Welten wie Sand - Philip José Farmer - E-Book

Welten wie Sand E-Book

Philip José Farmer

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Beschreibung

Planet der Fallen

Robert Wolff, ehemals Universitätsdozent, geriet einst durch ein Portal in die Welt der tausend Ebenen. Inzwischen gehört er selbst zu den Halbgöttern, die diese Parallelwelten beherrschen. Doch die Lords sind dekadent geworden und verstehen die Technologien, mit denen sie schier Unglaubliches erschaffen, nicht mehr. Eines Tages wird Wolffs Geliebte Chryseis von seinem Vater entführt. Wenn er sie wiedersehen will, muss er sich durch eine künstliche Welt kämpfen, die nur zu einem einzigen Zweck erschaffen wurde: ihn zu töten …

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PHILIP JOSÉ FARMER

 

 

 

WELTEN WIE SAND

 

Die Welt der tausend Ebenen Band 2

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe
 
Gates of Creation
 
Aus dem Amerikanischen von Martin Baresch
 
 
Überarbeitete NeuausgabeCopyright © 1966 by Philip José FarmerCopyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Das Illustrat, MünchenSatz: Winfried Brand
 
ISBN 978-3-641-20266-8V003
www.penguinrandomhouse.de

 

Das Buch

Der Autor

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

 

Das Buch

Robert Wolff, ehemals Universitätsdozent, geriet einst durch ein Portal in die Welt der tausend Ebenen. Inzwischen gehört er selbst zu den Halbgöttern, die diese Parallelwelten beherrschen. Doch die Lords sind dekadent geworden und verstehen die Technologien, mit denen sie schier Unglaubliches erschaffen, nicht mehr. Eines Tages wird Wolffs Geliebte Chryseis von seinem Vater entführt. Wenn er sie wiedersehen will, muss er sich durch eine künstliche Welt kämpfen, die nur zu einem einzigen Zweck erschaffen wurde: ihn zu töten …

 

 

 

 

Der Autor

Philip José Farmer wurde am 26. Januar 1918 in North Terre Haute, Indiana, geboren. Die Familie siedelte nach Illinois über, wo Philips Vater einen kleinen Betrieb hatte. Als dieser Mitte der 1930er Jahre pleiteging, musste Philip sein Collegestudium abbrechen und seine Familie mit allerhand Jobs finanziell unterstützen. Er studierte später neben dem Beruf und machte 1950 seinen Bachelor of Arts in Englisch. Danach arbeitete er als technischer Journalist für verschiedene Unternehmen, ehe er 1952 mit seiner Erzählung »Die Liebenden« schlagartig berühmt wurde. Die Story, die mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, war zuvor von renommierten SF-Magazinen abgelehnt worden, weil sie von einer sexuellen Beziehung zwischen einem Menschen und einem Alien handelt, was im prüden Amerika der 1950er Jahre für einen Skandal sorgte. Mit Romanen wie »Fleisch« festigte Farmer sein Image als Tabubrecher; Reihen wie der Flusswelt-Zyklus, für die er seinen zweiten Hugo Award gewann, oder die »Welt der tausend Ebenen«-Saga befassen sich mit neomythologischen Themen. Philip José Farmer starb am 25. Februar 2009 in seinem Heim in Peoria, Illinois.

 

Eine Übersicht aller im Heyne Verlag lieferbaren Romane von Philip José Farmer finden Sie am Ende des Buches.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

Erstes Kapitel

 

Vor Tausenden von Jahren hatten die Herren der Dimensionen und Welten, die sich selbst als »Herren« oder »Lords« bezeichneten, unter Zuhilfenahme von Drogen, Elektronik, Hypnose und Psychotechniken versucht, ohne Schlaf auszukommen. Ihre Körper blieben tagelang, nächtelang, monatelang frisch und kräftig, ihre Augen ungetrübt. Aber ihr Geist nahm Schaden. Halluzinationen, grenzenloser Zorn und eine übermäßige Untergangsstimmung bemächtigte sich ihrer. Einige hielten dieser psychischen Dauerbelastung nicht stand. Sie verfielen dem Wahnsinn – und wurden getötet oder eingesperrt.

Und in jener Zeit erkannten die Lords, dass auch sie, die sie Schöpfer von Universen und Beherrscher einer Wissenschaft waren, die sie nur eine Stufe tiefer stellte als die Götter selbst, träumen mussten. Das Unterbewusstsein, dem man die Kommunikation mit dem Bewusstsein versagt hatte, revoltierte. Und die schlimmste Waffe des Unterbewusstseins war jener Wahnsinn, der die Säulen der Vernunft zum Einsturz brachte …

Fortan akzeptierten die Lords die Notwendigkeit des Schlafens. Und sie träumten …

Robert Wolff, der einst Jadawin hieß und der Herr des Planeten der vielen Ebenen – eine Welt, die in ihrer Konstruktion an den Turm von Babylon erinnerte – war, träumte. Und in seinem Traum sah er einen sechszackigen Stern … Wie von Geisterhand bewegt, war dieser Stern durch das Fenster in sein Schlafgemach geschwebt. Nun stand er – leicht kreisend – über dem Fußende seines Bettes. Sein Zentrum war weißglühend, und jede Facette sandte einen Strahl aus – einer scharlachrot, einer orangefarben, einer azurblau, einer purpurrot, einer schwarz und einer gelb. Der Stern war eines der alten Symbole jener Religion, an die die Herren nicht mehr glaubten, ein Pandoogaluz. Ein Hexaculum.

Jetzt pulsierte es wie das Herz der Sonne … Die Strahlen schienen intensiver zu werden. Sie zitterten über sein Gesicht, über seine Lider, und diese Berührung war sanft und doch bestimmt – wie die spielerische Berührung durch die Pfote einer Hauskatze, die ihre Klauen eingezogen hat.

»Was willst du?«, fragte Wolff, und er wusste, dass er träumte. Das Hexaculum stellte eine Gefahr dar. Selbst jene Schatten, die sich zwischen den Strahlen manifestiert hatten, waren böse. Und Wolff wusste, dass das Hexaculum von seinem Vater ausgesandt worden war. Von Urizen, den er seit zweitausend Jahren nicht mehr gesehen hatte.

»Jadawin!«

Keine Stimme hatte seinen Namen ausgesprochen. Die Strahlen des sechszackigen Sternes hatten sich gebogen und gewunden, geschmeidig wie Feuerschlangen. Sie hatten Buchstaben gebildet, Buchstaben des alten Alphabets, der ursprünglichen Schrift der Herren. Wolff sah die leuchtenden Schriftzeichen deutlich – und doch verstand er sie nicht so sehr durch das Sehen … Da war eine Stimme, welche tief in seinem Innern sprach. Ja, es schien, als reichten die Farben bis ins Zentrum seines Verstandes – um dort eine längst erstorbene Stimme zu erwecken. Die Stimme war tief, so tief, dass sie sein innerstes Selbst erschütterte, herumwirbelte und drohte, es zu Alptraumgebilden zu verformen … Alptraumgebilde, die ihre schreckliche Gestalt für immer beibehalten würden …

»Erwache, Jadawin!«, grollte die Stimme seines Vaters.

Und bei diesen Worten wusste Wolff, dass dieses strahlende, blitzende Hexaculum nicht nur in seinem Geist existierte. Es war Realität!

Wolff öffnete seine Lider und starrte hinauf zur gewölbten Decke, die in einem weichen, pulsierenden Licht von innen heraus leuchtete – rot, schwarz, gelb und grün. Er streckte seine linke Hand aus, wollte Chryseis, seine Frau, leicht berühren. Aber sie lag nicht neben ihm.

Abrupt setzte er sich auf und sah sich um. Er war allein im Schlafgemach! Wo war Chryseis?

»Chryseis!«, rief er.

Dann erblickte er das glitzernde, pulsierende, sechsstrahlige Etwas. Es war ein Stern, der in knapp zwei Metern Höhe über seinem Bett hing. Die Stimme seines Vaters erklang – und sie kam direkt aus dem Stern!

»Jadawin, mein Sohn und mein Feind! Suche nicht nach jenem niederen Wesen, das du dadurch geehrt hast, indem du es zu deiner Gefährtin machtest. Es ist verschwunden – und es wird nicht zurückkehren …«

Wolff warf die leichte Decke beiseite und glitt aus dem Bett. Seine Gedanken überstürzten sich. Wie war dieses Ding in seinen vermeintlich uneinnehmbaren Palast gelangt? Lange bevor es das im Zentrum gelegene Schlafgemach erreichte, hätte der Alarm ihn, Wolff, wecken müssen! Die massiven Portale des riesigen Bauwerkes hätten sich schließen, Laserbarrieren aktiviert und mehr als hundert weitere tödliche Fallen gestellt sein müssen. Das Hexaculum dürfte normalerweise nicht mehr existieren!

Und doch – nichts war geschehen. Die gegenüberliegende große Wand – für den oberflächlichen Betrachter schien sie lediglich aus verschnörkelter Dekoration zu bestehen, in Wirklichkeit aber war dies die Alarm- und Kontrolldiagrammtafel des Palastes – schimmerte ruhig. Kein Lichtalarm, nichts! Im Umkreis von Millionen Kilometern schien sich kein ungebetener Gast aufzuhalten.

Die Summe seines Vaters Urizen lachte und höhnte: »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, den höchsten aller Herren mit deinen kümmerlichen Waffensystemen aufhalten zu können? Oder etwa doch? Jadawin – ich könnte dich jetzt, da du bleich und zitternd und schweißüberströmt vor mir stehst und mich anstarrst, töten …«

»Wo ist Chryseis?«, stieß Wolff hervor, ohne auf die Worte seines Vaters einzugehen.

»Chryseis …«, echote die Stimme Urizens. »Chryseis ist nicht mehr in deinem prächtigen Palast, mein Sohn. Sie wurde – weil sie in deinem Bett, in deinem Universum nicht mehr sicher war, so mühelos und so leise geraubt, wie ein geschickter Dieb ein Juwel raubt.«

»Was willst du damit erreichen, Vater?«, fragte Wolff.

»Ich will, dass du versuchst, deine Chryseis zurückzubekommen. Ich will, dass du ihr folgst …«

Wolffs Muskeln spannten sich. Er warf sich vorwärts, direkt auf den sechszackigen Stern zu! In diesem Augenblick war jegliche Vernunft und Vorsicht, die ihm gesagt hätten, dass dieser impulsive Angriff lebensgefährlich sein könnte, beiseite gewischt … Wolffs Hände griffen zu … Aber sie trafen nicht auf Materie. Genau in jenem Moment, in dem er den Raum berührte, den das sternförmige Vieleck beansprucht hatte, verschwand es.

Konnte es sein, dass das Hexaculum nicht wirklich vorhanden gewesen war? Möglicherweise hatte es sich nur um eine Projektion gehandelt. Um eine Art Trugbild, das – wie auch immer – in ihm selbst erzeugt worden war …

Aber das glaubte er nicht. Der Stern konnte nur eine Kombination von Energiefeldern gewesen sein – Felder, die vorübergehend zusammengehalten und von irgendwoher übertragen worden waren. Der Projektor konnte sich im Nachbaruniversum befinden – oder eine Million Universen entfernt, wenn man hier überhaupt von Entfernung sprechen durfte. Fest stand nur, dass der Standort des Projektors keine Rolle spielte bei diesem Spiel … Und – dass es Urizen gelungen war, die Mauern seiner, Wolffs, Welt zu durchdringen und Chryseis zu entführen.

Wolff erwartete nicht, dass sich sein Vater noch einmal zu Wort meldete. Da Urizen mit keinem Wort angedeutet hatte, wohin er Chryseis verschleppt hatte, war seine Chance, sie zu finden, mikroskopisch klein. Und doch wusste Wolff, was er zu tun hatte. Es musste ihm – wie, das war gleichgültig! – gelingen, den verborgenen, in sich geschlossenen Kosmos seines Vaters ausfindig zu machen. Und dann … Dann musste er jenes Tor finden, das ihm Zugang zu dem betreffenden Taschenuniversum verschaffte. Er musste in jenem Moment, in dem er durch das Tor schritt, die Fallen, die Urizen ihm zweifellos gestellt hatte, entdecken und meiden. Und wenn ihm dies alles gelang – die Wahrscheinlichkeit war äußerst gering –, dann hieß es, an Urizen heranzukommen, ihn zu töten. Nur so konnte er Chryseis retten.

Dies war das viele Jahrtausende alte Muster des Spieles, das die Herren der Universen gegeneinander spielten. Wolff selbst hatte als Jadawin, siebenter Sohn Urizens, zehntausend Jahre des tödlichen Vergnügens überlebt. Aber dieses Überleben war doch nur möglich gewesen, weil er sich damit zufriedengab, in seinem eigenen Universum zu bleiben. Anders als viele andere Herren war er der Welt, die er erschaffen hatte, nicht überdrüssig geworden. Er hatte sie genossen – obgleich es ein grausames Genießen war, wie er jetzt eingestehen musste. Er hatte nicht nur die Eingeborenen dieser Welt für seine eigenen Zwecke ausgenutzt und benutzt – er hatte auch Fallen ausgelegt, die mehr als einem Eindringling – darunter seinen eigenen Brüdern und Schwestern – zum Verhängnis geworden waren. Die Gefangenen waren auf langsame und schreckliche Art gestorben.

Wolff bereute, was er den Bewohnern seines Planeten angetan hatte, aber gleichzeitig fühlte er sich schuldlos am Tod jener, die waren wie er. Sie hatten die Risiken gekannt, die ihrer harrten, wenn sie in sein Universum eindrangen … Und wäre es ihnen gelungen, die Verteidigungssysteme seines Palastes zu überwinden und ihn, Wolff, zu überwältigen – so hätten sie ihm eine wahrlich schmerzensreiche Zeit bereitet, bevor ihm der Tod geschenkt worden wäre.

Einmal gelang es Vannax, in dieses Universum einzubrechen … Wolff erinnerte sich nur zu gut. Vannax hatte ihn angegriffen – und es tatsächlich geschafft, ihn in das irdische Universum zu schleudern. Doch der Angreifer hatte einen hohen Preis bezahlen müssen – er war von ihm, Wolff, in dieses andere Universum mitgerissen worden. In der Zwischenzeit war der an dieser Auseinandersetzung unbeteiligte Arwoor in das nun herrenlose Universum eingezogen und hatte von der Welt der Ebenen Besitz ergriffen.

Er selbst, Wolff, hatte einen Schock erlitten. Er hatte sein Gedächtnis verloren. Die Tatsache, dass er waffenlos und unvorbereitet in ein fremdes Universum geschleudert worden war und dass es für ihn keine Möglichkeit gab, wieder in seine eigene Welt zurückzukehren, hatte sein Bewusstsein überfordert. Der Halbgott Jadawin war am Ende gewesen … Leere hatte sich in ihm ausgebreitet. Eine Tabula rasa.

Von einem Mann namens Wolff – er besaß in Kentucky eine kleine Farm – wurde er in der Wildnis gefunden und schließlich, nachdem jeglicher Versuch, seine wirkliche Identität festzustellen, gescheitert war, adoptiert. Der Alte gab ihm den Namen Robert Wolff, und er ließ ihn verschiedene Schulen besuchen. Er lernte schnell. In erstaunlich kurzer Zeit brachte er Grundschule und College hinter sich – und schließlich begann er zu studieren. Er promovierte zum Doktor der Philosophie und lehrte an verschiedenen Universitäten des Ostens und des Mittelwestens. Erst im Alter von sechzig Jahren (auf dem Planeten Erde war er – obgleich in seinem eigenen Universum, auf seiner eigenen Welt, unsterblich und ewig jung – gealtert!) bekam er seine Chance … Er sollte herausfinden, was vor jenem Tag geschehen war, als er jenen Hügel in der Wildnis Kentuckys hinabstolperte – und seine wahre Identität erkennen.

Lange Jahre hindurch hatte er Latein, Griechisch und Hebräisch gelehrt. Nun wollte er sich in der Nähe von Phoenix, Arizona, zur Ruhe setzen und ein Haus der Hohokam-Wohnanlage kaufen. Und dort, in diesem Neubau – noch während der Besichtigung – begann das Abenteuer. Ein »Tor« hatte sich aufgetan – und ihn in jenes Universum zurückgeführt, das er erschaffen und zehntausend Jahre lang regiert hatte.

Auf der untersten Ebene des Säulenplaneten, dieses erdgroßen Babylonischen Turmes, war er Chryseis begegnet und hatte sich in sie verliebt. Damals war seine Erinnerung noch nicht vollständig zurückgekehrt. Er hatte anfangs nicht gewusst, dass er der Herr dieser Welt war – und sie eine seiner Halbschöpfungen. Denn trat er, nachdem Arwoor besiegt war, erneut die Herrschaft über sein Universum an. Aber er war nicht mehr derselbe, der er einst gewesen war. Er hatte sich verändert. Er war menschlich geworden …{1}

Chryseis’ Verlust schmerzte ihn – und dieser Schmerz und die Angst vor dem, was ihr zustoßen könnte, ließen ihn weinen. Und seine Tränen waren ein Beweis seiner Menschlichkeit. Keiner der Herren vergoss um ein anderes Lebewesen Tränen – obwohl man erzählte, dass Urizen vor Freude geweint habe, als er vor einigen tausend Jahren zwei seiner Söhne erledigt hatte.

Wolff gab sich einen Ruck. Er durfte nicht noch mehr Zeit verschwenden. Er machte sich daran zu tun, was getan werden musste. Zuerst musste er dafür sorgen, dass der Palast während seiner Abwesenheit besetzt war. Er wollte bei seiner Rückkehr keine unliebsamen Überraschungen erleben. Die Möglichkeit, dass sich ein fremder Herr hier einnistete, bestand jederzeit. Und ein herrenloser Palast, eine herrenlose Welt stellte eine riesige Verlockung dar. Nur einen Mann gab es, der in der Lage war, in seine Fußstapfen zu treten – und dem er vertrauen konnte. Dieser Mann war Paul Janus Finnegan, der auf der Erde, in Terre Haute/Indiana, geboren wurde – und den man Kickaha nannte.

Kickaha war es gewesen, der ihm das Silberhorn gegeben hatte. Und mit Hilfe dieses Silberhorns war es ihm gelungen, in seine Welt zurückzukehren. Und Kickaha hatte Seite an Seite mit ihm gegen Arwoor gekämpft. Dank seiner unersetzlichen Hilfe hatte er es geschafft, seine eigene Herrschaft über dieses Universum zurückzugewinnen …

Das Silberhorn!

Musste er damit nicht in der Lage sein, Urizens Welt aufzuspüren und das Tor zu dieser Welt zu finden? Seine Schritte hallten auf dem Chrysopras-Boden, als Wolff zur Wand hinübereilte. Eines der gigantischen Adlerweibchen des Planeten der vielen Ebenen war hier dreidimensional wiedergegeben. Wolff berührte einen unsichtbaren Sensorpunkt. Lautlos schwang ein Teil der Wand beiseite und gab den Blick auf eine Nische frei. Das Horn war verschwunden! Also hatte Urizen nicht nur Chryseis, sondern auch das alte Silberhorn von Shambarimen geraubt!

Sei es drum. Er war fest entschlossen, dem – zugegeben – wertvollen Horn nicht nachzutrauern. Dieses Horn war, irgendwann, zu ersetzen. Chryseis jedoch …

Wolff eilte durch die Korridore und Hallen des Palastes, und überall stellte er erneut fest, was er bereits wusste: Kein einziges Alarmsystem hatte angesprochen. Alles ruhte, war still und friedlich, gerade so, als sei dies lediglich ein weiterer Tag in der Reihe der glücklichen, unbeschwerten Tage, die verstrichen waren, seit er zurückgekehrt war. Unwillkürlich fröstelte Wolff. Ein eiskalter Schauer kroch über seinen Rücken.

Immer schon hatte er seinen Vater gefürchtet. Jetzt, da er unmittelbar Zeuge der scheinbar unermesslichen Macht Urizens geworden war, fürchtete er ihn um so mehr. Dennoch würde er ihm folgen. Er würde ihn aufspüren und ihn töten. Und vielleicht würde er bei dem Versuch, dies zu tun, sterben …

In einem der gigantischen Kontrollzentren setzte er sich vor ein Steuerpult und aktivierte die Bildschirme. Annähernd zehntausend Video-Optiken existierten – als Felsen oder Bäume getarnt – auf jeder der vier unteren Weltenebenen, und sie übermittelten nun automatisch und in rascher Folge Bilder aller strategisch wichtigen Orte.

Zwei Stunden lang saß Wolff vor den Bildschirmen, auf denen sich die Bilder jagten. Keine Spur von Kickaha! Und mit jeder Sekunde, die ergebnislos verstrich, wurde Wolff nervöser. Er wusste, dass es mehrere Tage dauern konnte, bis er eine erste Fährte Kickahas gefunden hatte … So lange konnte und wollte er nicht warten. Er gab das Psychomuster Kickahas ein und verließ das Steuerpult. Wenn Kickaha jetzt von einer der Optiken erfasst wurde, hielt der Bildschirm die entsprechende Szene fest. Ein Signal würde ihn, Wolff, vom Erfolg der Suche unterrichten.

Er aktivierte zehn weitere Steuerpulte. Die Systeme nahmen ihre Tätigkeit umgehend auf. Hypersensible Strahlen tasteten den Kosmos der Paralleluniversen ab, registrierten jene Universen, die bereits seit Ewigkeiten existierten – und ermittelten neugebildete. Eintausendundacht Universen waren bekannt und in seinen nunmehr siebzig Jahre alten Aufzeichnungen registriert. An den Universen, die in der Zwischenzeit neu erschaffen worden waren, war Wolff interessiert.

Urizen lebte nicht mehr in seinem ursprünglichen Universum Gardazrintah, wo Wolff mit vielen Brüdern, Schwestern, Vettern und Kusinen aufgewachsen war. Urizen, der ganzer Welten so schnell müde und überdrüssig wurde, wie ein verzogenes Kind sich mit neuem Spielzeug langweilte, hatte Gardazrintah verlassen. Und er war seitdem dreimal »umgezogen«. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nun in einem vierten neuen Universum niedergelassen hatte, war groß. Nun, die Chance, dieses Universum zu finden, war, wenn sie auch nicht überwältigend groß erschien, zumindest gegeben.

War ein Universum völlig abgeschlossen, so blieb es unauffindbar. Abgesehen davon konnte es lediglich durch die unverwechselbare, von jedem Tor ausgestrahlte Frequenz aufgespürt werden. Wenn ihm Urizen die Suche erschweren wollte, dann aktivierte er ein Tor, das sich in regelmäßigen oder auch willkürlichen Abständen öffnete. Und wenn sich dieses Tor nicht gerade in jenem Augenblick auftat, in dem der Suchstrahl den entsprechenden Parallelkorridor abtastete, würde es niemals aufgespürt werden. Blieb das Tor geschlossen, so war es für den Strahl einfach nicht existent.

Wie auch immer – es gab eine Hoffnung. Urizen wollte, dass er ihm folgte. Also würde er ihm die Verfolgung nicht allzu schwer – oder gar unmöglich – machen.

Ein Talos, ein halborganischer Robot, der an einen Ritter in voller Rüstung erinnerte, servierte Wolff ein leichtes Frühstück. Wolff aß hastig. Dann rasierte er sich und duschte in einem Raum, der aus einem einzigen Smaragd geschnitten worden war. Nachdem er sich erfrischt hatte, kleidete er sich an. Er trug Kordsamtschuhe, eine engsitzende Kordsamthose, ein kurzärmeliges Kordsamthemd, welches am Hals geöffnet und dessen Kragen oben einwärts geschwungen war, sowie einen breiten Gürtel aus Mammutleder. Über seiner Brust ruhte ein rotes Jadebildnis, das an einer goldenen Kette befestigt war. Shambarimen, der große Künstler und Kunsthandwerker der Herren, hatte es ihm gegeben, als er noch ein zehnjähriger Junge gewesen war. Das sanfte Rot der Jade war der einzige hellere Farbton seiner Kleidung. Hose, Hemd sowie Schuhe waren von dunklem Braun. Wenn er sich im Palast aufhielt, kleidete er sich einfach – oder überhaupt nicht. Und lediglich, wenn er zu Staatszeremonien zu den unteren Ebenen hinunterstieg, hüllte er sich in die großartigen Roben und trug den reichgeschmückten Hut eines Herrn. Bei der Mehrzahl seiner Besuche auf den unteren Ebenen kam er ohne Prunk, ohne Aufsehen, gekleidet oder nicht gekleidet wie die Eingeborenen – und unter fremdem Namen. Und niemand erkannte ihn …

Wolff verließ den Palast. Er ging hinaus in einen der vielen hundert wie Balkons angelegten Gärten. Ein Auge – so wurden die Raben, die so groß waren wie Weißkopfadler, genannt – hatte sich auf einem Baum niedergelassen. Dieses Tier war eines der wenigen, die den Sturm auf den Palast und Arwoors Sturz überlebt hatten. Nach Arwoors Ende hatten die Raben – da sie stets dem jeweiligen Beherrscher dieser Welt dienten – ihre Loyalität auf Wolff übertragen.

Wolff befahl dem Raben, auszufliegen und nach Kickaha zu suchen. Er würde seine Gefährten und auch Podarges Adler davon benachrichtigen, dass dieser Mann auf der Stelle zum Palast zu führen sei. War Wolff nicht anwesend, sollte Kickaha als Herr auf Zeit regieren. Sollte er nach angemessener Zeit noch immer nicht zurück sein, stand es Kickaha frei zu tun, was er wollte. Der Rabe erhob sich in die Lüfte, glücklich darüber, dass er einen Auftrag auszuführen hatte.

Wolff wandte sich ab und kehrte in das Kontrollzentrum des Palastes zurück. Noch immer forschten die Optiken erfolglos nach Kickaha. Die Taststrahlen jedoch, die nur Mikrosekunden benötigten, um auszuschweifen, zu forschen und zu identifizieren, hatten Ergebnisse erbracht. Während Wolff den Papierstreifen aufnahm, auf dem in den klassischen Schriftzeichen der alten Sprache die entsprechenden Informationen ausgedruckt worden waren, ließ er die Taster weiterhin aktiviert. Möglicherweise hatte der Strahl Tore, die bisher geschlossen gewesen waren, noch nicht wahrgenommen und erfasst.

Fünfunddreißig neue Universen waren erschaffen worden. Und lediglich eines dieser Universen wies nur ein einziges Tor auf.

Wolff legte ein Spektralbild dieses Tores auf einen der wandgroßen Monitore. Ein sechszackiger Stern, dessen Mitte rotglühend war … Rot für – Gefahr!

Dieser Hinweis war so eindeutig, als hätte Urizen selbst ihm gesagt, wohin er sich zurückzuziehen gedachte. Dort ist das Tor … Verfolge mich! Versuche, mich zu erledigen – wenn du es wagst.

Wolff stellte sich das Gesicht seines Vaters vor. Die hübschen Gesichtszüge eines Falken mit Augen, die wie feuchte, schwarze Diamanten schimmerten. Die Herren alterten nicht. Physiologisch verharrten ihre Körper im Griff der ersten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens. Aber Gefühle waren stärker als selbst die Wissenschaft der Herren. Gemeinsam mit ihrer Verbündeten, der Zeit, fraßen sie sich in den Fels des Fleisches.

Als er seinen Vater zuletzt gesehen hatte, waren die Furchen des Hasses tief in sein Gesicht eingegraben gewesen. Gott allein mochte wissen, wie tief diese Furchen heute sein mochten. Tief, sehr tief wahrscheinlich – denn sicherlich hatte Urizen niemals aufgehört zu hassen.

Urizen war sein Feind – schon immer war er dies gewesen. Als Jadawin war er sich dieser schwelenden Feindschaft immer bewusst gewesen, und doch hatte er niemals – wie so viele seiner Brüder und Schwestern – versucht, ihn zu töten. Er hatte einfach nichts mit ihm zu schaffen haben wollen. Jetzt hatte Urizen die unschuldige Chryseis in das tödliche Spiel einbezogen. Er hatte ihn herausgefordert. Und Wolffs Geduld war am Ende. Jetzt wollte er Urizen töten …

Aufbau und Manifestation eines Tores, das dem Frequenzbild des Hexaculum-Eingangs zu Urizens Welt entsprach, wurden automatisch vorgenommen. Zweiundzwanzig Stunden benötigten die technischen Systeme des Kontrollzentrums für diese Aufgabe. Und als das Tor »stand«, waren sämtliche Optiken des Planeten abgefragt. Kickaha hatte nicht gefunden werden können. Das musste nicht unbedingt bedeuten, dass sich der unstete Bursche nicht auf diesem Planeten aufhielt. Möglicherweise war er einfach außerhalb des Sichtbereichs der Optiken – oder an einem von hunderttausend möglichen oder unmöglichen Orten. Die Welt der Ebenen hatte eine größere Landfläche als die Erde, und die Optiken deckten lediglich einen winzigen Teil hiervon ab. Es konnte lange dauern, bis Kickaha bildlich erfasst wurde.

Das Hexaculum war betriebsbereit, und Wolff beschloss, keine Zeit zu verschwenden. Er nahm ein leichtes Essen zu sich und trank Wasser, denn er wusste nicht, wie lange er ohne Essen und Trinken auskommen musste, wenn er durch das Tor getreten war. Dann bewaffnete er sich. Den Laser und den Dolch befestigte er an seinem Gürtel, den Bogen sowie den mit Pfeilen gefüllten Köcher streifte er über seine Schulter. Diese Waffen waren – das wusste er nur zu gut – primitiv im Vergleich zu den hochtechnisierten Todesbringern, denen er entgegentreten wollte. Eine der ironischen Komponenten der Technologie der Herren der Universen war es jedoch, dass gerade solche primitiven Waffen in gewissen Szenerien wirksam waren.

Aber Wolff erwartete eigentlich nicht, seine Waffen einsetzen zu können. Viel zu gut kannte er die Vielzahl von Fallen, deren sich die Herren bedienen konnten, um sich und ihre Welt zu schützen.

Wolff riss sich von diesen Gedanken los. »Und jetzt«, sagte er, »muss es getan werden. Es hat keinen Sinn, länger zu warten.«

Dort war das Hexaculum. Ein flammender, sechszackiger Stern – das Tor zu Urizens Welt. Wolff gab sich einen Ruck und schritt durch das Tor. Die Umgebung veränderte sich …

Wind pfiff und zerrte an seinem Körper. Finsternis umgab ihn. Einen schwindelerregend kurzen Augenblick glaubte er, riesige Hände zu fühlen, die nach ihm griffen. Und dann …

Er stand auf grasbewachsenem Boden. Nicht weit entfernt wucherten großblättrige Farne. Ein Ozean erstreckte sich in sanftem Blau bis zum Horizont. Roter Himmel wölbte sich über ihm. Keine Sonne stand an diesem Firmament – und doch kam Licht aus allen vier Himmelsrichtungen. Wolff registrierte dieses Phänomen, ohne nach einer möglichen Antwort zu suchen. Im gleichen Sekundenbruchteil stellte er fest, dass er nach wie vor seine Kleidung trug und auch seine Waffen ihm nicht abhanden gekommen waren. Aber hatte er, als er durch das Tor geschritten war, nicht real gefühlt, wie sie ihm weggerissen wurden? War dies nur Einbildung gewesen? Wahrscheinlich.

Und noch etwas stellte er fest: Er war nicht im Innern von Urizens Festung materialisiert. Oder etwa doch? Wenn dies seine Festung war, dann war es zweifellos der wohl ungewöhnlichste Wohnsitz eines Weltenbeherrschers, den er je gesehen hatte.

Wolff wandte sich um und wollte nach dem Hexaculum sehen, welches ihn hierher befördert hatte. Das Tor war verschwunden, schien niemals existiert zu haben. Stattdessen erhob sich auf einem breiten, flachen Felsen ein großes, weites Sechseck aus einem rötlich schimmernden Metall. Und Wolff erinnerte sich plötzlich daran, dass irgendetwas ihn aus dem Schlund dieses Metallsechsecks gestoßen hatte. Dass er mehrere Schritte hatte machen müssen, um die Wucht des Stoßes auszugleichen, um nicht zu fallen.

Urizen hatte ein anderes Hexaculum-Tor geschaffen. Und er hatte es fertiggebracht, ihn, Wolff, umzuleiten. Und jetzt war er hier – wo immer dieses Hier auch sein mochte. Warum hatte Urizen sich damit begnügt, ihn umzuleiten? Warum hatte er ihn nicht in einer tödlichen Falle festgesetzt? Oder – war diese Umgebung tödlich? Wenn dem so war, so würde er es früh genug erfahren.

Wolff wusste, was geschehen würde, wenn er versuchte, das Tor, das ihn hierhergebracht hatte, in umgekehrter Richtung zu durchschreiten. Da er ein Mann war, der die Dinge nicht einfach als gegeben und unabänderlich hinnahm, versuchte er es trotzdem. Er stieg auf den Felsen und näherte sich dem Sechseck … Ungehindert ging er hindurch und – nichts. Er stand auf der anderen Seite des Sechsecks.

Flucht war also ausgeschlossen. Es war ein Tor, das lediglich in einer Richtung begehbar war … Eine Einbahnstraße zwischen den Dimensionen. Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet.

In diesem Augenblick hüstelte jemand, der direkt hinter ihm stehen musste. Mit schussbereitem Laser wirbelte Wolff herum.

Zweites Kapitel

 

Abrupt brach das Land zum Meer hin ab; es gab keinen Strand, der die Macht der Brandung besänftigte. Und dort unten war ein Tier aus dem Wasser aufgetaucht … Nur noch ein paar Meter trennten es von Wolff. Behäbig und doch auf seine Art geschmeidig kam das Etwas herangewatschelt. Die säulenartigen Gehwerkzeuge knickten immer wieder ein, als gäbe es keine Knochen, die stützend wirkten. Der Leib des Wesens war humanoid, von einer dicken Fettschicht eingehüllt, und der Bauch wölbte sich vor wie der einer Weihnachtsgans. Auf dem langen, biegsamen Hals ruhte ein menschlicher Schädel. Die Nase war flach und hatte große, ovale Löcher. Schlangenleibähnliche Ranken aus rotem Fleisch wucherten rund um das Maul. Die Augen waren riesengroß und moosgrün. Ohren schien das Wesen nicht zu haben – zumindest waren sie nicht sichtbar. Ein dunkelblaues, ölig glänzendes Fell bedeckte Schädel, Gesicht und Körper.

»Jadawin!«, krächzte die Kreatur. Und sie bediente sich der alten Sprache der Herren! »Jadawin! Töte mich nicht! Erkennst du mich denn nicht?«

Wolff war erschrocken, aber dieses Erschrecken hielt sich in Grenzen. Vielleicht versuchte dieses Etwas, ihn abzulenken! Er sicherte nach allen Seiten – aber es schien keine Gefahr zu drohen. In diesem Augenblick wenigstens nicht.

»Jadawin! Erkennst du denn deinen eigenen Bruder nicht?«

Wolff hielt den Atem an. Dann schüttelte er langsam, bedächtig den Kopf.

»Nein, ich … ich erkenne dich nicht«, erwiderte er ehrlich. Und er fragte sich, ob dieses … dieses Ding nicht nur ein böses Spiel mit ihm trieb. Zweifel keimten jedoch sogleich in ihm auf. Was, wenn es die Wahrheit sagte? Wenn es einer der Brüder war? Nun, dann blieb immer noch der Faktor Zeit. Wenn er dieses Wesen jemals Bruder genannt hatte, so musste dies Jahrtausende zurückliegen.

Diese Stimme … Wolff grub in den Lagen verstaubter Erinnerungen tiefer und tiefer – wie ein Hund nach einem alten, vor langer Zeit vergrabenen Knochen sucht. Aber …

Wieder schüttelte Wolff den Kopf. Und auch jetzt ließ er in seiner gespannten Wachsamkeit seine Umgebung keinen Sekundenbruchteil lang unbeachtet. »Wer bist du?«, fragte er schließlich.

Die Kreatur winselte, und dies verriet Wolff, dass sein Bruder – wenn er hier tatsächlich einen der Brüder vor sich hatte – bereits seit sehr, sehr langer Zeit in diesem Körper gefangen sein musste. Kein Lord, kein Angehöriger einer Rasse, die Welten und Universen schuf, winselte!

»Willst du mich verleugnen? Bist du wie die anderen? Wie jene, die nichts mit mir zu tun haben wollten? Oh … sie machten sich lustig über mich! Sie spien mich an. Und sie verjagten mich mit Fußtritten und höhnischem Gelächter. Sie sagten …« Mit einem verzweifelten Glucksen brach das Wesen ab, schlug die Schwimmflossen gegeneinander und wandte sein Gesicht ab. Tränen quollen aus den moosgrünen Augen, rannen über die fellbedeckten Wangen.

»O Jadawin, sei nicht so wie die anderen«, flehte die Kreatur eindringlich. »Du warst immer mein Lieblingsbruder … Sei du nicht so grausam wie sie …«

Die anderen, dachte Wolff. Also waren andere schon vor ihm hier auf dieser Welt gewesen, hatten sich wie er an diesem Ort materialisiert … Wie lange mochte das zurückliegen?

Noch während ihm dieser Gedanke durch das Hirn jagte, wandte er sich wieder an die Kreatur. »Albern wir nicht herum – wer immer du sein magst. Nenne deinen Namen!« Ungeduld schwang in Wolffs Stimme mit.

Die Kreatur erhob sich auf die knochenlosen Säulenbeine. Muskeln ließen das sie bedeckende Fell anschwellen, als es einen Schritt nach vorn tat. Wolff wich nicht zurück. Aber er war nach wie vor auf der Hut. Seinen Laser hielt er feuerbereit im Anschlag. »Du bist jetzt nahe genug herangekommen! Nenne deinen Namen!«

»Du bist so schlecht wie die anderen!«, keuchte das Wesen, immer noch weinend. Aber es blieb stehen. »Auch du denkst an niemanden als an dich selbst. Dich bewegt nicht, was mit mir geschehen ist, was mir angetan wurde! Rühren dich meine Leiden und Qualen und Agonien während all dieser Zeit – oh, dieser unermesslich langen Zeit – überhaupt nicht?«

»Vielleicht – wenn ich weiß, wer du bist«, antwortete Wolff hart. »Und es würde mich interessieren, was mit dir geschehen ist …«

»O Herr aller Herren!«, stieß das Wesen schrill hervor. »Mein eigener Bruder!«

Und mit diesen Worten setzte es erneut einen Fuß vor. Nässe quoll unter den Schwimmhäuten hervor. Eine der an Schwimmflossen erinnernden Hände hob sich in einer mitleiderregenden Geste, schien nach einer sanftmütigen Hand zu flehen. Dann hielt es inne, und der Blick seiner Augen huschte zu einer Stelle direkt neben Wolff.

Wolffs Reaktion erfolgte im Bruchteil einer Sekunde … Er warf sich nach links und wirbelte herum. Seine Hand, die den Laser hielt, ruckte hoch, deckte ihn sowohl gegen das Wesen, das vorgab, sein Bruder zu sein, und gegen jenen Gegner, den er hinter sich vermutet hatte. Aber niemand war hinter ihm!

Ein verdammter Trick! Sekundenlang hatte Wolff seine Aufmerksamkeit auf den vermeintlichen Gegner in seinem Rücken konzentriert – und dies nutzte die Seekreatur aus. Im gleichen Moment, als sich Wolff zur Seite warf, schnellte sie vorwärts.

Instinktiv fühlte er die Gefahr. Er konnte dem ungestümen Angriff des Wesens entgehen – beinahe. Wuchtig schmetterte die rechte Flosse gegen seinen linken Arm und seine Schulter. Dieser Schlag war gewaltig genug, um ihn benommen zur Seite taumeln zu lassen. Der Laser entfiel seiner plötzlich kraftlosen Hand.

Aber Wolff war kein leichter Gegner. Er war hart im Nehmen. Und er war stark. Seine Muskeln waren durch die Wissenschaft der Herren gestählt, seine Nervenimpulse doppelt so schnell wie normal. Wäre er ein normaler Erdenmensch gewesen – der Kampf wäre entschieden gewesen. Der erste Schlag der Kreatur hätte seinen Arm zerschmettert, und er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, dem zweiten Angriff zu entkommen.

Aber Wolff war kein Erdenmensch. Er war nicht kampfunfähig – noch nicht!

Die Seekreatur landete, vor Wut und Enttäuschung kreischend, an jener Stelle, an der Wolff eben noch gestanden hatte. Kraftvoll und geschmeidig duckte sie sich auf ihren Beinen nieder, als wären es Sprungfedern … Sie drehte sich, fixierte Wolffs neuen Standort und warf sich auf ihn. All dies geschah mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Die Kreatur schien einem viel zu schnell laufenden Film entsprungen zu sein … Ein real gewordener, gedankenschneller Alptraum!

Wolff gelang es, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Er wich der Kreatur aus. Nur wenige Schritte entfernt lag der Laser. Wolff warf sich nach vorn. Der Schatten des Ungetüms glitt über ihn hinweg, das Kreischen, das es ausstieß, war ohrenbetäubend laut. Direkt an seinem Ohr schien das Wesen den Schrei ausgestoßen zu haben … Dieser Eindruck haftete sekundenlang in Wolffs Geist fest – und dann schlossen sich seine Finger um den Griff des Lasers. Wolff überschlug sich mehrmals und kam geschmeidig auf die Füße. Der neuerliche Angriff ließ nicht auf sich warten. Dieses Mal war Wolff bereit.

Das Wesen war heran! Wolff sprang zur Seite, und gleichzeitig schmetterte er den leichten, aber praktisch unzerstörbaren Metallgriff des Lasers auf den Schädel des Gegners. Ein dumpfer Laut. Die Wucht des riesigen Körpers schleuderte ihn zurück. Wolff fiel, rollte sich aber gewandt über die Schulter ab. Breitbeinig und leicht wankend stand er und sah zu dem Seewesen hinüber. Bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten, lag es auf dem Grasboden. Blut quoll aus einer Schädelwunde.

Jemand klatschte Beifall. Wolff wandte sich um. Zwei menschliche Wesen – ein Mann und eine Frau – standen etwa dreißig Meter entfernt landeinwärts im Schatten eines Farnwedels. Die beiden trugen die prächtige Kleidung der Herren, und abgesehen von den Schwertern, die in Scheiden aus Rohleder oder Fischhaut an ihren Gürteln befestigt waren, schienen sie waffenlos zu sein.

Die beiden setzten sich in Bewegung und kamen rasch näher. Ungeachtet ihrer offenkundigen Harmlosigkeit ließ Wolff nicht von seiner Wachsamkeit ab. Jetzt hatten sie sich bis auf zwanzig Meter genähert.

»Stehenbleiben!«, befahl Wolff.

Die Seekreatur stöhnte und bewegte den Schädel, machte jedoch keinerlei Anstrengungen, sich aufzusetzen. Wolff brachte eine sichere Distanz zwischen sich und die Kreatur. Den Mann und die Frau ließ er nicht aus den Augen.

»Jadawin!«, rief die Frau mit einer wunderschönen, tiefen Altstimme, die sein Herz und seine Erinnerungen aufwühlte. Obwohl er sie seit fünfhundert Jahren – oder war es noch länger? – nicht gesehen hatte, erkannte er sie jetzt.

»Vala!«, flüsterte er. Dann, lauter: »Vala! Was … was machst du hier?« Die Frage war rein rhetorischer Art, denn Wolff konnte sich natürlich denken, dass auch sie von ihrem Vater überlistet worden war. Und jetzt erkannte er den Mann. Es war Rintrah, einer seiner Brüder. Vala, seine Schwester, und Rintrah, sein Bruder, waren ebenfalls in Urizens Falle gegangen!

Vala lächelte ihn an, und sein Herz schlug schmerzhaft hart gegen seine Brust. Von allen Frauen, die er kannte, war sie die schönste. Lediglich zwei Ausnahmen gab es: seine liebliche Frau Chryseis – und eine weitere Schwester, Anana, die Schöne. Deren Schönheit übertraf die Valas noch. Aber er hatte Anana nie so geliebt wie Vala – und er hatte sie nie so gehasst, wie er Vala gehasst hatte.

Wieder applaudierte Vala. »Gut gemacht, Jadawin«, meinte sie dann. »Nichts von deinem Können und keine deiner Fähigkeiten hast du eingebüßt. Dieses Wesen ist ebenso gefährlich, wie es abscheulich ist. Oh, es krümmt sich und winselt und versucht so, dein Vertrauen zu gewinnen. Und dann … Bevor du dich versiehst, sitzt es dir an der Kehle. Beinahe wäre es ihm gelungen, Rintrah umzubringen, als er hier materialisierte … Nun, ich habe dies verhindert. Ich habe es mit einem Felsbrocken bewusstlos geschlagen.« Sie lächelte leicht, gerade so, als plaudere sie über eine Nebensächlichkeit. »Du siehst also, Bruder Jadawin«, setzte sie dann, immer noch lächelnd, hinzu, »dass auch ich mich mit diesem Zeitgenossen befasst habe.«

»Und warum hast du diesen … Zeitgenossen verschont?«, setzte Wolff sogleich mit einer Frage nach. »Warum hast du ihn nicht getötet?«

Jetzt lächelte auch Rintrah. »Sag, erkennst du deinen eigenen kleinen Bruder nicht, Jadawin? Dieses Wesen dort – es ist dein geliebter, dein reizender kleiner Theotormon.«

»Mein Gott!«, keuchte Wolff. »Theotormon! Wer hat ihm das angetan?«

Weder Vala noch Rintrah antworteten. Und Wolff wusste, dass seine Frage nicht beantwortet werden musste. Dies war Urizens Welt. Nur Urizen konnte den Bruder derart … verformt haben.

In diesem Augenblick stöhnte Theotormon. Er setzte sich auf. Eine seiner Flossen hatte er auf die immer noch blutende Schädelwunde gelegt. Seinen monströsen Körper wiegte er vor und zurück. Er jammerte unentwegt. Dann richtete sich der Blick der grünen Augen auf Wolff, und sein Mund formte stumme Schmähworte und Beleidigungen, die er nicht laut auszusprechen wagte.

»Du willst mir doch nicht einreden, dass ihr sein Leben aus bloßen geschwisterlichen Gefühlen verschont habt? Ich denke, dass ich euch besser kenne …«, meinte Wolff voller Ironie.

Vala lachte amüsiert und antwortete an Rintrahs Stelle. »Natürlich war es nicht der von dir zitierten Gefühle wegen. Ich dachte mir, dass er uns später noch nützlich sein könnte … Er kennt diesen kleinen Planeten gut, da er ja schon so lange Zeit hier lebt.« Sie machte eine kleine Pause, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann fuhr sie fort: »Theotormon ist ein Feigling, Jadawin. Da er nicht den Mut hatte, sein Leben im Irrgarten Urizens zu erkämpfen, blieb er auf dieser Insel. Und er degenerierte, wurde so, wie die Eingeborenen dieser Insel sind.

Urizen, unser Vater, wurde es müde, darauf zu warten, dass er seine nicht vorhandene Männlichkeit unter Beweis stellte. Er fing ihn ein und brachte ihn in seine Festung Appirmatzum. Dort gab er dem Feigling Theotormon einen neuen Körper. Dort machte er dieses abscheuliche Seewesen aus ihm. Und selbst in seiner neuen Gestalt wagte er es nicht, durch die Tore in Urizens Palast zu gehen. Er zog es vor hierzubleiben und lebte fortan als Einsiedler. Er hasste und verabscheute sich, und sein Hass und seine Abscheu sind noch gewachsen. Jetzt hasst er nicht nur sich. Er hasst alle Lebewesen und vor allem jene, die wie einst er selbst der Rasse der Herren angehören.

Theotormon ernährt sich von den Früchten der Inseln, von Vögeln und Fischen und anderen Seetieren, die er zu fangen vermag. Er frisst sie roh, und wenn sich die Gelegenheit bietet, tötet er auch Eingeborene und verzehrt sie. Aber sie haben dieses Schicksal verdient, denn sie sind Söhne oder Töchter anderer Herren … Kretins und Feiglinge wie Theotormon. Sie durchlebten ihr erbärmliches Leben auf diesem Planeten, zeugten Kinder, zogen sie auf und starben. Auch sie sind Urizens schreckliches Werk. Wie Theotormon wurden sie in Appirmatzum verändert und schließlich in einem neuen, abscheulichen Körper wieder hierhergebracht. Vermutlich glaubte unser Vater, sie würden ihn dafür so sehr hassen, dass sie darüber ihre Feigheit vergäßen. Ja, vielleicht hoffte er sogar, dass sie versuchen würden, über die Planetenfallen nach Appirmatzum zu gelangen, um sich zu rächen. Aber allesamt waren sie zu feige. Selbst nach der Übelkeit erregenden Umwandlung zogen sie diese Art der Existenz einem heldenhaften Tod vor.«

»Ich sehe«, sagte Wolff, »dass ich noch eine Menge über dieses kleine Arrangement unseres Vaters lernen muss. Aber woher weiß ich, ob ich euch vertrauen kann?«

Vala lachte. »Alle, die in Urizens Fallen gegangen sind, leben auf dieser Insel. Luvah bereits seit einem halben Jahr, die anderen erst seit einigen Wochen.«

»Und – wer sind diese anderen?«

»Einige unserer Verwandten«, antwortete Vala. »Außer Rintrah und Luvah halten sich noch unsere Brüder Enion und Ariston hier auf. Und unsere Cousins Tharmas und Palamabron.« Sie unterbrach sich, lachte erneut und zeigte zu dem roten Himmel empor. »Alle, alle hat unser Vater überlistet! Alle sind, nach einer herzzerreißenden Trennung, die Jahrtausende dauerte, wieder zusammengekommen! Ein trautes Familientreffen, wie kein Sterblicher es sich je vorstellen kann.«

»Ich kann es mir vorstellen«, versetzte Wolff trocken. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Kann ich euch vertrauen?«

»Wir haben einen Pakt geschlossen«, erklärte Rintrah. »Alle, die wir auf dieser Insel gefangen sind, kamen überein, persönliche Feindschaften beizulegen und zusammenzuarbeiten. Nur gemeinsam wird es uns letzten Endes möglich sein, Urizen zu schlagen.«