlich, merkte Bosch, war es eine »Was soll das?«-Geste.

»Was soll ich groß sagen?«, sagte Bosch. »High Jingo. Wir tun, was wir gesagt bekommen.«

»Du wirst hier nichts finden, was wir nicht schon gefunden haben. Keine Frage, der Typ ist gesprungen.«

»Genau das habe ich dem Chief und dem Stadtrat gesagt, aber hier bin ich.« Bosch breitete in einer »Was soll ich machen?«-Geste die Hände aus. »Wollt ihr jetzt weiter rumjammern, oder erzählt ihr mir langsam, was ihr rausgefunden habt?«

Solomon nickte Glanville, dem jüngeren der beiden Partner, zu. Der zog einen Notizblock aus seiner Gesäßtasche und blätterte kurz darin, bevor er begann. Chu kam vom Balkon herein, um ebenfalls zuzuhören.

»Gestern Abend um 20:50 Uhr ruft an der Rezeption ein Mann an, der sich als George Irving ausgibt. Er bucht ein Zimmer für die Nacht und sagt, er ist bereits auf dem Weg zum Hotel. Er erkundigt sich speziell nach Zimmern mit Balkon im obersten Stock. Sie machen ihm ein paar Vorschläge, und er nimmt neunundsiebzig. Um das Zimmer zu reservieren, nennt er ihnen eine American-Express-Nummer. Sie stimmt mit der Nummer der Kreditkarte in seiner Geldbörse überein, die im Safe im Schlafzimmer ist.«

Glanville deutete in einen Gang links von Bosch. An seinem Ende waren eine offene Tür und dahinter ein Bett zu sehen.

»Okay, er taucht also um 21:40 Uhr im Hotel auf«, fuhr Glanville fort, »lässt sein Auto von einem Hotelangestellten in die Garage bringen, checkt mit der AmEx-Karte ein und fährt dann zu seinem Zimmer hoch. Danach hat ihn niemand mehr lebend gesehen.«

»Bis er unten auf dem Gehsteig gefunden wird«, ergänzte Solomon.

»Wann?«, fragte Bosch.

»Um 5:50 Uhr kommt ein Küchenhelfer zur Arbeit. Er geht den Gehsteig zum Hintereingang hoch, wo sich die Stechuhr befindet. Er findet die Leiche. Als Erstes kommt die Streife her, sie nehmen eine vorläufige Identifizierung vor, und dann werden wir gerufen.«

Bosch nickte und blickte sich um. Neben der Balkontür war ein kleiner Schreibtisch.

»Kein Abschiedsbrief?«

»Hier drinnen haben wir jedenfalls keinen gefunden.«

Bosch bemerkte einen Radiowecker mit Digitalanzeige auf dem Fußboden. Das Stromkabel führte zu einer Steckdose neben dem Schreibtisch. »Stand der Wecker hier? Der gehört doch eigentlich ins Schlafzimmer, oder?«

»Hier haben wir ihn gefunden«, antwortete Solomon. »Keine Ahnung, wo er sonst steht.«

Bosch ging neben dem Wecker in die Hocke und streifte sich ein Paar neue Handschuhe über. Vorsichtig hob er die Uhr hoch und betrachtete sie. Sie besaß eine Dockingstation für einen iPod oder ein iPhone.

»Wissen wir, was für ein Telefon Irving besessen hat?«

»Ja, ein iPhone. Es liegt im Safe im Schlafzimmer.«

Der Alarm des Weckers war ausgeschaltet. Bosch drückte auf einen Knopf, um zu sehen, welche Weckzeit eingestellt war. Die Anzeige wechselte: Zuletzt war vier Uhr morgens als Weckzeit eingegeben worden.

Bosch platzierte die Uhr wieder auf dem Fußboden und richtete sich mit knackenden Knien auf. Nach einem letzten Blick auf das Zimmer trat Bosch durch die Glastür auf den Balkon hinaus. Dort waren ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Über einen der Stühle war ein weißer Frotteebademantel geworfen. Bosch schaute über die Brüstung. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass sie ihm nur bis zu den Oberschenkeln reichte. Sie kam ihm niedrig vor, und obwohl er keine Ahnung hatte, wie groß Irving gewesen war, zog er sofort die Möglichkeit eines versehentlichen Sturzes in Betracht. Er fragte sich, ob das der Grund war, weshalb er hier war. Niemand will einen Selbstmord im Stammbuch haben. Ein versehentlicher Sturz über eine niedrige Brüstung machte sich da wesentlich besser.

Er schaute direkt nach unten und sah das von der Spurensicherung aufgestellte Zeltdach. Er sah auch die Leiche, die unter einer blauen Decke auf einer fahrbaren Bahre lag und in einen Wagen der Rechtsmedizin geladen wurde.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Solomon hinter ihm.

»Ja? Was denke ich denn?«

»Dass er nicht gesprungen ist. Dass es ein Unfall war.«

Bosch antwortete nicht.

»Es gibt aber einiges, was dagegenspricht.«

»Und das wäre?«

»Der Typ ist nackt. Das Bett wurde nicht benutzt, und er ist ohne Gepäck hergekommen. Er hat sich in der Stadt, in der er wohnt, ein Zimmer genommen – ohne Gepäck. Er will ausdrücklich eines im obersten Stock. Er fährt in sein Zimmer hoch, zieht sich aus, schlüpft in den Bademantel, den man in einem Hotel wie diesem gestellt bekommt, und geht auf den Balkon raus, um sich den Sternenhimmel oder was weiß ich anzusehen. Und dann zieht er den Bademantel aus und fällt versehentlich kopfüber vom Balkon?«

»Und kein Schrei«, fügte Glanville hinzu. »Niemand hat einen Schrei gemeldet – deshalb haben sie ihn auch erst am Morgen gefunden. Man fällt nicht aus Versehen von einem Balkon, ohne sich die Lunge aus dem Leib zu brüllen.«

»Dann war er vielleicht nicht bei Bewusstsein«, sagte Bosch.

»Vielleicht war er nicht allein. Vielleicht war es kein Unfall.«

»Sag bloß, das ist, warum du hier bist«, maulte Solomon.

»Der Stadtrat möchte Mordermittlungen, und dann schicken sie dich her, damit er sie kriegt.«