Töchter aus Elysium - Werner Siegert - E-Book

Töchter aus Elysium E-Book

Werner Siegert

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Beschreibung

Im Sanatorium für Phytologie und Naturmedizin "Elysium" soll Kriminalkommissar Maurice Elsterhorst nach äußerst anstrengenden Ermittlungen neue Kräfte sammeln. Die ihn betreuende Schwester Angela entpuppt sich als eine von den Krankenkassen eingeschleuste heimliche Ermittlerin wegen Abrechnungsbetrug. Als die Leitung des von Feministinnen geführten Hauses sie bei Erkundungen ertappt, wird sie halbtot geschlagen und nachts mit Blaulicht in lebensgefährlichem Zustand abtransportiert. Elsterhorst wird davon Zeuge und alarmiert die Mordkommission. Da dem Leitungsteam des Elysium-Instituts der Boden zu heiß wird, flieht das Trio bei Nacht und Nebel. Durch den Hausmeister Hugo, der schon zu Zeiten als Faktotum tätig war, als die Gebäude noch ein Nonnenkloster beherbergten, erfährt das Ermittlungsteam der Kripo von zahlreichen Leichen nicht nur aus der Emanzen-, sondern auch der Nonnen-Zeit, die er hat stillschweigend beseitigen müssen. Mord verjährt nicht. Die Ermittlungen werden aufgeteilt: Hauptkommissar Lothar Velmond soll die Todesfälle aus der Sanatoriumszeit aufklären, Hauptkommissar Maurice Elsterhorst die aus der Klosterzeit. Beide tauchen in finstere, unheilvolle Verstrickungen ein. Die kriminelle Energie der Verdächtigten ist längst nicht erloschen. Auch Frauen können Mafia.

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Seitenzahl: 321

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Werner Siegert

Töchter aus Elysium

Kriminalroman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Absolute Ruhe

2. Höllenqualen

3. Mit Blaulicht

4. Flucht bei Nacht und Nebel

5. Die Vernehmung der Dr. Winfriede Lepper

6. Hugo

7. Ortstermin: Elysium oder Tartarus?

8. Rinaldos großer Tag

9. Elsterhorst und die Frauen

10. M o o r i e s e . . .

11. Der Taborberg

12. Elsterhorsts Albträume

13. Liebesbriefe

14. Spuren verzweifelt gesucht

15. Vernehmung Frau Dr. Berghoff

16. Ein konspiratives Treffen

17. Pendeln oder wispern lassen?

18. Pieštany

19. Drunt’ in der Wachau ....

20. Olga Hendrix

21. Velmond unter Verdacht

22. Mord oder Geiselnahme?

23. Sonderbare Heilquellen

24. Sr. Agneta

25. Liebestöter

26. Eine Leiche am See ?

27. Beweise auf der Unterhose

28. Es geht um Tod und Teufel

29. Waltet Eures Amtes!

30. Nicht schon wieder!

Notabene

Hinweis

Impressum neobooks

1. Absolute Ruhe

Hauptkommissar Maurice Elsterhorst fühlte sich müde, schlaff und krank. Sein letzter Fall hatte ihn viel Kraft gekostet und endete in einer riesigen Enttäuschung. Er hatte einen Mörder aufspüren wollen, den es offenbar gar nicht gab. Zwei von Leichen abgetrennte Hände ließen die Öffentlichkeit aufheulen; eine hatte sein treuer schwarzer Labrador Rinaldo in einem Friedhof apportiert, die andere fanden Wanderer in einem Park. Untätigkeit warf man der Polizei vor. Zu allem Überdruss hatte man Rinaldo fotografiert, als er mit der Leichenhand im Maul durch die Gräber trabte. Diese Fotos erschienen übergroß in der Boulevardpresse. Im Lokalfernsehen machte man daraus eine hämische Skandalgeschichte und hängte ihm Rücksichtslosigkeit gegen über einem kleinen Buben an, von dem er sich in der Eile und Betroffenheit das Handy ausgeborgt hatte. Im Präsidium kam das gar nicht gut an. Als dann noch die Suche nach dem Hand-ab-Mörder in einem Fiasko endete, brach er zusammen.

Währenddessen konnte sich sein Kollege Lothar Velmond ein Stückchen vom Ruhm abschneiden, und dies, weil er lediglich durch einen blöden Zufall Zeuge wurde, als das Skelett einer jungen Römerin in einem Moortümpel oberhalb von Wildbad Kreuth sichtbar wurde - die inzwischen weltberühmte „Truski“! Ganz zum Ärger der Italiener, die nun das Monopol ihres „Ötzi“ in Gefahr sahen.

Der Amtsarzt hatte Elsterhorst vier Wochen absolute Ruhe verordnet, am besten in einem Sanatorium, in dem er - abgeschottet von allen negativen Einflüssen - liebevoll umsorgt würde. Am besten incognito, um ihn von allen Tratschereien abzuschirmen, die ein leibhaftiger Kriminal-Hauptkommissar auslösen würde.

Sanatorium! Allein bei dieser Bezeichnung quälten ihn Assoziationen von sadistischen Krankenschwestern, die ihn - überdies halbnackt - zu allerlei grausamen Leibesübungen zwingen würden. Er müsse zur Wassergymnastik zusammen mit fetten, schwabbeligen AOK-Patienten plantschen, werde auf Schonkost gesetzt, serviert zu Zeiten jenseits aller Zivilisation. Ärzte, die ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen würden, ihm eine böse, absolut neue Krankheit anzudichten und möglichst eine Operation! Um 5 Uhr Abendessen - und was für welches! Und dann noch die Trennung von Rinaldo! Scheußlich, scheußlich!

So atmete er auf, als seine Kinderfreundin Judith, die sich wegen der Etrusker-Forschungen für längere Zeit in München aufhielt, ein ganz anderes, ein alternatives Wald-Sanatorium entdeckte, angegliedert an ein ehemaliges, aufgelassenes Nonnenkloster. Dort legt man das Schwergewicht auf Phytologie, auf Naturheilmittel, auf die Kraft der Kräuter aus dem Klostergarten. Hildegard von Bingen dient auch nach dem Auszug der Nonnen als großes Vorbild. „Ganzheitlich“ und „nachhaltig“ - diese Begriffe beherrschten den einladenden Prospekt. Schon der Name „Elysium“ ließ bei Elsterhorst alle Ängste schwinden.

Mit großen Erwartungen stieg er in sein Auto und überließ Judith gern das Steuer. Rinaldo räkelte sich wie immer auf der Rückbank. Anderthalb bis zwei Stunden würde die Fahrt in Anspruch nehmen - genügend Abstand von der Hektik der Großstadt, die manchmal so gar nichts von einer Großstadt mit Herz für ihn übrig hatte.

Die freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät teilte den Reisenden mit, sie befänden sich einen Kilometer vor ihrem Ziel. Jedoch standen sie vor einem weißen, kunstvoll geschmiedeten Doppelflügeltor, in der Mitte jedes Flügels ein Strahlenkreuz. Am linken Pfeiler befand sich ein imposantes Messingschild

E l y s i u m

Privat-Sanatorium

Institut für Naturmedizin und Phytologie.

Dazu ein Klingelknopf und ein Hinweis auf eine Wechselsprechanlage.

Judith stieg aus und drückte auf den Knopf. Sofort meldete sich eine schnarrende Frauenstimme. Nachdem Judith den Namen des Patienten genannt hatte, öffneten sich die Torflügel wie von Geisterhand. Erst nach etwa 700 Metern Waldstraße weitete sich der Blick. Neben einem alten, ziegelroten, schlossähnlichen Haupthaus, aus dessen Mitte ein spitzer, neugotischer Kirchturm herausragte, erstreckte sich links ein weißer, moderner zweistöckiger Neubau. Vor den Gebäuden sprudelte in einem weiträumigen Brunnenbecken ein Springbrunnen aus einer Figurengruppe, aus der sich zentral erhöht eine Madonnenstatue erhob. Ein Schild verwies die Ankömmlinge auf den Parkplatz und den Patienteneingang hinter dem Haus. Der Haupteingang schien Prominenten vorbehalten.

Noch ehe irgendein Begrüßungswort verlautete, kam die schneidend-kalte Anweisung:

„Der Hund bleibt draußen!“

Der Kommando-Ton der Empfangsdame hatte gar nichts elysisches an sich. Er entsprach ihrem strengen Erscheinungsbild: kurze hennarote Haare, Herrenkostüm, scharf nachgezogene Augenbrauen, dunkelroter, fast schwarzer Lippenstift. Judith erinnerte die Frau an eine Polit-Hauptkommissarin. Sie führte Rinaldo nach draußen zum Auto. Knurrend nahm er auf der Rückbank Platz. Judith kurbelte das hintere Fenster ganz nach unten, damit ihm die frische Waldluft um die Nase wehen könnte. Dann ging sie wieder hinein. Elsterhorst hatte sich inzwischen auf eine Bank gesetzt. Er wirkte wirklich sehr erschöpft. Nun kam auch noch die Trauer um seinen Hund dazu.

„Frau ....?“

„Schwertfeger!“

„Frau Schwertfeger, ich nehme an, Sie haben Ihren Herrn Vater hier her gebracht. Das ist sehr fürsorglich von Ihnen. Ich nehme an, Sie werden, nachdem sich Ihr Herr Vater eingerichtet hat, wieder mit Ihrem Auto nach Hause fahren. Wir haben es nicht gern, wenn Patienten Fahrzeuge mitbringen!“

Elsterhorst zuckte zusammen. V a t e r ? Hatte er richtig gehört? Kann die doofe Ziege nicht hingucken? dachte er sich.

„Frau ....?“ Judith fiel es nicht schwer, den belehrenden Ton dieser Hexe nachzuahmen.

„Hendrix, ich bin Frau Olga Hendrix. Ich leite die Organisation, die Rezeption und die Patienten-Angelegenheiten!“

„Frau Hendrix, dies ist Kriminal-Hauptkommissar Maurice Elsterhorst. Wir haben telefoniert. Es sind bestimmte Vereinbarungen getroffen worden. Herr Elsterhorst ist nicht mein Vater. Wir sind ... Kollegen. Sie - oder war es die Direktorin dieses Hauses? - hatten zugesagt, dass Herr Elsterhorst sich hier optimal regenerieren kann. Akutes Erschöpfungs-Syndrom! Niemand soll etwas über seinen Beruf erfahren. Er braucht einfach Ruhe und einfühlsame Betreuung.“

„Ob Kriminal-Hauptkommissar oder Manager, in jedem Sanatorium gibt es nun einmal Regeln und eine unerlässliche Ordnung. So ist zum Beispiel das Betreten des Altbaus für die Patienten streng untersagt. Wir führen hier die klösterliche Lebensart jenseits aller Religionen weiter. Selbstverständlich sorgen wir bestens für unsere Patienten. Unsere jahrzehntelange Erfahrung sagt uns aber auch, was gut für die Patienten ist und was nicht. Wir wissen zum Beispiel auch, dass telefonische Kontakte mit der Familie oder Freunden in den ersten 14 Tagen den Heilungserfolg stark beeinträchtigen. Daher dulden wir auch keine Mobiltelefone.“

„Frau Hendrix, ich habe das Empfinden, dass sich die Tonart Ihrer Prospekte ziemlich von der Art dieses Empfangsgespräches unterscheidet! Es kann auch auf keinen Fall hingenommen werden, dass Herr Elsterhorst sein Dienst-Handy abgeben muss. Er wird selbst davon nur geringen Gebrauch machen, muss aber erreichbar bleiben. Überdies war im Telefonat davon die Rede, dass sich Ihre Patienten frei bewegen und den Rahmen der therapeutischen Maßnahmen frei bestimmen können. Falls die Aussagen aus dem Prospekt und aus dem Informationsgespräch stark von einander abweichen, würde Herr Elsterhorst die Kur sofort abbrechen!“

Elsterhorst war es zwar peinlich, dass sich Judith so für ihn einsetzte, als ob er schon entmündigt sei; andererseits war er ihr dankbar, dass sie und nicht er hier das Grundsätzliche zu regeln versuchte. Sie nahm ein Einweisungsformular und mehrere Drucksachen vom Desk mit zu einem Tischchen und übernahm das Ausfüllen für Elsterhorst mit souveräner Selbstverständlichkeit selber vor. Adresse, Geburtsort, Geburtsdatum, Ausbildung, Beruf, Krankenkasse, Beihilfekasse - alles dies schien sie zu Elsterhorsts Erstaunen ohne langes Befragen zu wissen. Woher? Als Vertrauensperson trug sie sich selbst ein mit dem doppelten Wohnsitz in London und München, und verschwieg, dass sie sich in seiner Wohnung einzumieten plante. Er sollte sich nicht zusätzlich aufregen.

Um diese Zeit schienen nur wenige Patienten, mehr Männer als Frauen, durch die Halle zu schlurfen, meist im Bademantel und mit Pantoffeln. Andere hatten sich zu einem Waldspaziergang gerüstet. Kaum jemand würdigte Olga Hendrix mit einem Blick.

Plötzlich ertönte aus dem Park das aufgeregte Bellen Rinaldos. Elsterhorst kannte die Sprache seines Hundes. Es musste etwas Krasses passiert sein. Ein Rest von Adrenalin schoss in seine Blutbahn, er erhob sich schnell, ein bisschen taumelig, von Judith gestützt und rannte, so schnell, wie es ihm gelang, nach draußen. Die hintere Autotür war offen. Ein Schuss ertönte, Rinaldo jaulte auf. Beide, Elsterhorst und Judith rasten los, dem Geschrei und Geheule nach. Offenbar lag etwa 200 Meter entfernt ein alter Friedhof. Allerhöchste Angst aktivierte in den beiden letzte Kräfte, bis ihnen auf lautes Rufen Rinaldo entgegen sprang. Offenbar unversehrt. Doch hinter ihm folgte ein wütender alter Mann, mit grauen wirren Haaren, in einem Blaumann und Gummistiefeln, ein Gewehr in der Hand schwenkend.

„Sie da! Sie da, nehmen Sie sofort diese Bestie an die Kette, sonst erschieße ich sie. Hunde sind auf diesem Gelände nicht geduldet!“

Nach Atem ringend, mit Sternen vor den Augen und zitternd zog Elsterhorst seinen Dienstausweis raus. Da er sich den Liebesbezeugungen Rinaldos nicht gleich erwehren konnte, hielt Judith dem Mann den Ausweis vor die Nase.

„Darf ich einmal Ihren Waffenschein sehen? Wie kommen Sie dazu, hier herum zu ballern? Dies ist Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst!“

„Der Waffenschein ist in meiner Wohnung. Der Hund hat sich an einer Grabstätte zu schaffen gemacht. Das kann ich nicht dulden, ob Sie Kriminaler sind oder nicht. Ich bin der Hausmeister und Parkwächter. Hier habe ich das Hausrecht und nicht Sie und schon gar nicht Ihre Töle.“

Inzwischen hatten sich zahlreiche Patienten und offenbar auch Pflegepersonal um die Streitenden herum angesammelt. Der schwarze Labrador stand hechelnd neben Elsterhorst, der ihn streichelnd zu beruhigen versuchte. Schüsse, Silvesterknallereien und ähnliche Geräusche ließen ihn immer noch schmerzlich aufheulen. Das hatte man ihm in der Hunde-Polizeischule nicht abgewöhnen können. Judith hatte schnell die Leine aus dem Auto geholt. Kaum war Rinaldo angeleint, zog er auch schon kräftig ziehend in eine bestimmte Richtung. So weit, bis er an einer Grabstätte halt machte und jaulend und schnüffelnd die Steinplatte umrundete.

Elsterhorst fiel auf, dass im Unterschied zu den Nachbargräbern, die total vermoost und mit Efeu umrankt waren, an dieser Grabumrandung erst kürzlich jemand Spuren hinterlassen hatte. Das Moos war zum Teil zur Seite gescharrt, Efeuranken waren abgerissen und hinter den Grabstein geworfen worden.

Aus dem Sanatorium war inzwischen die Direktorin samt einem größeren Schwarm von Bediensteten herangerauscht und herrschten Elsterhorst und Judith an, sie mögen bitte sofort das Gelände verlassen, weil man sonst die Polizei benachrichtigen würde wegen Hausfriedensbruchs und Störung der Totenruhe.

„Die Polizei brauchen Sie nicht zu rufen. Die ist schon da!“ Auch der Direktorin hielt Judith den Dienstausweis vor die Nase, die ihn jedoch kaum eines Blickes würdigte.

Judith zog Rinaldo wieder von der Grabstätte weg und hakte Elsterhorst unter. Sie tuschelten kurz mit einander. Dann mimte Elsterhorst einen Herzinfarkt. Jedenfalls brach er kurz vor dem Haus zusammen.

Sofort eilten mehrere Schwestern und Pfleger zusammen. Man holte eine Bahre und trug ihn in eine Art Ambulanz. Judith ließ Rinaldo wieder ins Auto springen, ließ nur einen schmalen Spalt an den hinteren Fenstern offen und drückte die Kindersicherung runter, so dass er sich nicht wieder selbst befreien konnte. Dann trug sie Elsterhorsts Gepäck in die Halle. Gegenüber der Direktorin, die sich inzwischen mit ziemlicher Drohgebärde als Frau Dr. Frost-Heimbusch Judith gegenüber aufgebaut hatte, gab sie sich als jene Frau zu erkennen, die erst kürzlich mit ihr die überaus einladenden Gespräche wegen ihres Kollegen Elsterhorst geführt hätte. Einladend sei aber bisher nichts gewesen. Sie sei sehr besorgt, dass ihr Kollege nicht die liebevolle Betreuung und Ruhe finden würde, die ihr wortreich zugesichert worden war.

Frau Dr. Eleonor Frost-Heimbusch ließ Judith noch nicht einmal in die Ambulanz, um sich von Elsterhorst zu verabschieden, da sie nicht mit ihm verwandt sei. Und nun solle sie sich schleunigst samt ihrem teuflischen Hund auf den Heimweg begeben.

Judith baute sich mit einem zynischen Lächeln vor der Direktorin auf und raunte ihr zu: „Ich vermute, diese Art der Begrüßung und Behandlung von Gästen und Patienten wird noch ein Nachspiel haben. Ihr Prospekt und Ihre werbend freundlichen Sprüche am Telefon weichen offenbar krass von der Realität ab. Das kann man auch in Facebook posten. Der Hausarzt von Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst wird sich in aller Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen! Ich bin in großer Sorge um den Patienten. Auf Wiedersehen!

Kurz nachdem sie das Sanatoriumsgelände verlassen hatte, rief Judith Kriminal-Hauptkommissar Lothar Velmond und Elsterhorsts Hausarzt an und informierte beide über die eigenartigen Vorkommnisse im sogenannten Elysium.

2. Höllenqualen

Maurice Elsterhorst erwachte, weil jemand mit zarter Hand liebevoll seine Haare von der Stirn zurückstrich. Dieses Gefühl verwirrte ihn. Es war ihm fremd; erinnerte ihn allenfalls an seine Mutter, wenn er morgens zur Schule aufbrach und sie ihm, den bitteren Abschied versüßend, einen Kuss auf die Stirn gab. Doch - so bitter war dieser Abschied für ihn gar nicht, wartete doch ein paar Ecken weiter die hübsche kleine Judith mit ihren langen, dunkelblonden Zöpfen. Gleich verwandelte sich das eben noch umsorgte Söhnchen in einen Jungsiegfried, in einen Helden, bereit, Judith gegen alle Feinde zu schützen - und ihr die Hälfte seines Butterbrotes zuzustecken.

Elsterhorst blinzelte. Da war ein Fenster an einer ungewohnten Stelle. Dahinter bewegten sich hohe Bäume. Der Vorhang neben dem Fenster - mit einem völlig fremden Muster, in völlig fremden Farben. Das Bett ungewohnt, direkt neben einer Wand? Wo war er?

„Guten Tag, Herr Elsterhorst! Wachen wir jetzt allmählich auf?“ Welch’ angenehme Stimme? Wer wachte da mit ihm zusammen auf?

„Ich bin Schwester Angela! Ich bin Ihnen zugeteilt! Ich werde mich in den nächsten Tagen um Ihr Wohlergehen kümmern! Aber erst müssen wir einmal gaaanz aufwachen!“

Wieder sagte die Stimme „wir“. Wir müssen aufwachen? Warum?

„Wir haben lange, lange geschlafen, Herr Elsterhorst. Wir haben Sie in einen Heilschlaf versetzen müssen, damit Sie sich beruhigen und Abstand gewinnen!“

„Wo bin ich?“ flüsterte er mit zittriger Stimme.

„In Ihrem Zimmer! Im Elysium! In Ihrem kleinen Reich, in dem Sie in den nächsten Wochen wieder zu vollen Kräften kommen werden!“

Elsterhorst versuchte sich aufzurichten. Eine kräftige Hand unterstützte ihn dabei. Dabei blickte er zum ersten Mal bewusst in das freundlich lächelnde Gesicht seiner behutsamen Helferin und wünschte ihr einen Guten Morgen.

„Lieber Herr Elsterhorst, wir haben schon Nachmittag. Wir haben sehr lange und sehr tief geschlafen, und das hat uns ganz bestimmt sehr gut getan.“

Das Klinik-Wir! Ja, natürlich! Wir haben lange und sehr tief geschlafen - mit dieser jungen Frau? Verständlicherweise konnte er dieser erotischen Gaukelei in keiner Weise folgen.

Nun begann er, seine Umgebung schärfer wahrzunehmen: einen Schrank, einen Tisch, darüber ein fast leeres Bücherbord, eine Garderobe, an der sein Mantel hing. Alles sehr schlicht. Zwei Bilder an den Wänden, Blumenstillleben, Mohnblumen. Billigstkopien.

„Jetzt müssen wir aber erst einmal was trinken!“ Schwester Angela reichte ihm eine gelbe Schnabeltasse. Das auch noch! Gelbes Plastik! Er hätte sich fast an dem süßlichen Orangendrink verschluckt; denn er hatte Wasser erwartet, kühles, klares Wasser. Aber nicht so ein Zeug!

„Das ist Astronautennahrung, Herr Elsterhorst, damit Sie schnell wieder in die normale Umlaufbahn gelangen! Und wir müssen gleich noch mal eine solche Tasse voll langsam austrinken. Heute abend gibt es dann was Leckeres zu essen!“

Elsterhorst blickte sich weiter um und erspähte voller Entsetzen seinen aufgeklappten Koffer.

„Ich habe mir erlaubt, Ihre Sachen, Ihre Wäsche, alles eben in den Schrank einzuräumen. Auch ins Bad. Wenn Sie gleich wieder ein bisschen besser auf den Beinen sind, sollten wir duschen, möglichst kalt, damit der Kreislauf auf Touren kommt!“

„Der Koffer war verschlossen ....“

„Ja, aber man weiß natürlich, wo die Schlüssel sein können. Ich hatte ja nichts zu tun als nur zu warten, bis Sie aufwachen. Und mir können Sie grenzenlos vertrauen! Mir schon!“

Diese beiden nachgeschobenen Wörter irritierten den allmählich auch wieder erwachenden Hauptkommissar.

„Das klingt, als könne man hier nicht allen vertrauen?“

„Davon haben Sie ja schon eine kleine Kostprobe bekommen - oder? Vielleicht ist es Ihnen in Ihrem Zustand nicht aufgefallen. Es gibt hier solche und solche. Dürfte ich Ihnen sicher gar nicht sagen; aber ich tue es halt. Und damit Sie erkennen, dass ich es ehrlich mit Ihnen meine, leihe ich Ihnen gerade mal schnell mein Handy. Ihres hat man Ihnen entgegen der Weisung von Ihrer Frau abgenommen. Vielleicht wollen Sie gerade mal Ihre Frau anrufen? Ganz schnell und ganz kurz, ehe wir erwischt werden. Dann würde ich nämlich gefeuert!“

Leider hatte Judith ihr Mobiltelefon nicht eingeschaltet. Den Kollegen Velmond wollte er nicht anrufen. Vermutlich wäre die Möbius ans Telefon gegangen. Dann hätte er ihr zu vieles erklären müssen. Und überhaupt!

„Schade, dass es nicht geklappt hat. Und noch etwas, Herr Kommissar. Sie haben da einen Aufstellbilderrahmen mit einem Foto von diesem schwarzen Hund. Den dürfen Sie hier ganz bestimmt nicht aufstellen. Ich habe ihn unter Ihrer Unterwäsche versteckt. Tiere ziehen zuviele Energien von den Menschen ab, glaubt man hier. Menschen widmen oft ihren Tieren mehr Liebe als Menschen. Das aber wäre Sünde!“

In dem Maße, in dem in Elsterhorst alle Sinneskräfte wieder erwachten, stieg in ihm das Unbehagen. Was erlaubt man sich eigentlich hier mit ihm? Und wenn Schwester Angela noch so sympathisch säuselt und ihre Komplizenschaft unter Beweis stellen will, allein die Tatsache, dass sie eigenmächtig seine Unterwäsche ausgepackt und in den Schrank gelegt hat, seine Boxershorts, seine nicht mehr ganz neuen T-Shirts, seine Socken - und erst recht seinen sogenannten Kulturbeutel, die Waschsachen, seine Cremes, Rasierwasser, Hühneraugenpflaster - dass er die Kontrolle über sein ganzes Ich hier hat abgeben müssen, empörte ihn in zunehmenden Adrenalinschüben.

„Schwester Angela, Sie haben es sicher gut gemeint, aber glauben Sie nicht, dass Sie ein wenig zu weit gegangen sind und meine Intimsphäre verletzt haben?“

„Intimsphäre? Herr Kommissar Elsterhorst, das kann ich Ihnen gleich sagen: So etwas respektiert man in diesem Hause überhaupt nicht. Und was glauben Sie, was wir als Schwestern alles zu sehen und zugemutet bekommen? Die meisten Patienten oder ‚Gäste’, wie man hier heuchlerisch sagt, wollen gar zu gern, dass man ihre Intimsphäre verletzt. Hier eine kleine Rückenmassage, wobei der Rücken manchmal auch vorn ist und sehr tief reicht. Dort gekämmt und gestreichelt werden. Viele, die hier gelandet sind, hatten seit Jahren keinen Hautkontakt mehr mit liebenden Menschen, keinen Kuss, keine liebevoll dargebotene Hand. Von Zärtlichkeiten gar nicht zu reden!“

Elsterhorst dachte nach. Konnte er sich an irgendwelche Zärtlichkeiten erinnern? Der Wiedersehenskuss von Judith - liebevoll? L i e b e ? War das überhaupt eine Dimension seines Lebens? L i e b e ? Was ist das?

„Und nun stehen wir allmählich auf, lieber Herr Elsterhorst. Kommen Sie, ich stütze Sie!“

Jetzt stellte er erst einmal fest, in welcher lächerlichen Anstaltskleidung man ihn hier - offenbar ohne Bewusstsein - in dieses Bett gelegt hatte. Schamröte stieg in sein Gesicht. Und dies alles in unmittelbarer körperlicher Nähe zu dieser jungen Frau! Er versuchte, sich aus dieser Hilflosigkeit, aus diesem Kontrollverlust zu befreien und wäre beinahe gegen den Türpfosten gefallen.

„Langsam, langsam, nicht gleich den stolzen Ritter markieren! Das kommt schon noch. Jetzt gehen wir erstmal ganz langsam aufs Klo und dann duschen wir. Da steht ein Stuhl in der Dusche. Damit wir nicht stürzen!“

Sooo geschämt hatte er sich nicht einmal bei der Massage durch die Edwina Kyndinos im Seniorenknast! Dass er sich an diese Szene noch so genau erinnern konnte, bewies ihm, wie tiefgreifend ihm die Erniedrigung damals schon zugesetzt hatte. Und jetzt hier nackt?

Er versuchte, wieder ins Bett zurückzufallen. Da jedoch unterschätzte er die Kraft und Entschiedenheit der geschulten Krankenschwester.

„Wir haben es ja gleich geschafft. Dann fühlen wir uns schon viel, viel besser. Und inzwischen kommt schon das Abendessen! Heute noch ausnahmsweise im Zimmer!“

Noch nie hatte Elsterhorst vor einer fremden Frau - vor welcher denn überhaupt? - seine Unterhose runtergezogen! Höllenqualen! Höllenqualen! Judith, hol’ mich hier raus, hol’ mich hier raus!

Dann prasselte der kalte Wasserstrahl auf seinen Rücken. Tief gebeugt kauerte er auf dem Plastikstuhl, um wenigstens etwas seine Intimzone abzudecken. Aber das Abtrocknen! Das Abtrocknen! Dann spürte er, wie plötzlich alle seine Abwehrkräfte einer totalen Resignation wichen. Jetzt auf einmal war ihm alles egal. Sein Wille war gebrochen. Wie Schlachtvieh ließ er sich von Schwester Angela führen. Sie hüllte ihn in einen weißen Bademantel. Rote Plastik-Flipflops standen bereit. Das machte ihm nun auch nichts mehr aus. Flipflops! Der Inbegriff der Kulturlosigkeit in seinen Augen! Und nun hatschte er mit diesen roten Dingern zurück ins Zimmer.

Dann klopfte es. Eine andere Schwester platzierte unter einer riesigen grauen Plastikhaube das Abendessen auf den Tisch. Und es setzte gleich eine Verwarnung an Schwester Angela:

„Wir haben auch noch andere Patienten, falls Sie das vergessen haben sollten. Melden Sie sich bitte bei der Pflegedienstleiterin, sobald Sie den Herrn hier abgefertigt haben!“

„Das war Schwester Ursula! Jetzt haben Sie gleich eine Kostprobe bekommen! Es sind nicht alle so wie ich. Aber morgen bin ich ab Mittag wieder für Sie zuständig!“

Schwester Angela hob noch die graue Abdeckung vom Essenstablett. Darunter kümmerte nur ein Teller lauwarme Fleischbrühe mit Einlage vor sich hin. Dazu drei Zwieback und ein Würfel Butter.

„Guten Appetit!“ wünschte die Schwester mit verständnisvollem Lächeln. „Und Gute Nacht! Ich muss mich leider bei der Oberbefehlshaberin zur Stelle melden!“

Gibt es so etwas wie Amour fou?

Immer wieder kassierte Schwester Angela Rügen durch die allseits gefürchtete Pflegedienstleiterin wegen ihrer Bevorzugung ‚eines Patienten’ zu Lasten der anderen, die sich angeblich schon bei ihr beschwert hätten. Frauen, vor allem ältere, hingegen beklagten sich über ihre Kälte. Eine Patientin hätte sie sogar gerügt, weil die ‚oide Truschel’ zu wenig Ordnung in ihrem Zimmer halte. ‚Gespielte Hilflosigkeit’ hätte sie vor sich hin gemurmelt, was die Patientin aber durchaus mitgehört habe. Und noch etwas: Dem Patienten Elsterhorst hätte sie nicht mit genügender Entschiedenheit verboten, das Hundebild auf den Nachttisch zu stellen. Also hatte die Kollegin Ursula sie schon verpetzt.

Ja, in der Tat: Ihr ging dieser neue Patient Elsterhorst nicht aus dem Kopf. Ein Tornado überaus verwirrender Bilder und Emotionen tobte sich in ihr aus. Ganz plötzlich überfiel sie ein intensives Schwindelgefühl. Hatte sie sich gerade in diesen Mann verliebt? Blitzartig verliebt?

Seine Gesichtszüge, diese so harmonisch gewellten silbergrauen Haare, das ebenmäßige Gesicht, der Tonfall seiner Sprache, die bubenmäßige Scham und Empfindsamkeit - jetzt, hier im Flur vor der Tür zu diesem Mann, neben dessen Bett sie auf sein Erwachen gewartet hatte, da war es tatsächlich so, wie es millionenfach in der Kunst dargestellt worden war: Amors Pfeil hatte sie getroffen. Röte stieg auf in ihrem Gesicht. Das Herz bumperte. Würde sie jetzt bei sich den Blutdruck und den Puls messen wie bei diesem aus dem Himmel gefallenen Mann, sie müsste den ärztlichen Notdienst benachrichtigen.

Wie kann so etwas passieren? Schwester Angela stützte sich an der Wand ab. So et.was hatte sie in ihrem Leben noch nie erfahren. Was hatte dieser Mann an sich? Wem könnte er gleichen? Mit welchen Bildern aus ihrer Vergangenheit könnte sich seine Erscheinung vermischen? Warum empfand sie jetzt schon rasende Eifersucht, dass nach ihrer Schicht eine Kollegin, eventuell sogar die bleiche, barsche Ursula den geliebten Mann versorgen würde? „Abfertigen“ hatte die gesagt. Einen Patienten wie diesen groß gewachsenen, edlen Mann darf man nicht abfertigen. In ihn muss man sich hineindenken, ihn in seiner Befindlichkeit abholen. Ledig’ steht in seinen Aufnahme-Dokumenten. Beruf: Kriminalkommissar. War diese Judith, mit der er zu telefonieren versuchte, nur seine Schwester? Oder gar seine Geliebte? Nein, diese Vermutung könne sie gleich verscheuchen. Wäre sie denn seine Geliebte, warum hätte er statt des Hundes nicht ihr Foto auf den Nachttisch gestellt? Einen Hund - den brauchen die Einsamen, die Scheuen, die Verschlossenen, die Sehnsüchtigen. Nein, noch hatte diesen herzensguten Mann niemand richtig geliebt, aufrichtig, mitfühlend in seinem harten Beruf, in dem er täglich dem Grauen begegnet und abends, beim Nachhausekommen, niemanden hat, der ihn in die Arme nimmt.

„Angela, wo bist du?“ hörte sie sich halblaut zu sich selbst sprechen. Angela war verwirrt. Oh ja, das wusste sie: Man spottet über Amour fou, so lange man nicht selbst zutiefst darin versinkt. Schwester Angela versuchte, ihre Füße wieder auf festen Boden zu setzen. Die Pflegedienstleiterin hat sie auf dem Kieker. Ängste stiegen in ihr auf: Würde man sie von diesem Patienten, von diesem Herzensmann abziehen? Und dann? Würde sie dann nicht ihre Mission beenden müssen? Noch hatte sie nicht alle Informationen sammeln können, die man über das Abrechnungsgebahren dieser Klinik brauchte.

Schwester Angela flüchtete in die Damen-Toilette, nicht in die für das Personal. Da wäre sie vielleicht einer Kollegin begegnet. Hier aber könnte sie sich tarnen als eine, die sich um die Hygiene kümmert, und wenn sie allein wäre, könnte sie sich kaltes Wasser über ihr Gesicht streichen. Ob das hilft gegen die Schmetterlinge in ihrem Bauch, ausgerechnet hier im Elysium der Emanzen? Im Spiegel glaubte sie, eine völlig veränderte Angela zu erkennen. Sie ordnete ihre Haare. Ihre Lippen waren merkwürdig gerötet. Sie trotzten jetzt dem Verbot von jeglichem Lippenrot in diesem Hause. Lippen, die sich danach sehnten zu küssen. Zu küssen! Wann hatte sie zuletzt aus Liebe geküsst? Waren es schon Jahre her? Aber das war ein Horst - kein Vergleich mit einem Maurice!

Maurice heißt er mit Vornamen. Unter welchem Sternbild ist er geboren? Das hatte sie sich noch nicht eingeprägt. Das war noch vor ... ja vor was? Vor wenigen Minuten, oder waren es Sekunden? Vor dem Liebesblitz? Maurice! Kommt er gar aus Frankreich? Hat er französische Wurzeln? Stammt vielleicht sogar aus der Provence, wohin sie alljährlich in den Urlaub fährt? Allein. Bisher allein. Ohne einen Maurice.

Ach - mit Maurice in Avignon! Sur le pont ....

Leise dieses Liedchen summend und etwas zu beschwingt tänzelte sie durch den Flur. Sie wandelte wie auf rosa Wölkchen und war ohnehin überzeugt, demnächst würde das Hundefoto durch eines von ihr ersetzt.

Elsterhorst schaffte die halbe Suppe, knabberte zwei trockene Zwiebäcke. Dann holte er das Bild von seinem geliebten Hund Rinaldo aus dem Schrank und stellte es wieder auf seinen Nachttisch.

Wenn er das vier Wochen lang durchhalten sollte, war er überzeugt, es würde ihn mehr Kraft und Überwindung kosten als ein Jahr Arbeit im Präsidium. Lieber Mörder jagen, als diese Höllenqualen täglich über sich ergehen lassen.

Lediglich die Fürsorge durch Schwester Angela versöhnte ihn. Sie wurde sein Morgensonnenschein, auch wenn es draußen regnete oder der Nebel in den Bäumen hing. Das Essen würde zumindest dazu beitragen, dass er kein Gramm zunimmt. Eher würde er ein, zwei Kilo abnehmen, was den weiteren Aufenthalt lohnender erscheinen ließ. Andere hätten Angela ein „Herzchen“ genannt. Sie brachte ihm schon mal nachmittags ein übrig gebliebenes zusätzliches Stück Kuchen. Um seine Verspannungen aufzulösen, gönnte sie ihm auch dann und wann eine Schultermassage. Jedenfalls genoss er ihre Zuwendungen um so intensiver, je kälter und kurz angebundener die Abfertigung und Anweisungen durch die Schwestern Ursula und Diana ausfielen. Die begann er allerdings auch absichtlich zu provozieren, indem er das Rinaldo-Foto demonstrativ mal auf seinen Tisch oder neben das Bett stellte. Jedesmal musste er sich diesen Sermon anhören, Hunde würden zuviele Energien abziehen. Schwarze Hunde seien überdies Höllenhunde. Sich nicht davon beeindrucken zu lassen, gab ihm ein ganz kleines Gefühl von Macht zurück.

Als ihm Schwester Angela wieder einmal ihr Handy lieh und - um nicht ertappt zu werden - sich im Flur an ihrem Trolley zu schaffen machte, drückte er aus Versehen auf eine falsche Taste. Auf dem Display erschien ein Fax. Es war ihm fast peinlich; denn so erfuhr er zu seiner absoluten Verwunderung, dass sich hinter Schwester Angela in Wirklichkeit eine Frau Dr. Angela Berghoff verbarg. Als Schwester Angela wieder zu ihm hinein huschte, bekam er fühlbar rote Ohren. Der Schweiß rann ihm in kleinen Tröpfchen den Nacken runter, was ihr nicht verborgen blieb.

„Haben wir einen Schub, Herr Hauptkommissar? Einen Fieberschub?“

Herr Hauptkommissar? Sie kannte also seinen Beruf? Obwohl er doch geheim bleiben sollte. Da rutschte es ihm spontan heraus. Es lag ihm so auf der Zunge, dass er sich nicht mehr bremsen konnte:

„Frau Dr. Berghoff, mir ist in der Tat nicht gut. Ich weiß selbst nicht!“

Jetzt war es Schwester Angela, die rot anlief und sofort den Zeigefinger ihrer linken Hand fest an ihre Lippen presste und dann ... sogar an seine!

„Sie wissen es also? Bitte, bitte absolutes Schweigen! Niemand darf das wissen! Das könnte schlimm für mich ausgehen. Ich bin - Sie würden es bezeichnen - ‚under cover’ hier in diesem Laden. Hier läuft einiges schief!“

Sie ergriff in großer Hektik seine Hand, packte sie ganz fest: „Versprechen Sie mir absolutes Schweigen! Schwören Sie! Vielleicht brauche ich demnächst sogar Ihre Hilfe!“

Dann rannte sie zur Tür hinaus und ließ den verdutzten Kommissar zurück.

3. Mit Blaulicht

Maurice Elsterhorst schaute entgeistert an die Decke seines Zimmers. Etwas verwirrte ihn. Noch war er zu schlaftrunken, um realisieren zu können, was es war. Blaulicht? Blaulichtfetzen? Hell, dunkel, hell, dunkel ... Blaulichtwölkchen über ihm? Spielte ihm sein Gehirn einen Streich? Träume eines Kriminal-Kommissars? Suchten ihn Nachtmare heim?

Nein, die flackernden Blaulichtwolken, die an den Vorhängen empor kletterten und über die Decke seines Zimmerchens rasten, waren real!

Elsterhorst schoss aus dem Bett. Nachts um 3 Uhr Blaulicht! Schließlich war er Profi, Blaulicht-Profi! Polizei? Feuerwehr? Krankenwagen? Also ran ans Fenster. Vielleicht würde er gebraucht?

Es war ein Krankenwagen. Gerade wurde jemand auf einer Bahre hineingeschoben, mit einem Infusionsgalgen und Sauerstoffmaske! Die Sanitäter hatten es offenbar sehr eilig. Sie knallten die Türen zu - oder hallte es in der stockdüsteren Nacht nur doppelt so laut? Sprangen ins Führerhaus. Der Kies knirschte unter dem rasant startenden Sanka. Die Lichter im Hof erloschen. Das Stimmengewirr zog sich ins Haus zurück. Elsterhorst schlich sich zur Tür, machte sie zunächst nur einen kleinen Spalt weit auf. Niemand war im Flur. Also traute er sich raus, im Schlafanzug und auf Zehenspitzen wagte er sich bis zur Treppe vor, von wo aus er in die Vorhalle schauen konnte. Dort stritt die Leiterin, Frau Dr. Frost-Heimbusch, mit zwei ihm bisher nie aufgefallenen älteren Frauen in weißen Kitteln. Zwar bemühten sie sich, leise zu sein, doch waren sie viel zu erregt, um sich zurücknehmen zu können.

„Was hätten wir denn machen sollen? Sie krepieren lassen? Und dann?“

„Das konnten wir vielleicht mit diesem etwas zu neugierigen illegalen Zimmermädchen machen, das hier schwarz gearbeitet hat. Mit dieser Slowakin. Die konnten wir spurlos verschwinden lassen. Aber so eine?“

„Wir hätten sie nie abtransportieren lassen dürfen! Ich kann nur hoffen, dass sie das Spital nicht mehr lebend erreicht! Oder dass sie nie wieder zum Verstand kommt!“

„Du, ich habe sie so übel zugerichtet! Selbst wenn sie überleben sollte, kann diese Schnüfflerin Zeit Ihres Lebens keinen klaren Gedanken mehr fassen!“

„Und wenn, dann besuche ich sie in der Klinik und - schwupps!“

Elsterhorst spitzte die Ohren. Das waren höchst alarmierende Sätze. Schade, dass er sie nicht mit dem Handy aufnehmen konnte. Es war ihm ja bei der Aufnahme abgenommen worden. Wahrscheinlich aber hätte das kleine Mikrophon die Sprachfetzen auf diese Entfernung gar nicht registriert.

„Wer weiß im Haus noch von dem Vorfall?“

„Nur wir drei und Olga. Ich habe sie absichtlich bis jetzt da unten liegen lassen, damit es keinen Auflauf gibt. Morgen werde ich höchstpersönlich das Blut wegputzen. Dreimal hintereinander mit scharfen Mitteln. Da sieht man dann auch unter Ultraviolett-Licht nichts mehr. Die Blutflecken auf der Treppe, die lasse ich. Wir haben ja den Typen gesagt, sie sei die Treppe runter gestürzt.“

„Wie konnte es nur passieren, dass diese Schnüfflerin bis in den geheimen Keller gelangen konnte! Wir hätten eben doch ein elektronisches Sicherheitssystem einbauen lassen müssen. Mit Fingerprint- oder Iris-Abgleich! Ich werde das morgen gleich mal in die Wege leiten!“

„Schließlich ist auch in pharmazeutischen Laboratorien und in der Fertigung der Zugang nur unter schärfsten Sicherheitskontrollen möglich!“

„Also noch einmal, kein Sterbenswörtchen! Wenn jemand nach Schwester Angela fragen sollte, nur antworten ‚Sie hat uns leider verlassen!’ Und besondere Vorsicht bei Kommissar Elsterhorst. Der darf absolut keinen Verdacht schöpfen. Den müssen wir jetzt behandeln wie ein rohes Ei. Ab sofort VIP-Programm! Das übernimmst am besten ab sofort du!“

Die drei Frauen verschwanden durch die vergitterte Tür ins Haupthaus.

Elsterhorst huschte schnell in sein Zimmer zurück und versuchte, den Wortlaut der abgelauschten Sätze in den Deckel eines Schuhkartons zu kritzeln, in dem ihm Judith seine Joggingschuhe überbracht hatte. Dort würde sicher niemand irgendwelche geheimen Notizen vermuten. Morgen würde er versuchen, Velmond oder besser noch Kriminaldirektor Metzner zu erreichen - wie auch immer. Aber ohne Handy? An sich würde das Erlauschte bereits reichen, den Laden hopps gehen zu lassen. Aber da war noch die Sache mit der Leiche auf dem Friedhof zu klären.

Trauer überfiel ihn; denn bisher hatte er nur vermutet, Schwester Angela, alias Frau Dr. Berghoff, habe ein, zwei Tage Urlaub oder sei unpässlich. Ja, er hatte sie tatsächlich vermisst. Sie war zu ihm wie die Morgensonne, stets mit einem netten Spruch auf den Lippen, zudem sehr um ihn besorgt. Und nun? Nun musste sie mit Blaulicht und Sirene in das nächste Krankenhaus gefahren werden? Was hatte diese Weißkittelfrau gesagt? Sie habe die Schwester Angela absichtlich tage- und nächtelang irgendwo im Keller liegen gelassen? Unterlassene Hilfe? Am liebsten hätte er sofort, noch in dieser Nacht, eine ganze Kohorte Polizei angefordert und die Handschellen klicken lassen. Schluss mit diesem Verbrechernest! Unruhig, zitternd trippelte er in seinem Zimmer auf und ab. Riss das Fenster auf, um die kalte Nachtluft reinzulassen - und ertappte sich dabei, dass er die Gedanken an die geschätzte Angela nicht abschütteln konnte. Ihr Gesicht! Wie mochte sie zugerichtet worden sein? Würde sie je wieder gesund werden? Diese hübsche, sympathische Frau! Es dauerte lange, bis Elsterhorst endlich in einem Erschöpfungsschlaf versackte.

- - - - - - -

In der Ambulanz des Starnberger Klinikums herrschte große Aufregung. Aus dem Krankenwagen waren erste Diagnosen durchtelefoniert worden: Viele Hämatome, Verdacht auf Schädelbruch, total verschwollenes Gesicht. Blutende Wunde am Hals wie von einem Messer. „Die Treppe runtergefallen? Das müsste eine sehr steile und lange Treppe gewesen sein, die unten in einem Lager von Stacheldraht endet! Keine Papiere bisher. Sie wurde Schwester Angela genannt. Gegenwärtig ist sie bewusstlos. Lebensgefahr ist nicht ausgeschlossen. Sehr schwache Werte, hoher Blutverlust!“

Diese Diagnose aus dem Krankenwagen zwischen Feldafing und Starnberg erwies sich fast noch als zu optimistisch! Ihr Zustand war äußerst kritisch. Das ganze Notfallprogramm lief an. Sofort wurden Fotos der äußeren, sichtbaren Verletzungen gemacht. In großer Eile wurde Schwester Angela auf die Intensivstation gebracht. Dort beschlossen die Ärzte, sie in ein künstliches Koma zu versetzen.

Am nächsten Morgen ließ sich Klinikleitung mit der Kriminalpolizei in München verbinden. In der vergangenen Nacht sei eine äußerst schwer verletzte Frau unter dem Namen ‚Schwester Angela’ aus dem Wald-Sanatorium Elysium eingeliefert worden. Die Verletzungen deuteten mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Gewaltdelikt hin.

„Elysium? Das ist doch das Sanatorium, in dem Kollege Elsterhorst zur Kur ist?“ Frau Möbius versuchte sofort, mit ihm über die Sanatoriumsleitung Verbindung aufzunehmen. Da dies misslang, Elsterhorst auch nicht über sein Dienst-Handy erreichbar war, schöpfte man in der Mordkommission II Verdacht. Die Starnberger Klinik wurde angewiesen, die Patientin strikt isoliert zu halten. Es sei kein Besuch zuzulassen. Sobald Schwester Angela vernehmungsfähig sei, sei Hauptkommissar Lothar Velmond zu benachrichtigen.

Die Nachricht über den Zustand der Patientin Angela wirkte im höchsten Maße alarmierend. Sogar Kriminaldirektor Metzner drängte nun darauf, dass Hauptkommissar Velmond sich unverzüglich in dieses merkwürdige Elysium zu begeben habe, um die näheren Umstände der lebensgefährlichen Verletzungen zu ermitteln. In einem zweiten Fahrzeug folgten Spezialisten der Spurensicherung.

Als Frau Hendrix zögerte, die Tore zu öffnen, weil sie erst die Direktorin fragen müsse, drohte Velmond, das Türschloss zu zerschießen, wenn sie nicht sofort binnen zehn Sekunden den Weg frei gäbe. Der kleine Trupp stürmte sofort in die Halle; Velmond ließ die Leiterin herbeirufen. Inzwischen war auch Elsterhorst aufgetaucht, allerdings noch übernächtigt im Bademantel und mit den roten Flipflops. Zwar waren die beiden Hauptkommissare nie so richtig Freund geworden, jetzt war er jedoch so beglückt, dass er seinen Kollegen sogar in die Arme schloss und ihm in kurzatmigen Sätzen seine Beobachtungen zu flüsterte und verriet, es handle sich bei Schwester Angela in Wirklichkeit um eine Frau Dr. med. Angela Berghoff.

„Wo ist Frau Dr. Berghoff die Treppe runtergestürzt?“ fragte Lothar Velmond.

„Frau Dr. Berghoff? Ich kenne keine Frau Dr. Berghoff!“ erwiderte die bleichgesichtige Direktorin.

„Welche Frau ist heute nacht um 3:13 Uhr hier mit einem Krankenwagen abtransportiert worden?“ Velmond hakte in ungewohnter Schärfe nach.

„Ach Sie meinen die arme Schwester Angela, die so unglücklich gestürzt war?“

„Wo ist sie gestürzt?“

„Bei uns im alten Haupthaus. Wissen Sie, die Treppen in diesem Gemäuer sind halt steil!“

„Wo ist diese Treppe?“

„Da dürfen Sie nicht rein. Das Haupthaus darf nach unserer Satzung von Männern nicht betreten werden! Nur in medizinisch angesagten Notfällen, falls eine weibliche Ärztin nicht verfügbar ist!“

„Frau Dr. Frost-Heimbusch, wir werden auf ihre Satzung keinerlei Rücksicht nehmen. Sie haben uns, also mir und der Spurensicherung, jetzt sofort den Weg freizugeben und allen Anordnungen Folge zu leisten. Anderenfalls müssen wir ihr sogenanntes Haupthaus und das Sanatorium sofort räumen und schließen lassen. Und - falls sie es bisher nicht wussten: Schwester Angela ist identisch mit Frau Dr. med. Angela Berghoff! Sie schwebt in Lebensgefahr. Und jemand aus Ihrem Haus steht unter dem Verdacht des Totschlags und der unterlassenen Hilfeleistung!“

Velmond schubste die Leiterin und die inzwischen aufgetauchten anderen Weißkittel-Frauen zur Seite und gab dem Trupp Zeichen, ihm zu folgen.

Eine der Frauen versuchte dennoch, sich den Polizisten in den Weg zu stellen:

„Aus Gründen der Hygiene und der sterilen Eigenfertigung unserer Medikamente dürfen Sie nur die Treppe, aber nicht die anschließenden Produktionsräume betreten!“

Lothar Velmond ließ sich nicht im Geringsten in seinen Ermittlungen aufhalten. Er las den Namen der Frau von ihrem eingenähten Schild ab:

„Frau Dr. Winfriede Lepper, wir haben eine Zeugenaussage, dass Sie heute nacht in einem Gespräch mit der Leiterin und einer weiteren Frau für den Zeugen vernehmbar erklärt haben, sie hätten Frau Dr. Berghoff, alias Schwester Angela, absichtlich mehrere Stunden oder gar Tage im Keller liegenlassen, und sie würden eigenhändig das Blut gründlich wegschrubben, so dass keine Spuren mehr gefunden werden könnten. Ich nehme Sie hiermit fest wegen des Verdachts des in Kauf genommenen Todes der Frau Dr. Berghoff. Und Sie übergeben mir jetzt sämtliche Schlüssel!“ Zum ersten Mal in seinem langen Berufsleben als Kriminalbeamter ließ er - wie er später sagte: zur Abschreckung - einer Frau Handschellen anlegen. Unter der Bewachung einer Polizistin wurde sie zum Auto gebracht.

Die Leiterin stürzte hinzu und wollte Velmond den Schlüsselbund entreißen: „Ich fordere Sie hiermit auf, das Haus zu verlassen. Sie haben keinen Durchsuchungsbeschluss. Ich habe bereits unsere Rechtsanwältin benachrichtigt. Sie ist auf dem Wege nach hier und wird in wenigen Minuten eintreffen.“