Der Witwenwanderer - Werner Siegert - E-Book

Der Witwenwanderer E-Book

Werner Siegert

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Beschreibung

Seine Kollegen wandern nach Rom, Wien oder auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Er will ausbrechen. Mit geschlossenen Augen tippt er auf einer Deutschlandkarte auf eine Region – es ist der Thüringer Wald. Auch dort überlässt er alles dem Zufall. Er steigt an einem beliebigen Bahnhof aus, versehen mit Rucksack, wetterfester Kleidung und Wasserflasche, und läuft einfach los. Als er eine erste Rast einlegen will, setzt er sich auf eine Bank vor einem kleinen Siedlungshaus. Schon tritt eine alte Frau heraus, erfreut, jemandem zum Ratschen zu haben, eine Witwe, vereinsamt. Auch bei seiner zweiten Rast läuft es so: Elsbeth, eine gealterte, einsame Witwe bewirtet und bemuttert ihn. Er darf sogar im Zimmer ihres "rübergemachten" Sohnes übernachten. Ihr einziges Fenster zur Welt – ein überdimensionaler riesiger Fernsehschirm, Geschenk ihrer Kinder. Er wandert weiter, Regen zwingt ihn, sich in einem Bus-Wartehäuschen unterzustellen. Aber es verkehrt schon lange kein Bus mehr. Eine Frau, die in einem kleinen Auto vorbei kommt, sieht ihn und lässt ihn einsteigen. Auch sie ist, obwohl erst mittleren Alters, Witwe. Auch sie ist erfreut, mit jemandem reden zu können. Als Psychotherapeutin fährt sie zu ihren Patientinnen hin, anders geht es nicht. Es sind durchweg Witwen, die ihre Hilfe brauchen. Der Landstrich abseits der größeren Städte ist Witwenland, teils durch Tod des Partners, Abwanderung oder Trennung. Am nächsten Tag begleitet der Wanderer die Frau auf ihrer Fahrt zu Patienten; dann steigt er doch wieder aus, um weiter zu wandern – ziellos durch den Witwenwald. Er verläuft sich, wird von einer Pilzsammlerin gerettet. Ein Gasthaus, in dem er eine Notunterkunft angeboten bekommt, erweist sich als Therapiezentrum für vereinsamte, depressive, alkoholsüchtige Witwen – betreut von eben "seiner" Psychotherapeutin. Sie holt ihn dort raus.

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Werner Siegert

Der Witwenwanderer

Erzählung

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Witwenwanderer

Eva-Maria

Im Witwenwald

Witwenlust? - Witwenfrust!

Teil 2: Die Witwen-Briefe

Ganz herzlich, Dein Wanderer

Positionsmeldung

Auf zu neuen Ufern

Impressum neobooks

Der Witwenwanderer

Wandern war Mode geworden. Vor allem jetzt im Herbst. Nach den großen Ferien. Wer keine schulpflichtigen Kinder hatte, schnürte seine Stiefel, packte den Rucksack, warf sich in Kluft und begab sich - meist mit einer seit Jahren verbundenen Clique - auf Bundeswanderwege. Manche Kollegen setzten ihre Wanderung von Hannover nach Rom dort fort, wo sie beim letzten Mal abbrechen mussten. Andere „waren dann mal fort“ und tippelten auf dem Jabobsweg nach Santiago de Compostela - natürlich auch nach dem Verfahren „Fortsetzung folgt!“

Er haderte mit allem, was man modisch den Mainstream nannte. Wandern, ja, das wollte er auch. Zumindest mal probieren. Und vor allem allein, und auf keinem Bundeswanderweg, sondern von einem absolut zufällig ausgewähltem Ausgangspunkt auf absolut zufälligen Wegen. Nichts dramatisches. Keinen Gipfel ersteigen, keine langweilige Ebene durchstreifen. Mittelgebirge. Schwarzwald, Hunsrück, Sauerland, Taunus? Mit geschlossenen Augen tippte er mit dem Finger auf eine Deutschlandkarte und befand sich in Thüringen. Auch gut. Neue Bundesländer.

Er stieg in K. aus dem Zug. Kaufte sich noch ein paar Äpfel am Stand. Die Wasserflasche war gefüllt. Tagsüber wollte er wandern, irgendwie in östlicher oder südlicher Richtung, abends in einem Gasthof einkehren. Erst wollte er sogar auf eine Wanderkarte und einen Kompass erzichten. Das erschien ihm aber dann doch zu fahrlässig. Seit Kindheitstagen plagten ihn nächtliche Albträume, in denen er von schwarzem Moorwasser umgeben dem sicheren Tod ausgeliefert war. Sein lautes Schreien riss ihn dann schweißgebadet aus dieser Not.

Wie man es von allen hörte: Die ersten zehn, fünfzehn Kilometer geht alles noch recht gut. „Wohlgemut“ fühlte sich auch Hänschen, ehe es sich besann und geschwind nach Hause lief. Das Wetter war angenehm. Nicht zu sonnig. Bald nahm der Wald ihn auf. Viele Wegabschnitte waren ziemlich matschig. Es hatte viel geregnet im Sommer. Draußen zwischen den Feldern und Wiesen konnten die Wege eher abtrocknen. Wohlgemut? Na ja, nicht so ganz. Man kommt ins Grübeln. Man fragt sich: Was soll der Quatsch? Und wandert vor sich hin. Endlich kamen Häuser in Sicht. Ein kleines Dorf. Zeit für eine Rast und aufkommende Sorge, rechtzeitig einen Gasthof zu finden. Da fügte es sich gut, dass er vor einem kleinen Katen mit einem Blumenbeet eine Bank erspähte, so richtig zum Ausruhen.

Kaum hatte er seinen Rucksack abgesetzt und die Wasserflasche rausgezogen, trat eine ältere, einfach gekleidete Frau mit einer Schürze und Schlappen raus. Sie begrüßte den Wanderer überaus freundlich, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Er entschuldigte sich, dass er so einfach, ohne zu fragen, auf ihrer Bank Platz genommen hatte. Aber nein, das macht doch nichts. Dafür ist sie ja da. Sie setzte sich neben ihn und begann ohne jegliche Scheu mit ihm zu schwätzen. Ob sie ihm einen Kaffee machen solle. Und von wo er käme und wohin er wolle. Er sagte, er habe kein Ziel. Er wolle nur wandern, irgendwohin, immer mal rasten. Goethe zitierte er mit den Gedichtzeilen "Ich ging ganz in Gedanken hin, und nichts zu denken war mein Sinn."

Er habe Zeit. Wenn der Nachmittag dämmere, dann suche er sich einen einfachen Gasthof.

Da sei er wohl sehr optimistisch. Gasthöfe, so wie früher, gäbe es ja kaum noch. Wenn’s hoch kommt eine Kneipe. Es sei ja nichts mehr los. Nur noch alte Leute, so wie sie, allein. Die Jugend „hat fortgemacht“. Hier gibt’s ja auch nichts mehr zu verdienen.

Er ist dann weiter gewandert, hat sich bedankt, dass er auf dieser schönen Bank ausruhen durfte. Bei so netter Gesellschaft. Und wünschte ihr alles Gute. Gesundheit vor allem. Was man so sagt.

Das mit dem Gasthof wurde tatsächlich kritisch. In der „Eiche“ saßen nur ein paar Bauern, Handwerker und Rentner. Nein, Übernachten könne man hier nicht, weit und breit nicht mehr. Einer vom Stammtisch bot ihm an, ihn mit seinem Lieferwagen mitzunehmen in einen Ort, wo es angeblich noch ein kleines Hotel gäbe. Niemand hatte Eile. Warum auch. Man schimpfte über die Merkel, über den schwulen Westerwelle, dass es sowas früher nicht gegeben hätte, und über die Grünen. Die Künast habe ja keine Ahnung von Landwirtschaft. Eigentlich schimpften sie über alle. Es werde ja jeden Tag schlimmer, alles teurer, na ja, und dann noch Brüssel. Und die geilen Pfarrer. Aber sie hätten ja schon seit Jahren keinen mehr. Wozu auch? Die Kirche ist zu.

Gottlob fand er Aufnahme in dem kleinen Hotel. Keinen Luxus. Eine Plastik-Duschkabine ins Zimmer gestellt. Ein durchgelegenes Bett und ein Gebirge von Plumeaus. Verblichene Tapeten, verziert mit gefühlten hundert Mückenleichen. Reicht. Hauptsache die Beine hochlegen und mit Franzbranntwein einreiben. Der berüchtigte erste Tag. Es gab Schnitzel mit Pommes, drei Salatblätter als Dekor und köstliches Bier.

Am nächsten Morgen kostet es Mut weiterzugehen. Die Versuchung, aufzugeben und den Bus zu nehmen, ist beträchtlich. Aber wie sollte er vor den anderen bestehen, die zu Fuß über den Brenner kraxeln? Oder Fotos von Compostela rumzeigen. Er hatte es sich ja so gewünscht: allein, ganz anders, ziellos. Ein Sonnentag - also los. Wohlgemut? Dafür ging ihm zuviel durch den Kopf. Was so die Leute reden. Immer mal wieder fand er, dass allein wandern beschissen ist. Wenn er sich jetzt mit jemandem unterhalten könnte! Dann hat er angefangen, so zu tun, als ginge ein Jemand neben ihm. Sein Vater. Da hatte er jemanden, mit dem er sprechen konnte. Mit seinem toten Vater. Wie der auf alle Erfindungen heute reagieren würde, auf sein Handy in der Tasche, auf Google Earth, auf sein neues Auto, das er zuhause in der Garage gelassen hatte. Er versuchte, ihm alles zu erklären. Laut vor sich hin sprechend. Wunderbar, dass sich der Vater auf das Gespräch einließ. Wir haben doch auch gelebt. Es ist doch eigentlich nichts besser geworden. Die Menschen unglücklicher, kränker, arbeitslos. Wir haben ja auch mal in Thüringen Urlaub gemacht. An einer Talsperre. In einem schönen Hotel. Da warst du fünf Jahre alt.

Und heute: Keine Gasthöfe mehr. Kilometer für Kilometer. Dazwischen ein Apfel, aus Neuseeland. Ein süßes, klebriges Hefeteilchen. Kein Brunnen, um sich die Hände zu waschen. Also Wasser aus der Flasche drüber laufen lassen. Bald wieder auffüllen.

Am Nachmittag machte er wieder auf einer Vorgartenbank Rast, an einem verwitterten Tisch. Alle diese kleinen Häuser hatten ihre Vorgartenbänke. Das war ihm aufgefallen. Und wieder kam alsbald eine ältere Frau raus. Auch sie freute sich, mal wieder jemanden zum Schwätzen zu haben. Es sei so einsam und still geworden. Der Mann tot, die Kinder weit weg. Das Dorf auch tot, kein Wirtshaus mehr, kein Einkaufsladen, nur ein Schulbus morgens und mittags für die wenigen Kinder, mit dem sie manchmal mitfahren dürfe zum Einkaufen in die Kreisstadt. Sonst nähme sie das Fahrrad. Ob er nicht reinkommen wolle. Vielleicht eine Nacht bleiben, weil es ohnehin keinen Gasthof mehr gäbe, weit und breit. Das Zimmer von ihrem Sohn, das könne sie für ihn richten. Sie unterhielten sich. Die Frau sagte so wunderbare Sachen wie "Ach wissen Sie, der Mensch ist eine Wundertüte, vor dem Heiraten, letztlich weiß man nie, was drin ist. Man selbst ist sich ja auch eine Wundertüte. Jeden Tag neu!" Eine einfache Frau mit Schürze, die Möhren aus dem Garten reinholt. Lebensweisheiten. Der Mensch – eine Wundertüte!

Er zögert. Sagt Unverbindliches. Es sei ihm aufgefallen, dass hier vor jedem Haus eine Bank stünde. Ja, sagt sie, drinnen sei es halt eng und dunkel: Draußen habe der Herrgott mit der Natur das schönste Wohnzimmer eingerichtet, das man sich wünschen könne. Und nun käme sogar ein Gast!

Sie verschwindet kurz und kommt mit einem Tablett wieder raus, mit Tassen und Tellern und ein paar Keksen. „Gleich ist der Kaffee durchgelaufen!“

Er bleibt. Die Beine schmerzen. Wenn man erstmal aus dem Rhythmus ist, kommt man schlecht wieder in die Gänge. Lange sitzen sie so da. Sie holt einen Obstschnaps und erzählt ihre Lebensgeschichte. Kinderkriegen und Buchhalterin bei einem VEB. Mit einem Garten gab es eigentlich keinen Mangel. Nach Mallorca - sie sprach die doppelten L richtig aus - hätte es sie nie gezogen. Und Bananen braucht man eigentlich auch nicht. „Bononen“ sagte sie.

Später gingen sie rein. Es gab Aufschnitt, Käse und Schwarzbrot. Und würzigen Kräutertee. Die Kräuter sucht sie selbst. Der riesige Fernsehschirm, dachte er, passt nicht in dieses kleine Häuschen. Aber er ist das Fenster zur Welt. Ein Geschenk ihrer Kinder, „damit du nicht so allein bist“. Elsbeth merkt, dass er was mit den Beinen hat; er humpelt zum Klo. „Da hab ich was Gutes. Eine Salbe, die macht ein befreundeter Apotheker für die Pferde. Hilft todsicher.“

Früh zieht er sich in die kleine Schlafkammer zurück. Hat kaum noch einen Blick für die Relikte des Sohnes. Spielzeugautos, Modelle. Ein Poster von einem Sänger? Muss man den kennen? Er schläft schnell ein. Die Salbe auf den Knien verbreitet wohlige Wärme und stinkt nach Campher. Irgendwann wacht er mal auf, liegt eine Weile wach und fragt sich: Wer bin ich eigentlich? Und gibt sich eine eigenartige Antwort: Ein Witwenwanderer. Während die anderen in Italien sind oder in Spanien. Und eigentlich will er nicht weiter. Aber was dann? Versager!

Am nächsten Morgen ist das kleine Bad mit einem elektrischen Strahler vorgeheizt. Handtücher und zwei Waschlappen liegen bereit. Im Haus duftet es nach Kaffee. Als er die Treppe runter hatscht, merkt er, dass die Schmerzen im Knie verschwunden sind. Elsbeth hat sich schön gemacht und erwartet ihn mit liebenden Augen. Ob er auch gut geschlafen habe, und sie ihn nicht geweckt habe. Sie stehe immer um Fünf auf. Früher habe sie sich dann um die Tiere gekümmert, bevor sie der Bus vom Kombinat abgeholt habe.

Ob er nicht noch bleiben könne? Das wäre doch schön. Aber jetzt will er doch weiter. Jedenfalls nicht bei der Oma bleiben. Das sagt er natürlich nicht. Kommen Sie doch mal wieder! Sie steckt ihm eine Plastiktüte zu. Ich habe Ihnen ein paar Brote gemacht. Und ein bisschen von der Salbe in ein kleines Glas gefüllt. Als er sich verabschiedet, wischt sie sich eine Träne aus dem Auge. Alles Gute! Und bleiben Sie gesund!

Er tippelt los, dreht sich nochmal um. Elsbeth winkt und wischt sich die Augen. Er wandert auf dem Weg, den sie ihm gezeigt hatte. Und spürt irgendwie, dass sie neben ihm geht. Er unterhält sich mit ihr. Was man so mit seinem Leben noch anfängt, wenn der Beruf einen ausgespuckt hat. Und die Wiedervereinigung auch noch den kleinen Wohlstand wie mit einem gigantischen Staubsauger aufgesaugt hat. Was man denn noch tun könne, außer auf den Tod zu warten und in den Fernseher zu glotzen. Er weiß es nicht. Er will es nicht wissen. Nicht so nahe an sich heran lassen.

Immer wieder locken diese kleinen Häuser mit den Bänken zum Verweilen. Scheu geht er vorbei. Obwohl es zu regnen beginnt. Dafür hat er natürlich einen wasserdichten Umhang mit Kapuze. Als es schlimmer wird, hockt er sich in ein kleines Wartehäuschen am Straßenrand. Eine Bushaltestelle. Ohne Fahrplan. Jetzt ist nur noch alles vollgekrakelt. Ordinär. Porno. Sex. Er möchte nicht hingucken und starrt dafür in den Perlenvorhang des prasselnden Landregens und in die kleinen Bäche, die sich an der Hütte vorbei schlängeln. Er schaut in die Elsbeths Tüte: Sie hat ihre ganze Liebe da hineingepackt. Auf dem Käsebrot liegt Petersilie. Drei Pralinen kullern unten herum. Auf einen Zettel hat sie ihre Adresse geschrieben und die Telefonnummer. Mit ungelenker Hand: Schreiben Sie mir mal eine Karte. Elsbeth. Am liebsten würde er zurück gehen.

Ab und zu fährt ein Auto vorbei und sprüht den Gischt bis in die Hütte. Jetzt hält eines. Ein Stück weiter - und kommt rückwärts zurückgefahren. „Soll ich Sie ein Stück mitnehmen? Oder warten Sie auf jemanden? Ein Bus fährt schon seit Jahren nicht mehr.“

Eine Frau lässt die Scheibe runter, lehnt sich weit über den Beifahrersitz und schaut ihn mitleidig an. Was bleibt ihm übrig? Er schüttelt die Tropfen von seinem Umhang, wirft seinen Rucksack auf den Rücksitz und steigt ein.

„Sie holen sich ja den Tod! So schnell hört das nicht auf!“

Sie ist irgendwas zwischen 40 und 50. Gibt ihm Tempotaschentücher. Fragt nach seinem Ziel. „Ich habe keins!“

Eva-Maria

Kein Ziel? Wo kommen Sie denn her? Aus Bayern? Und was suchen Sie ausgerechnet hier? Bayern, das ist von hier aus gesehen doch ein ganz anderer Kontinent.