Die Kinder der Bosheit - Ralph Ardnassak - E-Book

Die Kinder der Bosheit E-Book

Ralph Ardnassak

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Langsam fährt der Wagen über den knirschenden weißen Flusskies der gepflegten Auffahrt. "Du fährst schon nach Hause!", befiehlt Guntram Seidel dem Sohn in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet: "Es wird bei mir heute später. Ich lasse mich dann nach Hause fahren!" Als der Sohn mit dem Auto verschwunden ist, drückt Guntram Seidel auf den Klingelkopf aus Edelstahl neben dem Schlossportal. Theo Ferstner öffnet die Tür. Fragend und widerwillig mustert er Guntram Seidel. "Wer sind Sie? Was wollen Sie?", fragt er unfreundlich und arrogant. "Hauptzollamt Dresden!", sagt Guntram Seidel mit fester Stimme, während seine zitternde rechte Hand bereits in die Tasche der Regenjacke fasst und nach dem Griff der Pistole tastet. "Ich muss sofort mit Ihrer Frau sprechen! Es geht um Straftaten im Zweckverband!" "Um Straftaten…?", stammelt Theo Ferstner jetzt fassungslos. Aber da ist seine Frau schon heran und steht in ihrem roten Kimono zitternd neben ihrem Mann. Alle Selbstsicherheit ist plötzlich von ihr verschwunden. Wortlos zieht Guntram Seidel die Pistole aus der Tasche seiner Regenjacke, entsichert und feuert vierzehnmal auf die Frau, die im Kugelhagel und im Pulverdampf zusammenbricht. Guntram Seidel sieht ihr Blut spritzen, sieht sie die Arme hoch reißen und die Einschusslöcher in Stirn, Hals, Brust und Bauch. Er feuert noch, als die Frau als regloses Bündel auf dem Fußboden neben ihrem Mann liegt. Er will ganz sicher gehen, dass so etwas nicht überlebt. Er will ganz sicher gehen, dass so etwas nie wieder anderen Menschen dasjenige antut, was ihm in den letzten 17 Jahren angetan wurde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 173

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ralph Ardnassak

Die Kinder der Bosheit

Kriminalroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

Impressum neobooks

I

Und ich will meinem Volk Israel einen Ort setzen und will es pflanzen, dass es daselbst wohne und nicht mehr in der Irre gehe, und es Kinder der Bosheit nicht mehr drängen wie vormals und seit der Zeit, dass ich Richter über mein Volk Israel verordnet habe.

2. Samuel 7, 10

"Diese Nation ist von Menschen vieler Nationen gegründet worden. Sie ist auf dem Prinzip gegründet worden, dass alle Menschen gleich sind und dass die Rechte aller Menschen eingeschränkt werden, wenn die Rechte eines Menschen bedroht sind. Dies ist ein Problem, das uns alle angeht. Es gibt heute arbeitslose Neger. Verglichen mit den Weißen ist ihre Zahl zwei- bis dreimal so groß. Unzulängliche Ausbildung, Zuzug in die großen Städte, Unfähigkeit, Arbeit zu finden, verweigern ihnen die gleichen Rechte. Wir können nicht zu 10 % der Bevölkerung sagen, ihr könnt dieses Recht nicht haben. Eure Kinder können nicht die Chance haben, ihre Begabungen zu entfalten. Dass die einzige Möglichkeit, ihr Recht zu bekommen, darin bestehe, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Ich glaube, wir schulden ihnen und uns ein besseres Land!" John F. Kennedy, 35. Präsident der USA, sprach diese Worte, die mit Sicherheit einer der Gründe für seine als Tat eines Einzeltäters verbrämte Hinrichtung waren! Heute, in der Bundesrepublik Deutschland, die sich demokratisch nennt, gehören 10 % der Bevölkerung annähernd 90 % des Vermögens. Eine immer größere Anzahl von Bürgern wird von Bildung, Kultur und von der Teilhabe an einem menschenwürdigen Dasein ausgeschlossen und sagt nichts dazu oder sieht teilnahmslos zu, wie eine Clique von einer Handvoll superreicher Familien das Land in eine Diktatur verwandelt, die Regierung instrumentalisiert und die Gesetze und die Menschenrechte öffentlich mit Füßen tritt. Das hat weder etwas mit Demokratie zu tun, noch mit Menschenrechten oder mit Menschenwürde! Es ist eine Verhöhnung all jener Begriffe und eine Schande für die Reichen und Regierenden, ebenso für die dumme und teilnahmslose Masse Volk, die all dies in schafsdummer Ergebenheit wortlos duldet! Die Gier und Skrupellosigkeit der Eliten und die dumpfe Teilnahmslosigkeit des Volkes, sie bedingen einander wechselseitig und treiben sich gegenseitig zu immer neuen Höhen! Es ist eine einzige Schande!

Guntram Seidel ist jetzt 76 Jahre alt. Ein beinahe biblisches Alter, wie er sich auszudrücken pflegt, angesichts all der erschreckenden Fülle von persönlichem Leid und Elend, welche in den letzten beiden Jahrzehnten über ihn gekommen ist, wie weiland die Sintflut über das Land der Gottlosen.

Guntram Seidel ist ein Kind dieses Landstriches, in welchem er, ähnlich wie vor ihm schon Eltern und Großeltern und die lange Kette seiner Ahnen, die sich irgendwann in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Kriege im Dunkel der Geschichte verlor, seit dem Tage seiner Geburt lebt.

Er ist ebenso sehr ein Kind dieser Landschaft, wie die Föhre mit ihren leuchtend gelben, mitunter sogar ein wenig rötlich schimmernden Stämmen, die ihren charakteristischen herb-aromatischen Duft vor allem in der Gluthitze der scheinbar immer wärmer werdenden Sommer verbreitet, wie der Tee sein Aroma unter dem sprudelnd kochenden Wasser in der kleinen verwohnten Küche zu verbreiten pflegte, wenn seine Frau Else, Gott hab sie selig, sich ihren Lindenblütentee am Abend dort aufbrühte.

Guntram Seidel ist ein Teil dieser Landschaft, wie die glitzernde Furche des breiten und träge fließenden Stroms, der sie durchzieht; wie die Moränen und Urstromtäler und die im Sonnenlicht schimmernden Spiegel der Seen, mit den Wimpernsäumen der raschelnden Schilfwälder, die sie begrenzen und den langen, silbrig-grau verwitterten Stockreihen der Reusen der alten Fischer.

Guntram Seidel ist ein Teil dieser Landschaft, wie ihr von Wäldern und Heiden geprägtes Tiefland; wie ihre Urstromtäler und großflächigen Luchgebiete, die man in vielen Jahrzehnten mühseliger und schmutziger Plackerei durch Meliorationsarbeiten in Wiesen und Weiden umgestaltet hat; wie ihre nährstoffarmen sandigen und lehmigen Böden, von denen es hieß, Landwirtschaft lohne sich nicht auf ihnen, so dass seit dem 13. Jahrhundert die sonst beinahe allgegenwärtigen Rodungsmaßnahmen unterblieben und vor allem auf ihren wenigen Höhenzügen nurmehr Kiefern und das scheinbar ewige Heidekraut gedeihen.

Guntram Seidels ledriges und wettergegerbtes Gesicht, das den Anflug einer ohnmächtigen Resignation und Verzweiflung erkennen lässt, wie diese im Ergebnis regelmäßig wiederkehrender existenzieller Schicksalsschläge im Antlitz empfindsamer Menschen gedeihen, erinnert mit seinen Furchen und Falten an die Tätigkeit der eiszeitlichen Eis- und Gesteinsmassen, die diese im Gesicht seiner Heimat hinterließen.

Wie die fünf großen Ströme dieser Landschaft, zu denen zahlreiche kleine Nebenflüsse und Bäche hin strömen, so zieht sich ein Gewirr tieferer und weniger ausgeprägter Falten und Linien durch das gelbliche und matt vom Schweiß glänzende Gesicht Guntram Seidels, das unter dem Gestrüpp des schütteren grauen Haares zu glimmen scheint, wie eine verlöschende Tranfunzel im kühlen Herbstwind.

Wie Eiszeit, Erosion, Wind und Wasser und die rodende Axt und die tief pflügende Pflugschar ihre charakteristischen Zeichen in der Landschaft hinterlassen und sie gezeichnet haben, so haben sich das persönliche Leid, die unerbittliche Wucht regelmäßiger und die Seele bis ins Mark erschütternder Schicksalsschläge sowie die Last jahrzehntelanger schwerer körperlicher Arbeit in das Gesicht von Guntram Seidel eingegraben.

Buschig, als wäre er ein Eulenvogel, stehen die grauschwarzen Borsten seiner wuchernden Augenbrauen nach oben und auf der Nase sitzt ihm, schief und bestimmt ein halbes dutzend Mal mit der klobigen Kombizange selbst wieder zurecht gebogen, um das Geld für den Optiker zu sparen, eine beinahe unförmige Stahlbrille mit fettigen und verschmierten Gläsern, wie sie vor Jahrzehnten einmal in Mode gewesen ist.

Bekleidet ist Guntram Seidel, wie immer, wenn er ins Dorf und unter die Leute geht, mit einer grob gestrickten fettigen Strickjacke, deren Gewebe an den Ellenbogen bereits hauchdünn ist, auf deren Kragen und Schultern sich unzählige weißliche Schuppen und einige seiner beim Kämmen vor dem Spiegel ausgefallenen grauen Haarsträhnen ausgebreitet haben.

Unter der Strickjacke trägt Guntram Seidel ein einfaches kariertes Hemd, aus dessen Kragen ein graues Büschel der Behaarung hervor lugt, die seine eingefallene Brust ziert, wie ein Fell. Die Beine stecken in ausgewaschenen Jeanshosen, die Füße in grauen Socken und ausgelatschten braunen Schnürschuhen mit abgestoßenen Spitzen und schief gelaufenen Haken.

Guntram Seidel sitzt gebeugt auf dem Stuhl und betrachtet die Lichtflecken der Morgensonne auf dem ausgebleichten Linoleum. Er hat seine dürren Hände mit den langen krummen Fingern und den ewig nicht geschnittenen, stets ein wenig schmutzigen und brüchigen Fingernägeln, ineinander gefaltet, als wolle er beten. Doch erinnern diese Hände eher an die Krallen eines Raubvogels. Überhaupt erinnert der ganze Mann, wie er krumm und eingefallen auf seinem Stuhl hockt, mit den buschigen Augenbrauen, dem wachsamen und unsteten Blick, der breiten Nase und der trotz der Zahnprothese wie eingefallen wirkenden Mundpartie, an einen Raubvogel. An einen ganz und gar hilflosen Raubvogel.

Guntram Seidel sitzt krumm, wie ein Kutscher auf seinem Bock. Er sitzt vornüber gebeugt und sein Atem geht heftig, wie bei einem erschöpften Jagdhund nach der Hatz, so dass sich der Busch des grauen Haares, der aus seinem Hemdkragen heraus ragt, deutlich wahrnehmbar hebt und senkt.

An diesem Morgen sitzt Guntram Seidel im Wartezimmer des Arztes, wie so oft.

Er achtet nicht auf die anderen Menschen, die auf den Holzstühlen entlang der Wand sitzen und ihn verstohlen mustern oder in einer der abgegriffenen Illustrierten lesen, die auf dem einzigen niedrigen Tisch in der Mitte des Wartezimmers zwischen Vasen mit gelblichen Kunstblumen liegen.

Meist sind es ältere Menschen, die ihre Gehstöcke zwischen ihren Knien halten, während sie sitzen und beide Hände darauf abgestützt haben.

Meist sind es ältere Menschen, die ein Rezept brauchen, für ein Medikament, das den Blutdruck senken oder den Herzschlag normalisieren soll oder die Schmerzen in den alten Gelenken lindern.

Das Wartezimmer füllt sich. Immer mehr Menschen tasten sich hinein, überblicken zuerst suchend den Raum, finden endlich einen freien Stuhl, setzen sich ächzend und brummen erst dann, akustisch kaum zu vernehmen, einen angedeuteten Gruß in die Runde.

Im Raum verbreitet sich jene eigentümliche Mischung von Gerüchen, wie sie von vielen unterschiedlichen Menschen ausgeht, die an einem Ort zwangsweise beisammen sind.

Es riecht nach Seife und Schweiß, nach Rasierwasser und frisch geputzten Schuhen, nach Weichspüler und nach dem Atem von Menschen, die gerade erst eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht haben.

Ab und zu scharrt einer der Sitzenden mit dem Fuß über das Linoleum, so dass es, des Sandes unter den Sohlen wegen, ein Geräusch gibt, wie vom Sandpapier, das über Holz fährt. Hin und wieder gibt es ein scharrendes Geräusch, wenn einer seinen Stuhl bewegt. Das Papier der Illustrierten raschelt beim Umblättern und der Atem derjenigen, die offenen Mundes sitzen, geht laut und schwer in den Raum. Manchmal dringen ein Husten und ein Röcheln in die Stille oder ein halblautes Flüstern zwischen Zweien, die gemeinsam in die Sprechstunde gekommen sind und die zusammen gehören.

Guntram Seidel blickt nur auf die tanzenden Lichtflecken auf dem Fußboden. Er weiß, dass er von diesen Menschen hier nichts zu erwarten hat. Und dass sie ihn neugierig aus den Augenwinkeln heraus beobachten. Ihn, den Querulanten, der sein Wasser nicht zahlen kann und der sich immer wieder mit den Mächtigen im Landkreis angelegt hat.

In dem kleinen und inzwischen übervollen Wartezimmer des Arztes herrschte eine gedrückte und gleichzeitig angespannte Atmosphäre.

Alles schien so, als würden diejenigen, denen es finanziell noch halbwegs gut ging, weil sie den Richtigen in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft hatten oder weil sie ganz einfach Glück gehabt hatten, die Anderen, die richtig arm dran waren, selbst hier noch belauern.

Es herrschte eine Atmosphäre, als könne jederzeit irgendein Streit oder eine Auseinandersetzung ausbrechen und man müsse sich dafür rüsten, indem man schwieg, seine Kälte und Unnahbarkeit zum Ausdruck brachte.

II

Nachdem Guntram Seidel gut zwei Stunden im Wartezimmer gesessen und gewartet hatte, nachdem immer wieder Patienten ins Arztzimmer herein gerufen worden waren, um dann, ein Rezept in der Hand, wieder hinaus zu kommen, öffnete sich endlich die Tür und die blonde Schwester Bärbel, die er schon als Kind gekannt hatte, steckte den Kopf hindurch und ins Wartezimmer und flötete mit hoher Stimme: „Herr Seidel bitte!“

Guntram Seidel schlurfte in den Vorraum des Sprechzimmers, wo die Schwester hinter ihrem Tresen saß. Er wusste, dass nun, wie immer, zuerst der Blutdruck gemessen wurde.

„Morgen, Kindchen!“, sagte Guntram Seidel mit müder und ein wenig tonloser Stimme, setzte sich unaufgefordert an den Tisch und knöpfte den rechten Hemdsärmel auf.

Bärbel, vielleicht um ihre Verlegenheit zu bemänteln, redete ihn stets in der dritten Person an.

„Er weiß ja schon, was jetzt kommt!“, flötete sie und zog einen Schmollmund, packte das Gerät zum Messen des Blutdruckes aus und legte ihm umständlich die graue aufblasbare Manschette mit den Klettverschlüssen an.

„Wie geht’s denn so, Kindchen?“, fragte Guntram Seidel müde, während er den wachsenden Druck der Manschette um seinen Arm spürte.

„Geht so! Man hat Arbeit und das ist heute schließlich das Allerwichtigste!“

„Ja, ja!“, antwortete Guntram Seidel: „Unselige Zeiten! Wie ist denn mein Blutdruck?“

„Gerade noch so im Rahmen!“ Und mit mitleidvollem Blick: „Immer noch so viel Ärger, Guntram?“

„Immer, Kindchen, immer!“

„Na dann auf, der Doktor wartet schon!“

Guntram Seidel schlurft in seiner gebückten Haltung, den Kopf ängstlich vorgereckt, als erwarte er auch vom Doktor nichts Gutes, in das Behandlungszimmer.

Doktor Hosse geht auch bereits auf die Sechzig zu. Er hat schon die Eltern von Guntram Seidel gekannt und behandelt und er war der Arzt seiner Frau und Kinder. Wenn es jemanden in Klein Piesicke gibt, der die Familie von Guntram Seidel inklusive Blutdruck und aller Gebrechen kennt, so ist es der Doktor Hosse.

Doktor Hosse sitzt in weißer Hose, weißem T-Shirt und offenem weißem Kittel hinter seinem Schreibtisch. An den Füßen trägt er weiße Tennissocken und weiße Birkenstock-Latschen. Er ist schmal und hochgewachsen. Sein Haar und sein kurz geschnittener Vollbart sind schlohweiß.

Hinter der randlosen Brille blicken ein paar hellwache und kluge Augen den Besucher an, als gelte es, ihn zu durchleuchten.

„Na Guntram?“, fragt Doktor Hosse leutselig: „Wo fehlt es uns denn heute?“ Und er weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem sich Guntram Seidel ächzend nieder lässt.

„Das Bein!“, stöhnt Guntram Seidel: „Das linke Bein. Vor allem das Knie. Tut höllisch weh beim Laufen und nachts, wenn ich auf der linken Seite liege und ein wenig geschwollen ist es auch!“

Doktor Hosse sieht sich Guntram eine Weile interessiert an, wobei eine Mischung aus kalter Neugier und tiefem menschlichen Mitgefühl in seinem vom Segeln gebräunten Gesicht sichtbar wird.

„Dann mach mal das Knie frei, Guntram!“, sagt Doktor Hosse und beugt sich hinab, um Guntrams Knie zu betrachten und zu befühlen, während der noch umständlich, ächzend und mit zittrigen Händen den Saum seiner Jeanshohe nach oben krempelt, bis seine dünnen blassblauen Waden mit den vielen Krampfadern sichtbar werden und darüber ein unförmig geschwollenes Knie, das fast den Umfang eines Kinderkopfes angenommen hat.

„Immer langsam, Guntram!“, mahnt der Doktor, der um das Schicksal der Familie Seidel weiß: „Wir haben Zeit!“

„Ach, Doktor!“, keucht Guntram Seidel und so etwas wie ein Schluchzen kommt ihn an, während er spricht: „Wenn es doch nur Krebs wäre mit dem Knie! Knochenkrebs und Endstadium, dass ich endlich abreisen könnte, von dieser unseligen Welt!“

„Na, aber, Guntram! Wer wird denn gleich an so etwas denken?“, sagt der Doktor mahnend, während er das geschwollene Knie befühlt und betastet. Und als er fühlt und tastet, denkt der Doktor Hosse, dass der Guntram Seidel im Grunde Recht hat, mit dem, was er sagt und sich wünscht. Aber Krebs ist es trotzdem nicht, mit dem Knie. Kein ossäres Sarkom. Wohl nur eine Belastung, vom vielen Laufen und von der Arbeit in Haus und Garten.

„Also Krebs, isses nich, Guntram!“, sagt der Doktor und krempelt Guntram Seidel das Hosenbein der Jeans wieder herunter: „Bisschen heiß und bisschen geschwollen! Na, ick schreib Dir wat auf! Und viel kühlen, Guntram!“

„Ja, ja!“, nickt Guntram und er denkt daran, dass der Doktor mit ihm, einem Kassenpatienten und armen Schlucker, schließlich nicht viel Aufhebens machen wird. Und dass es dem Doktor und dieser kruden Gesellschaft im Dorf letztendlich ganz egal ist, ob er Schmerzen hat und vielleicht stirbt.

Also nimmt er das Rezept, das der Doktor ausgestellt, unterschrieben und abgestempelt hat und schlurft krumm und grußlos nach draußen und durch das Wartezimmer hindurch, in dem es immer noch nach Mensch riecht und in dem sie die Köpfe zusammen stecken und hinter seinem krummen Rücken über ihn tuscheln. Muss er also noch nach der Märkischen Apotheke gehen, um die Schmerztabletten abzuholen, die ihm der Doktor aufgeschrieben hat. Und dort, in der Märkischen Apotheke, wollen sie auch wieder nur Geld von ihm. Steckten doch schließlich alle nur unter einer Decke, wenn es darum ging, einem armen Schlucker wie ihm, die letzten paar Geldstücke aus der Tasche zu ziehen.

Über den Marktplatz, auf dem die bunten Verkaufswagen des Metzgers und des Bäckers stehen, schlurft Guntram Seidel zur Märkischen Apotheke, während die frisch restaurierte Turmuhr auf dem Rathaus von Klein Piesicke blechern das Lied „Märkische Heide, märkischer Sand“ klimpert.

Für den Bürger hatten sie keinen Pfennig, ging es Guntram Seidel durch den Kopf, während er über das Pflaster des Marktplatzes von Klein Piesicke schlurfte. Aber für ihr albernes Glockenspiel gaben sie Zehntausende aus. Eigens aus Berlin musste ein Handwerker dazu kommen. Direkt aus der Hauptstadt. Und obwohl ihm eigentlich nicht danach ist, summt Guntram Seidel die altbekannte Melodie mit und fällt schließlich sogar in halblauten kehligen Gesang ein, so wie es Vater und Großvater bereits taten, immer dann, wenn irgendwo dieses alte Lied angestimmt wurde:

„Märkische Heide, Märkischer Sand Sind des Märkers Freude, Sind sein Heimatland. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Uralte Eichen, Dunkler Buchenhain, Grünende Birken stehen am Wiesenrain. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Blauende Seen, Wiesen und Moor, Liebliche Täler, Schwankendes Rohr. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Knorrige Kiefern leuchten im Abendrot, Sah'n wohl frohe Zeiten, Sah'n auch märk'sche Not. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Bürger und Bauern vom märk'schen Geschlecht, Hielten stets in Treu zur märk'schen Heimat fest! Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.

Hie Brandenburg allewege - Sei unser Losungswort! Dem Vaterland die Treue in alle Zeiten fort. Steige hoch, du roter Adler, Hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land.“

III

Theo Ferstner steckt das silbrig glänzende Handy weg, nachdem er das Telefongespräch beendet hat. Es ist das aller neueste Modell. Theo Ferstner legt Wert darauf, stets das neueste und teuerste Modell eines Handys zu besitzen. In den unzähligen Meetings und Aufsichtsratsversammlungen, denen er als Landrat beiwohnen muss, baut er das Handy stets vor sich auf wie ein Zepter. Es zählt zu den Insignien seiner Macht und selbst bei seinen Besuchen in der Staatskanzlei akzeptiert man inzwischen, dass der Landrat Theo Ferstner einen Handy-Tick hat.

„Solange es nur ein Handy-Tick ist!“, scherzen die honorigen Herren aus der Staatskanzlei. Da sind sie schlimmere Passionen gewöhnt: teure Sportwagenmodelle, Segelyachten oder Obsessionen für Frauen, die gut und gerne Töchter sein könnten, stattdessen aber Geliebte abgeben müssen.

Theo Ferstner ist seit zwanzig Jahren Landrat. Und er ist bemüht, sauber zu bleiben, da er seine Position noch einige Zeit behalten möchte. Außerdem bemüht er sich um Bürgernähe. Um die Nähe jener Bürger jedenfalls, die berühmte und vor allem reiche Berliner Unternehmer sind und die in Klein Piesicke auf die Suche nach Immobilien gehen, nach Abschreibungsobjekten, wie sie es nennen oder nach repräsentativen Jagdrevieren mit möglichst reichen Beständen an Dam-, Schwarz-, Muffel- oder zumindest an Rehwild, an Hasen, Fasanen und Stockenten.

Theo Ferstner hat wieder mit Zürich telefoniert. Als Landrat sitzt er ganz selbstverständlich in den Aufsichtsräten aller größeren Firmen des Landkreises. So natürlich auch im Aufsichtsrat des Oderbruch-Klinikums, obwohl er kein Mediziner und auch kein Betriebswirt ist, denn darauf kommt es in seinen Kreisen längst nicht mehr an.

Seine Gesprächspartner in Zürich repräsentieren eine große und europaweit agierende Klinik-Kette. Ein Konsortium von gewaltiger Finanzkraft mit knapp zweihundert Kliniken quer durch ganz Europa. Das Konsortium ist seit einiger Zeit interessiert am Kauf des Oderbruch-Klinikums. Es würde dann aus dem Eigentum des Landkreises in Schweizer Privatbesitz übergehen. Ferstner weiß längst, was dies für die Mitarbeiter und Patienten bedeutet. Ganze Abteilungen würden aus Kostengründen einfach geschlossen, Ärzte, Schwestern und Pfleger entlassen. De facto auch eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung und vor allem der Beschäftigungssituation der Bürger des Landkreises. Aber so durfte man die Sache keinesfalls betrachten. Worauf es jedoch ankam: der Landkreis würde durch die Transaktion auf einen Schlag schuldenfrei und für ihn, den Landrat und Aufsichtsratsvorsitzenden Theo Ferstner, spränge eine Provision im sechsstelligen Bereich dabei heraus. Einfach so, nebenbei und zusätzlich zu seinen laufenden Bezügen. Entsprechend deklariert durch die tüchtige Mitarbeiterin seines Steuerbüros, sogar zum überwiegenden Teil vollkommen steuerfrei! Eigentlich war Ferstner finanziell vollkommen saniert. Was immer er begehrte, er konnte es sich leisten, ob nun eine Segelyacht oder eines der besonders lukrativen Jagdreviere, die reich an kapitalen Damwildschauflern waren und mit denen man sogar Geschäftsleute aus dem aufstrebenden China immer wieder beeindrucken konnte. Aber Ferstner hatte auch genug dazu gelernt, um bescheiden zu bleiben. Er war infiziert von der Gier, immer noch mehr verdienen und einnehmen zu wollen.

Die Linken würden vermutlich Sturm laufen im Kreistag. Aber es kam eben darauf an, wie man der Öffentlichkeit die ganze Sache mit der Klinik zu verkaufen verstand. Seitdem er vor zwanzig Jahren Lokalpolitiker geworden war, wusste Theo Ferstner um die fatale Macht der Sprache. Richtig gebraucht, konnte sie einen Mörder zum Heiligen und Patrioten verklären und aus einem schnöden Betrug einen Akt edelster vaterländischer Gesinnung machen. Es kam letztendlich nur darauf an, wie man das Ganze benannte und welche Worte man benutzte, um es zu beschreiben oder besser zu umschreiben. Außerdem war er der Landrat, vor dem ohnehin schon die meisten Bürger des Kreises einen Buckel machten, denn sein Arm reichte weit. Theo Ferstner konnte, wenn man ihn reizte, Existenzen zerstören und Karrieren für immer beenden.

Er würde sich schon etwas einfallen lassen, denn schließlich war er nicht umsonst Landrat geworden.