Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld - Werner Siegert - E-Book

Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld E-Book

Werner Siegert

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Beschreibung

Das Leben ist teuer, und es wird immer teurer, je älter man wird. Landet man schließlich in einem Altersheim oder gar in einer Senioren-Residenz, dann schmilzt das Vermögen dahin wie die Butter in der Mikrowelle. Das sehen insbesondere die Erben nicht gern. Wer früher stirbt, spart also tatsächlich viel Geld. Seines oder das der Angehörigen. Die Kriminalhauptkommissare Maurice Elsterhorst und sein älterer Kollege Lothar Velmond in der eigens für die Krimis der Autoren eingerichteten Mordkommission Zwo in München entwickeln eine gewisse Routine, rätselhaften Todesfällen in der Senioren-Residenz Sancta Agatha irgendwo im Speckgürtel von München nachzugehen. Unterstützt werden sie dabei von der attraktiven Kommissarin Uta Möbius und dem schwarzen Labrador "Rinaldo". Übrigens mögen sich Elsterhorst und Velmond nicht sonderlich. Elsterhorst, der Hauptkommissar der Mitautorin Ingrid Schumacher, ist ein gefriergetrockneter Hagestolz, der nur an seinem "Rinaldo" hängt. Er ist der kalte Analytiker. Lothar Velmond ist der von Werner Siegert ins Leben gerufene Hauptkommissar. Er liebt das Leben. Ihm ist nichts Menschliches fremd und er hört es "wispern", wenn er seinen Fällen nachgeht. Die 39 ausgewählten, in sich abgeschlossenen Fälle basieren indes nicht alle auf Fiktion, eher auf Recherchen und Getratsche in diversen Senioren-Residenzen und Heimen. Allerdings sind sie sämtlich so verfremdet, dass Übereinstimmungen mit tatsächlichen Begebenheiten rein zufällig wären. Auch sollen beteiligte Berufsgruppen nicht beleidigt reagieren. Es handelt sich stets um die berüchtigten, keinesfalls repräsentativen Einzelfälle. Dass die Krimis so kurz ausfallen, hat nichts mit dem mangelnden Fleiß oder der Einfallslosigkeit der Autoren zu tun, sondern damit, dass diese vor einiger Zeit gebeten wurden, mit kurzen Kriminalgeschichten einer Heimzeitschrift ein bisschen Pep zu verleihen, und dabei die Merkfähigkeit der betagten Insassinnen und Insassen nicht übermäßig zu strapazieren.

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Werner Siegert

Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld

39 Kurzkrimis

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Geleit

Abgekippt mit dem Rollator

Absturz

Alles bio ....

Das phantastische Picknick

Der Heiler

Der Lottogewinn

Ergreifend

Der Opa wird einfach zu alt!

Die Äolsharfe

Die Kassetten-Mörderin

Elektrosmog

Frühstücks-Service

Fundsachen

Graziella

Heim! Weh!

Im feinen Tuch

Jule

Kruzitürken!

Liebe recycelt

Liebesbriefe

Liebeskummer

Mann weg!

Mitbringsel

Nicole

Noch e i n mal ! Ein allerletztes Mal!

Sarah entführt?

Senioren-Ausflug

Tau, der vom Himmel fällt

Verdacht

Vergissmeinnicht

Visitenkarten

„Sie können sie sogar streicheln!“

Von oben nach unten

Vor Engeln wird gewarnt!

Wahnsinnig nett!

Weihnachtszauber

Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld!

Zwillinge

Abstellgleis – eine Zugabe

Impressum neobooks

Zum Geleit

Das Leben ist teuer, und es wird immer teurer, je älter man wird. Landet man schließlich in einem Altersheim oder gar in einer Senioren-Residenz, dann schmilzt das Vermögen dahin wie die Butter in der Mikrowelle. Das sehen insbesondere die Erben nicht gern. Rupfte doch ein Bub, während die Mutter ihren greisen Vater im Rollstuhl durch den Park schob, ein Büschel Gras aus und reichte es dem Opa. „Was soll das?“ empörte sich die Mutter. „Papa und du, Ihr habt doch gestern Abend erst gesagt, der Opa sollte nun endlich mal ins Gras beißen!“

Wer früher stirbt, spart also tatsächlich viel Geld. Allerdings hat er dann nichts mehr von den Ersparnissen.

Die Kriminalhauptkommissare Maurice Elsterhorst und sein älterer Kollege Lothar Velmond in der eigens für unsere Krimis eingerichteten Mordkommission Zwo in München haben schon eine gewisse Routine, rätselhaften Todesfällen in der Senioren-Residenz Sancta Agatha irgendwo im Speckgürtel von München nachzugehen. Unterstützt werden sie dabei von der attraktiven Kommissarin Uta Möbius und dem schwarzen Labrador „Rinaldo“. Übrigens mögen sich Elsterhorst und Velmond nicht sonderlich. Elsterhorst, der Hauptkommissar meiner Mitautorin Ingrid Schumacher, ist ein gefriergetrockneter Hagestolz, der nur an seinem „Rinaldo“ hängt. Mein Lothar liebt das Leben. Ihm ist nichts Menschliches fremd.

Die 40 ausgewählten Fälle basieren indes nicht alle auf Fiktion, eher auf Recherchen und Getratsche in Senioren-Residenzen und Heimen. Allerdings sind sie sämtlich so verfremdet, dass Übereinstimmungen mit tatsächlichen Begebenheiten rein zufällig wären. Auch sollen beteiligte Berufsgruppen nicht beleidigt reagieren. Es handelt sich stets um die berüchtigten Einzelfälle.

Dass die Krimis so kurz ausfallen, hat nichts mit dem mangelnden Fleiß oder der Einfallslosigkeit der Autoren zu tun, sondern damit, dass wir vor einiger Zeit gebeten wurden, einer Heimzeitschrift ein bisschen Pep zu verleihen, jedoch die Merkfähigkeit der betagten Insassinnen und Insassen nicht übermäßig zu strapazieren. Dafür taugten sie dann zum Tagesgespräch und zur täglichen Dosis Gruseln. Natürlich auch zur Warnung!

Dass wir auch anders können, beweisen unsere eBooks „Spurlos“, „Die Tote an der Rosenbank“, „Männerquote“, „Endlich im Knast“ und „Truski – das Römermädchen vom Reitstein“ (alle bei www.neobooks.com“ und anderen Anbietern).

Die Mords-Autoren Ingrid Schumacher† und Werner Siegert

Abgekippt mit dem Rollator

Ein schriller, Trommelfell zerfetzender Schrei tönte durch den Flur im 1. Stock der Altersresidenz „Sancta Agatha“. Alle Bewohnerinnen eilten vor ihre Tür, sofern sie dazu noch in der Lage waren. Eine Neuzugezogene wankte aus der von ihr gerade zu beziehenden Eckwohnung und fiel, vergeblich sich am Türrahmen festkrallend, in Ohnmacht.

„Ist hier endlich mal was los?“ ließ sich der behäbige Korbinian vernehmen, der auf seinen Rollator gestützt, vom Bierautomaten kommend um die Ecke kreuzte.

Schwestern und ein Pfleger eilten herbei. Sie hatten entweder den Schrei vernommen oder jemand hatte den Alarmknopf gedrückt. Schnell bugsierten sie die Neue auf eine Trage, ihr lebhaft zusprechend und mit einem aromatisch duftenden nassen Tuch die Stirn kühlend.

Aus ihrem Gestammel konnten nur sehr Phantasiereiche entnehmen „Da liegt jemand!“

Obwohl es sonst äußerst verpönt war, eine fremde Wohnung zu betreten, ja überhaupt hineinzugaffen, hatten einige Neugierige sich längst hineingeschlichen, um sogleich wieder hinauszustürzen: „Eine Leiche! Eine Leiche! Eine tote Frau! In der Loggia! Blut überall auf dem Boden!“

Überall flackerten jetzt die roten Notlämpchen von der Decke. Von unten, von oben drängten sich sensationslüsterne Seniorinnen in den Treppenhäusern. Vergeblich forderte die Heimleiterin alle auf, sich in ihre Apartments zurückzuziehen. Die Polizei sei schon benachrichtigt. Es gäbe keinen Grund für Panik. „Denken Sie an Ihre Herzen! An Ihren Kreislauf! Eine Tote genügt! Nehmen Sie gegebenenfalls Ihre Beruhigungstropfen!“

Schon hörte man die sich zu einem Kanon verdichtenden Martinshörner. Durch die Fenster blinkten die Blaulichter, vielfach in den Glastüren gespiegelt. Bald bahnte sich ein großer, hagerer Kommissar zusammen mit einem schwarzen Labrador den Weg durch die Gasse der Neugier.

„Ja, hier Hauptkommissar Elsterhorst! Ich bin schon vor Ort! Nein, da scheint nichts mehr zu machen zu sein. Der Kurt soll kommen aus der Pathologie. Und ein paar Kollegen zum Absperren und zu ersten Befragungen!“ sprach er keuchend in sein Handy, während der Spürhund hastig und aufgeregt hechelnd zwischen der Eckwohnung und dem Flur hin und her pendelte. Japsend hob er den Kopf zu seinem Herrchen, als wollte er frustriert bekunden, dass sich die von ihm erschnüffelte Spur im Flur nicht weiter verfolgen ließe.

Da lag sie, weiß gekleidet wie eine Krankenschwester, Elsterhorst schätzte sie auf Mitte 40, Kurzhaarschnitt, kastanienbraun.

„Das ist aber keine von uns!“ ließ die Heimleiterin verlauten.

Schon auf den ersten Blick erkannte der Kriminalbeamte, dies war nicht der Tatort. Jemand musste die Getötete hier in der zur Wohnung gehörigen Loggia abgekippt haben, und, da die Loggien von außen nicht zu öffnen sind und auch kein Fenster offen stand, von drinnen.

Da es bisher wenig für ihn zu tun gab, genoss es „Rinaldo“, der schwarze Labrador, von einer der Damen ausdauernd gekrault und gestreichelt zu werden. Alsbald erschien Dr. Kurt Andaron, der Kriminal-Mediziner. Wie man es von Fernsehkrimis her kennt, machte er erst ein paar Fotos, von so vielen Seiten wie möglich. Emotionslos, mit der seinem Beruf geschuldeten Routine drehte er den Kopf der Toten mit der blutverkrusteten Wunde hin und her, tätschelte geradezu die Wangen, erfasste den Arm und ließ ihn wieder fallen, wie ein Stück Holz, und beschränkte sich auf den kurzen Kommentar: „24 Stunden. Heftiger Schlag!“ Gemeinsam drehten sie die Tote auf Rückenlage, forschten nach Tascheninhalten. Aber da war nichts, kein Ausweis, keine Geldbörse, kein Schlüsselbund, nur ein Kassenbon von ALDI ohne Ortsangabe. Lebkuchen und Schokonik. Also Nikolaus. Datum: 15. Oktober. Kasse 3.

„Mit brachialer Wucht!“ konstatierte Dr. Andaron, schaute sich um im Kreis der vor Neugier platzenden silberhaarigen Insassen. „Die scheiden alle aus!“

Hauptkommissar Elsterhorst nickte frustriert. Wieder so ein Fall ohne „Kartoffelzipfel“, ohne Pack-Ende. Bei Kartoffelsäcken band man stets unten rechts und links eine Kartoffel mit einem Bindegarn ab, um dort zupacken zu können. Wo sollte man hier zupacken? Alle Insassen verhören? Im Krankenzimmer war Adele Klammer aus ihrer Ohnmacht erwacht und genoss es geradezu, im Mittelpunkt des polizeilichen Interesses zu ... liegen. Sie hätte auch stehen können, aber liegend erheischt man mehr Mitleid. Weiße Strähnen umrahmten ihr Gesicht wie ein Strahlenkranz. Heilige Adele, bitte für uns!

Heute morgen sollte sie einziehen. Die Wohnung war - wie üblich - frisch hergerichtet, renoviert und desinfiziert. Zwei Tage stand sie leer. Die Vor-Bewohnerin war hochgradig dement in die Pflege übergesiedelt. Die Handwerker seien über jeden Verdacht erhaben. Hätten sie der Toten an die Wäsche gehen wollen? Wohl kaum. Waren sie Mitwisser? Wovon? Hatte die Vorbewohnerin Agnes Singer etwa einen größeren Geldbetrag oder wertvollen Schmuck unter der Auslegeware oder hinter der Heizung deponiert? Wusste eine Freundin der dementen Agnes davon und hatte sich als Krankenschwester getarnt, um den Schatz an sich zu nehmen? Wurde sie bei dem Fund ertappt? War sie eine Angehörige? Eine Erbin gar, die es nicht abwarten konnte? Aber wer hatte sie erschlagen? Auf Elsterhorst kam viel lästige Arbeit zu, noch dazu umgeben von lauter Frauen. Das war nicht gerade das Biotop, in dem der Hagestolz sich wohlfühlte. Das wäre doch eher was für seinen Kollegen Lothar Velmond; aber der kurte nun schon die zweite Woche im Bayerischen Wald. Angeblich „burn-out“! Na ja, natürlich kann man jederzeit „burn-out“ markieren, um dann mal so richtig faulenzen zu können. Auf Kasse.

Die Ermittlungen kamen und kamen nicht voran. Noch immer wusste man nicht, wer die Tote war. Der ALDI-Zettel ließ sich nach Deggendorf zurück verfolgen. Also schickte man einen Stapel Aushänger mit einem Foto der Toten an die dortige Dienststelle. WER KENNT DIESE FRAU? las man allerorten. Ohne Resonanz.

Hauptkommissar Lothar Velmond allerdings, der in Bodenmais vergeblich Ruhe und Erholung suchte, aber schon beim ersten Spaziergang einen Erhängten im Wald entdeckt hatte, wurde abermals aufgeschreckt. Man hatte unweit seiner Pension einen alten Mann tot in dessen kleinen Eigentumswohnung entdeckt. Der Briefkasten quoll über. Remigius Hasendonk, der stets lustige Kölner, wurde beim Stammtisch vermisst. Also ließ man seine Wohnungstür gewaltsam öffnen. Man fand ihn tot in der Badewanne mit einem Föhn am Fußende. Daher ließ sich auch kein Licht einschalten. Die Sicherungen waren rausgesprungen - jedoch offenbar zu spät. Die stets unterbesetzten Polizeikollegen in Deggendorf, die den routinierten, berufserfahrenen Lothar Velmond schon einmal um Hilfe gebeten hatten, stöberten ihn nun schon wieder auf. Nein, nein, nein - er wollte mit Leichen nie mehr was zu tun haben. Schon gar nicht während seines Kurlaubs. Und nun das? Da die Todesursache klar war, sah er sich eher gelangweilt in der Wohnung um, zog Schubladen raus, las in Briefen, fand einen Dokumentenordner und darin die Abschrift eines Testaments. In der äußerst aufgeräumten, blitzblank geputzten Küche, für einen alten Junggesellen ein eher seltenes Bild, braute er sich einen Tee, ehe er sich an die Lektüre begab.

Und siehe da: der alte Hasendonk, Remigius, hatte offenbar eine Freundin. Jedenfalls eine Maria Kopolewski. Eine Freundin oder war es eine polnische Krankenschwester, vielleicht sogar illegal? Wurde er von ihr gepflegt? War er bettlägerig? Behindert? Er muss sie sehr geliebt haben; denn er setzte sie als Erbin eines beträchtlichen Vermögens ein, das ihr zufallen sollte, sofern seine Schwester Elise, verwitwete Maier, geborene Hasendonk, vor ihm sterben sollte. Anderenfalls sollte ihr die Summe von 100.000 Euro als Vermächtnis ausgezahlt werden.

Velmond wühlte ein wenig in den Briefsachen. Es dauerte nicht lange, bis er eine launige Ansichtskarte von Elise Maier fand, abgestempelt in einem Postzentrum. Darauf das Foto eines Raddampfers auf dem Chiemsee. „Mein lieber Remmi, Du siehst, mir geht es glänzend. Wir kommen gerade vom König Ludwig. Wie geht es Dir, alter Schwerenöter? Verjubelst Du unser klein Häuschen mit Deiner hübschen Knopolinski oder wie die heißt. Sieh Dich vor! Könnte sie eine listige Erbschleicherin sein? Deine Lisi!“

Die Karte war in Gräfelfing eingeworfen und in München abgestempelt worden, wie sich herausstellte. Also übersandte Velmond seinen Bericht an den Kollegen Elsterhorst mit einer Kurzbotschaft: „Schauen Sie doch mal nach, ob es eine Elise Meier, geborene Hasendonk, in Gräfelfing gibt, vielleicht in einem Heim und ob sie noch lebt! Sie ist in Lebensgefahr. Es könnte sein, dass ihr eine gewisse Maria Kopolewski nach dem Leben trachtet. Denn dann fiele ihr ein immenser Geldbetrag zu. Ihr Velmond.“

Elsterhorst ärgerte sich, stampfte wütend auf den Boden, so dass sich „Rinaldo“ ängstlich unter den Schreibtisch verkroch. Hatte schon wieder dieser Velmond eine wichtige Fährte aufgedeckt! Saukerl, dieser!

Allerdings erfreute sich Elise Maier bester Gesundheit. Sie konnte sogar überaus kräftig zuschlagen. An der eingedellten silbernen Krücke ihres Gehstocks befanden sich ebenso Blut- und Gewebeproben der Toten wie an ihrem Rollator.

„Ja, diese angeblich neue Krankenschwester hat sich bei mir eingeschlichen. Ich erkannte sofort ihr Gesicht von einem Schmusefoto meines Bruders. Sie tat sehr betulich, aber dann begann sie, mich zu schubsen und zu schlagen. Da habe ich zu meinem Stock gegriffen und ihr einen übergezogen. Vielleicht ein bisschen zu stark. Was sollte ich dann mit ihr anfangen? Ich habe sie auf meinen Rollator bugsiert und im erstbesten Apartment abgekippt, das offen stand. Ihr Portemonnaie habe ich kassiert. Sie brauchte es ja jetzt nicht mehr. Komme ich jetzt in den Frauenknast? Auch nicht schlimm. Ist jedenfalls billiger.“***

Absturz

Es war ein grässlicher Anblick: Auf dem gepflegten Rasen gleich links neben dem Empfangsgebäude der Senioren-Residenz Sancta Agatha lag dieser tote alte Mann in seinem Blut, mit zerschmetterten Gliedern. Niemand traute sich, eine Decke zu holen, um sie über ihn auszubreiten, ehe nicht die Kriminalpolizei und Spurensicherung alles akribisch untersucht hätte. Eines aber schien jetzt schon sicher: Dieser Mann, dessen Gesicht - sofern es noch erkennbar war - niemandem spontan vertraut war, musste sich vom obersten Stockwerk aus hinuntergestürzt haben. Es könnte auch sein, dass er im Traum schlafwandlerisch über das Balkongeländer geklettert und dann abgestürzt sei. Nur - niemandem von der Heimleitung oder vom Betreuerteam war ein männlicher Bewohner in der einzig infrage kommenden Etage bekannt. Die pflegebedürftigen Demenzkranken waren in einem anderen Flügel untergebracht.

Alsbald tauchten die Polizei- und Rettungsfahrzeuge mit Blaulicht und Sirenen auf. Routinemäßig sperrten sie den Ort des Geschehens mit rotweißen Bändern ab und errichteten über der Leiche des Mannes ein Zelthaus. Den Tod brauchten sie nicht erst festzustellen. Er war offensichtlich. Sofort teilte sich der Einsatztrupp. Hauptkommissar Maurice Elsterhorst begab sich mit dem allen Bewohnern der Residenz längst vertrauten schwarzen Labrador Rinaldo und einigen Begleitern ins Haus, um Wohnungen und Apartments zu inspizieren, aus denen der Tote hätte nach unten stürzen oder auch gestürzt werden können.

Das Haus war in heller Aufregung. Bei den bisherigen unnatürlichen Todesfällen war eine Wohnung, ein Flur, ein Flügel der weiträumigen Anlage betroffen. Jetzt aber war die ganze Residenz auf den Beinen. Jeder, der konnte, hatte sich inzwischen angekleidet. Die Damen hatten ihren Schmuck angelegt, ihre Haare in Form gelegt. Die wenigen Männer standen alsbald in einem Pulk zusammen. Es kamen ja auf hundert weibliche Bewohner gerade mal zwanzig Männer. Das Alter ist bekanntlich weiblich. Waren die Männer zunächst noch mit der Befürchtung zusammengelaufen, es könne einer von ihnen, aus der Skat- oder Schachgruppe oder von der Tischgemeinschaft zu Tode gekommen sein, so waren sie ebenso erleichtert wie verwundert, dass keiner fehlte.

„Es ist keiner von uns!“ resümierte Oskar Regner. „Es sei denn, der arme Kerl sei gestern oder vorgestern erst eingerückt und habe den Wechsel nicht verkraftet. Mein Gott, was habe ich in den ersten Tagen hier gefremdelt. Ich war überzeugt, das sei das Ende. Nun habe es eben auch mich erwischt. Aber dann .... hier hat man seine Ruhe, wird versorgt. Na ja, solange die Kohle reicht. Oder die Jungen für dich aufkommen.“

Hauptkommissar Elsterhorst hatte inzwischen fast sämtliche so früh am Morgen zugänglichen Apartments besichtigt. Nur wenige Bettlägerige mussten erst geweckt, gewaschen, angekleidet und in ihre Rollstühle gesetzt werden. Dann konnten auch deren Wohnungen inspiziert werden. Rinaldo schnupperte nach Keksbrocken. Aber irgendwelche verdächtigen Spuren von Gewaltanwendungen waren nirgendwo zu entdecken. Und vor allem: Es gab auch kein nicht belegtes, leeres Zimmer. Von wo also hätte der Tote in die Tiefe springen sollen?

Blieb noch der Dachboden, der allerdings wohlweislich ständig verschlossen gehalten wurde, nachdem sich einige wenige Male dort Bewohnerinnen und Bewohner vor Besuch oder Arztterminen, ja sogar vor der Polizei hin geflüchtet hatten. Auch soll es dort oben schon zu Rendezvous von lebenslustigen Männern mit liebeslustigen Schwestern gekommen sein. Das wäre natürlich auch jetzt noch möglich; denn das Personal hatte schon aus Gründen des Feuerschutzes Zugang zu den Schlüsseln.

Elsterhorst ließ sich also den Dachboden aufschließen. Rinaldo stürmte abenteuerlustig in das unerforschte Terrain. Und siehe da, heftig flatternd und zeternd stoben einige Tauben hoch, manche fanden nicht gleich das offene Fenster, Federn wirbelten durch die Luft, Rinaldo bekam einen der Vögel am Schwanz zu schnappen und ließ das Zappeltier, nachdem er die Taube mehrmals herumgeschleudert hatte, erst auf den harschen Befehl seines Herrchens frei.

Wo ein Fenster offen stand und Tauben raus- und rein fliegen können, da könnte sich auch ein Mensch hinausstürzen. Elsterhorst ließ helle Lampen bringen; denn die Beleuchtung hier im Olymp war mehr als dürftig. Und - siehe da - in einer Ecke neben einem der mächtigen Kamine hatte sich jemand ein Lager hergerichtet. Auf einem Brett standen eine Tasse und ein Teller mit Speiseresten, an einer Leine baumelten ein ärmlich-dünner Mantel, eine Hose und ein Hemd. In Griffweite von der provisorischen Bettstatt waren etliche Bücher aufgestapelt, einige in kyrillischer Schrift. Ein paar Magazine und Zeitungen lagen herum. In der Nähe des Fensters stand ein alter Holzstuhl. An einem der Holzbalken waren mit Heftzwecken ein paar Fotos befestigt, diverse Personen, Erwachsene und Kinder, eine kleine, armselige Bauernkate. Elsterhorst ließ alles absperren und bis in den letzten Winkel fotografieren. Hier hatte der Tote offenbar bis zum gestrigen Tage gehaust. Dann wohl den letzten Ausweg aus seinem kümmerlichen Leben gewählt.

Jedoch muss es mindestens eine Komplizin oder einen Helfer gegeben haben, der ihn mit Essen und Trinken versorgt und sicher auch heimlich mal auf eine Toilette oder gar in ein Badezimmer geluchst hat, als Besucher getarnt. Man müsste die Schwestern, Pfleger und Betreuer dieses Gebäudeflügels befragen - und zwar zunächst jene, die aus Ländern stammen, in denen kyrillische Schriftzeichen genutzt werden. Dazu könne man die Kommissarin Uta Möbius abordnen, sozusagen zu Gesprächen von Frau zu Frau.

Die Direktion gab sich erschüttert. Nein, dass so etwas in diesem gepflegten Hause möglich gewesen sein soll? Da müsse man strengstens nachforschen und in aller Härte durchgreifen. Die Schlösser müssen ausgetauscht, der ganze Dachboden schnellstens desinfiziert werden. Und vor allem dürfe nichts nach draußen dringen. Denn dann würde der Ruf des Hauses noch mehr leiden. Immerhin war es beileibe nicht das erste Mal, dass ein Polizei-Einsatz für unerwünschte Publizität gesorgt hätte.

Der zweite Trupp packte bereits wieder alle Gerätschaften zusammen. Der Tote war in einem Zinksarg in die Pathologie unterwegs. Natürlich hatte man auch hier alles im Detail fotografiert, für den Fall, dass man noch einmal Einzelheiten auswerten müsse. So aber ging man davon aus, dass der Mann Selbstmord begangen habe. Also nichts Aufregendes. Drei Hausgärtner waren bereits dabei, sämtliche Spuren in der peinlichst gepflegten Rasenfläche zu tilgen. Neue Grasplacken wurden dort sorgfältigst eingepflanzt, wo durch den Aufprall des Mannes Vertiefungen entstanden waren.

Wer damit gerechnet hatte, dass der „Fall“ - im wahrsten Sinne des Wortes - damit schnell abgehakt werden könne, hatte sich jedoch getäuscht. Denn aus der Pathologie kam die aufregende Nachricht, dass der Mann bereits tot gewesen sein musste, als er aus dem Fenster geworfen wurde. Mord?

Jedenfalls waren bisher unbekannte Dritte an dem Fall beteiligt. Zur Identifikation wurden Fotos, Fingerabdrücke, Gebissabdrucke an Kommissariate in osteuropäischen Ländern geschickt. Wer könnte der Tote sein?

Nun übernahm auch Hauptkommissar Lothar Velmond einen Teil der Vernehmungen. Der Mann war tot, als er aus dem Fenster geworfen wurde? Noch war nicht klar: War er eines natürlichen Todes gestorben? War er krank? Verhungert? Oder hatte ihn jemand in seinem Versteck aufgespürt und umgebracht? Gehörte er zur russischen Mafia oder wurde er von ihr gesucht? Hier - im Hause der Seniorenresidenz Sancta Agatha - müsse die Antwort gefunden werden.

Natürlich hatte die Presse davon Wind bekommen. Schon mit dem Erklingen der Martinshörner waren die Reporter auf den Beinen, um möglichst schnell Interviews mit irgendwelche Herumstehenden zu führen, die natürlich allzu bereit waren, irgendwas von sich zu geben, nur um in die Zeitung oder gar ins Fernsehen zu kommen. Einer oder eine - das ließ sich dann nicht mehr zurückverfolgen - hatte gemeint, es bliebe doch manchen Bewohnern gar nichts anderes übrig, als in den Tod zu springen, weil sie sich die hohen monatlichen Belastungen gar nicht länger leisten könnten. Vermutlich sei das einer von diesen armen Kerlen, die nach einem arbeitsreichen Leben von Banken um ihr Erspartes gebracht wurden und nun im wahrsten Sinne des Wortes ins Bodenlose abstürzen.

Dieser Spur ging auch Velmond nach. War es ein ehemaliger Bewohner des Hauses, der am Ende war und in seiner Not auf den Dachboden geflüchtet und von mitleidigen Schwestern dort durchgefüttert wurde, bis es nicht mehr ging oder er von einem gnädigen Tod erlöst wurde? Schließlich blieben jeden Tag viele Essensportionen auf den Trolleys übrig, die - zurück in der Küche - weggeworfen wurden. Da könne man leicht noch mehrere arme Kerle durchfüttern?

Uta Möbius lud eine Schwester nach der anderen in ein Besprechungszimmer ein. Sie bekam sehr viel zu hören, auch über das gelegentliche Geschehen auf den Dachböden der verschiedenen Gebäude. Ja, es gäbe arme Teufel, die sich das Leben nehmen. Meist mit Tabletten. Erst würden sie konsequent das Essen und insbesondere das Trinken verweigern. Andere hauen einfach ab. Vielleicht irgendwohin unter eine Isarbrücke. Meistens Männer. Die kämen mit ihrem Schicksal viel schwerer zurecht als Frauen.

Dann erschien eine Ludmilla M., eine schmale Gestalt mit langen dunklen Haaren, vielleicht 30, vielleicht auch 40 Jahre alt. In ihrem bleichen Gesicht fielen Frau Möbius die verweinten Augen auf.

„Sie haben geweint? Wegen des toten Mannes?“

Ludmilla nickte nur stumm.

„Hat er Ihnen was bedeutet?“

„Sterben so viele. Klar, ist Altersheim. Tod immer furchtbar. Weine viel. Gestern noch Essen gebracht, vielleicht geduscht, gesprochen. Über Kinder gesprochen. Nächsten Tag tot.“

„Und dieser Mann? Kannten Sie ihn?“

„N e i n !“

“Wie können Sie das so entschieden sagen? Waren Sie draußen? Haben Sie ihn gesehen? Sie konnten ihn doch gar nicht erkennen?“

Ludmilla zuckte. Auf diese Attacke von dieser netten Polizistin war sie nicht vorbereitet. Dann brach sie zusammen.

„Mann war mein Vater. Ganz armer Mann. Geflüchtet aus Kasachstan. Musste ihm dochhelfen. Aber ohne Geld?“ Ludmilla begann hemmungslos zu weinen. „Hier alle reich. Werfen soviel Essen fort. Möbel, Sachen, Teppiche - alles wird weggeworfen, wenn Leute gestorben. Zuhause ist Not. Mein Vater reicher Bauer, aber dann alt und krank. Mutter gestorben. Heim gibt es nicht. Nur Familie. Dann du musst helfen, wo immer du bist. Papa alles verkauft, Haus, Schafe, alles – für Geld für Reise. Vorgestern Papa tot. Auf einmal. Was kann ich tun? Nicht oben liegenlassen. Nun ist vorbei. Werde gekündigt. Zuhause habe ich nicht. Weiß nicht wohin. Vielleicht ich springe hinterher.“***

Alles bio ....

„Hast du schon gehört, der Frieder ist gestorben, ganz plötzlich!“

„Der Frieder? Das kann doch gar nicht wahr sein; der ist doch gestern noch durch den Park gejoggt!“

„.... und der hat doch so gesund gelebt. Der war doch Vegetarier und hat immer jede Menge Grünzeug gefuttert.“

„.... und von seiner Familie hat der jede Woche so Bio-Zeug gebracht bekommen. Der hat doch nie - wie er immer sagte - diesen Industrie-Fraß zu sich genommen!“

„Na, na, na, das ging, glaube ich, gar nicht von ihm aus, sondern von seiner Familie. Das waren so Supergrüne, so Blumenkohl-Apostel. Er selbst, ihm war das so ziemlich wurst. Wenn die Lena, also die Frau von seinem Enkel, wenn die kam, hat sie ihm alles rausgeräumt und weggeworfen, was hier vom Heim-Service angeliefert wurde. Und der soll jetzt tot sein? Der Friedrich Heckler? Der war doch mit seinen 87 noch fit wie ein Turnschuh!“

„Ist natürlich ein schöner Tod. Gestern noch topp, und dann ganz schnell hopp! Wünsch’ ich mir auch.“

Gesprächsfetzen kurz vor dem Mittagessen in der Senioren-Residenz Sancta Agatha. Auf einem Tischchen stand schon sein Bild mit einem schwarzen Bändchen und ein paar Blumen.

Nun ja, gestorben wird in einem solchen Heim immer. Da muss man nicht gleich misstrauisch werden. Auch wenn jemand vorher noch fit wie ein Turnschuh war.

Erst als zwei Tage später eine der Hilfsschwestern ganz plötzlich zusammenbrach, auch sie noch kurz vorher flink auf den Beinen und mitten aus der Arbeit, da musste die Direktion reagieren. Ein Virus? Gefährliche Erreger? Etwas im Essen? Oder in der Lüftung? In solchen Fällen greift die Berichtspflicht. Behörden müssen diskret informiert werden, ohne gleich Panik auszulösen und gar den Ruf der Senioren-Residenz zu ruinieren.

Die Bestattung von Dr. Friedrich Heckler wurde gestoppt. Sein Leichnam wurde in die Pathologie der Tropenklinik überführt. Auch Schwester Ivanna wurde mit Blaulicht und Sirene in diese Klinik eingeliefert und kam auf die Intensivstation. Hatte sie den toten Heckler aufgefunden, etwa berührt? Könnte sie sich infiziert haben?

Wenige Stunden später kam die Diagnose: Heckler war an einem starken Gift verstorben. Kein Virus, kein Bakterium. Bei Schwester Ivanna zeigten sich dieselben Symptome. Ihr musste sofort der Magen ausgepumpt werden. Ihr Zustand nach wie vor bedenklich, weil bereits Nervenschäden diagnostiziert wurden und eine künstliche Beatmung eingeleitet werden musste. Die Analyse bestätigte erste Vermutungen: Aconitin, eines der stärksten Gifte aus der Reihe der Alkaloide. Leider fast überall für jedermann verfügbar, wo die beliebte Schmuckpflanze des tiefblau bis violett blühenden Eisenhuts angepflanzt worden war. Sämtliche Teile der Pflanze sind hochgiftig, wobei das Gift sogar durch die unverletzte Haut aufgenommen werden kann. Kinder, die diese vor allem in den Alpen reichlich vorkommende Pflanze in Sträuße gebunden hatten, erkrankten lebensgefährlich.

Wie konnte das Gift in das Heim gelangt sein? Im Park gab es keine Eisenhut-Stauden, an denen sich Dr. Heckler vergriffen haben könnte. War es Mord?

Wieder klingelte in der Mordkommission 2 das Telefon. Turnusmäßig war nun Hauptkommissar Maurice Elsterhorst an der Reihe, die Ermittlungen aufzunehmen. Jedoch warnte man ihn, seinen Hund Rinaldo mitzubringen. Die Gefahr sei zu groß, dass er Spuren des Giftes irgendwo aufschlecken würde. Man kenne ja die Spur nicht, vor allem keinen Zusammenhang zwischen Heckler und Ivanna.

„Wer hat den Toten morgens als Erster entdeckt?“ begann Elsterhorst seine Befragungen. Eigentlich war Thomas mit dem Frühstücks-Service betraut, stellte sich heraus, ein schon sehr lange beschäftigter, erfahrener Pfleger. Jedoch wurde er an diesem Morgen von Donata vertreten, einer Lernschwester.

„Ja, ich habe den toten Dr. Heckler entdeckt und sofort die Heimleitung verständigt, wie es den Anweisungen entspricht. Er war halb aus seinem Bett rausgerutscht und hatte etwas Schaum im Mund. Das ist ja häufig der Fall. Daher habe ich auch keinen Verdacht geschöpft.“

„Wer hat das Apartment gereinigt, nachdem der Tote weggebracht worden war. Gab es irgendwelche Besonderheiten?“

Die beauftragte Putzkolonne hatte die übliche Routine walten lassen. Spuren von Erbrochenem?

„Nicht das ich wüsste. Ist ja nicht selten!“ sagte der Kolonnenführer. „Wir haben wie immer den Kühlschrank ausgeräumt und alle Nahrungsmittel, Honig, Marmeladen, Butter, was halt so drin steht, in einen Karton gepackt. Muss ja alles vernichtet werden. Auch alle Flaschen, Bier, Wasser, etwas Wein - alles kam raus. Schokolade, Kekse - das tut einem schon leid, dass diese guten Sachen, zum Teil noch unberührt, vernichtet werden müssen. Bei der Hungersnot woanders. Und manche Familie auch hier in München würde sich darüber freuen. Aber Vorschrift ist Vorschrift.“

Da der Müll bereits entsorgt war, müsste man eine sehr aufwändige Suche einleiten, um die Spuren zu verfolgen. Man einigte sich stillschweigend, darauf zu verzichten.

Gottlob erholte sich Schwester Ivanna einigermaßen, so dass ihr Kommissarin Uta Möbius am Krankenbett einige Fragen stellen konnte.

„Können Sie sich erinnern, was Sie an dem Morgen vor Ihrem Zusammenbruch gegessen hatten? Hatten Sie Kontakt mit irgendwelchen Blumen?“

„Mit Blumen? Nein, wir versorgen keine Blumen. Welkes Zeug entsorgen die Putzfrauen. Gegessen? Ja, ich habe mir in der Pause ein Marmeladenbrot geschmiert.“

„Von welcher Marmelade?“

„Frau Kommissarin, da dürfen Sie mich nicht verraten. Manchmal, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner gestorben ist, wird soviel weggeworfen, was noch völlig in Ordnung ist. Der Dr. Heckler, der wurde ja von seiner Familie immer mit den kostbarsten Sachen versorgt.“

„Auch mit Marmelade?“

„Ja klar, alles hausgemachte, leckere Marmelade, was man so im Laden gar nicht kaufen kann, und so liebevoll mit bunten Hauben und Schleifchen zugebunden. Kiwi, Pfirsich, Holunder; Traubengelee - alles bio. Die haben sich ja super um ihren Opa gekümmert. Nicht ohne Grund sah der noch mit seinen 87 aus wie 70.“

„Haben Sie von einer Marmelade gekostet?“

„Ja, ich konnte einfach nicht verstehen, dass diese leckeren Sachen in den Sondermüll wandern. Da habe ich mir dieses Glas mit der Kiwi-Marmelade zur Seite gestellt .... Sie meinen doch nicht etwa, da sei Gift drin gewesen?“

„Wo ist das Glas jetzt?“

Noch im selben Moment, in dem Ivanna ihr Versteck preisgab, rief Frau Möbius per Handy die Mordkommission an. Sofort raste ein Isar-Wagen zur Klinik und beschlagnahmte das Glas mit der grünen Marmelade. Hauptkommissar Elsterhorst startete mit einigen Beamten, um die Mitglieder der Familie Heckler einzuvernehmen. Die hatte zwar fassungslos von der Vergiftung ihres Großvaters Kenntnis genommen. Der Leichnam war ja auch noch nicht zur Bestattung freigegeben. Aber wie gut kann sich eigentlich so ein Familien-Clan verstellen und dichthalten? Natürlich wusste niemand, wie so ein tödliches Gift in ihre Marmelade hätte hinein geraten können.

„Wir machen alles total bio. Alle Früchte selbst geerntet, aus dem eigenen Garten. Nichts wird dazu gekauft, allenfalls Zucker. Sie können alle Gläser kontrollieren lassen. Schauen Sie in unseren Keller, in die Vorratskammer. Vielleicht hat ja irgendein Heimbewohner, der unseren Opa nicht leiden konnte, oder jemand vom Personal oder wer auch immer, da was hinein getan.“ Die Beweisführung gestattete sich schwierig. Dr. Heckler wurde zur Bestattung freigegeben.

Hauptkommissar Lothar Velmond ließ der Fall völlig unbefriedigt. „Wer könnte denn Interesse gehabt haben, den teuren Aufenthalt des alten Heckler zu verkürzen, ganz nach dem Motto ‚Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld?’“

„Ihnen werden die Hecklers auch nicht mehr verraten wie mir!“ meinte Elsterhorst. Dennoch ließ Velmond nicht locker. „Ich fahre da nochmal hin!“

Er fand die Großfamilie vereint. Am Tag zuvor hatte die Beerdigung stattgefunden. Lothar Velmond sprach sein Beileid aus. Dass die Kripo Anteil nimmt an solchen Schicksalsschlägen, wurde positiv aufgenommen. Aber der Kriminalist ließ natürlich seine Blicke schweifen.

„Wer ist denn von Ihrer Familie der große Bergsteiger?“ fragte er beiläufig, als ob ihm die vielen gerahmten Bergfotos im Treppenhaus hohe Bewunderung abnötigten.

„Das ist unser Philipp. Aber der ist schon wieder auf der Hütte. Familienfeiern sind ihm ein Greuel. Und zum Großpapa hatte er auch kein besonders inniges Verhältnis, vor allem seit er die Uni geschmissen hatte. Da galt er beim Opa immer als Versager.“

„Wo haben Sie denn Ihre Hütte? Das war immer mein Traum, am Wochenende in die Berge, in eine eigene Hütte fliehen zu können. Bergluft macht frei.“

„Oh, das ist gar nicht so weit von hier, am Wilden Kaiser, Elmauer Halt. Vielleicht nimmt Sie der Philipp mal mit. Rufen Sie einfach in den nächsten Tagen mal an.“

Lothar Velmond rief in der Tat an. Er hatte das Wochenende gut genutzt und im Bereich des Elmauer Halts einige Eisenhutpflanzen ausgegraben und in Plastiktüten verpackt. Im Labor konnte man durch Spektralanalysen nachweisen, dass das darin enthaltene Acontin identisch mit dem in der Kiwi-Marmelade war. In Philipps Zimmer wurden Reste des Pflanzenextraktes sichergestellt. Dann klickten die Handschellen.***

Das phantastische Picknick

„Rosalinde, da bist du ja endlich wieder. Hast du ein schönes Wochenende verbracht mit deinen Lieben zuhause?“

„Oh ja, es war wunderschön. Diese Sonne, dieses herrliche bayerische Oberland, diese saftigen Wiesen, die blühenden Büsche und im Hintergrund die Berge ... einfach wunderbar!“

„Bist du mit den Deinen raus gefahren? Haben sie dich eingeladen? Ach, das wäre auch so ein Traum von mir. Aber die können sich ja gar nicht um mich kümmern. Die haben selbst genug um die Ohren. Aber du hast da wirklich Glück ... und Farbe hast du bekommen. Bist ja richtig braungebrannt. Siehst aus wie das blühende Leben!“

„Na ja, Fanny, wie man’s nimmt. Ich weiß ja nicht, ob ich’s dir überhaupt sagen soll. Also nur, wenn du es absolut für dich behältst. Wenn du auch nur ein Wort verrätst, dann ratscht das ganze Heim darüber. Dann wird geplappert und geplappert. Die würden mit Fingern auf mich zeigen.“

„Nun mach’s mal nicht so spannend. Was gibt’s denn so Geheimnisvolles zu erzählen. Du weißt doch, ich kann schweigen wie ein Grab. Ist denn was mit deiner Familie? Stimmt was nicht?“

„Nein, nein, da ist alles okay ...“

„... aber? Nun rück schon raus. Mach’s nicht so dramatisch, Rosi!“

„Na ja, es mir schon ein bisschen peinlich. In meinem Alter!“

„Sag’ bloß, du hast dich verliebt.“

„So ähnlich, Fanny, aber du darfst es niemandem weitersagen. N i e m a n d e m ! Versprich mir das! ... Also, na ja, irgendwann erfährst du es ja doch: Ich habe einen neuen Freund!“

„Waas hast du? Einen neuen Freund? Kaum dass dein Herbert ein paar Monate unter der Erde ist?“

„Noch schlimmer! Das ist es ja: Mein neuer Freund ist mein alter Freund. Ich kenn’ ihn ja schon seit hundert Jahren!“

„Nun übertreib’ mal nicht. Du warst doch über 50 Jahre glücklich mit deinem Herbert verheiratet ... und du hast einen alten Freund?“

„Ja, den Berthold. Denn kenn’ ich schon von der Tanzstunde her. Der war immer mein Schwarm. Ach Gott, was habe ich den angebetet ... und nicht nur das. Aber dann hat ihn mir so eine doofe Ziege, so ein aufgedonnertes Flittchen, vor der Nase weggeschnappt. Männer sind ja dumm. Wenn da eine kommt mit so’nem Busen und Beinen bis zum Hals, dann rennen die dieser Pute nach, blind vor Augen. Es ging ja auch nicht gut mit den beiden. Das hätte ich ihm gleich sagen können. Und dann kam Herbert. Was hätte ich denn tun sollen? Den Spatz in der Hand fliegen lassen wegen dem Täuberich auf dem Dach? Zumal Herbert ja auch einiges zu bieten hatte. Sonst könnte ich mir diese Senioren-Residenz hier gar nicht leisten!“

„Herbert - nur der Spatz? Und dann bist du 54 Jahre mit ihm durchs Leben gegangen? Hast ihm die Treue gehalten?“

„In gewisser Weise schon. Fast. Aber dann traf ich Berthold wieder! Reiner Zufall! Auf einmal steht er vor mir. In der Oper! Im Foyer, im Wandelgang! Er mich sehen und mir um den Hals fallen, war eins!“

„Nun sag’ bloß, du hast das ganze Wochenende mit ihm verbracht? Und ich wähnte dich wie immer bei deiner Familie, bei deinen Enkeln. Wussten die davon?“

„Genaueres nicht. Ich habe denen nur gesagt, dass ich an diesem Wochenende nicht kommen kann. Ja, und dann haben wir uns getroffen, stiekum, wie man bei uns zuhause gesagt hat, also heimlich. Und wir sind raus gefahren wie ein Liebespaar. Der Berthold, der hat ein ganz schickes Auto, da kann man sogar das Verdeck öffnen. Der kennt auch die schönsten Plätze. Da brauchst du gar nichts zu sagen; der liest dir die Wünsche am Gesicht ab. Gestern war ein Picknick angesagt, aber was für eins! Wir sind an einen See gefahren, nicht an so einen großen, wo uns hätte jemand sehen können. Ich kenne mich ja auf der Landkarte nicht so gut aus. Aber Berthold, der kannte so ein lauschiges, verstecktes Plätzchen direkt am Ufer. Wir mussten zwar ein kleines Stück laufen, aber er hatte so ein Wägelchen dabei. Für alles, Decke, Klappstühlchen, Picknick-Koffer, allerlei Leckereien. Stell’ dir vor, der hatte sogar eisgekühlten Prosecco dabei, in einer Kühltasche. Kaffee in der Thermosflasche, wunderbaren Kartoffelsalat von Feinkost Käfer, zartes Roastbeef. Ach was haben wir geschlemmt.“

„Und dann?“

„Stell’ dir vor, ich bin sogar seit langer Zeit mal wieder geschwommen!“

„Aber du hattest doch gar keinen Badeanzug dabei. Hast du überhaupt noch einen?“

„Das machte doch nichts. Konnte doch niemand sehen. Und Berthold, der kennt mich ja. Er ist ja auch nicht mehr so knackig wie früher. Er hat mich natürlich gehalten, aber so, dass ich die Illusion hatte, noch schwimmen zu können ohne abzusaufen.“

„Nackt? Also nein! In deinem Alter?“

„Wieso? Ich bin doch für mein Alter noch ganz gut beisammen. Es war jedenfalls wie ein Jungbrunnen.“

„Hattet ihr denn Handtücher dabei?“

„Berthold hat an alles gedacht. In gewisser Weise ist er ja auch ein Schlawiner!“

„Und dann?“

„Sind wir nach Achenkirch gefahren. An den Achensee ins Posthotel. Fünf Sterne! Alles vom Feinsten! Berthold hatte natürlich vorbestellt. Er kennt die Eigentümer persönlich. Schließlich war er ja selbst viele Jahre Hoteldirektor, allerdings in Thailand. Wie er sagt, in einem Sex-Sterne-Hotel, nicht sechs mit weichem S! So mit Massagen und so. Hat er auch ein bisschen was davon gelernt.“

„Sag’ bloß, du hast mit deinem neuen alten Freund im Doppelzimmer übernachtet?“

„Ja, was denn sonst? So bleibt man jung, Fanny! Du musst dir auch wieder einen Freund anschaffen. Setz’ mal eine Anzeige in die Zeitung, unter Verschiedenes.“

„Nein danke! Das ist mir zu gefährlich. Dein Berthold hätte dir ja auch was antun können! Wem kann man denn heute noch vertrauen?“

„Der? Der vergöttert mich doch immer noch. Außerdem, so ein bisschen was antun, ist auch nicht ganz ohne Reiz. Und jetzt muss ich mich erstmal ausschlafen. Bis morgen!“

Einige Tage später:

Fanny Reiter sieht, wie Dr. Wagner, Rosalindes Sohn, das Foyer der Seniorenresidenz St. Agatha betritt und nach seiner Mutter Ausschau hält. Fanny kennt ihn natürlich - und er sie.

„Hallo, Grüß Gott, Herr Dr. Wagner, hat sich Ihre Mutter verspätet? Die macht sich sicher noch fein. Aber sagen Sie mal, die ist ja noch ganz schön viel unterwegs. Oder habe ich jetzt was verraten?“

„Ach die Mama? Hat sie wieder was erzählt? So eine Berthold-Phantasie? Welche denn diesmal? Salzburger Festspiele? Comer See? Picknick?“

„Wieso Phantasie? Ist das etwa alles nicht wahr?“