Der Zornige: Werdung eines Terroristen - Ralph Ardnassak - E-Book

Der Zornige: Werdung eines Terroristen E-Book

Ralph Ardnassak

0,0
1,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Denn der Tod war etwas, dem niemand entging und im Sterben und im Tode wurden alle Menschen wieder gleich und die Gegensätze zwischen ihnen schwanden angesichts des Todes dahin, das hatte ich schließlich oft genug hier in der Klinik erlebt. Der Tod war der einzig wahre und wirkliche Gleichmacher, der über die Menschen damit kam, wie die große Französische Revolution, die mit ihrem Terror auch alle gleich gemacht hatte. Der Tod war der große Gleichmacher. Er war derjenige, der aus den verfeindeten und sich bekämpfenden und beneidenden Menschen am Ende doch endlich wieder Brüder machte, indem er sie alle dasselbe erleiden ließ und sie in sich wieder vereinte. Vor diesem Hintergrund war es vollkommen sinnlos, dem Tode durch Gier entrinnen zu wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 218

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ralph Ardnassak

Der Zornige: Werdung eines Terroristen

Drittes Buch: Die Entfesselung

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

Impressum neobooks

1

Entweder Schwein oder Mensch

(Holger Meins, 31.10.1974)

…der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann.

(Franz Wördemann)

2

Auf dem Flur unserer Station, im Wartebereich, wo es Stühle gab und Werbeprospekte und einen Kaffeeautomaten und einen Wasserkocher für Tee, saß eine ältere Dame mit ihrer Tochter und die Tochter hielt eine unserer Broschüren in der Hand.

„Ich habe Angst, Mama!“, sagte die Tochter plötzlich unvermittelt: „Nur, wer mindestens 2.500 Euro monatlich verdient, kann ausreichend für sein Alter vorsorgen! Ich verdiene doch nur 1.200 Euro brutto und was soll dann aus mir werden? Ich habe Angst, Mama!“

„Ach, Gottchen, Kind!“, sagte die Mutter und es klang ausgebrannt und resigniert: „Bis Du einmal Rente bekommst, fließt noch so viel Wasser den Strom hinunter! Das wird schon irgendwie werden!“

Ich sortierte die schmutzige Bettwäsche derjenigen Kranken in den Wäschesack, die entlassen oder verlegt worden waren. Ich hätte dem Kind gern geantwortet, ihm mitgeteilt, was ich darüber dachte und was meine Frau längst nicht mehr hören wollte, weil sie es als Schwarzmalerei abtat, weil es nicht in ihre vor Optimismus und Zuversicht strotzende Welt passte!

Ich war nämlich der Ansicht, dass es in naher Zukunft überhaupt keine gesetzlichen Renten mehr geben würde, ganz gleich, wie viel die Bürger während ihrer Berufstätigkeit, sofern man sie denn überhaupt noch irgendwo gegen Bezahlung arbeiten ließ, in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hatten.

Die gutbürgerliche Gesellschaft, wie sie in den Nachkriegsjahren und in der Zeit des Kalten Krieges, da die Welt in zwei konträre Gesellschaftsentwürfe geteilt gewesen war, sie war unwiderruflich tot. Mit den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 hatte man sie im Grunde überall auf der Welt zu Grabe getragen.

Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildungserwerb und durch harte Arbeit gab es seither nicht mehr. Zugeständnisse an den kleinen Mann, der in der Fabrik am Fließband stand, mussten nun nicht mehr gemacht werden und man konnte sogar dazu über gehen, alle früher einmal gemachten Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen.

Vergangen waren die Tage, da es Werte wie Anstand, Treu, Bescheidenheit oder Zuverlässigkeit gegeben hatte. Vorbei waren die Tage, da man sein Leben unbeschwert leben und seine Zukunft planen konnte. Vergangen waren die Jahre, in denen ein Dieb auch ein Dieb genannt werden dufte; in denen ein Bestohlener vor Gericht darauf hoffen durfte, Gerechtigkeit zu erfahren.

All die viel und immer wieder in den vergangenen Jahrzehnten beschworenen sogenannten bürgerlichen Werte und Kulturtraditionen, die friedlichen Revolutionen der Wendezeit überall in Europa hatten nicht nur den Kommunismus, sondern auch sie hinweg gefegt, wie die Winterstürme die welken Blätter.

Ehre, Sauberkeit, Aufrichtigkeit, dies waren antike und alberne Tugenden, die von den modernen Eliten belächelt wurden. Es waren die lästigen Märchen der Kindertage, mit denen man nun auch ganz offen brechen konnte, da auch ganz offiziell die Formel ausgerufen worden war, wonach jeder sich selbst am nächsten stand!

Auf den Staat zu hoffen und auf die Menschen und ihren Anstand, war dabei jedoch ein Trugschluss. Auch 1933 hatten viele Menschen gedacht, es werde schon nicht so schlimm kommen und sie hatten auf den Staat gehofft und auf die Anständigkeit all der Leute.

Der Staat aber hatte letztendlich das ganze Grauen selbst produziert und Erschaffen, den Holocaust und den Krieg und Auschwitz und all das Andere. Und die anständigen Leute hatten sich flugs die schwarze SS-Uniform angezogen, mit dem silbern glänzenden Totenkopfemblem an der Schirmmütze und sie hatten ganz kräftig bei all diesen schrecklichen Dingen mitgemischt, nur hinterher wollten sie von alledem nichts gewusst haben und waren wieder damit durchgekommen.

Auf den Staat zu hoffen, war also töricht und auf die sogenannten Eliten zu hoffen, war es ebenso! Beide hatten sie ihre eigenen Interessen, der Staat und die Eliten und beide waren sie längst viel zu eng miteinander verquickt.

Der Staat Bundesrepublik Deutschland war nicht dazu angetan, dem kleinen Mann auf der Straße zu seinem Glück zu verhelfen und seine kleine und mühselig errichtete Lebenswelt zu bewahren. Er verhalf nur noch den Reichen zu ihrem Glück und hatte sich die Bewahrung von deren Reichtümern auf die Fahnen geschrieben!

Es war eine Falle gewesen, die die Eliten des Westens dem kleinen Mann, der in Volkseigenen Betrieben schuftete, in all en Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg gestellt hatten. Eine Falle, deren gnadenloser eiserner Bügel, der 1989 im Herbst zugeschnappt war und dem Volke das Bein zertrümmert hatte, mit dem Honig aus DM und angeblicher Freiheit und Demokratie und Wohlstand beschmiert worden war. Nun aber war die Falle zugeschnappt und der kleine Arbeiter, einst mit lebenslanger Beschäftigungsgarantie in einem maroden volkseigenen Betrieb gesegnet, saß arbeits- und nicht selten auch obdachlos mit gebrochenen Knochen in der eisernen Falle, aus der es nun kein Entrinnen mehr gab.

Freiheit hatte man ihm vollmundig versprochen und Freiheit tönten noch immer die Medien, wie eine alte und längst ausgeleierte Gebetsmühle, die sich inzwischen selbst langweilte und an ihrer eigenen Monotonie erstickte.

Der polnische Gewerkschaftsführer Walesa hatte es einst auf den Punkt gebracht: Freiheit ohne Geld im Beutel ist keine Freiheit!

Und wie frei war er am Ende, der Arbeiter in der Bundesrepublik, der seine Abmahnung bekam, wenn er morgens auch nur eine einzige Minute zu spät die Stechuhr aufsuchte, weil vielleicht die Straßenbahn Verspätung gehabt hatte? Wie frei war er, der schwitzende und um seinen Job bangende Staubsaugervertreter, dem sein jähzorniger Vertriebsleiter die Tagesumsätze aufdiktierte, ganz egal, wie unrealistisch sie auch sein mochten? Wie frei war er, der kleine Angestellte, der sonntags vom Mittagstisch mit seiner Familie aufstehn und in den Betrieb fahren musste, weil der Chef angerufen hatte? Wie frei war er, der Arbeitslose, der Arbeitslosengeld I bezog und der sich unverzüglich auf dem Amt melden musste, wenn der Arbeitsvermittler nach ihm verlangte und von ihm forderte, die Bewerbungsschreiben vorzulegen, die er während der letzten vier Wochen verfasst und abgeschickt hatte? Wie frei war er wirklich, der Hartz-IV-Beziehende, der praktisch zum willfährigen Sklaven seines Jobcenters wurde, dessen überlastete und oft nicht ausreichend qualifizierte Mitarbeiter ihn im Grunde behandelten wie einen unversöhnlichen Feind und die ihm jederzeit und oft sogar ohne Nennung von Gründen sämtliche Bezüge streichen konnten? War dies alles Freiheit? War es dies alles etwa Wert gewesen, das relativ sorglose, graue, aber dafür sichere Leben, welches wir bis 1989 zu führen gewohnt waren, einfach und unwiderruflich wegzuwerfen?

„Versorgungsmentalität“ schimpfen die Mächtigen dreist und schamlos den Wunsch ihrer Bürger, möglichst wissen zu wollen, was sie in der kommenden Woche in der Lohntüte vorfinden werden und sie deklarieren es als Lebensuntüchtigkeit und Gier.

Den Wunsch der reichen Anleger, jedoch möglichst wissen zu wollen, dass ihre Zinsen und Zinseszinsen auch im kommenden Quartal wieder exponentiell steigen werden, verstehen sie und nennen ihn milde Investitionsrechnung oder schlicht Value Investing.

Nein, Freiheit hatte der kleine Mann nicht gewonnen, seitdem er im vereinten Deutschland leben musste, stattdessen war jedoch all das in erschreckender Art und Weise wahr geworden, was Marx und Engels und Lenin in ihren Lehrbüchern über den Kapitalismus und den Imperialismus geschrieben hatten. Alles, was man uns einst im Staatsbürgerkundeunterricht eingetrichtert und vorgebetet hatte, wie den Konfirmanden den Katechismus und was uns sicherlich einst ebenso gelangweilt hatte, war heute plötzlich fürchterliche Realität geworden und erschreckte uns mit seiner Kälte, mit seiner Skrupellosigkeit und mit der Abwesenheit sämtlicher Werte und ethischen Maßstäbe außerhalb der beiden Kategorien aus Ich und Geldverdienenwollen.

Mit Freiheit hatte das, was der kleine Mann heute gezwungen war, tagtäglich zu erleben, nur insoweit zu tun, als er dabei frei war von Einkommen, frei von Chancen, frei von Wertschätzung, oft frei von Arbeit und immer öfter auch frei von einer festen bleibe und selbstverständlich auch frei von Gesundheit und frei von menschenwürdigen Lebensumständen!

Scheinbar ein überaus erstrebenswerter Zustand, den landauf und landab fanden sie vor allem die Betroffenen stillschweigend damit ab und schickten sich wie die Lämmer, blökend zwar gelegentlich, doch im Grunde widerspruchslos, in ihr Schicksal!

Zweifellos neigte der Mensch dazu, mitzumachen bei jeder Art von Egoismus und Unmenschlichkeit, sich korrumpieren zu lassen und sich anzupassen; nicht aber dazu, sich untereinander zu solidarisieren, abzugeben und miteinander zu teilen; für die Schwachen und die Leidenden Partei zu ergreifen und sich gegen ein zum Himmel schreiendes Unrecht zu erheben.

Die Realität da draußen, vor den Mauern des Klinikums, sie erinnerte an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, aufgeschrieben durch die Gebrüder Grimm. Nackt ging der Kaiser durch die Straßen und alle, die ihn sahen, wussten im Grunde ganz genau, dass er vollkommen nackt war und auch der Kaiser wusste es. Aber niemand fand den Mut dazu, es endlich einmal auszusprechen und alles überbot sich stattdessen in Lobpreisungen und Huldigungen der vermeintlichen Kleider, die der Kaiser trug. Und vielleicht funktionierte jegliches menschliches Gemeinwesen im Grunde, ob es sich nun sozialistisch oder kapitalistisch nannte, am Ende auf der Illusion. Auf der Illusion und der immer wieder enttäuschten, dabei aber dennoch niemals tot zu kriegenden Hoffnung der kleinen Leute. Und auf den beiden fundamentalen Eckwerten jeder menschlichen Gemeinschaft, nämlich auf Betrug und Selbstbetrug.

Der Chef betrog den Angestellten am Zahltag und der Angestellte betrog seinerseits den Handwerker, den er gerufen hatte, weil der Wasserhahn in der Küche tropfte. Der Handwerker betrog wiederum das Finanzamt und das Finanzamt betrog den kleinen Handwerker. Alle betrogen sie einander gegenseitig und fortlaufen. Und am Ende betrogen sie sogar sich selbst, indem sie sich einredeten, wie schön und wie gerecht doch diese Welt war und dass es schon nicht so schlimm kommen würde, wie befürchtet. Dies waren die grundlegenden Funktionsmuster der menschlichen Zivilisation, die, einhergehend mit einer lawinenartig anwachsenden Amoralität, mit dem Geld und dem Privatbesitz in die Welt gekommen waren, wie Lucifer als das personifizierte Böse, indem er aus dem Himmel gefallen war.

Wie lautete das schreckliche Motto des Turbokapitalismus und der Superreichen? Zuviel ist nie genug!

Ein entsetzliches Krebsleiden, welches den Leib der Menschheit unaufhörlich zersetzte und vollständig auffraß.

Betrug und Selbstbetrug waren das Blut und die Lymphe der modernen Gesellschaft. Gier und Skrupellosigkeit waren ihre Essenz.

Schlimm, dass diese Tugenden des Turbokapitalismus bereits im Kindesalter verinnerlicht wurden und mit dem Lesen und Schreiben erlernt werden konnten.

War es tatsächlich das einzige, das höchste und letzte Ziel der menschlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, wonach wenige Superreiche immer mehr Besitz in ihren Händen konzentrieren mussten, selbst um den Preis, dass dabei der Rest der Menschheit versklavt wurde und zugrunde ging? War es das Credo der Menschheit, dass sich alles, was sie erschuf und erdachte, dem Profit und der Geschäftemacherei unterordnen musste? War es gewollt, dass alle ethischen Normen und Werte und mit ihnen alle Moral, sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich sang- und klanglos aus dem öffentlichen Bewußtsein verabschiedeten?

War es der Sinn des Daseins, sich von wenigen Superreichen herum kommandieren und schikanieren zu lassen? Von Superreichen, deren einzige Qualifikation meist darin bestand, ganz besonders vermögend und gleichzeitig ganz besonders egoistisch und brutal zu sein? Von Superreichen, deren Fleiß und charakterliche Qualitäten indirekt proportional waren zu ihrer Gier und kriminellen Energie?

Was für eine arme und klägliche Welt war dies im Grunde, deren Rückgrat allein drauf bestand, möglichst finanziell mit dem Arsch an die Wand zu kommen und dabei alle menschlichen Tugenden möglichst frühzeitig und möglichst vollständig über Bord zu werfen!

Jeder war sich selbst der Nächste! Den Kapitalisten gehörte allmählich das ganze Universum und der Rest führte den Krieg des Jeder gegen Jeden und Alles, um dabei vielleicht einige der Abfälle von den Tafeln der Mächtigen ergattern zu können.

Welch armseliges, würdeloses und kümmerliches Dasein, dessen einziger Inhalt entweder darin bestand, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für einen Hungerlohn zu schuften, der nicht einmal die elementarsten Kosten deckte oder aber sich auf den Ämtern in die Schlangen der Zerlumpten, der Hungernden und Frierenden und Kranken einzureihen, um von einem übellaunigen und ungebildeten Sachbearbeiter vielleicht ein jämmerliches Almosen zu erbetteln.

Wenn dies das Dasein der Masse der Menschen des 21. Jahrhunderts sein sollte, dann hatte sich im Grunde seit der Antike, seit den finsteren Tagen des Mittelalters, nichts wirklich geändert, geschweige denn gebessert! Zwar gab es heute Smartphones und Laptops und SMS und WhatsApp, aber das Elend des Daseins war im Grunde über die Jahrtausende hinweg stets dasselbe geblieben! Welch ein Armutszeugnis für das Menschengeschlecht! Welche ungeheuerliche und zum Himmel empor schreiende Schande!

Der Kapitalismus hatte einst in seinen Medien getönt und er tat es noch heute, der Stalinismus sei mit der allgegenwärtigen Angst der Menschen vor der Verhaftung verbunden gewesen und erst in der Demokratie eines bürgerlichen Staates könne der Mensch frei von Angst leben.

Nun jedoch, in der gepriesenen Demokratie der freien Marktwirtschaft, die im Grunde weder frei, noch eine Marktwirtschaft war, in der Angebot und Nachfrage die Spielregeln bestimmt hätten, war der Mensch plötzlich mit der sehr elementaren und realen Angst vor wirtschaftlichem Niedergang und Obdachlosigkeit, vielleicht sogar vor dem Verhungern und Erfrieren, konfrontiert.

Um diesem Schicksal zu entgehen, konnte man entweder nur zum moralischen Schwein werden, dass die Reichen und Mächtigen darin noch übertraf; sich bei ihnen anbiedern, um vielleicht zum Kapo, zum Leuteschinder, zum Vorarbeiter oder Aufpasser werden zu können, der sich heutzutage Manager nannte oder Team Leader oder Site Leader oder man musste in das steinzeitliche Stadium der Jäger und Sammler zurück fallen, indem man die alten Frauen auf den Straßen beklaute und im von rivalisierenden und gewaltbereiten Obdachlosen-Gangs beherrschten Terrain der Innenstädte und der Parkanlagen in einem unbeobachteten Moment dort in den überquellenden Papierkörben nach Leergut fischte.

Ich stimmte darin völlig mit Karl Marx überein: Das Geld und der Privatbesitz waren die grundlegenden Übel in der Geschichte der Menschheit gewesen. Mit ihnen waren Egoismus, Skrupellosigkeit, Kriege und Kriminalität, Gewalt und Tyrannei und die Verachtung des Gemeinwohles über die Menschheit gekommen. Geld und Privatbesitz zu legalisieren, hieß damit nichts weiter, als all diese Dinge zu legalisieren!

Sich also hinzustellen und die Kriminalität oder den Krieg und die Gewalt bekämpfen zu wollen, war nichts weiter, als ob man einen Apfelbaum pflanzen würde, weil man Äpfel essen wollte, wobei man jedoch bestrebt war, die Blätter und das Holz dieses Apfelbaumes beständig zu vernichten.

Ohne Blätter und Holz jedoch, würde es niemals Äpfel geben. Ohne Privatbesitz und Geld würde es Kriege, Kriminalität und Gewalt nicht geben.

Aber jeder strebte danach, weil er der Mär hinterher jagte, er könne vielleicht eines wunderschönen Tages besonders viel Geld besitzen und dann zu den ganz Großen und Mächtigen dieser Erde gehören, die die Spielregeln allein bestimmten, die Regierungen auswählten und die Ressourcen dieser Welt untereinander aufteilten. Jeder hoffte auf die Chance auf einen Lottogewinn, wie unwahrscheinlich diese auch sein mochte und die aberwitzige Hoffnung auf diesen nahezu absolut unwahrscheinlichen Fall, auf diese einzige Möglichkeit, ließ ganze Generationen von einfachen Menschen stillhalten und aushalten und weitermachen, während sie darüber vielleicht sogar zugrunde gingen.

Das Leben des kleinen Mannes war und blieb ein Versprechen auf eine Eventualität, die in der Regel niemals eintrat. Es blieb ein schöner Traum, der an jedem Morgen wieder einmal aufs Neue vollständig ausgeträumt war.

Zwar konnte jeder Lotto spielen, aber am Ende gab es nur ganz wenige Gewinner. Und die Möglichkeit, wenigstens doch Lotto spielen zu können, wenn auch ohne Gewinn, genügte den Leuten schon und all jene, die das Sagen im Lande hatten, die hatten diesen fatalen Mechanismus längst durchschaut und verstanden es, ihn zu nutzen.

So spielte der kleine, der duldsame und scheinbar doch unendlich leidensfähige Mann, sein Lotto-Spiel und begnügte sich am Ende mit dem bloßen immateriellen Gewinn aus Hoffnung.

Dieser Gewinn genügte ihm bereits vollständig und die zumindest theoretisch noch vorhandene und statistisch tatsächlich quantifizierbare Aussicht, vielleicht beim nächsten Mal dann doch endlich gewinnen zu können.

Meine Gedanken strömten durch meinen Kopf, wie Elektronen durch ein kupfernes Kabel, einander stoßend und drängend und einander dabei unablässig erhitzend.

Scheinbar äußerlich ruhig lief ich den Flur der Station hinunter, ging dabei, den Wäschewagen vor mir her schiebend, von Zimmer zu Zimmer, um die nicht mehr belegten Betten abzuziehen und die benutzte Bettwäsche, mit den Spuren von Angst, Schweiß, Blut und Urin der Patienten, in meinem Wäschesack zu verstauen, welcher hinten am Wäschewagen hing und sich allmählich füllte.

Ich konnte meine Gedanken nicht bändigen du nicht abstellen, wie ein beliebiges elektrisches Gerät, obwohl sie mich quälten und mitunter ängstigten. Ich war gezwungen, mich hilflos ihrem Strom zu überlassen und als ein Ohnmächtiger auf einem Floß ohne Antrieb und Ruder auf ihrer Oberfläche dahin zu treiben.

Elias Canetti hatte geschrieben, dass die Angst vor dem Tode die Quelle allen menschlichen Handelns und der stärkste und äußerste Antrieb eines jeden Menschen sei. Und ich, der ich gezwungen war, in einem Krankenhaus mein Brot zu verdienen, in welchem Leiden und Schmerzen und Tod und Sterben zum täglichen Ablauf gehörten, konnte dies bestätigen. Sah ich doch tagtäglich, was Menschen bereit waren, zu erleiden und zu erdulden, sofern sie dadurch ihr bisschen Leben noch um wenige Tage zu verlängern mochten.

Und da verstand ich plötzlich, dass die Angst vor dem Tode, vor dem Hungertod auf der Straße, vor dem Erfrierungstod womöglich, draußen in der winterlichen Gosse, die Ursache war, die den Menschen zu seiner skrupellosen Gier trieb, in der er Geld um Geld auf seinem Konto anhäufte, damit er es zwischen sich und die Not da draußen schieben konnte; zwischen sich und all die Rechnungen, die ihm Tag um Tag ins Haus flatterten und die bedient werden wollten!

Er war gierig und skrupellos der Mensch, damit er nicht angesichts jeder Rechnung und Abbuchung von seinem Konto ängstlich und zitternd fragen musste, wie viel Geld noch verfügbar war und wie lange es noch reichen würde, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Dies machte ihn gierig und skrupellos, denn die Aussicht kam mit den steigenden Einnahmen, vielleicht nie wieder auf Luxus verzichten zu müssen; vielleicht nie wieder rechnen und fragen zu müssen, wie lange das Ersparte noch reichte!

Die Angst vor dem Tod trieb den Menschen zu Gier und Skrupellosigkeit und zu amoralischem Handeln. Und die Gier war die Quelle allen Leidens und jeder Form von Ungerechtigkeit in dieser Welt!

Wer also das Unrecht und das Leid in der Welt beseitigen wollte, der musste die Gier beseitigen! Und wer die Gier beseitigen wollte, der musste dem Menschen die Angst vor dem Tode nehmen! Ein Vorhaben, welches weder Religion, noch der Kommunismus, geschweige denn Kunst und Philosophie, jemals zuvor hatten bewältigen können!

Was letztendlich als Option verblieb, war die Möglichkeit, im Strom der Namenlosen mit zu schwimmen, in der Hoffnung, irgendwie durchs Leben zu kommen und dabei blind und taub zu werden, für all das Elend, welches sich links und rechts des persönlichen Lebensweges ereignete. Zu werden also, wie Ahasverus, der Ewige Jude, der Jesus, der bereits sein Kreuz zum Golgataberg trug, die kurze Rast vor der Haustür verweigerte, worauf der Heiland ihn verfluchte, indem er ihm zurief: „Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen!“, was den Jerusalemer Schuhmacher Ahasverus aus der Via Dolorosa zur ewigen und ruhelosen Wanderung durch die Zeiten verdammte. Oder war man berufen dazu, den Kampf aufzunehmen, notfalls mit der Waffe in der Hand, den Kampf gegen eine unmenschliche Gesellschaft, die ein Leviathan war, der die kleinen Leute fraß und der dies wusste und von dem jeder wusste, dass er es wusste, sich aber einen Dreck darum scherte, was alle wussten und was er selbst wusste!

Alle jene aber, die den Kampf aufgenommen hatten, besonders aber mit der Waffe in der Hand, gegen diesen Leviathan, sie waren in der Regel zugrunde gerichtet worden und kein Hahn krähte mehr nach ihnen, so dass ihr Opfer gänzlich umsonst und ganz und gar vergessen war.

Da begriff ich, dass es mir noch nicht schlecht genug ging. Und dass ich noch gar nicht tief genug gesunken und noch nicht weit genug gekommen war, um darüber nachzudenken, eine Gesellschaftlich, die unmenschlich war und sich nicht darum scherte, mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen.

Und beinahe wünschte ich mir in diesem Moment, während ich den Wäschewagen mit der schmutzigen Bettwäsche der entlassenen oder verlegten Patienten den Gang der Station hinunter und von Zimmer zu Zimmer schob, sie mögen mich entlassen und aus der Wohnung werfen und mir jede Form von finanzieller Unterstützung grundlos und aus Willkür verwehren, wie es so oft ihre arrogante und selbstherrliche Art war, damit ich dann endlich wirklich nichts mehr auf der Welt zu verlieren hatte, mit dem Rücken zur Wand stand und endlich gezwungen sein würde, diesen unmenschlichen und zutiefst amoralischen und asozialen Leviathan von Staat zu bekämpfen, der nichts weiter war, als die scheindemokratische Maskerade der skrupellosesten Gier der Superreichen.

Und war die Angst vor dem Tode tatsächlich, wie Canetti es schrieb, die letzte Ursache und der Antrieb für menschliches Handeln, so war dies unendlich dumm, sofern daraus auch die Gier und Skrupellosigkeit entsprangen.

Denn der Tod war etwas, dem niemand entging und im Sterben und im Tode wurden alle Menschen wieder gleich und die Gegensätze zwischen ihnen schwanden angesichts des Todes dahin, das hatte ich schließlich oft genug hier in der Klinik erlebt.

Der Tod war der einzig wahre und wirkliche Gleichmacher, der über die Menschen damit kam, wie die große Französische Revolution, die mit ihrem Terror auch alle gleich gemacht hatte.

Der Tod war der große Gleichmacher. Er war derjenige, der aus den verfeindeten und sich bekämpfenden und beneidenden Menschen am Ende doch endlich wieder Brüder machte, indem er sie alle dasselbe erleiden ließ und sie in sich wieder vereinte.

Vor diesem Hintergrund war es vollkommen sinnlos, dem Tode durch Gier entrinnen zu wollen.

3

Frech und unverschämt!

Von Redakteur Franz Xaver Paulsen aus Athen

Die griechischen Milliardäre und Millionäre, vor allem jedoch die berüchtigten Reeder-Clans, deren hartnäckige Weigerung, im Inland Steuern zu zahlen, für die wirtschaftliche Krise des Landes verantwortlich gemacht wird, werden auch künftig definitiv ungeschoren davon kommen, im Lande selbst alle Vorteile finanzieller Natur wahrnehmen, wo immer es geht, ihre märchenhaften Gewinne jedoch vor dem griechischen Fiskus in Steueroasen des Auslands in Sicherheit bringen.

Patriotisches und verantwortungsbewusstes Handeln im Sinne der Gemeinschaft, sieht anders aus. Allerdings ist dies ein Modell, welches Reiche inzwischen überall auf der Welt, auch in Deutschland, straflos und praktisch unter den Augen der Finanzbehörden ganz offen praktizieren. Diese Leute lassen sich gern Eliten nennen, erweisen sich jetzt jedoch als gieriges und korruptes Pack, dem das Gemeinwohl Schnurz ist, solange nur die persönliche Bilanz im Positiven bleibt. Konstruktive Beiträge zur Lösung drängender nationaler Probleme wird man von den sogenannten Eliten wohl weder in Griechenland, noch sonst irgendwo auf dieser Welt erwarten können!

Dem griechischen Volk wird dafür hingegen die Rechnung in Gestalt der drakonischen Sparpolitik durch die EU präsentiert. Abstriche bei der Lebensqualität der kleinen Leute gibt es fast überall, während die Reichen in Saus und Braus leben und mit keinem einzigen Cent ihrer privaten Vermögen für die Genesung ihres Landes aufkommen müssen.

Was Wunder, dass der griechische Wähler den Mächtigen nun seinerseits die Quittung präsentierte, indem das Spardiktat abgewählt und das Linksbündnis SYRIZA mit beinahe absoluter Mehrheit auf den Schild gehoben wurde.

EU-Kommissar Günter Oettinger (CDU) nannte die neue Politik Griechenlands indes „frech und unverschämt“; Griechenland dürfe nun, als Reaktion der Europäischen Union auf seine Anmaßung, keinerlei Verbesserungen seiner prekären wirtschaftlichen Lage mehr erwarten, so Oettinger.

4

Ein Krankenhaus ist ein Tempel des Leids und des Schmerzes, aber auch der Hoffnung. Es ist ein Ort, an dem man mit dem Tod und dem Sterben auf Du und Du ist.

Wie viel Verzweiflung, wie viel Angst mag sich unter dem Giebel eines einzigen Krankenhauses versammelt haben? Wie viel ängstliches Hoffen und heimliches Versagen mag von dort aus in den Himmel aufgestiegen sein?

Niemand hielt sich gern als Patient in einer Klinik auf und selbst als Besucher beschlich einen ein eigenartiges Gefühl der Scheu und der Vorsicht, so dass man geneigt war, während der Dauer seines Aufenthaltes in einer Klinik beinahe den Atem anzuhalten.

Man empfand Beklemmung dabei, laut zu sein oder zu essen oder gar zu lachen, an einem Ort, an dem Schmerz allgegenwärtig war und in dem der Tod tagtäglich ein und aus ging, als sei ein Krankenhaus nichts weiter als eine Art Wirtshaus für den Sensenmann.

Man empfindet Ehrfurcht vor dem Leben und seiner Fragilität; Ehrfurcht vor dem Siechtum und dem Sterben der Menschen.

Ein Schmerzenshaus, ein weißes Haus der Angst, ein stilles Haus des Todes. Ein Leidenshaus, ein Schreckenstempel.

Wer hierher mit der Diagnose Lungenkrebs kommt, der weiß, dass fünf Jahre nach der Feststellung des Leidens weniger als 10 % aller Betroffenen noch am Leben sein werden.

Er weiß auch, wenn er, vielleicht nach Wochen oder gar Monaten der anhaltenden Heiserkeit und des Bluthustens, mit jeder Faser auf eine Chance hoffend, die Schwelle der Klinik überschreitet, dass es für eine erfolgreiche Therapie schon längst zu spät ist und dass jeder therapeutische Schritt nicht mehr kurativ ist, wie die Ärzte sagen, sondern lediglich zur Verbesserung der Lebensqualität in den letzten Tagen und Wochen beitragen wird.

Wer hierher mit der Diagnose Lungenkrebs kommt, kommt auch, um Abschied zu nehmen. Abschied vom Leben und von seinen Lieben, denn mit der Behandlung auf der onkologischen Station beginnt meist auch, für alle Menschen deutlich sichtbar, der Prozess des langsamen, wenngleich immer weiter hinausgezögerten Sterbens des Patienten.

Der Kranke wird meist wehleidig oder apathisch, andere entwickeln eine in sich gekehrte Verhaltensweise, in der sie eigenartig naiv wirken, wie Kinder oder Geisteskranke. Andere werden laut und impulsiv, flüchten sich in allerlei Aktivitäten, als könnten sie dem Tod, er ihnen doch stets auf den Fersen bleibt, auf diese Weise davon laufen.

Ich habe beizeiten und gleich zu Beginn meines Berufslebens gelernt, dass Sterben stets etwas Individuelles ist, wie die Geburt und das ganze Leben. Keine zwei Sterbevorgänge aufgrund derselben Diagnose, sogar dann, wenn die Patienten im selben Alter sind, gleichen einander. Jedes Sterben ist individuell, ist einzigartig und unwiederbringlich. Es is wie eine große Sinfonie, die nur ein einziges Mal auf einer Konzertbühne aufgeführt werden kann und danach nie wieder, weil die Musiker die Noten vergessen und weil die Instrumente ihren Dienst versagen.