Der Zorn des Roten Lords - Philip José Farmer - E-Book

Der Zorn des Roten Lords E-Book

Philip José Farmer

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Beschreibung

Wiedersehen in der Welt der tausend Ebenen

Jim Grimson ist siebzehn Jahre alt, als man ihn vor die Wahl stellt: Jugendgefängnis oder Psychotherapie. Er entscheidet sich für letzteres und wird in eine Klinik eingeliefert, wo er Doktor Porsena kennenlernt. Dieser verfolgt bei seiner Therapie einen neuen Ansatz: er versetzt seine Patienten in fiktionale Paralleluniversen, wo sie in Rollenspielen mit Situationen umzugehen lernen, die auch im realen Leben vorkommen. So betritt Grimson die Welt der tausend Ebenen, wo er zum gefürchteten Roten Lord wird. Doch etwas an diesem Rollenspiel fühlt sich viel zu real an …

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PHILIP JOSÉ FARMER

DER ZORN

DES ROTEN LORDS

Die Welt der tausend Ebenen Band 6

Roman

Das Buch

Jim Grimson ist siebzehn Jahre alt, als man ihn vor die Wahl stellt: Jugendgefängnis oder Psychotherapie. Er entscheidet sich für letzteres und wird in eine Klinik eingeliefert, wo er Doktor Porsena kennenlernt. Dieser verfolgt bei seiner Therapie einen neuen Ansatz: er versetzt seine Patienten in fiktionale Paralleluniversen, wo sie in Rollenspielen mit Situationen umzugehen lernen, die auch im realen Leben vorkommen. So betritt Grimson die Welt der tausend Ebenen, wo er zum gefürchteten Roten Lord wird. Doch etwas an diesem Rollenspiel fühlt sich viel zu real an …

Der Autor

Philip José Farmer wurde am 26. Januar 1918 in North Terre Haute, Indiana, geboren. Die Familie siedelte nach Illinois über, wo Philips Vater einen kleinen Betrieb hatte. Als dieser Mitte der 1930er Jahre pleiteging, musste Philip sein Collegestudium abbrechen und seine Familie mit allerhand Jobs finanziell unterstützen. Er studierte später neben dem Beruf und machte 1950 seinen Bachelor of Arts in Englisch. Danach arbeitete er als technischer Journalist für verschiedene Unternehmen, ehe er 1952 mit seiner Erzählung »Die Liebenden« schlagartig berühmt wurde. Die Story, die mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, war zuvor von renommierten SF-Magazinen abgelehnt worden, weil sie von einer sexuellen Beziehung zwischen einem Menschen und einem Alien handelt, was im prüden Amerika der 1950er Jahre für einen Skandal sorgte. Mit Romanen wie »Fleisch« festigte Farmer sein Image als Tabubrecher; Reihen wie der Flusswelt-Zyklus, für die er seinen zweiten Hugo Award gewann, oder die »Welt der tausend Ebenen«-Saga befassen sich mit neomythologischen Themen. Philip José Farmer starb am 25. Februar 2009 in seinem Heim in Peoria, Illinois.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

RED ORC'S RAGE

Aus dem Amerikanischen von Usch Kiausch

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1991 by Philip José Farmer

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Alle in diesem Roman beschriebenen Personen und Ereignisse sind fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit wirklichen Personen oder Ereignissen ist rein zufällig.

Gewidmet Dr. med. A. James Giannini, Mitglied der amerikanischen Bundesvereinigung der Psychiater, Professor für Klinische Psychiatrie an der Ohio State University, mein Berater, während ich diesen Roman schrieb.

1977 war Dr. Giannini Assistenzarzt in der Psychiatrie von Yale. Damals kam ihm die Idee, die in diesem Buch ›die Therapie der Ebenen‹ genannt wird. Die eigentliche Entwicklung dieser Idee begann 1978, als er privat praktizierender Arzt in Youngstown, Ohio, war. In einem Brief vom 28. Dezember 1978 teilte er mir mit, er nutze eine neue Methode psychiatrischer Therapie zur Behandlung psychisch gestörter Jugendlicher. Diese Methode basierte auf meinem fünfbändigen Science Fiction-Zyklus Die Welt der tausend Ebenen. Die Patienten, alles Freiwillige, lasen den Zyklus und wählten dann selbst die Romanfigur oder die Romanfiguren aus, mit denen sie sich identifizierten und die sie in gewisser Hinsicht auch werden wollten. Die Ziele und Methoden dieser Therapie sind in diesem Roman umrissen.

Gegenwärtig bereiten Dr. Giannini und seine Kollegen die methodischen Arbeiten, in denen die eigentliche Therapie und ihre Ergebnisse beschrieben sind, zur Veröffentlichung vor.

Das Medizinische Zentrum und Krankenhaus Wellington in Belmont City, Tarhee County, und alle Personen und Ereignisse im vorliegenden Werk sind fiktiv.

1. Kapitel

26. November 1979

Jim Grimson hatte nie vorgehabt, die Hoden seines Vaters zu verspeisen.

Er hatte nicht erwartet, mit zwanzig seiner Schwestern zu schlafen. Er konnte nicht vorhersehen, dass er während des Flugs mit einer weißen Steed{1} seine Mutter vor dem Gefängnis und einem Mörder bewahren würde.

Wie sollte er, im Oktober 1979 siebzehn Jahre alt, auch wissen, dass er dieses scheinbar zehn Milliarden Jahre alte Universum geschaffen hatte?

Obwohl ihn sein Vater oft einen Blödmann nannte und seine Lehrer ihn offensichtlich dafür hielten, las Jim viel. Er wusste, was man gegenwärtig über die Entstehung des Universums annahm. Ganz am Anfang, vor jeder Zeitrechnung, war der Urklumpen das einzige, was existierte. Außerhalb davon gab es nichts, nicht einmal den Raum. Das ganze zukünftige Universum, die Planeten, Sternhaufen, Galaxien, all das war in einer Kugel von der Größe seines Augapfels zusammengeballt. Die war so heiß und dicht geworden, dass sie explodierte, zerplatzte und versprengt wurde. Diese Explosion wurde der ›Big Bang‹, der Urknall genannt. Ewigkeiten danach war die sich ausdehnende Materie zu Sternen, Planeten und Leben auf der Erde geworden.

Diese Theorie war FALSCH, FALSCH, FALSCH!

Die Materie war nicht das einzige, das man ungeheurer Hitze und ungeheurem Druck aussetzen konnte. Auch die Seele konnte man allzu sehr zusammenquetschen. Und dann: BUMM!

Herrgott noch mal! Es war noch keinen Monat her, dass er sich widerwillig in die Psychiatrie der Wellington-Klinik, Belmont City, Tarhee County im Staat Ohio, begeben hatte. Dann war er, unter anderem, der Herr mehrerer Welten geworden, in vielen dieser Welten ein Nomade, in einer ein Sklave.

In diesem Augenblick war er zurück auf seiner Geburtswelt, der Erde, in eben dieser Klinik. Er fror vor Elend, kochte vor Wut und tigerte in einem verriegelten Zimmer auf und ab.

Jims Psychiater, Doktor Porsena, hatte gesagt, bei Jims Reisen in andere Welten handele es sich um geistige Reisen, auch wenn das nicht bedeute, dass sie nicht real seien. Gedanken waren keine Geister. Sie existierten. Und deshalb waren sie real.

Jim wusste, dass seine Erfahrungen in diesen Universen im Westentaschenformat ebenso real waren wie sein Schmerz, als er vor kurzem seine Faust gegen die Schlafzimmerwand geknallt hatte. Und war das Blut, das aus den Peitschenstriemen auf seinem Rücken floss, etwa kein Beweis, der alle Zweifel an seiner Geschichte ausräumen musste?

Allerdings würde Doktor Porsena, der Wissenschaftler, Rationalist und Rationalisierer, alle rätselhaften Erscheinungen mit wunderbarer Logik wegerklären.

2. Kapitel

3. November 1979

»Alle Patienten bisher«, sagte Doktor Porsena, »haben früher schon andere Therapien ausprobiert. Sie haben ihnen nichts gebracht, allerdings kann das zum Teil auch daran liegen, dass sie sowieso etwas gegen jede Art von psychiatrischer Therapie hatten.«

»Alte chinesische Weisheit«, sagte Jim Grimson. »WER ZUM PSYCHIATER GEHT, MUSS VERRÜCKT SEIN. Und noch ein göttlicher Spruch: WAHNSINN IST NICHT WAS MAN WAHNSINN WÄHNT.«

L. Robert Porsena, Doktor der Medizin, Mitglied der Bundesvereinigung der Psychiater, Leiter der Psychiatrie in der Wellington-Klinik, lächelte dünn. Vermutlich, so nahm Jim an, dachte er: Noch so ein kleiner Klugscheißer, mit dem ich mich abgeben muss. Hab seine Klosprüche schon tausendmal gehört. ›Göttlicher Spruch‹, allerdings. Er versucht mich zu beeindrucken, will mir zeigen, dass er nicht irgend so ein beschränkter, sabbernder, verpickelter, mit Drogen vollgepumpter, Rock-närrischer Jugendlicher ist, der einen Sprung in der Schüssel hat.

Allerdings mochte Doktor Porsena auch etwas ganz anderes denken. Schwer zu sagen, was hinter diesem gutgeschnittenen Gesicht vorging, das fast genauso wie Julius Caesars Büste aussah. Bis auf den schwarzen Fu-Manchu-Bart und den gelackten modischen Haarschnitt. Er lächelte viel. Seine wissbegierigen hellblauen Augen erinnerten Jim an das Lied des verrückten Hutmachers in Lewis Carrolls Alice im Wunderland: »Funkel, funkel, Fledermaus! Auf was willst du bloß hinaus! Fliegst jetzt auf und über die Welt, Teetablett am Himmelszelt. Funkel, funkel …«{2}

Doktor Porsenas jugendliche Patienten behaupteten, er sei ein Schamane, eine Art Wunderheiler, ein Medizinmann der Großstadt, der über Zauberkräfte und Geister aus dem Jenseits gebiete.

Doktor Porsena wollte gerade etwas sagen, als ihn die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch unterbrach. Er drückte auf einen Knopf: »Winnie, ich hab's Ihnen doch mitgeteilt. Keine Anrufe!«

Winnie, die schöne schwarze Sekretärin, die auf der anderen Seite der Wand an ihrem Schreibtisch saß, hatte offensichtlich eine dringende Angelegenheit durchzustellen. »Entschuldige, Jim«, sagte Doktor Porsena. »Es wird nicht länger als eine Minute dauern.«

Jim hörte nur mit halbem Ohr hin, während er aus dem Fenster schaute. Die Psychiatrische Abteilung und Porsenas Büro lagen im zweiten Stock. Das Fenster war wie alle übrigen in diesem Bereich mit dicken Eisenstäben vergittert. Durch die Lücken in der Gebäudefront gegenüber konnte Jim die Dachgiebel im Hafengebiet erkennen. Die Bauten lagen am Ufer des Tarhee River, der eine Meile südwärts in den Mahoning River floss.

Er konnte auch die Kirchturmspitzen von Sankt Grobian und Sankt Stephan sehen. Wahrscheinlich hatte seine Mutter an diesem Morgen die Frühmesse besucht. Das war inzwischen die einzige Zeit, zu der sie zum Gottesdienst gehen konnte. Sie hatte zwei Arbeitsstellen, zum Teil wegen ihm. Das Feuer hatte alles zerstört. Bis auf das gemalte Porträt seines Großvaters, das hatte man zusammen mit ihm aus dem Haus geborgen. Seine Eltern waren in eine ziemlich billige möblierte Wohnung gezogen, ein paar Ecken weiter. Nach Eric Grimsons Geschmack zu nah bei der ungarischen Nachbarschaft. So eine Undankbarkeit sah seinem Vater ähnlich. Evas Verwandte – eigentlich das ganze Magyarenviertel – hatten Geld gespendet, um ihnen aus der Patsche zu helfen. Einen Großteil des Bargeldes hatten sie durch eine Lotterie aufgebracht. Das war schon was, denn wegen der wirtschaftlichen Misere in der Gegend von Youngstown waren Wohltätigkeitsspenden in den letzten paar Jahren nur noch spärlich geflossen. Aber Evas Familie, Freunde und Kirche hatten's geschafft.

Wenn sie wegen ihrer Ehe auch eine Halbausgestoßene war, so war sie doch immer noch eine ungarische Landsmännin. Und jetzt, wo sie ganz unten war, sollte sie ihre Lektion wohl gelernt haben und angemessene Reue zeigen, wie man so sagt.

Die Grimsons hatten sich eine Versicherung, die Schaden am Hauseigentum oder Verlust in Folge des Zusammenbruchs von Fundamenten abdeckte, nicht leisten können. Obwohl sie eine Feuerversicherung abgeschlossen hatten, würde man ihnen nichts zahlen, falls das Feuer durch höhere Gewalt verursacht worden war. Das war noch nicht entschieden.

Eric Grimson konnte sich keinen Rechtsanwalt leisten. Aber einer von Evas Cousins, ein Staatsanwalt, hatte angeboten, den Fall zu übernehmen. Falls er gewann, würde er zehn Prozent der Auszahlung kassieren. Falls er verlor, würde er leer ausgehen. Klar, dass er seine Zeit nur deshalb opferte, weil die Sippe zusammenhielt und seine Cousine ihm leid tat. Dass sie mit einem Nicht-Magyaren verheiratet war, der dazu noch ein fauler Rumtreiber und Atheist und früherer Protestant war, das war ja schon schlimm genug. Aber dass sie auch noch ihr Haus und ihren ganzen Besitz verlieren musste und einen Sohn hatte, der übergeschnappt war … das war zu viel. Obwohl er ein Rechtsanwalt war, hatte er ein großes Herz.

Die Krankenversicherung deckte das Geld für Jims Therapie, aber die vierteljährlichen Versicherungsbeiträge waren sehr hoch. Eva Grimson hatte eine zweite Arbeitsstelle angenommen, um sie bezahlen zu können. Bis jetzt hatte sie Jim zweimal besucht und jedes Mal sehr müde ausgesehen. Sie hatte schnell Gewicht verloren, ihre Wangen wurden hohl, und um die Augen hatte sie schwarze Ringe.

Jim hatte solche Schuldgefühle, dass er anbot, die Therapie abzubrechen. Das wollte seine Mutter nicht annehmen. Man hatte ihren Sohn vor die Wahl gestellt, sich entweder einer Therapie zu unterziehen oder zu einer Gefängnisstrafe verurteilen zu lassen. Der Bezirksstaatsanwalt hatte ihn als erwachsenen Strafmündigen behandeln wollen, was ein strengeres Urteil bedeutet hätte. Sie würde alles tun, was sie konnte, um so etwas zu verhindern. Außerdem – das sprach sie zwar nicht aus, konnte es aber nicht verbergen – hielt sie Jim für echt verrückt und ging davon aus, dass er es ohne psychiatrische Behandlung auch bleiben würde.

Jims Vater hatte ihn nicht besucht. Jim hatte seine Mutter nicht gefragt, warum Eric Grimson fortblieb. Zum einen wollte Jim seinen Vater gar nicht sehen. Zum anderen wusste er, dass Eric sich sehr schämte, dass er ein ›verrücktes‹ Kind hatte. Die Leute würden denken, der Wahnsinn sei in der Familie verbreitet. Vielleicht traf das auf Evas Familie auch zu. Alle Ungarn waren verrückt. Aber nicht die Grimsons, weiß Gott nicht!

Eigentlich hatte Jim großes Glück gehabt, dass er so schnell in die Therapie aufgenommen worden war. Wegen der knappen finanziellen Mittel in dieser Gegend hatte man die Programme zur Behandlung der psychisch Kranken beträchtlich gekappt. Normalerweise wäre Jim ganz am Ende der langen Warteschlange gewesen. Er wusste nicht, wie oder warum er so vorgezogen worden war.

Er hatte den Verdacht, dass Sam Wyzaks Onkel, der Richter, seinen Einfluss geltend gemacht hatte. Es konnte auch sein, dass der Cousin seiner Mutter, der Staatsanwalt, einigen Druck gemacht hatte, wahrscheinlich auf nicht ganz legale Weise. Obwohl Doktor Porsena sich nicht darüber ausließ, wem sein Bocksprung über andere hinweg zu verdanken war, hatte er möglicherweise etwas damit zu tun gehabt. Jim hatte den Eindruck, dass der Psychiater ihn wegen seiner Geschichte der Stigmata und Halluzinationen für einen sehr interessanten Fall hielt.

Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Schließlich war er wirklich nichts Außergewöhnliches, nur irgend so ein Wichser, Prolo, Bankert, quadratschädeliger ungarischer Arsch. Wenn er der ganzen hässlichen Wahrheit ins Gesicht sah, dann war er genau das.

Doktor Porsena legte endlich den Hörer auf.

»Wir haben gerade von anderen Patienten gesprochen«, sagte er, »die jetzt bei diesem Programm mitmachen, nachdem sie früher andere Therapien versucht haben. Die hatten bei diesen Patienten, die alle etwas gegen jede Art von psychiatrischer Therapie hatten, keinen Erfolg.

Was ich dir anbiete – wir üben hier keinerlei Druck oder Zwang aus –, ist die sofortige Aufnahme in die Therapie, mit der wir viel Erfolg gehabt haben.«

Doktor Porsena sprach sehr schnell, aber deutlich. Wenn er redete, machte er auffallend wenig Pausen oder Verzögerungen, wie sie bei den meisten Leuten das Gespräch unterbrechen. Kein … äh … hmm … also, weißt du.

»Es ist nicht leicht. Keine Therapie ist leicht. Blut, Schweiß und Tränen und so weiter. Und wie bei jeder Therapie hängt der Erfolg grundsätzlich von dir ab. Wir heilen den Patienten nicht. Er oder sie heilt sich selbst, unter unserer Anleitung. Im Klartext: Du musst selbst den Wunsch haben, deine Probleme in den Griff zu bekommen, du musst es wirklich wollen.«

Der Doktor schwieg kurz. Jim sah sich im Büro um. Auf ihn wirkte es ziemlich luxuriös. Ein dicker (Persianer?) Teppich, supergepolsterte Sessel und Couch, ein großer Schreibtisch aus irgendeinem glänzenden Hartholz, stilvolle Tapete, an der Wand viele Diplome und Zeugnisse, in den Nischen die Büsten berühmter Leute und Gemälde, die Jim, der sich mit Kunst nicht auskannte, für abstrakt oder surrealistisch oder für sonst was hielt.

»Hast du alles verstanden, was ich gesagt habe?«, fragte Porsena. »Wenn es etwas gibt, das du nicht völlig begreifst, dann sag's. Ob Patient oder Arzt, wir sind alle hier, um zu lernen. Es ist überhaupt keine Schande, wenn man seine Unwissenheit zugibt. Ich zeige meine eigene ziemlich oft. Ich weiß nicht alles. Niemand weiß alles.«

»Klar, ich verstehe. So weit. Wenigstens reden Sie nicht so von oben herab und in diesem Fremdwörterjargon mit mir, nicht in diesem psychologischen Fachchinesisch. Das weiß ich zu schätzen.«

Doktor Porsenas Hände lagen flach auf Jims aufgeschlagener Patientenakte. Sie waren schlank und feingliedrig, er hatte lange dünne Finger. Jim hatte gehört, er sei ein ausgezeichneter Pianist und spiele hauptsächlich Klassik, manchmal allerdings auch Jazz, Dixie oder Ragtime. Hin und wieder hacke er sogar ein bisschen Rock herunter.

Er hatte nur zwei Hände, hätte aber gut vier brauchen können. Wie nicht anders zu erwarten, war er sehr beschäftigt. Er leitete nicht nur die Psychiatrische Abteilung der Klinik, sondern hatte auch eine Privatpraxis, die eine Straße von der St. Elizabeth Street entfernt lag. Außerdem war er Vorsitzender einer Vereinigung von Psychiatern aus dem nordöstlichen Ohio und lehrte an der Medizinischen Hochschule.

Vor diesen Leistungen hatte Jim gewaltigen Respekt. Am meisten beeindruckte ihn allerdings der silberne Lamborghini des Doktors, Baujahr 1979. Also der war wirklich SUPER!

Der Doktor blätterte eine Seite der Akte um und las ein, zwei Zeilen. Dann lehnte er sich zurück.

»Du scheinst viel zu lesen«, sagte er, »allerdings wohl vorzugsweise Science Fiction. Wie so viele junge Leute. Ich bin ein Science Fiction- und Fantasy-Fan, seit ich lesen kann. Angefangen habe ich mit den Oz-Büchern, Grimms und Langs Märchen, Lewis Carrolls Alice-Bänden, Homers Odyssee, Tausendundeine Nacht, Jules Verne, H. G. Wells und den Science Fiction-Magazinen. Tolkien hat mich schwer beeindruckt. Dann habe ich, während ich in Yale Assistenzarzt war, Philip Jose Farmers Welt der tausend Ebenen gelesen. Kennst du die Bücher?«

»Ja«, sagte Jim. Er richtete sich auf. »Ich find sie toll! Dieser Kickaha! Aber wann bringt Farmer den verdammten Zyklus endlich zum Abschluss?«

Porsena zuckte die Achseln. Nie zuvor hatte Jim einen Menschen gesehen, bei dem selbst ein Schulterzucken wie eine elegante Geste wirkte.

»Ich will auf folgendes hinaus: Während ich in Yale war, habe ich auch eine Lewis-Carroll-Biographie gelesen. Ein Satz in den Erläuterungen zu dem Kapitel in Alice im Wunderland, das ›Ein Proporz-Wettlauf und eine weitschweifige Geschichte‹ heißt, hat in meinem Kopf irgendetwas in Gang gesetzt. Damals und dort kam mir die Idee für die Therapie der Ebenen.«

»Was ist das denn?«, fragte Jim. »Der Ebenen? Oh, Sie meinen die Welt der tausend Ebenen?«

»Der Ausdruck trifft es eigentlich ganz gut«, sagte Doktor Porsena lächelnd. »Es war nur ein Gedankenblitz, eine Zygote des Denkens, ein kurzes Kerzenflackern. Der Wirbelwind dieser nüchternen Welt oder der gesunde Menschenverstand und die Vernunft, die sich um göttliche Eingebungen nicht scheren, hätten es leicht ausblasen können. Aber ich habe an dieser Idee festgehalten, sie gehegt und gepflegt und sie schließlich zu voller Reife gebracht.«

Der Bursche hat wirklich was drauf, dachte Jim. Kein Wunder, dass sie ihn den SCHAMANEN nannten.

Allerdings war Jim von Erwachsenen so oft verarscht und enttäuscht worden, dass er dem Psychiater nicht völlig traute. Abwarten. Mal sehen, ob Wort und Tat bei ihm übereinstimmten.

Andererseits war Porsena diesseits der Dreißig. Alt, aber noch nicht richtig alt. Jung-alt.

Es war gut, dass er Biologie gehabt hatte, dachte Jim. Sonst hätte er nicht gewusst, von was der Doktor redete, als er von der ›Zygote des Denkens‹ gesprochen hatte. Eine Zygote war eine Zelle, die durch die Vereinigung von zwei Gameten entstand. Und ein Gamet war eine Fortpflanzungszelle, die sich mit einer anderen, ähnlichen vereinigen konnte, um die Zelle zu bilden, die sich zu einer neuen Individualität entwickeln würde.

Er hatte als Zygote angefangen. Genau wie Porsena. Wie die meisten Lebewesen.

Während der Doktor die Therapie erläuterte und Jim zuhörte, wurde Jim klar, dass er im psychotherapeutischen Sinn ein Gamet war. Und die Therapie zielte darauf ab, dass er sich zur Zygote entwickelte. Anders ausgedrückt: dass sein altes Ego mit einer anderen Persönlichkeit – die im Augenblick noch reine Phantasie war – zu einer neuen Individualität verschmolz.

3. Kapitel

»Die Patienten, die die Therapie der Ebenen mitmachen, schließen sich zu einer kleinen ausgesuchten Freiwilligengruppe zusammen«, erklärte Doktor Porsena. »Normalerweise beginnen sie mit Band 1, Meister der Dimensionen, und lesen die übrigen Bände in entsprechender Reihenfolge. Sie wählen eine Romanfigur aus und versuchen, diese Romanfigur zu SEIN. Sie machen sich alle geistigen und emotionalen Züge des Rollenmodells zu eigen, ob sie nun gut sind oder schlecht. Im Laufe der Therapie kommen sie an einen Punkt, an dem sie anfangen, die schlechten Eigenschaften der von ihnen gewählten Romanfigur abzuschütteln. Aber sie behalten die guten Eigenschaften.

Es ist ähnlich wie bei einer Schlange, die sich häutet. Die unkontrollierten Zwangsvorstellungen, die unerwünschten emotionalen Faktoren, die ihn oder sie hierher gebracht haben, werden nach und nach durch kontrollierte Phantasien ersetzt. Die kontrollierten Phantasien sind diejenigen, die sich der Patient zu eigen macht, wenn er oder sie in gewisser Weise zu der Romanfigur wird.

Die Behandlung umfasst noch viel mehr, aber das wirst du im Fortgang der Therapie verstehen. Kannst du mir folgen?«

»So weit«, sagte Jim. »Und das klappt wirklich, oder?«

»Die Quote der Misserfolge ist erstaunlich niedrig. Was dich betrifft: Auch wenn du den Romanzyklus schon kennst, wirst du ihn noch einmal lesen müssen. Die Welt der tausend Ebenen wird deine Bibel sein, dein Schlüssel zur Gesundheit, wenn du damit und daran arbeitest.«

Jim schwieg eine Weile. Er dachte über den Romanzyklus nach und fragte sich gleichzeitig, welche Figur – einige waren wirklich bösartig – er sich gern zu eigen machen würde. Welche Figur er werden würde, wie der Doktor es formulierte.

Grundsätzlich ging der Zyklus davon aus, dass vor vielen tausend Jahren nur ein Universum existiert hatte. Nur auf einem Planeten in diesem Universum hatte Leben existiert. Am Ende seines evolutionären Wegs gab es eine Spezies, die Menschen ähnelte. Sie hatten eine Wissenschaft entwickelt, die alles, was die Erde je gesehen hatte, weit in den Schatten stellte. Schließlich war es den menschenähnlichen Wesen gelungen, künstliche Taschenuniversen zu erschaffen.

Diese Wesen waren so reich an Wissen und Macht, dass sie die physikalischen Gesetze, die für das jeweilige Taschenuniversum galten, beliebig modifizierten. So konnten sie etwa die Beschleunigungsrate beim Fall ins Schwerkraftzentrum gegenüber der Ursprungswelt verändern. Manchmal umfasste ein Taschenuniversum nur einen einzigen Planeten und die dazugehörige Sonne. Die Welt der tausend Ebenen, zum Beispiel, bestand aus einem Planeten von der Größe der Erde, der wie ein terrassenförmiger Turm von Babel angelegt war und von seiner winzigen Sonne und seinem winzigen Mond umkreist wurde.

Ein anderes Universum bestand aus einem einzelnen Planeten, der sich so verhielt wie der flüssige Kunststoff in einer Lavalit-Flasche. Seine Form änderte sich dauernd. Berge türmten sich auf und versanken direkt vor deinen Augen. Innerhalb weniger Tage bildeten sich Flüsse und verschwanden dann wieder. Ozeane brachen plötzlich ins Land und füllten die sich schnell bildenden Hohlräume. Teile des Planeten splitterten ab – gerade so wie der Thermoplast in der Flüssigkeit einer Lavalit-Flasche –, wirbelten durch den Raum, änderten die Form und fielen dann langsam auf die Hauptmasse des Planeten zurück.

Viele der Lords, wie die Menschen sich selbst inzwischen nannten, verließen die Ursprungswelt, um in ihren künstlichen Taschenuniversen oder Designer-Welten zu leben. Dann sorgte ein Krieg dafür, dass in der Ursprungswelt nie mehr Leben gedeihen würde. Alle, die damals dort lebten, kamen um. Nur die Lords auf den Taschenwelten wurden verschont.

Tausende von Jahren vergingen. Währenddessen hatten die Lords der künstlichen Welten, die schon vor und während des Krieges entstanden waren, weitere Taschenuniversen geschaffen. Sie waren von den Lebensformen bewohnt, die die Lords auf den Planeten ihres jeweiligen Privatkosmos eingeführt hatten. Viele dieser Lebensformen waren in den Laboratorien der Lords entwickelt worden. Neben den Lords existierten auch andere menschliche Wesen. Aber diese niedrigeren Lebewesen waren in den Labors herangezüchtet worden, wenn auch nach dem Vorbild der Lords.

Den Zugang zu diesen Taschenuniversen erlangte man durch ›Tore‹, interdimensionale Schleusen, die durch verschiedene Arten von Codes aktiviert wurden. Als die Lords immer dekadenter wurden, ging ihnen das Wissen verloren, wie man neue Universen schaffen konnte. Ihre Söhne und Töchter wollten eigene Welten, hatten aber nicht mehr die Mittel, sie ins Leben zu rufen. Zwangsläufig entwickelte sich daraus ein Machtkampf, bei dem es um die Kontrolle über die begrenzte Zahl der Welten ging.

Am Ausgangspunkt von Meister der Dimensionen, in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, hat man viele Lords ermordet oder enteignet. Selbst diejenigen, die eigene Universen besitzen, wollen weitere erobern. Da sie Hunderttausende von Jahren ohne jede Alterung leben können, langweilen sich die meisten schon und sinnen auf Ränke. Ein populäres Spiel besteht inzwischen darin, dass man andere Welten überfällt und die dort lebenden Lords umbringt.

Wenn sie schon nichts erschaffen konnten, dann konnten sie doch wenigstens zerstören.

Die Welt der tausend Ebenen war ganz klar ein Vorläufer der bei Jugendlichen so beliebten ›Dungeons and Dragons‹{3}-Spiele. Ihre Tore, die von den Lords dort installierten Fallen, der zum Durchdringen der Tore nötige Einfallsreichtum, die gefährlichen Welten, in denen eine falsche Entscheidung die Figur zur Strecke brachte – all das ähnelte einem frühen Modell der ›D & D‹-Spiele. Jim wunderte sich, dass man aus der Saga kein Spiel gemacht hatte.

Noch mehr wunderte er sich darüber, dass die Bücher inzwischen als Hilfsmittel in der psychiatrischen Therapie eingesetzt wurden. Immerhin eine tolle Idee. Auf jeden Fall sagte ihm das eher zu als die konventionelle Therapie, egal, ob nach Freud, Jung oder sonst wem. Er kannte sich in den unterschiedlichen psychiatrischen Schulen zwar nicht gerade aus, aber leiden konnte er keine davon.

Klosprüche blitzten vor seinem inneren Auge auf.

GEISTESKRANKHEIT

KANN WAHNSINNIG SPASS MACHEN.

LIEBER DURCHDREHEN

ALS DURCH DIE MANGEL GEDREHT WERDEN.

NIEMAND HOLT SICH SCHIZOPHRENIE

AUF DEM SCHEISSHAUS.

Doktor Porsena blickte zur Uhr auf seinem Schreibtisch. Eine zeitgesteuerte Marionette, dachte Jim. Ärzte und Rechtsanwälte funktionierten wie die Eisenbahn: nach der Zeit Newtons. Mit Einsteins Zeit hatten sie nichts am Hut. Da gab's kein Herumhängen oder die Einladung, die Seele mal baumeln zu lassen, zur Hölle mit der Relativität. Aber so kriegten sie geregelt, was sie geregelt kriegen wollten.

Der Psychiater stand auf. »Und weiter geht's, Jim«, sagte er. »Excelsior! Immer aufwärts und voran! Junior Wunier gibt dir die Bücher, kostenlos. Er wird dich auch mit den Regeln und Vorschriften vertraut machen. Mögen dich die gierigen Eisenklauen Klonos verschonen. Möge die Macht mit dir sein. Auf bald.«

Der Doktor ist wirklich eine Marke, dachte Jim, als er das Zimmer verließ. Diese Anspielung auf die Macht. Das war aus Krieg der Sterne, wie jeder amerikanische Jugendliche sofort merken würde. Aber dann auch noch das mit Klono. Wie viele Leute wussten schon, dass Klono eine Art Astronautengott war, ein höheres Wesen mit goldenen Kehlklappen, Hufen aus Messing, einem inneren Kern aus Iridium und all diesen Sachen. Klono war der Gott, bei dem die Raumfahrer in E. E. Smith' Lensmen-Saga ihre Eide schworen.

Jim fand Junior Wunier beim Tagesbereitschaftsdienst in der Nähe der Fahrstühle. Junior Wunier! Wie konnten Eltern ihrem Kind nur so einen Namen anhängen?! Behinderte ihn doch von Geburt an. Als wäre er nicht schon behindert genug. Der Achtzehnjährige hatte Haar wie Frankensteins Braut, eine krumme Wirbelsäule wie der Glöckner von Notre-Dame, einen Hinkefuß wie Igor und ein Gesicht wie die hässliche Herzogin in Alice im Wunderland. Abgesehen von dem Buckel auf dem Rücken, verhielt er sich auch noch wie ein Affe. Er war ein Speed Freak. Jim hoffte, dass man ihn erwischt hatte, ehe sein Hirn völlig ausgebrannt war.

Am meisten nervte seine Angewohnheit zu sabbern.

Und er, Jim Grimson, hatte gedacht, das Schicksal habe ihn von Geburt an doppelt geschlagen.

Jim tat der arme Kerl leid, aber er konnte ihn nicht ausstehen.

Wie konnte es anders sein: Junior Wunier hatte Kickaha zu seinem Vorbild gemacht. Kickaha, den gutaussehenden, starken, schnellen, ausgefuchsten Helden. Jim hätte eher darauf getippt, dass Wunier Theotormon wählen würde. Diese Romanfigur war ein Lord, der von seinem Vater gefangengenommen worden war. Seinen Körper hatte man im Labor in ein grässliches Monstrum mit Schwimmflossen und einem hässlichen, bestialischen Gesicht verwandelt.

Wunier ging ins Lager und brachte Jim fünf Taschenbücher mit. »Lies sie und heul schön«, sagte er.

Jim klemmte sich den Stapel Farmer-Romane unter den Arm. Waren sie zu seiner Rettung bestimmt? Oder waren sie, wie alles andere, voller Verheißungen, die sich später als heiße Luft entpuppen würden?

Durch jetzt menschenleere Gänge führte Wunier Jim zu seinem Zimmer. Alle hielten sich in ihren eigenen Zimmern auf oder waren im Aufenthaltsraum, falls sie nicht gerade ihre Einzel- oder Gruppentherapie hatten. In den langen, weitläufigen Gängen mit den weißen Wänden und dem grauen Bodenbelag hallten ihre Schritte. Man hatte Jim vorübergehend ein kleines Einzelzimmer zugewiesen, das sehr nach Krankenhaus aussah. Der winzige Schrank bot allerdings sogar mehr Platz, als Jim brauchte. Die einzigen Klamotten, die er besaß, trug er am Leib. Seine Mutter hatte sie ihm gebracht, sie hatte sie von Mrs. Wyzak bekommen. Eigentlich gehörten sie Sam, deshalb waren sie ihm auch zu eng. Die Schuhe waren peinlich: Quadratlatschen zum Schnüren. Sam hätte sie bestimmt nie getragen, wenn nicht seine Mutter ihm im Fall einer Weigerung mit Mord gedroht hätte, wie ihr zuzutrauen war.

Junior Wunier zeigte auf eine Wandnische. »Du kannst die Bücher dort hinstellen. Also, hier sind die Regeln und Vorschriften.«

Er lehnte sich gegen die Wand. Während er den Zettel mit beiden Händen nah vor das Gesicht hielt, las er laut vor. Ein Sprühnebel von Spucke befeuchtete den Zettel.

So ein Ekelpaket!, dachte Jim. Dieser Typ war eine Neuauflage von Sylvester the Cat.

Er ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder, einem Holzstuhl mit losem Kissen. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Seine Zähne taten ein bisschen weh. Seine Nerven waren so angespannt wie Telefonkabel. In seiner jetzigen Stimmung brauchte er dringend etwas, das ihn beruhigte.

Wunier leierte immer noch wie ein buddhistischer Mönch, der die Lotus-Sutra intoniert. Der Patient müsse sein beziehungsweise ihr Zimmer ordentlich und sauber halten. Der Patient habe jeden Tag zu duschen, seine Nägel zu pflegen und so weiter. Der Patient dürfe nur das Telefon auf dem Schreibtisch des Bereitschaftsdienstes benutzen und nicht länger als vier Minuten in Beschlag nehmen. Das Rauchen sei nur in der Eingangshalle gestattet, Graffiti verboten. Patienten, die man mit nicht verordneten Arzneimitteln, Alkohol oder beim Aufreißen gewisser Sächelchen (Wuniers Worte) erwische, werde man sofort am Arsch kriegen und rausschmeißen.

»Und wenn du dir einen runterholst«, sagte er, »dann mach's nicht in der Dusche oder wenn jemand anderes dabei ist.«

»Wie wär's vor dem Spiegel?«, sagte Jim. »Ist das Spiegelbild jemand anderes?«

»Mit Gruß und Kuss aus Sarkasmus City«, grummelte Wunier. »Halte dich einfach an die Vorschriften, dann kommst du schon klar.«

Mit seinem Hinkefuß wackelte er zur Wand und riss ein Stück Papier ab, das dort mit Tesafilm befestigt war. Ehe es im Papierkorb verschwand, las Jim, was draufstand:

VIEL FREUD MIT DEINEM

SEELENKLEMPNER

Unter diesem Satz war eine Zeichnung: Kilroy war hier.

»Irgend so ein Klugscheißer hängt das Zeug in allen Zimmern auf«, sagte Wunier. »Wir nennen ihn den SCHARLACHROTEN SCHMIERER{4}. Sein Arsch wird sich scharlachrot färben, wenn wir ihn erwischen.«

Bis auf einige gerahmte Drucke, die so aussahen, als kämen sie direkt aus der Saturday Evening Post, hing nur ein Kalender an der Wand.

»Und was ist mit den Mantras?«, fragte Jim. »In vielen Zimmern hängen sie an den Wänden.«

»Das ist erlaubt, gehört zur Therapie. Manche brauchen das, um in die Welt der Ebenen reinzukommen.« Wunier machte eine Pause. »Weißt du schon, welche Figur du nimmst?«, fragte er dann. Offensichtlich wollte er dableiben und ein Schwätzchen halten. Der arme Bursche war wohl einsam. Aber Jim hatte keine Lust, sich für jemanden aufzuopfern, der die letzte Person darstellte, mit der er reden wollte.

»Nein«, sagte Jim. Er wollte schon aufstehen, lehnte sich dann aber wieder im Stuhl zurück. Er deutete auf den Raum unterhalb seines Bettes.

»Was ist das?«

Wuniers Augen weiteten sich. Er machte Anstalten, sich hinüberzubeugen und unter das Bett zu gucken, tat es dann aber doch nicht.

»Was meinst du damit, was soll was sein?«

»Es hat sich gerade bewegt. Ich dachte, das wären nur die Schatten. Aber es ist sehr dunkel, schwärzer als der Weltraum. Wirkt so, als würde einem die Hand abfrieren und in die vierte Dimension abdriften, wenn man sie da hineinsteckt. Sieht aus wie eine Spindel. Etwa dreißig Zentimeter lang. He, eben hat's sich wieder bewegt!«

Wunier warf einen kurzen Blick auf das Bett und einen längeren auf Jim.

»Ich muss los«, sagte er und versuchte, dabei locker zu wirken. »Ich lass dich allein, damit du dich um deinen Gast kümmern kannst«, fügte er hinzu. Aber er machte sich so schnell wie möglich aus dem Staub.

Als er nach Jims Meinung außer Hörweite war, lachte Jim laut auf. Das Ding, das er angeblich gesehen hatte, stammte aus einem Roman von Philip Wylie, den Titel hatte er vergessen. Er wusste allerdings nicht, ob Wunier wirklich gedacht hatte, da sei etwas unter dem Bett, oder ob er fürchtete, Jim sei dabei auszurasten.

Eine Minute später jedoch war Jims Stimmung ein schwarzrotes Gemisch. Eine Art Wechselstrom. Abwechselnd Depression und Zorn. Die Psychologen behaupteten, Depression sei nichts anderes als nach innen gerichteter Zorn. Wie aber war es möglich, dass er innerhalb einer Minute unter beiden Gemütszuständen litt, die wie Lampen an- und ausgingen? Vielleicht war er wirklich dabei durchzudrehen.

MANISCH SEIN MACHT

DEPRESSIV.

Das würde er an die Klowand kleben. Er würde ihnen zeigen, dass der verdammte rote Schmierer, der nicht zu fassen war, nicht der einzige war, der aus dem Schattenreich zuschlagen konnte.

Er hatte nicht einmal eigene Klamotten. Und kein Geld. Nimm einem Mann oder einer Frau Besitz und Geld, und du wirst einen jemand vor dir haben, dem seine Männlichkeit oder ihre Weiblichkeit abhanden gekommen ist. So jemand war keine Person mehr. Es sei denn, es handelte sich um einen Hindu-Fakir oder Yogi, Teil einer Kultur, die solche Leute als Heilige betrachtete. Aber nicht in dieser Welt, in der Kleidung und Geld den Menschen ausmachten, in der der Kaiser der einzige war, der nackt durch die Gegend rennen und immer noch eine Persönlichkeit sein konnte.

Er hatte nichts.

Während er auf dem Stuhl saß, ins Nichts starrte, selbst ein Nichts, das in einen Spiegel blickte, merkte er, wie die Schwärze wich. Ihr folgte Röte, eine Röte, die sich in jede Zelle seines Körpers und Geistes ergoss.

Aber ein Mann, der zornig war, war ein Mann, der immerhin etwas besaß. Zorn war eine positive Kraft, selbst wenn sie zu negativen Handlungen führte. Ein Gedicht, das er vor langer Zeit gelesen hatte – wie ging es noch gleich? Er konnte sich nicht mehr Wort für Wort daran erinnern –, behauptete, der Zorn erreiche, was die Vernunft nicht schaffe.

Gillman Sherwood, ein Mitpatient, steckte den Kopf durch die offene Tür. »He, Grimson! In zehn Minuten Gruppentherapie!«

Jim nickte und stand vom Stuhl auf. In diesem Moment wusste er, welche Figur er wählen würde. Sein würde.

4. Kapitel

31. Oktober 1979, Halloween{5}

Kurz bevor der Wecker klingelte, war Jim von irgendetwas aufgewacht. Schlaftrunken hatte er nach oben gestarrt. Die Risse an der Decke formierten sich allmählich zu einer chaotischen Landkarte. Oder waren das die ersten Striche einer Zeichnung, die eine Bestie oder irgendein geheimnisvolles Symbol darstellen sollte? Aus den alten Sprüngen waren über Nacht viele neue herausgeschossen.

Der Wecker machte ihm angst. Twirrraaap! Auf, du alter Adam! Raus aus dem Bett, du fauler Sack! Mach schon, mach schon! Wieder mal erwischt!

Die frühe Morgensonne schien durch die dünnen gelben Gardinen auf weiße Staubwölkchen, die aus den Sprüngen rieselten. Die Erde unter dem Haus hatte gebebt und sein Bett ins Wanken gebracht. Irgendwo direkt unterhalb des Hauses hatte sich einer der längst geschlossenen Bergwerksstollen oder Schächte, die unter Belmont City verliefen, gesenkt oder war eingestürzt, und das Haus der Grimsons war noch ein bisschen mehr in Schräg- oder Tieflage geraten.

Vor drei Monaten waren vier Straßen weiter zwei nebeneinander liegende Häuser in eine plötzlich aufgetretene, sechzig Zentimeter tiefe Spalte gerutscht. Jetzt lehnten sie aneinander, vorn und hinten waren ihre Veranden abgerissen. Früher hatten sie fast zwei Meter auseinander gestanden. Heute hingen sie aneinandergequetscht in dem Loch fest, wie zwei zu große und zu harte Pfropfen im Arsch des Einfältigen Riesen.{6}

Das Beben vor einer Minute hatte ihn wie eine Forelle am Haken mit einem Ruck aus einem Albtraum gerissen. Aber das war kein Traum von Monstern gewesen, der ihn seufzen und wimmern ließ. Es war ein ganz und gar schwarzer Traum gewesen, in dem nichts, rein gar nichts, passiert war.

Er zwang sich, den müden Hintern aus dem Bett zu bewegen und in Gang zu kommen. »Mit einem Lied auf den Lippen.« Ja, ja. Einem Lied wie ›Trüber Sonntag‹, zum Beispiel. Nur dass es Mittwoch war, Allerheiligenmittwoch.

Das Zimmer war sehr klein. Sieben große Plakate klebten an der ausgeblichenen hellgrünen Tapete mit den roten Rosen und an der Tür. Das größte zeigte Keith Moon, Moon the Loon{7}, den tollen, im Vorjahr verstorbenen Schlagzeuger von The Who. Auf dem grellsten Poster waren die fünf Mitglieder der Hot Water Eskimos, einer örtlichen Rockgruppe, abgebildet. Da war ›Gizzy‹ Dillard, der in sein Saxophon kotzte. Veronika ›Singing Snatch‹7 Pappas, die sich das Mikro unter den ledernen Minirock schob. Bob ›Birdshot‹7 Pellegrino, der einen der Schlagstöcke wichste. Steve ›Goathead‹7 Larsen, der so aussah, als ficke er seine Gitarre. Sam ›Windmill‹7 Wyzak, der die Tasten kitzelte. Über dieser obszönen Gruppe schwebte ein Dutzend Kuhglocken, die fliegenden Ufos ähnelten. Aus der Nähe und bei hellem Licht betrachtet, konnte man sehen, dass sie an sehr dünnen Drähten von der Decke hingen.

In seiner abgerissenen grünen Schlafanzugjacke, roten Schlafanzughosen und schwarzen Socken stieg er aus dem Bett und öffnete die Tür. Ja, sie klemmte noch mehr als gestern. Er wandte sich nach links und ging durch die unbeleuchtete Diele. Ihr Teppich war zerfranst und von stumpfem Grün. Im engen Bad knipste er das Licht an. Als er in den Spiegel blickte, zuckte er zurück. Ein dritter roter Pickel wölbte sich unter der Haut. Seine rötlichen Barthaare waren seit dem Vortag ein bisschen gesprossen. Am Wochenende würde er sich rasieren müssen. Die stumpfen Rasierklingen, die sein Vater unbedingt behalten wollte, weil neue zu teuer waren, würden seine Haut aufkratzen und den Schorf über den gerade ausgedrückten Pickeln abreißen, so dass sie bluteten.

Er pinkelte ins Waschbecken. Damit unterstützte Jim seinen Vater, Eric Grimson. Der brüllte ständig herum, die vielen Klospülungen würden die Wasserrechnung hochtreiben. Gleichzeitig rächte sich Jim so ein bisschen, wenn auch heimlich, an diesem Haustyrannen und durch und durch blöden Arschloch, das sein Vater war.

Während er so dastand, musterte er sein Gesicht. Die großen tiefblauen Augen hatte er von seinem norwegischen Vater wie von seiner ungarischen Mutter geerbt. Das rötliche Haar, die länglichen Kinnbacken und das hervorstehende Kinn hatte ihm Eric Grimson vermacht. Die kleinen Ohren, die lange gerade Nase, die hohen Backenknochen und den leicht östlichen Schnitt der Augen verdankte er seiner Mutter, Eva Nagy Grimson. Mit seiner Größe von gut einem Meter sechsundachtzig kam er nach seinem Vater. Jim würde noch gut sieben Zentimeter wachsen, falls er seinen Erzeuger einholte. Der Alte war drahtig und hatte schmale Schultern, allerdings hatte Jim seine breiten Schultern von der Familie mütterlicherseits geerbt. Evas Brüder waren klein, aber sehr breit gebaut und muskulös.

Herrgott noch mal! Wenn nur diese verdammten Pickel nicht wären, könnte er ja ganz gut aussehen. Vielleicht würde er dann sogar bei Sheila Helsgets landen können, dem hübschesten Mädchen an der Belmont Central High School, seiner irreversiblen Liebe.

Jim wollte demnächst mal im Lexikon nachschlagen und nachgucken, was ›irreversibel‹ eigentlich genau bedeutete. Für Jim jedenfalls bedeutete das Wort, dass seine Liebe nur in einer Richtung verlief, dass Sheila nicht mehr für ihn empfand als ein Satellit in der Erdumlaufbahn für den von ihm abprallenden Radarstrahl.

Die einzige Bemerkung, die sie je in seine Richtung losgelassen hatte, hatte sich auf die Worte beschränkt, er solle ihr mit seinen Ausdünstungen vom Hals bleiben. Das hatte ihn verletzt, aber nicht so tief verletzt, dass es mit seiner Liebe aus und vorbei war. Er hatte angefangen, zweimal in der Woche zu baden, was für ihn ein großes zeitliches Opfer bedeutete, wenn er bedachte, wie wenig Zeit ihm für die Dinge des täglichen Lebens blieb.

Diese Pickel! Warum strafte Gott, so er denn existierte, bloß Teenager damit? Nachdem er sich Wasser ins Gesicht und auf den sich erhebenden Penis geklatscht und mit dem seinem Vater vorbehaltenen Handtuch abgetrocknet hatte, machte er sich auf den Weg zur Küche. In der Diele war es zwar dunkel, aber die weißen Putzbrocken auf dem Teppich konnte er trotzdem erkennen. Als er in die Küche kam, bemerkte er an der grünlichen Zimmerdecke weitere Risse. Auf dem Gasherd und dem Wachstuch des Küchentisches lag weißer Staub.

»Wir werden alle ins Loch fallen«, murmelte er. »Ganz hindurch, bis nach China. Oder bis zur Hölle.«

Hastig machte er sich sein Frühstück. Er zerrte die Tür des vierzig Jahre alten Kühlschranks auf, dessen oben angebrachte vertikale Kühlspiralen wie die uralten Wachtürme eines längst vergessenen Krieges aussahen. Er holte sich ein Glas Mayonnaise, eine polnische Knackwurst, eine halb angebräunte Banane, verwelkten Salat, eingefrorenes Brot und eine polnische Peperoni, die so scharf war, dass sie einem am nächsten Tag auf dem Klo das Arschloch zum Höllenschlund machen konnte. Er vergaß, die Kühlschranktür wieder zuzudrücken. Während das Wasser für die Tasse Pulverkaffee, die er sich aufgießen wollte, kochte, schnitt er die Wurst und die Banane in Scheiben und klemmte sie zwischen zwei Scheiben Brot. Er schaltete das Radio ein. Der Vater seines Vaters hatte es gekauft, einen Tag nachdem die ersten Transistorradios auf den Markt gekommen waren. Das alte Röhrenradio setzte oben auf dem vollgestopften Speicher Staub an, genau wie die vielen Stöße alter Zeitungen und Zeitschriften, kaputtes Spielzeug, ausrangierte Klamotten, zerbrochenes Porzellan, rostiges Silber, Besen mit Haarausfall und ein durchgeschmorter Hoover-Staubsauger aus dem Jahre 1942.

Eric und Eva Grimson tat es weh, irgendetwas außer Küchenabfall wegzuwerfen, und manchmal hingen sie sogar an dem. So als ob sie sich Stücke aus dem eigenen Fleisch schnitten, wenn sie sich von irgendeinem Besitz trennten, dachte Jim. Die meisten Leute wollten die Vergangenheit hinter sich lassen. Seine Eltern speicherten sie über dem Kopf.

Er biss kräftig in sein Butterbrot und danach in die Peperoni. Sein Gaumen brannte, die Augen tränten. Er drehte das Gas ab und goss das kochende Wasser in die Tasse. Während er den Pulverkaffee umrührte, dröhnte WYEK, Belmonts einziger Rocksender, mit dem Schluss des Wetterberichts durch die Küche. Danach wurde lautstark die Nummer sechzehn der örtlichen Hitparade der Woche angekündigt: ›Your Hand's Not What I Want!‹ war der erste Titel der Hot Water Eskimos, den Jim je im Radio gehört hatte, sicher auch der letzte.

Während er sich über den Ausguss beugte und kaltes Wasser in ein Glas laufen ließ, hörte er ein Brummen, das nicht aus dem Radio kam. Dann verstummte das Gerät. Zwei Sekunden lang war nur das laufende Wasser zu hören. Dann knurrte es wieder hinter ihm.

»Verdammt noch mal! Ich hab's dir doch oft genug gesagt! Stell den verfluchten Krach ab! Oder ich schmeiß das gottverdammte Radio aus dem Fenster, das schwör ich dir! Und mach die verdammte Kühlschranktür zu!«

Die Stimme war nicht voluminös, aber tief. Die Stimme seines Herrn – nach dem Gesetz jedenfalls. Die Stimme seines Vaters. Schon als Kind hatte Jim diese Stimme befremdlich gefunden, sie hatte ihm Angst eingejagt. Sie schien nicht menschlich zu sein. Jim glaubte immer noch nicht so recht, dass sie menschlich war.

Dennoch konnte er sich an Situationen erinnern, in denen er sie geliebt hatte, in denen sie ihn zum Lachen gebracht hatte. Genau daran lag es auch, dass seine Haltung seinem Vater gegenüber so zwiespältig war. Im Moment war sie allerdings eindeutig.

Er richtete sich auf, drehte den Wasserhahn zu, trank aus dem Glas und drehte sich dabei langsam um. Da stand Eric Grimson, groß, mit rotem Gesicht und geröteten Augen, schweren Lidern, feisten Hängebacken und dickem Bauch. Die geplatzten Äderchen auf seiner Nase und den Backen erinnerten Jim an die Sprünge in den Zimmerdecken.

Jesus, Maria und Josef!

Wieder einmal eine Eltern-Kind-Konfrontation, wie der Schulpsychologe das nannte. Wieder einmal der Zusammenstoß mit dem Geweih eines Blödhammels, wie Jim bei sich dachte.

Sein Alter setzte sich. Seine Ellbogen stützte er auf den Tisch, sein Kinn auf beide Hände. Einen Moment lang sah es so aus, als werde er gleich losheulen. Dann richtete er sich auf und knallte seine offenen Handflächen so heftig auf den Tisch, dass die Zuckerschale ein Tänzchen aufführte. Er starrte wütend vor sich hin. Aber seine Hände zitterten, als er sich mit dem Streichholz eine Zigarette anzündete.

»Du hast es mit Absicht so laut gestellt, oder nicht? Du willst mich nicht schlafen lassen. Dabei hab ich den Schlaf, weiß Gott, nötig. Das weiß auch deine Mutter. Und du weißt das auch ganz genau. Aber nein, lässt du mich etwa schlafen? Warum nicht? Aus gottverdammter Niederträchtigkeit, aus reiner Boshaftigkeit, den gemeinen Zug hast du von deiner Mutter, daran liegt's! Und ich hab dir doch gesagt, dass du die Kühlschranktür zumachen sollst! Du … du … Schlange! Genau das bist du! Eine gottverdammte Schlange!«

Er schlug mit der rechten Hand auf den Tisch. Er hatte eine solche Bierfahne, dass Jim angeekelt das Gesicht verzog.

»Ich lass mir diese Scheiße von dir nicht mehr bieten! Das gottverdammte Radio schmeiß ich demnächst aus dem Fenster, das schwör ich dir! Und dich gleich hinterher!«

»Tu's doch!«, sagte Jim. »Als wenn mir das was ausmacht!«

Auf diese Provokation würde sein Vater nicht reagieren. Egal, wie wütend Eric Grimson war, nie würde er irgendetwas mutwillig zerstören, dessen Ersatz ihn womöglich Geld kostete.

Eric stand auf. »Raus!«, schrie er. »Raus, raus, raus! Ich will dein Arschgesicht hier nicht länger sehen, du langhaariger, ausgeflippter Idiot! Sofort raus, oder ich tret dir so in den Arsch, dass du den ganzen Weg bis zur Schule fliegst. Auf der Stelle! Jetzt gleich!«

Sein Alter wollte provozieren, dass sein Sohn auf ihn losging, dachte Jim. Denn dann hatte er seinerseits Grund, Jim ein paar Knochen zu brechen, die Nase blutig zu schlagen, ihm eins in den Magen zu versetzen, in die Eier zu treten und seine Nieren zu zermalmen.

Was genau das war, was Jim gern seinem Alten angetan hätte und eines Tages auch antun würde.

»In Ordnung!«, schrie Jim. »Ich geh, du besoffener Mistkerl, du hoffnungsloser Sozialfall, du Schnorrer, du fauler Sack, du absolute Niete! Und die Tür kannst du selbst zumachen.«

Erics Zementmischer-Stimme wurde tiefer und gleichzeitig lauter. Sein Gesicht war rot angelaufen, sein Mund stand weit offen, so dass die schiefen, tabakgelben Zähne zu sehen waren. Seine Augen wirkten wie Blutgerinnsel.

»So redest du nicht mit deinem Vater! Du Scheißhippie, du stinkender … stinkender …«

»Wie wär's mit rote Kommunistensau?«, schlug Jim vor, während er sich an seinem Vater vorbeidrückte. Er hatte ihn im Blick und war darauf vorbereitet, sofort zurückzuschlagen, zitterte dabei aber heftig.

»Ja! Passt ausgezeichnet!«, brüllte sein Vater.

Aber Jim rannte schon durch die Diele. Als er gerade in sein Zimmer wollte, sah er, wie am anderen Ende des Gangs eine Tür aufging. Aus dem schmalen Winkel zwischen Tür und Wand drang flackerndes Licht und der starke Duft von Räucherkerzen. Seine Mutter streckte den Kopf heraus. Wie üblich hatte sie ihren Rosenkranz gebetet und dabei vor den Heiligenfiguren in ihrem Zimmer gekniet. Als sie den Lärm vernahm, war sie ihrem Sohn nicht zu Hilfe gekommen, sondern hatte sich hinter der Tür versteckt, bis wieder Ruhe und Frieden eingekehrt waren oder wenigstens alle Anzeichen darauf hindeuteten.

»Sag Gott, er kann sich's sonst wo reinschieben!«, rief Jim.

Seine Mutter schnappte nach Luft. Ihr Kopf verschwand, die Tür schloss sich langsam und leise. So war seine Mutter. Langsam und leise, ruhig und friedlich. Und kein bisschen tatkräftiger als der Schatten, dem sie ähnelte. Sie hatte so lange unter Gespenstern gelebt, dass sie selbst zum Geist geworden war.

5. Kapitel

Inzwischen angezogen und mit der Schultasche in der Hand, rannte Jim durch die Haustür nach draußen. Immer noch brüllte sein Vater, der im Eingang stand, Schimpfworte und Drohungen hinter ihm her. Außerhalb seines privaten Hoheitsgebiets, wo er sich nicht sicher fühlte, würde er seinen Sohn nicht verfolgen. Auf seinem eigenen Land verhielt er sich wie der Hahn auf dem Hühnerhof oder der Leithammel auf der Weide. Praktisch gehörte das Haus ja der Bank. Vielleicht fiel es ja bald an Mutter Erde zurück, wenn die Tunnel und Stollen unter dem Haus weiter nachgaben.

Der Himmel war klar, die Sonne versprach eine Temperatur von mehr als zwanzig Grad. Ein toller Tag für Halloween, allerdings sollte es sich laut Radio-Wetterbericht am späteren Tag noch bewölken.

So war das Wetter da draußen. Innerlich fühlte sich Jim so, als schlage es bei ihm ständig und mit Getöse ein, als herrsche dort ein böser Menschenfresser, der beim Kochen mit Töpfen und Pfannen um sich warf. Über seinen privaten Himmel rasten schwarze Wolken und kündigten noch Schlimmeres an.

Eric Grimson brüllte immer noch, obwohl sein Sohn inzwischen schon eine Straße weiter war. Einige Leute steckten den Kopf aus der Haustür, um zu sehen, was da eigentlich los war. Jim hastete weiter und schwang dabei seine Schultasche. Sie enthielt fünf Schulbücher – hineingeguckt hatte er gestern Abend in kein einziges –, Bleistifte, einen Kuli und zwei Notizbücher, in denen sich vor allem Jims lyrische Versuche niedergeschlagen hatten. Außerdem waren da noch drei zerfledderte und angeschmutzte Taschenbücher: Nova Express, Die Geburt der Venus und Das alte Ägypten.

Seine Mutter hatte keine Zeit gehabt, ihm ein Fresspaket für die Mittagspause zu richten. Egal. Sein Magen tat sowieso so weh wie eine Faust, die glühenden Stacheldraht umklammert.

Zu vieles, zu lange schon.

Wann würde er selbst seinen Urknall erleben?

Bald, sehr bald.

In einem der Notizbücher stand sein jüngstes Gedicht, es hieß ›Gletscher und Novas‹.

Wut, Wut, Wut, Wut!

Nichts verrät, wie sehr ich glühe.

Worte sind Schatten, wilder Zorn die Substanz.

Onkel Sam will mein Feuer ersticken.

Onkel Sam, der malmende Gletscher.

Onkel Sam, fünf Meilen hoch.

Onkel Sam schleift Berge zu Ebenen.

Alles soll verflachen.

Alles soll erlöschen.

Vater und Mutter sind Eisriesen.

Sie wollen mich holen, mein Feuer löschen.

Sie alle kreisen mich ein:

Der weiße Riese des Weißen Hauses.

Die Trolle des FBI.

Die Menschenfresser der CIA.

Werwölfe mit zottigem Haar.

Im Gefängnis gefriert das Feuer.

Ahab jagt Moby Dick,

doch in Wirklichkeit den eigenen Schwanz –

sagt man.

Ahab reißt Gott die Maske ab.

Das Herz der Bombe will explodieren.

Seine Wut eine Kerze,

die meine ein Flammenwerfer.

In kommenden Äonen, in kommenden Zeiten,

in kommenden Äonen, in kommenden Epochen

wird der alte Weichensteller ZEIT die

Strecken neu festlegen.

Dann rast der Eilzug Sonne

frontal in den vorherbestimmten Untergang,

die Supernova.

Sie bläht sich auf, explodiert, steckt alles in Brand,

übersät Pluto mit Stücken des Mars.

Der Gletscher gibt meinen kältestarren Leichnam frei.

Der Gletscher überlässt sich selbst dem Feuer.

Der kältestarre Leichnam wird wieder brennen.

Gerechtes Feuer ist nicht zu löschen.

Wut, Wut, Wut, Wut!

Damit war alles gesagt, aber das reichte nicht.

Manchmal waren Filme, Bilder und der Beat des Rock – vor allem der Beat des Rock – besser als Worte. Damit wurde das Unsagbare sagbar. Zumindest eher sagbar.

Einen Augenblick lang schien die Straße um ihn herum Wellen zu schlagen. Sie glitzerte und bebte wie die Halluzination in einer Wüste. Dann verschwand die Vision, und die Cornplanter Street lag wieder so festgefügt da wie wenige Sekunden zuvor.

Auch genauso dreckig. Über den Hausdächern ragten sieben Straßen weiter die grauschwarzen Schornsteine und oberen Stockwerke der Helsget-Stahlwerke wie eiserne Riesen auf. Tote Riesen, sie stießen ihren stinkenden schwarzen Rauch nicht mehr aus. Jim erinnerte sich noch an die Zeit, als sie lebendig gewesen waren. Aber das schien so lange her, als sei es in einem früheren Jahrhundert gewesen.

Billiger ausländischer Stahl hatte den Industrie- und Stahlbetrieben dieser Gegend den Todesstoß versetzt. Soweit sich Jim erinnerte, hatten damals die Probleme seiner Eltern und damit seine eigenen angefangen. Die ständig brennenden Hochöfen hatten die Stadt mit ihren dreckigen Giftwolken zwar verpestet, aber auch einen gewissen Wohlstand über sie ergossen. Je sauberer die Luft geworden war, desto mehr hatten Armut, Verzweiflung, Wut und Gewalt um sich gegriffen. Jetzt konnten die Bürger zwar die Häuser zwei Straßen weiter wieder erkennen, aber nicht der eigenen Zukunft ins Auge blicken.

Diese Straße, diese ganze Stadt war, wie Bob Dylans ›Desolation Row‹, eine Sackgasse der Trostlosigkeit.

In seinen dreckigen, abgestoßenen Rindslederstiefeln schlurfte Jim den rissigen Bürgersteig entlang, vorbei an zweistöckigen Einfamilienhäusern, die man gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs gebaut hatte. Einige der Vorgärten waren eingezäunt, manche Zäune waren weiß gestrichen und vor nicht allzu langer Zeit repariert worden. Einige Gärten fielen durch hübsch angelegte Rasenflächen auf. Dort, wo wenig oder überhaupt kein Gras spross, türmten sich uralte Rostlauben, deren Räder man durch Klötze ersetzt hatte, und ausgeschlachtete Motorräder.

Die Morgensonne strahlte prächtig von einem wolkenlosen blauen Himmel. Dennoch kam Jim das Licht in Belmont City schon lange ganz anders vor als das Licht irgendwo sonst. Es war besonders grell und gleichzeitig grobkörnig. Wie konnten Sonnenstrahlen in klarer Luft grobkörnig wirken? Er hatte keine Ahnung. Es war einfach so. Er wusste nicht mehr, wann es ihm zum ersten Mal aufgefallen war. Er hatte den Verdacht, zu der Zeit, als sein erstes Schamhaar zu sprießen begann. SPOING! Da war ES wieder, das nicht klein zu kriegende ES. SPOING! Bei jeder Gelegenheit, sie musste nur irgendwie mit dem Geschlecht zu tun haben, richtete ES sich auf und schwoll an wie eine wütende Kobra. Ob bei Filmen, Fotos, Anzeigen, zahllosen Tagträumen oder Phantasiebildern: Jedes Mal schnellte ES hoch, als schwenke eine Hexe ihren Zauberstab. SPOING! Da war ES wieder, wie peinlich das auch sein mochte.

Damals hatten die Sonnenstrahlen in Belmont City zum ersten Mal grell und grobkörnig gewirkt.

Ja, wirklich?

Vielleicht hatte es ja schon da begonnen, als er seine erste ›Vision‹ gehabt hatte. Oder als seine ›Stigmata‹ zum ersten Mal aufgetreten waren.

Jim sah seinen engsten Kumpel, Sam ›Windmill‹ Wyzak, einen halben Block weiter an der Cornplanter Street stehen, am weißen Lattenzaun seines Vorgartens. Jim beschleunigte seinen Schritt. Nur Jims Großvater, Ragnar Grimsson, der norwegische Seemann und Lokomotivführer, und Sam Wyzak liebten ihn wirklich. Weil sie alle drei Seelen hatten, die wie Stimmgabeln in derselben Tonlage schwangen. Aber sein Großvater war vor fünf Jahren gestorben (vielleicht war damals das Licht grell und grobkörnig geworden), und jetzt schwangen nur noch Jim und Sam auf derselben Frequenz.

Sam war eins dreiundachtzig groß und sehr mager. Sein scharf geschnittenes, spitzes Gesicht hätte als Vorlage für Wile E. Coyotes Gesicht in den ›Roadrunner‹-Cartoons dienen können. Sam sah genauso hungrig und verzweifelt aus, aber seinen tiefbraunen und eng zusammenstehenden Augen fehlte Wile E.s nie erlöschender Hoffnungsglanz. Sein glänzendes schwarzes Haar stand unordentlich und buschig um den Kopf, fast schon ein Afro.