Der wilde Sozialismus - Charles Reeve - E-Book

Der wilde Sozialismus E-Book

Charles Reeve

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Beschreibung

Prinzipien der direkten Demokratie und der kollektiven Selbstverwaltung ziehen sich durch alle revolutionären Epochen, von der Französischen Revolution über den Mai 1968 bis zur Besetzung der ZAD heute. Charles Reeve zeigt die revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen, jener Strömungen, die die offiziellen und offiziösen Geschichtsschreibungen als "extreme Überschreitungen" bezeichnen: die "Enragés" während der Französischen Revolution, den Kampf der Sowjets in der russischen Revolution, die sich die Macht über die Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten. Die Selbstregierung der Räte und die Versuche einer Sozialisierung der Ökonomie in der Deutschen Revolution von 1918 bis 1920. Die Verwirklichung anarchistischer Kollektive in der Spanischen Revolution sowie die Praktiken der autonomen Selbstorganisation im wilden Generalstreik des Mai 1968 und während der Portugiesischen Revolution von 1973–1975, die Gelbwesten heute. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. "In diesem aufklärerischen und ausgesprochen gut dokumentierten Essay lässt Charles Reeve die großen Momente der sozialistischen Bewegung der letzten 200 Jahre Revue passieren." Le Monde diplomatique

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CHARLES REEVE, geboren 1945 in Lissabon, lebt seit seiner Desertion aus der portugiesischen Kolonialarmee 1967 als Aktivist und Schriftsteller in Paris. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China (mit Xi Xuanwu, Edition Nautilus 2000).

FELIX KURZ ist Übersetzer von Essays, Sachbüchern und wissenschaftlicher Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er Business as usual. Krise und Scheitern des Kapitalismus (2013) von Paul Mattick übersetzt.

CHARLES REEVE

DERWILDESOZIALISMUS

SELBSTORGANISATION UND DIREKTE DEMOKRATIE IN DEN KÄMPFEN VON 1789 BIS HEUTE

AUS DEM FRANZÖSISCHEN ÜBERSETZT VON FELIX KURZ

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Le Socialisme sauvage. Essai sur l’auto-organisation et la démocratie directe de 1789 à nos jours beiÉditions l’Échappée, Paris 2018.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2019

Deutsche Erstausgabe

September 2019

Satz: Jorghi Poll, Wien

Umschlaggestaltung:

Olga Machverkova, Hamburg

ePub ISBN 978-3-96054-211-7

INHALT

EINLEITUNG

AM ANFANG ANGEKOMMEN, ODER LOB DER UNMÄSSIGKEIT

KAPITEL 1

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION (1789–1795)

SOUVERÄNITÄT VERSUS DELEGATION

KAPITEL 2

DIE PARISER KOMMUNE (1871)

DIE GRENZEN EINER PRAXIS DER »REINEN DEMOKRATIE«

KAPITEL 3

DIE ERSTE INTERNATIONALE (1864–1877)

AUTORITÄTSPRINZIP UND REVOLUTIONÄRE ORGANISATION

KAPITEL 4

GENERALSTREIK ODER MASSENSTREIK?

DER REVOLUTIONÄRE SYNDIKALISMUS UND DAS BEDÜRFNIS NACH SELBSTREGIERUNG

KAPITEL 5

DIE REVOLUTION IN RUSSLAND (1905–1917)

DIE »UNVERFÄLSCHTE« DEMOKRATIE DER SOWJETS

KAPITEL 6

DAS LENINISTISCHE REZEPT: »ARBEITERKONTROLLE« GEGEN »DIE AUGENBLICKLICHEN LAUNEN DER ARBEITEROPPOSITION«

KAPITEL 7

DIE REVOLUTION IN DEUTSCHLAND (1918–1921)

EINE SPONTANE UND UNERWARTETE BEWEGUNG

KAPITEL 8

RUSSLAND UND DEUTSCHLAND – BILANZEN

DER WILDE SOZIALISMUS UND DIE LETZTEN SPALTUNGEN IN DER ALTEN ARBEITERBEWEGUNG

KAPITEL 9

DER RÄTEGEDANKE UND DIE ZUKÜNFTIGE GESELLSCHAFT

KAPITEL 10

DIE RÄTE – PRINZIPIEN UND DEBATTEN

KAPITEL 11

SPANIEN 1936, EINE UNVOLLENDETE REVOLUTION

KAPITEL 12

DAS SELTSAME UND NEUE DES MAI 1968

KAPITEL 13

WILDER SOZIALISMUS OHNE PARTEIEN

DIE PORTUGIESISCHE REVOLUTION (1974/75)

KAPITEL 14

WO DAS NEUE IN DAS ALTE GREIFT

DIE BEWEGUNGEN DER GEGENWART

KAPITEL 15

VOM ZAPATISMUS ZU DEN ZAD

AVANTGARDISMUS UND SELBSTORGANISATION

KAPITEL 16

DIE COMMONS UND IHRE GRENZEN

SCHLUSS

DIE KRISE DER REPRÄSENTATION UND DIE UNTERBROCHENE SOZIALE EMANZIPATION

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

In Erinnerung an das Leben, das jenseits der Zeitder alten Welt gelebt wurde, an den Mai 1968 und dieportugiesische Revolution 1974/75.

Für Serge Bricianer (1923–1997),Francisco Gómez (1917–2008),Paul Mattick (1904–1981)und Ngô Van (1913–2005)– Freunde, die für mich immer menschlicheund politische Bezugspunkte waren.

EINLEITUNG

AM ANFANG ANGEKOMMEN, ODER LOB DER UNMÄSSIGKEIT

Es heißt, das Ende der Welt sei heute leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus. Ein düsterer Satz, der Verwirrung stiftet, schließlich liegt auf der Hand, dass der Welt und dem Kapitalismus ein- und dasselbe Ende droht. Er drückt aber auch den Geisteszustand politischer Kräfte aus, für die der Zusammenbruch des staatskapitalistischen Blocks eine Enttäuschung, ja Niederlage darstellte, weil ihre Hoffnungen untrennbar mit einem staatlichen Modell von gesellschaftlichem Wohl verbunden waren. Eine positive Erwiderung auf den Slavoj Žižek zugeschriebenen1 pessimistischen Satz gaben die Platzbesetzungen der Nuit debout, die im Frühjahr 2016 in Frankreich stattfanden: »Ein anderes Ende der Welt ist möglich«, lautete eine ihrer Losungen. Sie besagt, dass uns der von Grauen und Barbarei gesäumte Pfad des Kapitalismus zwar gewiss in die finale Katastrophe führen kann, uns aber noch immer die Freiheit bleibt, seine Überwindung zu denken und entsprechend zu handeln. Das Ende der kapitalistischen Welt muss nicht das Ende der Welt schlechthin sein.

Das vorliegende Buch behandelt die verschiedenen revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung nicht in der Manier eines Historikers, auch wenn die Geschichte offenkundig im Mittelpunkt unserer Reflexionen steht. Vielmehr kommt es auf sie zurück, um sich aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen mit ihnen auseinanderzusetzen – bruchstückhaft, manchmal kursorisch und immer parteiisch. Uns interessieren Strömungen, die in offiziellen und offiziösen, der Normalität bestehender oder werdender Mächte verpflichteten Geschichtsschreibungen als »unmäßig« und »extrem« auftauchen und von den Führern des orthodoxen Sozialismus recht bald als »wild« klassifiziert wurden, weil sie sich ihnen entzogen. Aus diesem parteiischen Blickwinkel verteidigen wir folgenreiche Entscheidungen: das Eintreten der Enragés für das imperative Mandat während der Französischen Revolution, den Kampf der Sowjets in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, die sich die Macht über die Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten, die Selbstregierung der Räte und die Versuche einer Sozialisierung der Ökonomie in der deutschen Revolution von 1918 bis 1920, die Gründung anarchistischer Kollektive in der spanischen Revolution sowie die Praktiken der autonomen Selbstorganisation im wilden Generalstreik des Mai 1968 und während der portugiesischen Revolution von 1974/75. Beschränkt durch das Format des Essays, haben wir uns dafür entschieden, andere subversive Momente der modernen Geschichte beiseite zu lassen. Dies betrifft besonders die Arbeiterrevolten gegen die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa installierten staatskapitalistischen Regime: in Berlin 1953, Ungarn 1956, Polen 1956 und 1970/71 – Revolten, in deren Verlauf die Kraft der spontanen Selbstorganisation und die antibürokratischen Ziele deutlich machten, dass diese neuartigen Gesellschaften von Ausbeutung und Gewalt gekennzeichnet waren, zugleich ihre Schwäche offenbarten und ihren späteren Zusammenbruch vorausahnen ließen.

Es gibt einige Grundannahmen, die wir bei gewissen Nuancen und unwesentlichen Differenzen mit allen teilen, die sich auf die antiautoritären Strömungen des Sozialismus beziehen. Zu den nicht verhandelbaren Gewissheiten zählt, dass es die permanente Delegation von Macht und das damit zwangsläufig verbundene Autoritätsprinzip zu kritisieren gilt, weil sie grundsätzlich unvereinbar sind mit der Veränderung der Welt. Wenn wir uns mit der Geschichte befassen, dann erkennen wir, dass der widersprüchliche Prozess der Überwindung des Kapitalismus sich nur entfalten kann, wenn diejenigen, die ein Interesse an ihm haben, gemeinsam neue Formen des Lebens, der Produktion und des Konsums selbst organisieren. Seine Kraft kann er nur aus einer ausdrücklichen Ablehnung jener Trennungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gewinnen, auf denen die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht beruht.

Jenseits dieser Gewissheiten kann alles hinterfragt und diskutiert werden; das vorliegende Buch versteht sich insofern als Beitrag zu einer notwendigen Erneuerung. Indem wir unseren Streifzug mit den jüngeren Bewegungen und den durch sie ausgelösten Debatten abschließen, versuchen wir zu zeigen, dass sie eine Nähe zu Strömungen des »wilden Sozialismus« aufweisen. So widersprüchlich und begrenzt sie auch sein mögen, lösen sie sich doch von den Prinzipien und Zielen eines Sozialismus der Führer, der Partei, die sich im Besitz des für die Veränderung nötigen Wissens wähnt. Bislang sind diese Bewegungen von den institutionalisierten Organisationen der Vergangenheit noch nicht vereinnahmt oder entstellt worden. Es hat ihnen schlichtweg an einer eigenständigen Dynamik gefehlt, was es traditionellen Kräften ermöglicht hat, den von ihnen angestrebten Bruch im Keim zu ersticken. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. Doch an den aufgeworfenen Fragen kommt niemand vorbei; sie werden bleiben. Denn das mögliche Neue schreitet tastend voran, durch Vorstöße, die sich erschöpfen und dann abermals einsetzen.

Den Gegensatz zwischen einer auf dauerhafter Delegierung beruhenden Demokratie und der direkten Ausübung von Souveränität haben wir bis heute nicht überwunden. Wie Peter Kropotkin mit Blick auf die Französische Revolution bemerkte, muss die direkte Demokratie immer darum ringen, sich in Emanzipationsbewegungen Bahn zu brechen.

Unser Vorhaben besteht also darin, gemeinsam mit dem Leser den roten – oder schwarz-roten – Faden der gesellschaftlichen Emanzipation zu verfolgen, einer Fähigkeit zur Subversion der bestehenden Welt seitens all derer, die daran interessiert und beteiligt sind. Anders gesagt: den mühsamen und steilen Weg des wilden Sozialismus, der von der Französischen Revolution bis zu Occupy Wall Street führt.

KAPITEL 1

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION (1789–1795)

SOUVERÄNITÄT VERSUS DELEGATION

Die Ursprünge auf Repräsentation beruhender Organisationsformen reichen bis in vorkapitalistische Gesellschaften und die Staaten der Antike zurück. Später findet man entsprechende Formen in den Städten des europäischen Mittelalters, wo die Produzenten – die in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker – die öffentlichen Angelegenheiten in Versammlungen regelten. Auch in der ersten englischen Revolution im 17. Jahrhundert (1648–1657) bauten die Organisationen der Soldaten auf dem Prinzip der Repräsentation auf. Allerdings war diese Art von Demokratie »nicht der Geltung einer theoretisch formulierten Verfassung zu verdanken«1, die allen Menschen gleiche Rechte zuerkannt hätte; die politischen Organe wurden von Minderheiten beherrscht, die die wirtschaftliche Macht besaßen, während die Ausgebeuteten vom Prozess der Repräsentation ausgeschlossen blieben.

EIN KORREKTIV DER REINEN DEMOKRATIE

In der Französischen Revolution von 1789 hielt das Bürgertum der mit dem Gottesgnadentum begründeten Souveränität der Monarchie den Gedanken der Volkssouveränität und der formalen Gleichheit der Bürger entgegen – eine Idee, die von nun an die Grundlage politischer Theorien über die repräsentative Macht bildete. Der Verlauf der Revolution, bestimmt vom Bedürfnis des Bürgertums, sich mit den Ausgebeuteten zu vereinen, um die feudalen Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus aus dem Weg zu räumen, hatte allerdings unmittelbar zur Folge, dass die Ausübung der Volkssouveränität zu einem Problem erklärt wurde: »Wenn es auch für die Bourgeoisie der Neuzeit eine Notwendigkeit war, gegen den Absolutismus zu behaupten, daß alle Gewalt vom Volk ausgeht, so konnte sie dennoch nicht zugeben, daß sie vom Volk auch ausgeübt würde. Also mußte ein Korrektiv gefunden werden.«2 Konkret: Die Bourgeoisie, deren Macht als Klasse noch gering war, fürchtete, dass »die unter die Räder der Konkurrenz und der Ausbeutung kommenden Kleinbürger und Arbeiter zu viel Macht über den Gesetzgebungsprozess gewinnen«.3 Das benötigte Korrektiv fand seine vollendete Form im System der parlamentarischen Vertretung. Das Prinzip der dauerhaften Delegierung ermöglichte es, am Gedanken der Volkssouveränität festzuhalten und zugleich die ältere, vom Spätfeudalismus hinterlassene Institution des Parlaments zu nutzen. In »der Theorie ging alle Gewalt vom Volke aus, doch in der Praxis wurde ihm das Recht abgesprochen, sie selber auszuüben: das Volk durfte sie nur ›delegieren‹«.4 So meinte man »einen der großen Nachteile der Demokratie« beheben zu können, von dem Montesquieu als Stimme des liberalen Adels gesprochen hatte, nämlich dass das Volk »ganz und gar unfähig« sei, die eigene Souveränität auszuüben, wie die Revolution sie gefordert hatte.5 Die praktischen Formen dieser Korrektur durch permanente Delegierung waren Gegenstand eines langen und widersprüchlichen Kampfes. Anfangs eingeschränkt nach Einkommen, sozialer Stellung und Geschlecht, wurde das Wahlrecht nur schrittweise auf die Mehrheit der ärmeren Klassen und später auf die Frauen ausgeweitet. Der Kampf für seine Einführung blieb daher ein wichtiges Moment im Denken und politischen Handeln der Ausgebeuteten. Mit der Zunahme von Klassenkämpfen und der Entwicklung des Kapitalismus erwiesen sich das allgemeine Wahlrecht und das repräsentative System allerdings schließlich als unverzichtbar, um den gesellschaftlichen Konsens zu festigen und die politische Macht des Bürgertums zu legitimieren. Es zeigte sich nun, dass eine solche Demokratie »keine Schwäche des Kapitals ist, sondern umgekehrt ein Ausdruck der inneren Kraft des Kapitalismus«.6

Einige Denker wie Rousseau erkannten zwar, dass die Delegierung von Souveränität deren Negation gleichkam: »Die Souveränität […] kann nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Allgemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten.«7 Im Rückgriff auf den Gedanken der »menschlichen Natur« kamen sie indessen zu dem Schluss, die wahre Demokratie werde niemals existieren, da die Menschen nun einmal unvollkommen seien. Von dieser Auffassung wich Robespierre nicht besonders weit ab, als er schrieb: »Die Demokratie ist ein Zustand, in dem das souveräne Volk […] von sich aus all das macht, wozu es auch in der Lage ist, und durch Delegierte all das, was es nicht selber tun kann.«8 So gelangten die Jakobiner als extreme politische Strömung der neuen führenden Klassen zu einer klaren Ablehnung direkter Demokratie, von Robespierre »die reine Demokratie« genannt. Stattdessen versuchten sie die Mängel des parlamentarisch-repräsentativen Systems mit rechtlichen Mitteln zu beheben, indem sie Garantien und Regeln einführten, die Verfehlungen und Willkür der gewählten Vertreter verhindern sollten. Denn eine Annahme in der Lehre Robespierres lautete, diese würden immer versucht sein, sich gegenüber den Wählern untreu zu verhalten, und es an Integrität fehlen lassen. Die Ausübung von Macht barg somit Gefahren: »Der Mandatsträger neigt grundsätzlich zur Untreue, weil die Wahrnehmung jeglichen Mandats persönliche Vorteile (Stolz, Reichtum oder Ehrgeiz) mit sich bringt, deren Erwerb oder Erhalt auf lange Sicht die anfängliche Integrität selbst der Bestgesinnten beschädigt.«9 Nicht nur war das Volk demnach selbst unfähig zur Ausübung der Macht, es musste auch vor der Untreue seiner Vertreter geschützt werden – durch unabhängige Aufseher, die selbst nicht gewählt wurden, ihm aber seine Rechte sichern und ihm gegen die Mängel seiner Amtsträger zur Seite stehen sollten. Die Idee war nicht neu. Unter anderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen befasste sich auch die griechische Demokratie der Antike mit ihr; sie siedelte »Experten« außerhalb der Politik an und griff dabei auf Sklaven zurück. Auf diese Weise sollte die freien Männern vorbehaltene Macht der Entscheidung von der Sklaven zugewiesenen Macht der Ausführung getrennt werden.10

Für die Jakobiner in der Französischen Revolution ging es somit darum, die öffentliche Sphäre vor Mängeln und Missbrauch eines Systems der permanenten Machtdelegation zu schützen, dessen zwangsläufige Unvollkommenheit sie anerkannten. Dies ging so weit, dass sie den Schutz des Volkes durch nicht gewählte, nicht dem demokratischen Delegierungsprinzip unterworfene Aufseher vorschlugen – ein Paradox, das vielleicht auch einem Eingeständnis gleichkam. Ihnen zufolge war dies die einzige Möglichkeit, ein Gegengewicht zu der vom repräsentativen System selbst hervorgebrachten Enteignung der Souveränität zu schaffen. Die Anerkennung des demokratischen Grundsatzes der formellen Gleichheit machte zwangsläufig die soziale Ungleichheit erkennbar, die sein Fundament bildet. Im Bewusstsein, wie gefährlich es war, dem aufständischen Volk die Ausübung seiner Souveränität zu verwehren, waren die Jakobiner durchaus bereit, dessen Handeln – in gewissen Grenzen – als ein Druckmittel gegenüber dem repräsentativen System zu akzeptieren: eine Art souveräne Ausnahme. Dieses Arrangement illustriert Peter Kropotkins Auffassung, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung seien die Jakobiner grundsätzlich eine opportunistische Strömung gewesen: »Der Jakobinerklub hat die Revolution nicht geleitet, er ist ihr vielmehr nur gefolgt. […] der Geist des Klubs wechselte mit jeder neuen Krise.«11 Laut Kropotkin, der in seiner Studie zur Französischen Revolution das Handeln des Volkes in den Mittelpunkt rücken wollte, überzeichnete die spätere Geschichtsschreibung die Fähigkeit der Jakobiner zur Initiative, deren gesellschaftliche Rolle in Wirklichkeit eine geringere gewesen sei.12

Tatsächlich war es das Eintreten des Volkes für die ungeschmälerte Ausübung seiner Souveränität, was Rhythmus und Verlauf der Revolution bestimmte und die zwei rivalisierenden Hauptströmungen, die Montagnards (oder Bergpartei) und die Girondisten, im Zuge der Ereignisse immer wieder zu Veränderungen ihrer Position zwang. Erkennbar vor allem in der Gewalt gegen die Widerstände des Ancien Régime in den Jahren 1792 und 1793, vollzog sich dieser Kampf des Volkes durch die revolutionären Sektionen und Klubs, die zum Nationalkonvent – der auf zwei Ebenen gewählten repräsentativen Versammlung – auf Abstand gingen. Als Organe des öffentlichen Lebens, die sich miteinander verbanden und gemeinsame, in den Augen der Nationalversammlung teilweise illegale Aktionen durchführten, drückten die Pariser Sektionen einen Geist der spontanen Organisation aus. Den Parisern gelang es zudem, neben der Nationalversammlung »eine tatsächliche Gewalt festzusetzen, die die revolutionären Tendenzen«13 in der Bevölkerung verkörperte: die Pariser revolutionäre Kommune, entstanden am 9. August 1792 und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Verwaltungsorgan, das bereits seit Juli 1789 existierte. Dessen Bezirke (aus denen später die Sektionen wurden) bildeten allerdings den Rahmen, in dem von Juli 1789 an die Debatte über das »imperative Mandat« – so die damals gebräuchliche Bezeichnung für direkte Demokratie – an Schwung gewann.

Die revolutionäre Kommune forderte eine direkte Regierung des Volkes. Darin bestand der Höhepunkt eines Aufstands, in dessen Verlauf die Straße solange Druck auf das Königtum ausübte, bis es abgeschafft und die Republik proklamiert wurde. Die »Kommune will sich […] selbst Gesetze geben und sich selbst soviel als möglich direkt verwalten; die Repräsentativregierung soll auf ein Minimum beschränkt werden; alles, was die Kommune direkt tun kann, soll von ihr ohne Zwischeninstanz, ohne Delegation oder durch Delegierte entschieden werden, die nur die Rolle besonderer Mandatare haben, die unter der unausgesetzten Kontrolle ihrer Auftraggeber stehen«.14 Die zögerliche Haltung der Nationalversammlung und später des Konvents sowie die Furcht vor der Kommune und einer Radikalisierung der Straße verstärkten den Drang bürgerlicher Strömungen nach einer Begrenzung, Korrektur oder sogar Unterdrückung der Souveränität des Volkes. Dass sich das Prinzip der direkten Demokratie, das in frontalem Gegensatz zum jakobinischen Gedanken der Repräsentation stand, so rapide in den unteren Klassen ausbreitete, beunruhigte das revolutionäre Bürgertum. Insofern kann man der Behauptung, dass »das Misstrauen gegenüber den vom Volk spontan geschaffenen Entscheidungsformen und -organen sowie schließlich ihre Unterdrückung« deutlich den bürgerlichen Charakter der Revolution bezeugten, nur zustimmen.15

Obwohl Kropotkin lediglich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossenen Quellen zur Verfügung standen, erwies er sich mit seiner Studie über die Revolution als ein ernstzunehmender Historiker. Dabei machte er ihre verschiedenen politischen Optionen deutlich, arbeitete die Prinzipien der damaligen sozialen Bewegung heraus und bezog sie auf die Zukunft, indem er sie als Vorläufer des modernen politischen Radikalismus begriff: Die Französische Revolution war »die Quelle aller kommunistischen, anarchistischen und sozialistischen Anschauungen unserer Zeit«.16

DIE VERDRÄNGUNG DES REVOLUTIONÄREN GEISTES

Ohne uns im komplexen Verlauf der Französischen Revolution zu verlieren, müssen wir uns an dieser Stelle einige ihrer Hauptkräfte vergegenwärtigen. Zunächst die Bedeutung der Volksorganisationen, der Komitees und Sektionen. Ohne dieses revolutionäre Ferment, diesen Radikalismus der Straße, wäre das politische Leben in den Klubs genauso unvorstellbar gewesen wie die scharfen Konflikte zwischen den Hauptströmungen der Revolution. Auch ein sozialdemokratischer Theoretiker wie Karl Kautsky, der schwerlich zur Unterstützung einer schöpferischen Spontaneität neigte, erkannte ein Jahrhundert später an, dass die wichtigsten Momente der Revolution aus der Erhebung des Volkes und seiner kollektiven Initiative hervorgegangen waren: »die bedeutendsten Beschlüsse der verschiedenen Nationalversammlungen, der Konstituante, der Legislative, des Konvents bestätigten nur, was das Volk bereits getan; in den revolutionären Kämpfen zeigten sich diese Versammlungen haltlos, Direktiven vom Volk empfangend, nicht sie ihm gebend«.17 Geist und Energie der Revolution verlagerten sich ständig, je nachdem, wie sich die Funktion von Organisationen wandelte. Kropotkin zählte zu den Autoren, die diese jeder revolutionären Situation eigene Bewegung plastisch darzustellen vermochten. Im Zusammenwirken von politischem Handeln und den Widersprüchen des revolutionären Prozesses büßten die Volksorganisationen ihre ursprüngliche souveräne Funktion zusehends ein und verwandelten sich in Rädchen der Staatsmaschinerie. So gelang es dem zentralisierten Staat, den Komitees und Sektionen, die das Fundament der revolutionären Kommune bildeten, ihre gesellschaftlichen Funktionen zu nehmen und sie der eigenen Bürokratie zu unterwerfen. Entscheidend für diese Unterordnung unter den Nationalstaat war das große Gewicht, das polizeiliche Aufgaben der sozialen Kontrolle und Repression erlangten, nachdem ausländische Mächte der Revolution den Krieg erklärt hatten. »Der Staat hatte sie verschlungen. Und ihr Tod war der Tod der Revolution«, schrieb Kropotkin über die Sektionen und zitierte Michelets Bemerkung, dass »das öffentliche Leben in Paris vernichtet« worden sei.18 Das Zentrum der Revolution verschob sich daraufhin in die Klubs, was die Auslöschung der Kommune und sodann der radikalen Enragés erleichterte. Die Tatsache, dass die Jakobiner die revolutionäre Kommune 1793 gegen die Montagnards unterstützten, nur um sich ein Jahr später gegen sie zu wenden und die führenden Köpfe der Hébertisten – Chaumette und Hébert – hinzurichten, ist ein weiterer Beleg für das politizistische und insofern opportunistische Wesen dieser Strömung des radikalen Bürgertums.

DIE SACKGASSE DER SOUVERÄNEN AUSNAHME

Nachträglich verwischt in der großen Debatte über den Terror, wurde die Frage der souveränen Ausnahme kurzerhand auf die Vergeltungsmaßnahmen des Volkes, die einzigen direkten Gewaltaktionen, reduziert. Während die gemäßigteren Girondisten jede direkte Ausübung der Souveränität mit Anarchie und Barbarei gleichsetzten, versuchten die Jakobiner die »souveräne Vergeltung« in den institutionalisierten Terror zu kanalisieren. Insofern kann die »institutionalisierte Vergeltung« – die Einrichtung der Revolutionstribunale im Jahr 1793 und der Erlass repressiver Gesetze – als eine zur Eindämmung von Aktionen der direkten Souveränität notwendige Maßnahme gesehen werden: Der Terror des Staates diente dazu, die überschießenden Momente der Volkssouveränität zu neutralisieren.19 Wie Danton sagte: »Seien wir furchterregend, damit das Volk es nicht sein muss.« Damit schien die »Unfähigkeit« des Volkes zur Ausübung seiner Souveränität bestätigt, die nun als Quelle von Exzessen, ja »Terror« galt.

In dieser Frage sollten wir nochmals die scharfsinnige Analyse von Karl Kautsky heranziehen, für den der Einsatz von Terror durch das Volk mehr war als eine »Kriegswaffe«, die der Demoralisierung des inneren Feindes und der Mobilisierung gegen den äußeren diente. Sicherlich erzwang der Kriegszustand den Terror. Dieser war aber auch ein Produkt der historischen Situation: »Die Verhältnisse hatten ihnen [den Sansculotten] die Macht in die Hand gespielt, aber die Möglichkeit versagt, dauernde Institutionen zu ihrem eigenen Vorteil zu schaffen. Sie, denen die Machtmittel von ganz Frankreich zu Gebot standen, konnten und wollten sich aber auch nicht willenlos dem Elend unterwerfen, das die rasch sich entwickelnde kapitalistische Wirtschaft über sie brachte, und das der Krieg noch verstärkte; sie mußten es bekämpfen durch gewaltsame Eingriffe in das wirtschaftliche Leben […], ohne ihrem Ziele näher zu kommen. Die Ausbeutung war wie eine Hydra, je mehr Köpfe ihr abgeschlagen wurden, desto mehr wuchsen ihr nach. Ihr zu begegnen, wurden die Sansculotten immer weiter getrieben«.20

Je mehr das Volk gegen das Ancien Régime kämpfte, umso mehr stärkte es die Macht der neuen Ausbeuter, da »die Verhältnisse […] alles unhaltbar machten, was der kapitalistischen Revolution im Wege stand«.21 Kautsky vertritt die These, dass diese Sackgasse eine direkte Ausübung der Souveränität erschwerte, das Volk von jeglichem emanzipatorischen Projekt abbrachte und es im Gegenteil in Richtung Terror trieb.

DIE »GEFÄHRLICHKEIT« DES VOLKES

Die Annahme einer »Gefährlichkeit« des Volkes kam bereits lange vor der Revolution und der Philosophie der Aufklärung auf. Für englische politische Philosophen des ausgehenden 17. Jahrhunderts wie Thomas Hobbes und John Locke konnte das Aufbegehren der Unterdrückten niemals die Legitimität der Regierung und anderer politischer Institutionen infrage stellen, sondern allenfalls in Situationen von Machtmissbrauch geduldet werden. Das bürgerliche politische Denken der Französischen Revolution brach mit dieser Auffassung nicht wirklich und begegnete dem Eingreifen des Volkes mit derselben Vorsicht. Nach dem Thermidor verwandelten sich die arbeitenden Klassen in der Vorstellungswelt der Mächtigen allmählich in gefährliche Klassen, in den bewaffneten Arm der jakobinischen Ideen.

In den 1840er Jahren setzte sich der Gedanke der »gefährlichen Klassen« dann in der bürgerlichen Wahrnehmung von Volksaufständen und Revolutionen durch, bevor er schließlich eine Verfeinerung in den Studien von Gustave Le Bon erfuhr.22 Das Bild des Volkes, des entstehenden Proletariats, musste dem einer Menge von potenziellen Verbrechern oder gar Geistesgestörten, einer desorganisierten, formlosen und wilden Masse angenähert werden, die einer aufgeklärten und bewussten Führung harrte. Bis heute bildet die Furcht vor blinden, barbarischen Akten der »Massen« eine Legitimationsquelle des repräsentativen Systems, das sich als die einzig machbare und verantwortungsvolle Form von Demokratie präsentiert – als Regierung der Fähigen anstelle einer Regierung der Unfähigen, wie Robespierre und seine Freunde meinten. Das jakobinische Modell einer Delegierung der Souveränität an Führer, die die Fähigkeit hätten, im Rahmen des Gesamtinteresses der Nation die Interessen des einfachen Volkes zu vertreten, bildet zusammen mit der Konstruktion eines »Gesellschaftsvertrags« von oben den roten Faden der demokratischen politischen Theorie.

Der Triumph des repräsentativen Systems über die Erfahrungen direkter Volkssouveränität sowie die Gleichschaltung der souveränen Ausnahme vollzogen sich im Verlauf der Revolution weder linear noch ohne Konflikte. Einige der bekanntesten Vertreter der vorherrschenden Geschichtsschreibung sprechen von einer »Tendenz zur Praxis einer direkten Regierung und zur Einführung einer Demokratie des einfachen Volkes«23, die »spontan und nicht als Anwendung eines a priori gegebenen Systems« entstanden sei.24 Anstatt jedoch zu erkennen, dass »sich die direkte Demokratie, praktisch wie logisch, durchaus aus der Volkssouveränität ›ableitet‹«25, wird sie von ihnen häufig als eine Art von politischer Praxis betrachtet, die infantil (im Sinne einer »Kinderkrankheit« à la Lenin), intuitiv und theoretisch inkonsistent gewesen sei – und der wahren, repräsentativen Demokratie weichen musste, die sich auf eine politische Theorie berufen konnte. Wie Kropotkin festhielt, verwies das »Spontane« hier aber sehr wohl auf Ideen, die allerdings nicht aus wissenschaftlichen Denkanstrengungen, sondern aus der Erfahrung und den konkreten Erfordernissen des Augenblicks hervorgingen.

DAS IMPERATIVE MANDAT UND DER ANGRIFF AUF DIE VOLKSSOUVERÄNITÄT

Die direkte Ausübung der Volkssouveränität war ein von lebhaften Debatten begleiteter Prozess: Es ging um den Charakter von Delegierung, um die Auswahlkriterien (Einkommen und Geschlecht) für die an der direkten Demokratie praktisch zu beteiligende Bürgerschaft und vor allem um die Abberufung von Abgeordneten durch die Wähler, also die oben erwähnte Frage des imperativen Mandats. Dessen erklärtes Ziel bestand darin, die Gewählten an die Wähler zu binden, was keineswegs selbstverständlich war und Konflikte hervorrief. Sollten die Mandatsträger bei jeder Entscheidung von Neuem vor ihre Wähler treten? Einige Gegner des Prinzips sprachen von utopischen Praktiken, die dem Grundsatz der effektiven Regierung zuwiderliefen, und erklärten beharrlich, man müsse »Anarchie vermeiden«. Das imperative Mandat wurde aber nicht als ein wirklichkeitsfremder Traum gefordert, sondern weil es sich in der Praxis des einfachen Volkes vor und während der Revolution bewährt hatte. Deren spontanes Element zeigte sich genau in einer solchen Wiederaneignung konkreter Erfahrungen des Volkes. Natürlich stieß der von den Enragés geführte Kampf für das imperative Mandat auf den erbitterten Widerstand der anderen großen Strömungen in der Revolution, die sich allerdings häufig zu Zugeständnissen genötigt sahen, weil der Druck von unten für das imperative Mandat stark blieb.26

Trotz ihrer unüberwindlichen Gegensätze wendeten sich beide Hauptströmungen, Montagnards wie Girondisten, gegen jegliche Entfaltung von Praktiken der direkten Demokratie. So beispielsweise, als die Enragés und andere Vertreter der Sansculotten angesichts des gravierenden Problems der Lebensmittelversorgung Eingriffe des Staates und vor allem der Volksorganisationen forderten.27 Montagnards und Girondisten verband mehr, als sie trennte – gemeinsam lehnten sie die Forderung der unteren Schichten nach einer Preiskontrolle ab, als deren Fürsprecher die Enragés auftraten. »Es ist nicht möglich«, ließ Marat diese wissen, »dass sich jeder Einzelne von euch unablässig mit Staatsangelegenheiten befasst; das muss den Repräsentanten überlassen bleiben.«28 Robespierre befürchtete unterdessen, dass »ein Übermaß an Demokratie […] die nationale Souveränität zerstört«.29

Wie gezeigt, drückte sich der Konflikt zwischen Gegnern und Verfechtern einer direkten Volkssouveränität konkret im Gegensatz zwischen der Nationalversammlung und der revolutionären Kommune aus, die sich als eine bewegliche Organisation erwies. Sie entstand aus der Versammlung der Pariser Stadtteilsektionen, die ursprünglich schlicht Wahlorgane des Dritten Standes gewesen waren, sich nun aber in eine revolutionäre Bewegung verwandelten und zu offenen Diskussionsklubs wurden. Im Zuge der Revolution stellten sie eine Kraft dar, die Druck auf die Kommune ausübte, in der (bis zum Thermidor) eine näher an der direkten Souveränität angesiedelte »Volksmacht« gesehen wurde – eine gefährliche Macht, bedrohte sie doch das repräsentative System. Um dem Problem auszuweichen, setzte die Nationalversammlung die Kommune durchweg mit der Vergangenheit, dem Mittelalter gleich und machte in ihr die Gefahr eines Zusammenbruchs der Nation aus. Die Form der »Kommune« existierte tatsächlich bereits im 11. Jahrhundert; sie lässt sich bis zur feudalen Gesellschaft und den Freiheiten der Städte zurückverfolgen, in denen der Dritte Stand für seine Interessen eintrat. Die »freie Kommune des Mittelalters« ging der Entstehung von bürgerlichem Staat und Parlament voraus. In der damaligen Epoche war sie der konkrete Ausdruck des Kampfes, den das Bürgertum gegen die Feudalordnung führte, um diese schließlich zu stürzen und durch seine eigene Ordnung zu ersetzen.30 Während der Französischen Revolution veränderte sich jedoch auch der Charakter dieser Organisationsform. Die Kommune bekannte sich nunmehr zum Grundsatz der Einheit der Nation und wendete sich folglich nicht gegen den neuen zentralisierten Staat. Noch radikaler verändert trat sie viele Jahre später erneut auf – 1871.

Anfangs wählten die Sektionen, die an die Stelle der bisherigen Verwaltungsbezirke traten, direkt Vertreter in den revolutionären Stadtrat, die Kommune von Paris. Diese Vertreter unterstanden der Kontrolle durch das Volk und konnten abberufen werden. Mit der von den Jakobinern vorangetriebenen Zentralisierung verwandelten sich die Sektionen jedoch in Organe der Staatsmacht. Das Fanal für diese Zähmung erfolgte 1793, als die Klubs der Frauen verboten wurden. Auch wenn die Doppelherrschaft somit bereits vor dem Sturz der Jakobiner nicht mehr existierte, schritt die Normalisierung des politischen Lebens nach dem Thermidor allerdings weiter voran: Zunächst wurden die Gesellschaften des Volkes, die als Foren der politischen Debatte gedient hatten, und die Versammlungen der Sektionen verboten, schließlich wurde das allgemeine Wahlrecht durch das Zensuswahlrecht ersetzt. Entmachtung sämtlicher Formen einer direkten Ausübung von Volkssouveränität, der Klubs, der Sektionen und der Kommune, Unterdrückung jeder Tendenz zur Doppelherrschaft: So lautete die politische Bilanz der Revolution bis zum Thermidor (Juli 1794). Eine Bilanz, die zusammengefasst im Sieg des repräsentativen parlamentarischen Systems über alle Tendenzen bestand, die, wie zögerlich auch immer, die Einschränkung der direkten Volkssouveränität ablehnten.

SOZIALE FRAGE UND SOUVERÄNITÄT

Die schrittweise Einschränkung der Volkssouveränität ging mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Armen einher. Dabei stellte sich die soziale Frage »während der Großen Revolution hauptsächlich in der Form des Problems der Lebensmittelversorgung und […] des Grund und Bodens dar«.31 Sehr schnell drängte sich das Thema der politischen Debatte auf. Die radikalsten Tendenzen der Sansculotten – in Paris Leclerc, Roux, Varlet, in Lyon Chalier und L’Ange sowie generell die Enragés – riefen das Volk unablässig dazu auf, sich seiner Souveränität praktisch zu bemächtigen. Dass sie die direkte Demokratie ins Zentrum ihrer Agitation stellten, war ein direkter Widerhall des Drucks der Straße.32 Was der Revolution ihre Schwungkraft gab und die Ziele der Enragés prägte, das waren die sozialen Zustände und das Aufbegehren der Sansculotten gegen die Kluft zwischen politischer Gleichheit und realer Ungleichheit, ihre Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums, die indirekt die Frage des Privateigentums aufwarf, und schließlich die Agrarfrage: »Was die Armen einforderten und durchsetzten, erhoben die Enragés zum Programm.«33 Nur weil die Strömung eine Minderheit blieb, sollte man das emanzipatorische Potenzial ihrer Forderungen nicht unterschätzen. Vielmehr ist Kropotkin zuzustimmen, der bei den Enragés eine zur Verwirklichung drängende Zukunftsvorstellung erkannte: eine »kommunistische Idee«, die sich »während der ganzen Revolution Bahn brechen wollte«.34

In einer seiner Studien über die Französische Revolution erkannte Karl Korsch 1930 einen »Widerspruch, der dieser Revolution und speziell ihrem höchsten Ausdruck, der revolutionären Jakobinerdiktatur anhaftet, darin, daß sie die liberté, égalité, fraternité, die sie in der politischen Sphäre verwirklichen wollte, zugleich in der ökonomischen Sphäre wieder aufhob, indem sie die alte feudale Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Massen nur in ihrer Form veränderte, aber in ihrem Wesen beibehielt und in der Folge sogar noch steigerte.«35 Die bürgerlichen Fraktionen, allen voran die Jakobiner, wirkten deshalb ständig darauf hin, die soziale Frage von der der Souveränität abzutrennen; beharrlich erklärten sie, die politische Gleichheit der repräsentativen Demokratie dürfe man nicht mit wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit vermengen. Politisch autoritär, neigten die Jakobiner zum Liberalismus, sobald es um den Schutz des Privateigentums ging. Robespierre bekannte dies offen ein, als er sich gegen das Agrargesetz wendete und verlangte, auch dem Reichtum und den Reichen ihren Platz zu lassen, die er lediglich zu mehr Respekt vor den Armen ermahnte: Die »Gleichheit der Güter« sei eine »Schimäre […]. Es gilt viel eher, die Armut ehrbar zu machen, als den Überfluss zu verbieten.«36 Wie Kropotkin bemerkte, beeinflusste die Kraft der kommunistischen Idee allerdings selbst diejenigen, die sie ablehnten, so auch Robespierre: »nur der Überfluss der Lebensmittel dürfe Gegenstand des Handels sein«, gibt Kropotkin ihn wieder, »das Notwendige gehört allen«.37 Kropotkin ging sogar so weit, eine »Überlegenheit« des Kommunismus in der Französischen Revolution über den Sozialismus von 1848 zu postulieren: »Er ging gerade aufs Ziel, indem er sich an die Verteilung der Produkte hielt.«38

Die Untätigkeit, ja Gleichgültigkeit, mit der die ärmeren Klassen den Sturz des »Unbestechlichen« quittierten, lässt sich so interpretieren, dass ihnen die Zweideutigkeit von Robespierres Einstellung aufgegangen war und sie bereits ahnten, dass sie das Spiel verloren hatten. Der Prairialaufstand vom Mai 1795, der Unmut und die Unruhen in den Pariser Vorstädten, die schon immer den Schwerpunkt der revolutionären Bewegung ausgemacht hatten, waren Reaktionen auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen, auf Inflation, Arbeitslosigkeit und Hunger – nicht Ausdruck einer Solidarität mit Robespierre und seinen Gefährten. Es war ein Aufbegehren, das eher einen sozialen als politischen Charakter hatte. Und während die jakobinischen Führer sich noch an seine Spitze zu setzen versuchten, um dem Konvent zu trotzen, hatte das Volk bereits keine organisierte Kraft mehr; seine Fähigkeit zur Mobilisierung war erschöpft.39

DIE ERSCHÖPFUNG DER REVOLUTION UND DER VERENGTE WEG DES AVANTGARDISMUS

Alle radikalen Strömungen in der Französischen Revolution haben gerade für die von den Jakobinern abgelehnte Verknüpfung gekämpft: Keine Ausübung der politischen Souveränität ohne wirtschaftliche und soziale Gleichheit. Nach den Enragés und den Hébertisten war es an Babeuf und seinen Freunden, die Revolutionsregierung anzuklagen, sie habe dem Volk seine Souveränität »geraubt«. Babeuf mahnte: »Wo es keine Rechte mehr gibt, gibt es auch keine Pflichten mehr.«40 Über den Feind bemerkte er: »Arbeite viel und iss wenig, sonst wirst du keine Arbeit mehr haben und gar nicht mehr essen. So lautet das barbarische Gesetz, das die Kapitale diktieren.«41

Die babouvistische Strömung wird häufig als unversöhnlicher Gegner des Privateigentums und Vertreter eines Kommunismus in der Verteilung dargestellt. Ihr Programm schließt allerdings eher an die Forderungen an, die die Enragés – oftmals unorganisiert und individuell – dem Nationalkonvent vorgelegt hatten: Erfassung und Beschlagnahmung von Grundnahrungsmitteln, Kampf gegen die Wucherer und Spekulanten, Verstaatlichung des Handels, Terror gegen die Klassen des Ancien Régime, uneingeschränkte Ausübung der Souveränität und der direkten Demokratie sowie Frauenrechte. Die Babouvisten betraten nach der Unterdrückung der Radikalen durch die Jakobiner und nach dem Thermidor die Bühne der Revolution. Sie organisierten sich als unabhängige und abgeschirmte, ja klandestine Strömung. Zitieren wir nochmals Kropotkin, der ihre politischen Vorstellungen in den Gesamtverlauf der Revolution einordnet. Er attestiert Babeuf eine »enge« Auffassung des Kommunismus, die Gestalt annahm, als die Reaktion des Thermidor der aufsteigenden Bewegung der Großen Revolution ein Ende bereitet hatte: »Die Idee, durch die Verschwörung, vermittels einer geheimen Gesellschaft, die sich der Macht bemächtigen sollte, zum Kommunismus zu gelangen […] ist ein Produkt der Erschöpfung – nicht eine Wirkung des aufsteigenden Saftes der Jahre 1789 bis 1793.«42 Babeufs »Aktionsmittel […] brachten die Ideen des Kommunismus auf ein niedrigeres Niveau herunter. Während viele Geister der Zeit einsahen, daß eine Bewegung in der Richtung des Kommunismus das einzige Mittel war, die Errungenschaften der Demokratie zu sichern«.43 Tatsächlich kennzeichnete das politische Projekt der babouvistischen »Gleichen« ein erheblicher Widerspruch, der den Beschränkungen der Epoche geschuldet war. Während sie klar aufzeigten, warum das repräsentative System des Parlamentarismus falsch war und die formelle Gleichheit eine Täuschung bleiben musste, solange es keine wirtschaftliche gab, sahen sich die Babouvisten als eine elitäre Führung, die imstande war, »zum Wohle des Volkes« von oben eine neue Form von Repräsentation durchzusetzen, gestützt auf die Sektionen, Klubs und Volksversammlungen, die sie »Versammlungen der Souveränität« nannten. Ihr Organisationsmodell beruhte insofern gerade auf der Aufgabe der Forderung nach Souveränität und direkter Demokratie: Der Aufstand sollte das Werk der Verschwörung einer kleinen bewussten Minderheit sein, bei dem die Führer sicherstellen, dass die Souveränität des Volkes respektiert wird – eine ausgesprochen dirigistische Vorstellung. Wie Babeufs Gefährte Philippe Buonarroti später erläuterte, sollte ein »Aufstandskomitee die Grundlagen zur sozialen Einteilung« legen, um »die Gleichheit aufrechtzuerhalten«; es sollte »die Dinge so […] leiten, daß das Prinzip der Volkssouveränität niemals verletzt werde«, dass dem Volk »keinerlei Verpflichtung […] ohne seine wirkliche Einwilligung« auferlegt werden könne und »es in seinen Beratungen alle wünschenswerte Reife« mitbringe.44

Das Unternehmen erforderte somit eine provisorische revolutionäre Diktatur, um die Volkssouveränität zu erweitern und »die wahre Demokratie« der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft aufzubauen – eine widersprüchliche Konstruktion, in der sich spätere totalitäre Modelle andeuteten. Für die Babouvisten hing die direkte Demokratie zwar unmittelbar mit der Verwirklichung wirtschaftlicher Gleichheit zusammen, beides war aber dem verschwörerischen Handeln einer entschlossenen revolutionären Elite untergeordnet. Das sozialistisch-jakobinische Denken der nachrevolutionären Zeit konnte dieses Projekt mühelos integrieren, und wie gezeigt worden ist, weisen die Vorstellungen von Blanqui, Barbès und später der Ersten Internationale eine direkte Verwandtschaft mit denen von Babeuf und Buonarroti auf.45 Der Form, nicht aber dem Inhalt nach verändert, kehrt diese dirigistische Konzeption später auch in der Staatstheorie der Sozialdemokratie und ihrer radikalen Spielart, des Bolschewismus, wieder. Die Basisorgane sozialer Bewegungen, die Räte oder Sowjets, blieben für solche Strömungen eine »souveräne Ausnahme«, eine Kraft, die die Partei der Wissenden für das Ziel instrumentalisieren konnte, den für den Aufbau des Sozialismus notwendigen Staatsapparat zu übernehmen und umzumodeln.

Im Kern war dies ein jakobinisch-avantgardistisches Programm, das eine »Verkoppelung der ›Verfassung von 1793‹ mit den ökonomischen und sozialen Forderungen der Arbeiterklasse« vornahm, wie Korsch 1929 notierte. Nach dieser für die weitere Entwicklung der sozialistischen Bewegung prägenden Konzeption setzt der auf der sozioökonomischen Ebene angesiedelte Kommunismus zunächst die Einführung einer »radikalen Demokratie« jakobinischen Typs voraus – den revolutionären Staat.46 Das Führungsorgan des Aufstands muss die Form der Avantgardepartei annehmen, der revolutionäre Staat einheitlich, zentralisiert, also antiföderalistisch organisiert sein.

KAPITEL 2

DIE PARISER KOMMUNE (1871)

DIE GRENZEN EINER PRAXIS DER »REINEN DEMOKRATIE«

FALLSTRICKE DES GEGENSATZES VON ZENTRALISMUS UND FÖDERALISMUS

Der Widerspruch zwischen zentralistischen und föderalistischen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft war älter als die Französische Revolution und die Konzeption der Jakobiner. Bereits die Aristokratie hatte in ihrem Kampf gegen den Feudalismus auch eine autoritär-zentralistische Strömung umfasst. Von der Französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert setzte sich das jakobinische Modell dann in der bürgerlichen Politik durch und prägte mehr oder minder deutlich auch sozialistische Strömungen, angefangen bei bestimmten Utopisten über die Anhänger Blanquis bis zu marxistischen Bewegungen. Das zentralistische Staatsmodell und die Ablehnung von Föderalismus verbanden sich zudem mit dem parlamentarisch-repräsentativen System. Permanente Abtretung von Souveränität versus direkte Demokratie, Staat versus Selbstregierung, Zentralismus versus Föderalismus – all dies waren in den Debatten der sozialistischen Bewegung zentrale Themen.

Dabei vertrat Proudhon dezentrale Konzeptionen von Wirtschaft und politischer Organisation, die dem jakobinischen Zentralismus zuwiderliefen: Dem vom Zentralstaat oktroyierten »Gesellschaftsvertrag« hielt er ein föderalistisches Modell entgegen. Jakobinisch geprägte Strömungen setzten dies häufig mit einer Rückkehr in die Vergangenheit gleich – eine einseitige, irreführende Behauptung, denn der föderalistische Gedanke ermöglichte es Proudhon zugleich, eine neue Form der Ausbeutung zu kritisieren. Im Gegensatz zwischen Staatseinheit und Föderalismus erkannten Denker wie Proudhon und Edgar Quinet, dass die Revolution »als Kampf um die Zerstörung des alten Zwanges und die Verwirklichung einer neuen Freiheit mit unvermeidlicher geschichtlicher Notwendigkeit zugleich einen neuen Zwang und eine neue Unfreiheit in sich selbst hervorbringt«.1

Der Dissens zwischen Marx und Proudhon betraf vor allem wirtschaftliche Fragen. Verstärkt wurde er durch die politischen Positionen, die der französische Philosoph nach 1848 vertrat, sowie durch die unklare Haltung seiner Anhänger zur Regierung von Napoléon III. Marx befasste sich während seiner aktiven Zeit in Deutschland, im Jahr 1848 sowie ab 1864 in der Ersten Internationale nur sehr wenig mit der Frage von Zentralismus und Föderalismus an sich. Für Proudhon ergab sich das Konzept eines föderal-dezentralisierten politischen Aufbaus aus seinem ökonomischen Entwurf einer Gesellschaft, die er sich als Assoziation von Privatproduzenten vorstellte. Was Marx mit ihm teilte, war ein »Widerwille gegen die sozialistische Gefühlsduselei« und die Ablehnung utopischer Sozialisten.2 Aber Marx hatte ein Verständnis von politischer Macht, das dem einheitlich-zentralistischen Staat die Schlüsselrolle bei der Veränderung der Gesellschaft und der Abschaffung der Ausbeutung zuwies, und er kritisierte Proudhons Projekt als einen Versuch, »den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit« einzuebnen; darauf ziele sein »ganzes Banksystem, sein ganzer Produktentausch«.3 Für Marx stand dies einem Bruch mit dem System der kapitalistischen Ausbeutung entgegen, aus dem die soziale Emanzipation hervorgehen sollte.

Dann brach die Pariser Kommune von 1871 brüsk in die Debatte ein: Indem sie als historisches Ereignis dazu nötigte, zum Problem der politischen Macht neu Stellung zu beziehen, wurde sie bestimmend für die Zukunft sozialistischer Ideen und für die Spaltung zwischen den beiden Strömungen. Die Frage der Repräsentation und des Ausdrucks der Volkssouveränität stellte sich nun in einer zugespitzten Weise und deutlicher in einer Klassenperspektive, denn mit der Entfaltung des Kapitalismus war der Konflikt zwischen der Klasse der Produzenten und der Bourgeoisie mittlerweile ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gerückt.

Proklamiert wurde die Kommune auf Beschluss des Zentralkomitees der Nationalgarde, in dem sich die Komitees oder Räte der einzelnen Bataillone zusammengeschlossen hatten. Die Abgeordneten der Kommune wiederum entstammten unterschiedlichsten Richtungen; Anhänger von Blanqui und Fourier fanden sich ebenso in ihren Reihen wie aktive Mitglieder der protogewerkschaftlichen Chambres syndicales. Mehrheitlich waren sie eher Zentralisten als Föderalisten und vertraten eine jakobinische Konzeption. Da außerdem ein kollektivistischer Geist vorherrschte, wendeten sich manche Kommunarden wie etwa Eugène Varlin klar gegen Proudhon. Je nach der Situation waren ihre Ideen näher an denen von Marx oder von Bakunin angesiedelt, ohne dass man sie deshalb schlicht als Untergebene der beiden Köpfe der Internationalen Arbeiter-Assoziation betrachten könnte. Es wäre grundsätzlich falsch zu meinen, die damaligen Strömungen hätten so funktioniert wie die später entstehenden Arbeiterparteien.

Während die Proudhonisten in der politischen Praxis der Kommune einen Einfluss föderalistisch-antizentralistischer Prinzipien erkennen wollten, musste Marx einige seiner Auffassungen nun überdenken. In der »Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation«, besser bekannt als Der Bürgerkrieg in Frankreich, definierte er die Kommune als »wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse«, als »das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Diese neuartige, besondere politische Form war für Marx ihr »wahres Geheimnis«.4 In der Formulierung »endlich entdeckt« lässt sich zwischen den Zeilen das Eingeständnis herauslesen, dass es die wirkliche Bewegung war, die ihn dazu brachte, eine solche Regierungsform anzuerkennen und so seine bisherigen politischen Vorstellungen zu revidieren.

DAS NEGATIVE UND DAS POSITIVE ELEMENT

Wie häufig hervorgehoben worden ist, arbeitete Marx eher die allgemeinen Züge und neuen Regierungsprinzipien der Kommune heraus, als dass er ihre konkrete Funktionsweise und Realität im Einzelnen untersucht hätte; der Blick auf die großen Tendenzen und Prinzipien einer Bewegung entsprach eher seiner Methode der Analyse. Aber auch mit der Tatsache, dass die Ideen der Kommunarden aus unterschiedlichen Quellen – darunter Proudhon und Bakunin – geschöpft waren, hielt Marx sich nicht lange auf und versuchte sogar, die föderalistischen Tendenzen der Kommune mit seiner eigenen Vorstellung des revolutionären Staats zu versöhnen. Was er in den Vordergrund rückte, war das negative Element der Kommune: die Zerstörung des bürgerlichen Staates. In seinen noch während der Ereignisse angefertigten Notizen, aus denen Der Bürgerkrieg in Frankreich hervorging, schrieb er deutlich: »Daher war die Kommune nicht eine Revolution gegen diese oder jene […] Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.«5 Sechzig Jahre später betonte der kritische Marxist Karl Korsch, dass Marx gerade damit aber das positive, konstruktive Element der Kommune in den Hintergrund gedrängt habe: ihren föderativen, anti-zentralistischen Charakter.6

Bereits 1850, zwanzig Jahre vor der Kommune, hatte Marx in der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten« den Gedanken einer Repräsentation vertreten, die eher einer direkten Ausübung von Souveränität entsprach: Die Arbeiter sollten »neben den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten«; sie hätten sich »mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstabe zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten«.7

Solche Räte, Klubs oder Komitees sollten nach Marx die Macht des bürgerlichen Staates einschränken und so eine revolutionäre Doppelherrschaft herbeiführen. Als Organe der Selbstregierung betrachtete er diese Ausdrucksformen direkter Demokratie dagegen offenbar nicht. In gewisser Weise waren sie für Marx eher provisorische, vorübergehende Organisationen, die der neue revolutionäre Staat sich zunutze machen konnte – ein Staat, der seinerseits dem Modell einer zentralisierten, hierarchischen Institution folgen musste. Die direkte Ausübung der Souveränität blieb eine Ausnahme, ein Übergangsmoment beim Aufbau der zentralisierten Führungsorganisation. So schrieb Marx 1864, noch immer unter dem Eindruck des Scheiterns der Revolutionen von 1848: »Politische Macht zu erobern ist […] jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen.«8 Und auch noch 1872 schien Marx die »Konstituierung des Proletariats als politische Partei […] unerläßlich, um den Triumph der sozialen Revolution und ihres höchsten Zieles, der Aufhebung der Klassen, zu sichern«.9 Doch mit Blick auf den Gedanken der politischen Machteroberung bewirkte die Kommune langfristig eine Klärung.

Auch wenn Marx nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 Basiskomitees in seine Theorie des Umsturzes des bürgerlichen Staates integriert hatte, sprach er erst eine Weile nach der Erfahrung der Kommune von 1871 ausdrücklich von der Notwendigkeit, den alten Staatsapparat zu zerstören: »die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen«.10 Im Vorwort zu einer neuen Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei präsentierten 1872 Marx und Engels diese Formulierung als ein bloßes Beispiel dafür, dass »Einzelnes« am Manifest »hier und da zu bessern«11 wäre, dabei handelte es sich um eine gewichtige Veränderung der politischen Perspektive, die sie und die von ihnen beeinflusste Strömung vertraten. Denn nun war es »die endlich entdeckte politische Form« der Kommune, die zum Modell für eine Regierung der Arbeiterklasse avancierte. Sie sollte »nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit«12 – eine einheitliche Konzeption, die eine direkte Ausübung von Souveränität zuließ.

Von einer »Diktatur der Arbeiterklasse« sprach Marx erstmals im Gefolge der Revolution von 1848.13 Was er laut Maximilien Rubel darunter verstand, war grob gesagt eine revolutionäre Macht der »ungeheuren Mehrzahl« der Proletarier, womit er sich von dirigistischen Organisationsmodellen kommunistischer Minderheiten abgrenzte, wie sie besonders Babeuf und Blanqui vertraten. Für Marx bezeichnete die Formel zugleich die »Antithese« zur Diktatur der bürgerlichen Klasse und die umfassendste Demokratie eines organisierten und vom Staat emanzipierten Volkes.14 Nach Marx’ Tod legte Engels den Akzent darauf, dass die Erfahrung der Kommune ein Modell für die Diktatur des Proletariats biete. Damit wich er von Marx’ Auffassung nicht wirklich ab, und Engels verstand das Wort Diktatur auch nicht in dem totalitären Sinn, den es später annahm. Zum anderen hatte der Konflikt zwischen Bakunin und Marx seine Spuren hinterlassen; auch Marx selbst hatte es nicht versäumt, die Niederlage der Kommune rückblickend mit einem Mangel an Zentralismus und einheitlicher Führung zu erklären.

Die sozialdemokratischen Parteien und die Bolschewiki als ihr extremer russischer Flügel gaben dieser Orientierung auf einen »zentralisierten sozialistischen Staat« später lediglich eine rigidere Form. Lenin griff sie in Staat und Revolution dahingehend auf, dass er einen »Staat der Sowjets« entwarf: Die Räte sollten sich in den neuen Staat eingliedern und ihm zu Diensten sein. Damit wurde die Erfahrung der Kommune auf ein politisches Faktum, ihr »negatives Element« reduziert: auf die Zerstörung des alten Staates, an dessen Stelle ein neuer, zentralistischer und von der Avantgardepartei beherrschter treten sollte. In diesem Sinne lieferte Trotzki 1921, mittlerweile leninistischer als Lenin und zu einem Führer des bolschewistischen Staates geworden, eine dem autoritären Zentralismus durchaus entgegenkommende Erklärung für das Scheitern der Kommune: »Die Feindschaft gegenüber der zentralistischen Organisation […] ist zweifellos die Schwäche einer gewissen Fraktion des französischen Proletariats. Die Autonomie […] gilt gewissen Revolutionären als höchste Gewähr für die wahre individuelle Tätigkeit und Unabhängigkeit. Doch darin besteht ein großer Fehler, für den das französische Proletariat teuer bezahlt hat.«15 Gescheitert war die Kommune demnach nicht an der Schwäche der Demokratie, dem Erlahmen der direkten Ausübung von Souveränität durch die Arbeiter, sondern am Mangel einer »starken Parteiführung«, eines »zentralisierten und durch eiserne Disziplin zusammengeschweißten Apparats«.

Damit wird bereits deutlich, in welchen Begriffen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Ära der Revolutionen, ein Konflikt zwischen zwei Konzeptionen revolutionären Handelns herauskristallisierte.

SCHWIERIGKEITEN DER DIREKTEN DEMOKRATIE

Die Erfahrung und die Errungenschaften der Kommune können heute im Licht eines ununterbrochenen Kampfes zwischen zwei Tendenzen neu betrachtet werden: Auf der einen Seite standen Strömungen, die eine auf der Delegation von Macht beruhende Demokratie institutionalisieren wollten, auf der anderen solche, die die direkte Souveränität der Arbeiter auszuweiten versuchten. Im Denken und Handeln der Kommunarden prallten diese zwei Vorstellungen mal aufeinander, mal existierten sie Seite an Seite. Robert Tombs hat in einer Studie die enorme Fülle an Literatur über die Kommune neu ausgewertet, um unter anderem zu zeigen, wie in ihrem Geist und ihrer Praxis, in der Organisation des Alltagslebens, der Politik und den Eigenheiten der Nationalgarde – die nicht wie eine reguläre Armee funktionierte – Formen von direkter Demokratie aufweisbar sind.16 Für die Kommunarden bestand die ideale Republik laut Tombs in einer Form von direkter Demokratie, in der das Volk die Souveränität weniger delegierte als selbst auszuüben gedachte und die Repräsentanten auf die Tolerierung durch die Repräsentierten angewiesen waren. Die Haltung der Kommunarden zur revolutionären Gewalt ist für Tombs einer der Aspekte, die von der Gegenwart emanzipatorischer Werte in der Kommune zeugen. Wie er betont, wurden die wenigen Gewalttaten gegen Personen – Racheakte, standrechtliche Hinrichtungen – von den rigidesten und autoritärsten Strömungen verübt, allen voran von den Blanquisten. Insgesamt habe die Kommune brutale Gewalt immer zu vermeiden versucht, wie etwa ihre klare Ablehnung der Wiedereinführung der Todesstrafe selbst für militärischen Verrat und Kollaboration mit dem Feind zeige – auch wenn zwischen Anspruch und Realität immer eine Kluft bestand.

Um bestimmte Mythen, Bilder und Legenden über die Kommune zu demontieren, geht Tombs von der konkreten Praxis aus und relativiert dabei auch das Ausmaß der direkten Demokratie, das in ihr herrschte. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Frage der Beteiligung von Frauen. Tombs unterstreicht die Tatsache, dass Frauen in der Kommune nur eine begrenzte Rolle spielten, die sich mit dem Gewicht, das sie in der Französischen Revolution hatten, gar nicht vergleichen lasse: Männer beherrschten die politischen Institutionen, Bemühungen um eine Integration der Frauen blieben aus.17 Frauen »konnten das Wort ergreifen und Petitionen einreichen, aber weder wählen noch Entscheidungen treffen«.18 Das allgemeine Wahlrecht, 1848 nur Männern gewährt, wurde für Frauen auch während der Kommune nicht eingeführt, ja nicht einmal gefordert. Obwohl Frauen in bedeutender Zahl aktive Kämpferinnen waren, sich in die politische Debatte einmischten und sogar eigene Klubs und Komitees gründeten, blieben sie in den revolutionären Organisationen unterrepräsentiert. Ihr Beitrag zu den bewaffneten Auseinandersetzungen wiederum erstreckte sich, wie so oft, eher auf die Logistik und allgemeine Kriegsanstrengung als auf direkte Kampfhandlungen. Von dieser Ausrichtung zeugen bereits die Namen von Organisationen wie der »Union des femmes pour la défense de Paris et les soins aux blessés« (»Frauenverein für die Verteidigung von Paris und die Versorgung der Verwundeten«). Eine weitere Organisation war die »Société pour la revendication du droit des femmes« (»Gesellschaft für die Rechte der Frauen«) – und hinter der stand maßgeblich ein Mann: Élisée Reclus, ein Freund von Louise Michel.

Wie stark das Verlangen nach einer neuen Welt die Kommune prägte, hat Kristin Ross in ihrer Studie Communal Luxury – The Political Imaginary of the Paris Commune sehr differenziert geschildert. So stellt sie die Union des femmes als »die größte und wirksamste Organisation der Kommune« vor, hält aber gleichzeitig fest, dass sie »nicht das geringste Interesse an Forderungen nach parlamentarischer Vertretung oder politischen Rechten zeigte«; ihre Mitglieder standen »dem Wahlrecht […] und überhaupt traditionellen Formen von republikanischer Politik gleichgültig gegenüber«.19 Laut Ross bestand ihr Hauptanliegen vielmehr darin, Arbeit zu finden, weshalb sie die Kommune zur Gründung von Kooperativen aufforderten. Dennoch kann man Tombs’ Schlussfolgerung ohne weiteres beipflichten: »Dass politische Gleichheit gewährleistet war, muss fraglos einen Einfluss darauf haben, wie wir die Einstellungen und Praxis der Kommunardinnen deuten.«20 Und die der Kommunarden, wie man hinzufügen möchte. Deutlich wird hier, wie schwer es den Pariser Aufständischen fiel, ihr Bedürfnis nach umfassender Volkssouveränität zu verwirklichen.

UTOPISMUS UND SOZIALE FRAGE

Die begrenzte Rolle von Frauen lässt sich nicht von der Zögerlichkeit der Kommune gegenüber der sozialen Frage trennen. Tonangebend waren in ihr bekanntlich republikanische, jakobinische und reformistische Strömungen. Das erklärt unter anderem, warum sie auf sozialem Gebiet so wenig Tatkraft zeigte. Besonders deutlich illustrieren dies der Unwille, das Privateigentum anzugreifen – seien es Unternehmen, Privatkapitalisten oder die Banken21 –, und die Respektierung einer gewissen Lohnhierarchie, die bis zu Versuchen reichte, die Löhne in den Kooperativen zu kürzen. Kann man darüber hinwegsehen, dass der Arbeitstag weiterhin zehn Stunden betrug? Wie Marx einräumte: »Die wichtigsten Maßregeln, die die Kommune ergriffen hat, sind für die Rettung der Mittelklasse ergriffen worden«.22 Léo Frankel, ein ungarischer Arbeiter, Vertreter der Internationale und Mitglied im Rat der Kommune, meinte empört: »Die Revolution des 18. März wurde ausschließlich von der Arbeiterklasse durchgeführt. Wenn wir nichts für diese Klasse tun, sehe ich keine Existenzberechtigung für die Kommune.«23 Im Protest dieses engen Weggefährten von Marx drückte sich die Machtlosigkeit der revolutionären Abgeordneten gegenüber der generellen Ausrichtung der Kommune aus. Frankel konnte zwar einige wenige sozialistische Maßnahmen wie die Beschränkung der Nachtarbeit durchsetzen und rief die Arbeiter dazu auf, selbstverwaltete Kooperativen zu gründen und sich direkt für die eigenen Interessen einzusetzen. Demgegenüber stand allerdings die Haltung eines Jules Andrieu, der für die Presse der Internationale schrieb, ebenfalls im Rat der Kommune saß und Delegierter des öffentlichen Dienstes war. Er war der Überzeugung, die Kommune müsse zuallererst ihre Effizienz unter Beweis stellen, und zeigte kaum oder gar kein Interesse daran, etwas an den Hierarchien und der Gehaltsstruktur im öffentlichen Dienst zu ändern. Als langjähriger Beamter dachte Andrieu wie ein Verwaltungsexperte; weit davon entfernt, eine neue Art von Staat anzuvisieren, sah er die Kommune in einer Kontinuität zum alten.24

Wie Prosper Olivier Lissagaray in seinem klassischen Bericht bemerkte, sollte man das revolutionäre Programm der Kommune allerdings nicht in den Sälen des Pariser Rathauses, sondern auf der Straße, im Kampf für eine andere Gesellschaft suchen.25 Nichts anderes meinte Élisée Reclus, als er emphatisch erklärte, das überlegene Ideal der Kommune »sei nicht von ihren Regierenden, sondern von ihren Verteidigern für die Zukunft aufgerichtet worden«.26 Der Kommune Platz zu geben, heiße dem Volk Platz geben, lautete eine Formulierung von Jules Vallès, in dessen Zeitung L’Insurgé ihr Geist von Autonomie und Emanzipation ungeschmälert Ausdruck fand.27 Und wie Robert Tombs am Ende seiner beeindruckenden Studie schreibt: »Die Mystik der Kommune beruht zu einem entscheidenden Teil auf der unverdorbenen Reinheit eines Utopismus, der nicht verwirklicht wurde.«28

DAS BEDÜRFNIS NACH DER REINEN DEMOKRATIE

Seit dem Anbruch der bürgerlichen Revolutionen in England und vor allem Frankreich hat sich die politische Theorie der demokratischen Macht entlang der Notwendigkeit entwickelt, die Souveränität des Volkes – und später des Proletariats – von ihrer umfassenden Ausübung abzutrennen. Jener »große Nachteil« der Demokratie, der Montesquieu so beunruhigte, wurde von den herrschenden Klassen autoritär behoben: durch die permanente Delegation von Macht im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Die Kommune von 1871 rückte jedoch das Bedürfnis nach der von Robespierre abgelehnten reinen Demokratie wieder in den Vordergrund der geschichtlichen Bühne und hisste erneut das Banner einer Ausweitung der Souveränität auf die Gemeinschaft der Produzenten. Sie stand für rechenschaftspflichtige und abrufbare Abgeordnete sowie für eine Institution, in der legislative und exekutive Funktionen verschmolzen und die trotz Zentralisierung Autonomie zuließ. Damit fand sie in den sozialistischen Strömungen, bei Marx und seinen Anhängern ein schwaches Echo, ein stärkeres dagegen bei Verfechtern antizentralistischer und antiautoritärer Grundsätze, bei Anarchisten und Anarchokommunisten. So gesehen brach die Kommune trotz des starken Gewichts dirigistischer Strömungen in ihren Reihen mit der jakobinischen Orientierung, die ein Erbe der Französischen Revolution war. Ein sicherlich begrenzter Erfolg, der aber einen Schritt nach vorn auf dem Weg zur vollen Souveränität der Ausgebeuteten markierte.

Erst im Gefolge der Kommune fanden das Verhältnis zwischen jakobinischem Zentralismus und revolutionärem Staat und damit der Gegensatz zwischen einer jakobinischen und einer direkten Form von Souveränität klaren Ausdruck in den Debatten der sozialistischen Bewegung. Aus der »allgemeinen Stellung des Marxismus zu der bürgerlichen Revolution und zum Problem des revolutionären Staates folgt als notwendige Konsequenz auch jene vorbehaltlose Bejahung der unitarischen und zentralistischen Staatsform und unbedingte Ablehnung jedes Föderalismus, welche bis zum heutigen Tage einen festen Bestandteil jeder konsequent marxistischen Staatsauffassung bildet«.29 Anders formuliert: Jede Entwicklung in Richtung Föderalismus galt als schädlich für das Funktionieren des revolutionären Staates.

DAS ENDE EINER ÄRA

Bereits Kropotkin hatte in seiner Studie über die Französische Revolution darauf hingewiesen, dass der Gegensatz von Zentralismus und Föderalismus mehrdeutig war und sich die Spaltungslinien je nach den Umständen und Klasseninteressen verschoben. Louis Blanc beipflichtend notierte er, dass »das Wort ›Föderalismus‹« – der »Hauptanklagepunkt« der Montagnards gegen die Girondisten – sich vor allem aus der Furcht und dem Abscheu vor dem Einfluss gespeist habe, »den die Kommune von Paris, die revolutionären Komitees, das Volk von Paris in der Revolution gewonnen hatten«, und sich »die Girondisten in allem was sie taten, ganz ebenso zentralistisch und autoritär« wie die Montagnards gezeigt hätten.30 Dreißig Jahre später wies auch Karl Korsch in seinen Untersuchungen zur Französischen Revolution nach, dass die bürgerlichen Zentralisten in wirtschaftlichen Fragen häufig Liberale waren. Tatsächlich trat die Bourgeoisie je nach Maßgabe der Situation und ihrer Interessenlage mal für mehr Föderalismus, mal für Staatseinheit ein. Korsch zeigte außerdem, dass der Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus auch später im sozialistischen Lager kein unüberwindlicher war, und erinnerte an Proudhons Eingeständnis aus dem Jahr 1848, dass eine politische Zentralisierung zeitweilig notwendig sei.31 In diesem Sinne hielt Korsch es auch für »unrichtig […], mit Proudhon und Bakunin in der ›föderativen‹ Form eine Überwindung des bürgerlichen Staates zu sehen«.32