Des Herzogs größter Begehr - Sabrina Jeffries - E-Book
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Des Herzogs größter Begehr E-Book

Sabrina Jeffries

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Beschreibung

Als Maximilian Cale, der Herzog von Lyons, in der Ermittlungsagentur Manton aufkreuzt, sieht Lisette Bonnaud ihre Chance gekommen, endlich echte Detektivarbeit statt nur Sekretärinnendienste zu leisten. Max behauptet, er habe von ihrem Bruder Tristan Nachricht erhalten, dass sein totgeglaubter Bruder Peter noch lebt. Lisette, die seit Monaten nichts von Tristan gehört hat und sich schon Sorgen macht, besteht darauf, mit ihm nach Paris zu reisen, um Peter und Tristan zu suchen. Dabei ahnt sie nicht, dass Max bald mehr in ihr sieht als nur eine hübsche Reisebegleitung ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Stammbaum der Familien Manton und Bonnaud

Prolog

1

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9

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Epilog

Anmerkung der Autorin

Die Autorin

Die Romane von Sabrina Jeffries bei LYX

Impressum

SABRINA JEFFRIES

Des Herzogs

größter Begehr

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Andreas Fliedner

Zu diesem Buch

Lisette Bonnaud hat die Nase voll davon, für ihren Halbbruder Dominik Manton die Sekretärin zu spielen. Viel lieber würde sie ihn bei der Ermittlungsarbeit in seiner Detektei unterstützen. Zudem treibt sie die Sorge um ihren Bruder Tristan, von dem sie seit Monaten kein Lebenszeichen erhalten hat, beinahe in den Wahnsinn. Als Maximilian Cale, der Herzog von Lyons, in der Agentur Manton aufschlägt und Auskunft über Tristans Aufenthaltsort verlangt, sieht Lisette endlich ihre Chance gekommen. Max behauptet, Tristan habe einen Beweis dafür, dass Max’ lange verschollener und totgeglaubter älterer Bruder Peter noch lebt. Lisette erklärt sich sofort bereit, Max zu helfen, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihn auf seiner Suche begleiten darf. Als Ehepaar getarnt reisen die beiden nach Paris, um Tristan und Peter zu finden. Dabei ahnen sie nicht, dass ihre Gefühle füreinander bald mehr als nur professioneller Natur sein werden …

Für all die wunderbaren Menschen, die mich während meiner College-Zeit adoptiert haben, als ich nicht nach Hause zu meinen Eltern konnte, die in Thailand lebten: Tante Shirley und Onkel Harvey Peshoff, Tante Judy und meinen verstorbenen Onkel Jimmy Martin, meine verstorbene Tante Gloria und die ganze Owens-Familie: John, Donna (die nicht mehr unter uns ist), Diane, Joyce, Johnny und Pam. Niemand kann ermessen, was Eure Liebe und Fürsorge für mich bedeutet haben.

Stammbaum der Familien Manton und Bonnaud

Prolog

Yorkshire 1816

»Sacrebleu, Mädchen, hör auf, hin und her zu laufen, und setz dich an den Frühstückstisch. Mir wird sonst noch ganz schwindlig.«

Die vierzehnjährige Lisette Bonnaud blieb am Fenster des Cottages stehen und starrte hinaus. »Aber Maman, machst du dir keine Sorgen um Tristan? Er ist noch nie die ganze Nacht weggeblieben! Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist, als er gestern mit Papa auf der Jagd war?«

Claudine Bonnard winkte mit einer Geste ab, deren eleganter Schwung daran erinnerte, dass sie in Frankreich eine gefeierte Schauspielerin gewesen war. Bevor Papa sie von einer seiner Reisen mit nach England gebracht und hier in diesem Cottage einquartiert hatte. »Dann wüssten wir es längst. Dein Papa hätte auf jeden Fall einen Diener geschickt, um uns zu holen. Ambrose hat Tristan nach der Jagd wohl eher zu einem Wirtshausbesuch verleitet, und sie haben bis zum Morgengrauen im Green Inn getrunken.«

Maman hatte wahrscheinlich recht. Typisch, dass Papa ihren Bruder irgendwohin mitnahm, wo es interessant war. Tristan durfte immer überall dabei sein. Im Gegensatz zu ihr. Dabei war Tristan gar nicht so viel älter als sie – nur drei Jahre. Es war einfach ungerecht.

»Vielleicht sollte ich nach Ashcroft gehen, um nachzusehen, ob sie dort sind.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Hügel von Yorkshire, die sich wie grüne Wollknäuel vor dem Fenster erstreckten, so weit das Auge reichte.

Maman runzelte ihre perfekt gezupften blonden Augenbrauen. »Du kannst unmöglich ohne Begleitung in die Stadt gehen, ma fille. Das wäre unschicklich.«

Lisette stieß enttäuscht die Luft aus und begann wieder, auf und ab zu gehen. »Als ob sich irgendjemand darum schert, was für einen Bastard schicklich ist.«

»Lisette Bonnaud!«, sagte Maman scharf. »Benutze niemals dieses schreckliche Wort, wenn du von dir selbst sprichst! Du bist die Tochter des Viscount Rathmoor. Das darfst du nie vergessen.«

»Die illegitime Tochter des Viscount Rathmoor«, murmelte sie verdrossen. »Was ist aus Papas Versprechungen geworden, dich zu heiraten?«

Mamans Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Das ist … eine komplizierte Angelegenheit. Er konnte mich nicht heiraten, solange Krieg zwischen England und Frankreich herrschte. Es hätte einen entsetzlichen Skandal gegeben, wenn dein Papa eine Französin zur Frau genommen hätte. Das konnte er seinen legitimen Söhnen nicht zumuten.«

Lisette sah ihre Mutter schief an. »Der Krieg ist seit einem Jahr vorbei, Maman. Und der Einzige, der Angst vor einem Skandal hat, ist George. Warten wird daran nichts ändern.«

Der sechsundzwanzigjährige George Manton war Papas legitimerSohn und Erbe – und ihr und Tristans Halbbruder. Er hasste sie alle drei, seit Papa Maman zur Mätresse genommen hatte. Und obwohl seine Mutter schon vor Jahren gestorben war, hörte George nicht auf, die Frau zu verabscheuen, die im Herzen seines Vaters den Platz seiner Mutter eingenommen hatte. Und die Kinder, die sein Vater mit dieser Frau hatte. Sein Vater, der auch Lisettes Vater war.

»George wird sich damit abfinden müssen«, sagte Maman wegwerfend. Offensichtlich gefiel ihr die Richtung nicht, die das Gespräch nahm. »Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, wenn dein Vater und ich erst geheiratet haben.« Sie begann, mit eleganten Messerstrichen Marmelade auf einer Scheibe Toast zu verteilen.

Jede Bewegung, die Maman machte, war elegant. Lisette hingegen war so elegant wie ein Besenstiel. Sie war außergewöhnlich groß für ein Mädchen ihres Alters, und mit ihren knochigen Hüften und großen Brüsten sah sie aus, als ob sie jeden Moment das Gleichgewicht verlieren müsste. Und ihr Haar hatte nicht jenes buttrige Blond wie das Haar ihrer Mutter, das alle Gentlemen zu bewundern schienen. Es war kohlrabenschwarz, wie das von Papa.

Sie versuchte, sich die Bänder, die Papa ihr von seinen Reisen mitgebracht hatte, ins Haar zu flechten, damit es hübscher aussah, aber jeder Versuch scheiterte an ihrer widerspenstigen Lockenpracht. Meist endete es damit, dass sie mit den Bändern ihre Kleider bestickte.

»Maman, bin ich hübsch?«

Ihre Mutter kniff die Augen zusammen. »Natürlich bist du hübsch, ma chérie. Du bist schließlich meine Tochter. Mach dir keine Sorgen, eines Tages werden sich die Männer um deine Gunst reißen.«

Sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Alles, was Maman ihr gutes Aussehen eingebracht hatte, war ein Leben, das daraus bestand, herumzusitzen und darauf zu warten, dass der Mann, den sie liebte, sie endlich heiratete. Als sie klein war, hatte Lisette Papa noch geglaubt, wenn er versprochen hatte, dass sie eines Tages eine richtige Familie sein würden. Doch in letzter Zeit waren ihr Zweifel an seinen Versprechungen gekommen.

Ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrach ihre Gedanken. »Ich mache auf«, rief Lisette und schoss hinaus in die Diele, um zu öffnen. Sie lächelte, als sie auf der Schwelle ihren anderen Halbbruder, den neunzehnjährigen Dominick Manton erblickte.

»Endlich bist du wieder da!«, rief sie.

Dom und George waren so verschieden wie Tag und Nacht. Als Kinder waren Dom und Tristan Spielkameraden gewesen, während George im Internat war. Als Lisette älter wurde und begann, sich an ihre Fersen zu heften, war er freundlich zu ihr gewesen, ganz anders als die Leute aus dem Dorf – und dafür himmelte sie ihn an.

Aber heute schien er sich nicht zu freuen, sie zu sehen. »Darf ich hereinkommen?«

Als sie seine blutunterlaufenen Augen, seine fahlen Lippen und seine merkwürdig steife Haltung bemerkte, blieb ihr fast das Herz stehen. Gütiger Himmel. Irgendetwas Schlimmes war passiert.

»Tristan!«, flüsterte sie. »Ist er verletzt?«

»Wo ist er?«, fragte Dom zurück.

Sie sah ihn verwirrt an. »Ich weiß nicht. Er war seit gestern nicht zu Hause. Du solltest Papa fragen. Sie sind zusammen auf die Jagd gegangen.«

Er stieß einen leisen Fluch hervor, dann straffte er die Schultern.

»Vater ist tot, Lisette.«

Die Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Während sie Dom mit offenem Mund anstarrte und überlegte, ob sie ihren Halbbruder vielleicht falsch verstanden hatte, vernahm sie hinter sich ein ersticktes Stöhnen.

Maman stand regungslos da. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. »Tot? C’est impossible! Wie kann das sein?«

Dom fuhr sich mit einer behandschuhten Hand durch die dichten schwarzen Locken. »Ich kann Ihnen noch nichts Genaues sagen, Mrs Bonnaud. Ich bin gerade erst aus York zurückgekommen und muss mir selbst noch ein Bild machen, was während meiner Abwesenheit passiert ist. Es scheint, dass Vaters Gewehr einen Rohrkrepierer hatte und an seiner Schulter explodiert ist. Tristan und der Jagdaufseher haben Vater nach Hause in sein Schlafzimmer gebracht. Dann kam George dazu. Während der Jagdaufseher einen Arzt holte, wachten George und Tristan an Vaters Bett. Sie waren beide dort, als Vater gestern Abend kurz nach Sonnenuntergang starb.«

Als Doms Worte allmählich in ihr Bewusstsein eindrangen, schossen Lisette Tränen in die Augen und liefen ihr die Wangen hinab. Hinter ihr weinte Maman still in sich hinein. Lisette trat zu ihr, und sie hielten sich weinend umschlungen.

Papa konnte nicht tot sein. Gestern hatten sie ihn doch noch gesehen, als er Tristan abgeholt hatte.

Oh Gott, Tristan!

Sie sah Dom vorwurfsvoll an. »Wenn Tristan dabei war, als Papa starb, warum ist er nicht gekommen, um es uns zu sagen?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin erst vor ein paar Stunden auf dem Gut eingetroffen. Aber …«

Als er zögerte, erstarrte Maman. »W-was aber?«

»Wir müssen ihn finden. George ist auf der Suche nach ihm und kann jeden Moment hier sein.«

Ein eisiger Schreck durchfuhr Lisette. »Was will George denn hier? Er denkt doch nicht etwa, dass Tristan Papa umgebracht hat, oder?«

»Nein«, sagte Dom knapp. »Obwohl George das vielleicht behaupten würde, wenn der Jagdaufseher nicht bezeugen könnte, was passiert ist.«

Dom fuhr sich mit der Hand über sein müdes Gesicht. »Aber er denkt, dass Tristan gestern Nacht Blue Blazes gestohlen hat.«

Lisette rang nach Luft. Blue Blazes war Papas – und Tristans – Lieblingspferd. Papa hatte versprochen, ihrem Bruder das Vollblut eines Tages zu schenken. »Du glaubst doch nicht etwa, dass Tristan so etwas tun würde, oder?«

»Ich weiß es nicht. Von den Bediensteten kann keiner genau sagen, was nach Vaters Tod geschehen ist. Sie sagen, dass Tristan weggegangen ist, aber George behauptet, dass er mitten in der Nacht zurückgekommen ist, um Blue Blazes zu stehlen. Er ist gerade dabei, seine Männer zusammenzurufen, um Tristan zu suchen und gefangen zu nehmen.«

Ihr Blut gefror. »Oh Dom! Wie kann er so etwas tun?«

»Du weißt, wie sehr George Tristan hasst. Er würde alles tun, um ihn zugrunde zu richten.«

»Bist du deshalb hergekommen?«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Hintertür des Cottages. Tristan kam durch den Korridor auf sie zu, seine blauen Augen wütend auf Dom gerichtet. Seine Jacke war zerrissen und seine Hosenbeine bis zu den Knien mit getrocknetem Schlamm bespritzt, als ob er querfeldein durchs Unterholz gelaufen wäre. »Um dabei zuzusehen, wie dein Bruder mich zugrunde richtet?«

»Tristan!«, rief Lisette empört. »Sprich nicht so mit ihm!«

»Ich bin hier, um dich zu warnen«, sagte Dom ruhig. »Wenn du Blue Blazes genommen hast, musst du ihn zurückgeben.«

Dunkle Röte überzog Tristans Wangen, während er mit festem Schritt auf Dom zuging. »Warum? Blue Blazes gehört mir. Vater hat ihn mir vermacht, und dein Schuft von einem Bruder war Zeuge. Aber er hat es darauf abgesehen, mir mein Geburtsrecht streitig zu machen.«

»Was redest du da?«, flüsterte Maman.

Tristan legte Maman den Arm um die Schulter und sah Dom wütend an. »Vater hat auf seinem Totenbett einen Nachtrag zu seinem Testament geschrieben. Er hat mir das Pferd vermacht, Maman das Cottage und Lisette seine Kuriositätensammlung. Außerdem hat er uns dreien eine Rente ausgesetzt. George und ich waren beide dabei, als er das Dokument unterschrieb.«

»Oh, Papa«, flüsterte Lisette und verschluckte die Tränen, die wieder in ihrer Kehle aufstiegen. Er hatte sie alle drei geliebt. Genug geliebt, um auf dem Totenbett an sie zu denken. Und er hatte daran gedacht, wie sehr sie all die kleinen Dinge mochte, die er von seinen unzähligen Reisen in ferne Länder mitgebracht hatte. Aus seinen Erzählungen hatte sie berauschende Eindrücke erhaschen können, wie es war, die Welt zu bereisen.

In Tristans Blick loderte eine Glut, die sie dort noch nie zuvor gesehen hatte. »Aber gleich nachdem Vater seinen letzten Atemzug getan hatte, hat George vor meinen Augen den Nachtrag verbrannt. Er sagte, er würde eher sterben, als uns auch nur einen Penny zu überlassen.«

Lisette fühlte sich, als habe ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Doms Gesicht glühte. Warum hasste George sie nur so sehr?

Doms Miene verfinsterte sich. »George hat mir nichts davon gesagt.«

»Und das überrascht dich?«, stieß Tristan hervor.

Dom seufzte gequält. »Nein.«

Tristan löste sich von seiner Mutter und sah Dom direkt in die Augen. »Ja. Ich habe das Pferd genommen. Es gehörte mir.«

»Du musst es zurückgeben«, sagte Dom. »Auf Pferdediebstahl steht die Todesstrafe. Wir müssen es irgendwie heimlich zurück in den Stall schaffen oder dafür sorgen, dass es herrenlos auf einer Wiese gefunden wird, oder – «

»Dafür ist es zu spät«, sagte Tristan ruhig. »Ich habe es an einen wandernden Pferdehändler verkauft, damit meine Familie etwas zu essen hat, bis ich einen Weg finde, für uns zu sorgen.«

»Du hast es verkauft?«, entfuhr es Dom. »Bist du verrückt geworden? George wird dich hängen lassen!«

»Soll er es nur versuchen«, fauchte Tristan »Ich werde überall erzählen, was er getan hat und was für ein lügnerischer, doppelzüngiger Schuft er ist und – «

»Niemand wird dir glauben, mon cher«, unterbrach ihn Maman mit ersticktem Flüstern. »Sie werden sagen, dass du es bist, der lügt. George ist der legitime Sohn. Er wird gewinnen, und dich wird man aufhängen.« Sie begann von Neuem zu weinen.

Tristans Zorn verrauchte, als er sah, wie seine Mutter litt. »Niemand wird mich aufhängen!« Er ging zu ihr und legte schützend die Arme um sie. »Schh, Mutter, nicht weinen.«

Lisette wandte sich an Dom. »Du musst etwas unternehmen. Du darfst nicht zulassen, dass Tristan verhaftet wird!«

»Zur Hölle damit.« Dom straffte die Schultern. »Also gut. Wir werden Folgendes tun: Tristan, du musst hier weg. Sofort. Du schaffst es vielleicht zu unserer Höhle, bevor George hier ist. Wir treffen uns dort heute Nacht, sobald ich mich davonschleichen kann.«

»Was für eine Höhle?«, fragte Maman.

Die drei Geschwister tauschten verstohlene Blicke. Die Höhle war ihr geheimes Reich gewesen, der Ort, an den sie vor ihren Eltern und der Welt der Erwachsenen – und vor George – geflüchtet waren und den sie all die Jahre lang geheim gehalten hatten.

»Mach dir keine Gedanken, Mutter. Ich weiß, welche Höhle Dom meint.«

Tristan sah seinen Halbbruder an, und Verdruss malte sich auf seinem Gesicht. »Aber ich verstehe nicht, warum ich mich verstecken soll, da doch George …«

»Hör auf deinen Bruder!«, sagte ihre Mutter beschwörend. »Ich bin sicher, Dom tut alles, was in seiner Macht steht, um das hier wieder in Ordnung zu bringen. Aber wenn du hierbleibst und George dich als Pferdedieb anklagt, dann reißt du uns alle mit ins Verderben.«

Lisette hielt den Atem an. Wie klug von Maman, Tristan ein schlechtes Gewissen einzureden! Sonst würde dieser törichte Kerl erst klein beigeben, wenn man ihm die Schlinge um den Hals legte.

Mit düsterem Blick verschränkte Tristan die Arme vor der Brust. »Also gut, Dom. Nehmen wir an, ich verstecke mich in unserer Höhle. Was dann?«

»Ich werde versuchen, George zu überzeugen, das Richtige zu tun«, sagte Dom. »Das wird mir leichterfallen, wenn du nicht danebenstehst und ihn provozierst.«

In Lisettes Herz begann sich Hoffnung zu regen. Wenn irgendjemand George zur Vernunft bringen konnte, dann war es Dom. »Tu, was Dom sagt, Tristan.«

Tristan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Also gut. Aber wenn George nicht mit seinen Lügen aufhört …«

»Du musst nach Frankreich gehen«, sagte Maman entschieden. »Zu unseren Verwandten in Toulon.« Sie warf Dom einen eindringlichen Blick zu. »Kannst du ihm dabei helfen?«

»Ich kann ihn bei Flamborough Head an Bord eines Fischerboots bringen. Aber von da an muss er sich alleine zum Hafen nach Hull durchschlagen. Dort kann er etwas von dem Geld nehmen, das er für das Pferd bekommen hat, um damit die Überfahrt nach Frankreich zu bezahlen.«

»Gut«, sagte Maman. »Das wird er tun.«

»Hör zu, Mutter …«, begann Tristan.

»Nein!«, unterbrach sie ihn scharf. »Ich werde dich nicht auch noch verlieren! Verlang das nicht von mir!«

Tristan biss die Zähne zusammen und nickte knapp.

»Komm«, sagte sie und nahm ihn beim Arm. »Wir packen deine Sachen.«

»Dafür ist keine Zeit«, fuhr Dom dazwischen. »Ich bringe ihm seine Sachen heute Nacht. Aber er muss jetztsofort verschwinden! George kann jeden Moment hier sein.«

»Ja, beeil dich, Tristan!«, drängte Lisette und schob ihren Bruder in Richtung Hintertür. »Bevor George dich findet.«

Tristan hielt am Ende des Korridors noch einmal inne. »Etwas solltest du noch wissen, Dom. In dem Nachtrag zu seinem Testament, den George verbrannt hat, hatte Vater auch dir etwas hinterlassen. Wenn George also mit seinen Lügen durchkommt …«

»Ich verstehe«, sagte Dom. »Und jetzt verschwinde, verdammt noch mal!«

Tristan musterte ihn noch einmal mit finsterem Blick und schlüpfte dann durch die Hintertür hinaus.

»Ich werde jetzt wohl am besten seine Sachen für die Reise zusammenpacken.« Maman verschwand im Korridor und ließ Lisette allein mit Dom zurück.

Dom ergriff ihre Hände. »Es tut mir leid, mein liebes Mädchen. Wegen George, wegen Vater … wegen allem.«

»Es ist doch nicht deine Schuld«, murmelte sie. »Wir wissen beide, dass George macht, was er will, und was Papa angeht …«

Als die Tränen wieder zu fließen begannen, zog er sie in seine Arme, um sie zu trösten. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Papa tot war. Gerade gestern noch hatte er ihr einen Kuss gegeben und ihr versprochen, sie bald auf einen Ausritt mitzunehmen. So viele Versprechen, und jetzt konnte er kein einziges davon mehr einlösen.

Tränen strömten über ihre Wangen und fielen auf den feinen Stoff von Doms blauem Gehrock, während er leise tröstende Worte murmelte. Sie wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatten, aber als Hufgetrappel draußen vor dem Cottage sie auseinanderriss, schien es ihr, als sei es nur ein Augenblick gewesen. Während sie noch einen Blick mit Dom wechselte, klopfte es bereits heftig an der Eingangstür.

»Wir sollten deine Mutter holen, damit sie die Tür öffnet«, sagte Dom mit gedämpfter Stimme. »Wenn George mich hier sieht, dann wird er vielleicht etwas ahnen.«

»Aber Mamans Anblick wird George nur wütend machen. Lass mich aufmachen.«

»Lisette …«

»Ich werde mich dumm stellen. Vielleicht glaubt er mir ja. Wir müssen ihn lange genug aufhalten, damit Tristan einen Vorsprung gewinnt.«

Dom sah sie durchdringend an, dann seufzte er und trat aus dem Korridor zurück in die Wohnstube. »Ich bin hier, falls du mich brauchst.«

Sie lächelte ihm dankbar zu und öffnete die Tür.

Dann erstarrte sie. Sie hatte nicht erwartet, dass George mit einem ganzen Aufgebot an Männern kommen würde. Sie erkannte seinen Verwalter, einen gemeinen Kerl namens John Hucker, zwei grob aussehende Kerle, die zu seinen Dienstboten gehörten, und ein paar Männer aus dem Dorf, die den »französischen Bastard« nicht leiden konnten – so wurde Tristan oft genannt, weil man ihn um die Gunst des Viscounts beneidete.

Sie versuchte, sich von dieser Machtdemonstration nicht einschüchtern zu lassen. George konnte nicht wissen, dass sie schon über Papas Tod Bescheid wusste. Und über das Vollblut. »Guten Morgen, Mylord. Was führt Euch so früh hierher?«

Obwohl George die stämmige Gestalt eines Landarbeiters hatte, verrieten seine Züge, seine Kleidung und sein Auftreten den reinblütigen Aristokraten. Er hatte den feinen, blassen Teint eines Lords, der sich nur selten in die Sonne wagt, die perfekt geschneiderte Garderobe eines Gentleman, der sich keine Sorgen machen muss, dass seine Kleidung durch Arbeit schmutzig wird, und den unverhohlenen Hochmut des erstgeborenen Sohns eines Viscounts.

Mit seiner breiten Brust, dem gewellten braunen Haar und seinen gesunden Zähnen, die er entblößte, wenn er ein weibliches Wesen anlächelte, das seinen hohen Ansprüchen genügte, galt er bei vielen Frauen als gut aussehend. Aber Lisette war immun gegen seine äußeren Vorzüge. Sie wusste um das Finstere, das in seinem Herzen lauerte.

Es war typisch für ihn, dass er es nicht einmal für nötig befand, von seinem Lieblingswallach abzusteigen. »Wo ist er?«, blaffte er, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten.

»Wer?«, blaffte sie zurück. Wenn er keinen Wert auf Höflichkeit legte, warum dann sie?

»Du weißt genau, wen ich meine. Deinen durchtriebenen Schuft von einem Bruder.«

Nur mit Mühe bändigte sie ihre Wut. »Er ist auch Ihr Bruder.«

»Das behauptet zumindest deine Mutter«, warf Hucker boshaft ein.

Die gemeine Bemerkung ließ sie nach Luft ringen, während die anderen Männer in Gelächter ausbrachen. Wie konnte der Kerl es wagen? Und wie konnte George sich unterstehen, ihm die Bemerkung nicht nur durchgehen zu lassen, sondern auch noch darüber zu lachen?

Sie zwang sich, ihre Zunge im Zaum zu halten, denn vielleicht hing Tristans Leben davon ab. Doch ihr Schweigen schien die Männer nur noch mehr zu provozieren. Sie drängten sich auf ihren Pferden dichter an sie heran, machten gemeine Bemerkungen über ihren Busen und Andeutungen, die sie nur halb verstand, die aber irgendwie schmutzig klangen.

In Sekundenschnelle war Dom neben ihr im Türrahmen. »Pfeif deine Hunde zurück«, fuhr er seinen Bruder an. »Sie trauert um ihren Vater, genau wie wir. Wie kannst du zulassen, dass diese Kerle sie beleidigen? Sie ist deine Schwester, in Gottes Namen!«

George zog eine Augenbraue hoch, war aber klug genug, nichts zu erwidern. »Was machst du hier, Dom?«

»Ich statte meiner Familie einen Beileidsbesuch ab – unserer Familie.«

George verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Bist du sicher, dass du nicht bloß in der Hoffnung hergekommen bist, bei Mrs Bonnaud Vaters Stelle einzunehmen?«

Lisettes Augen verengten sich. Am liebsten hätte sie sich auf George gestürzt. »Was erlauben Sie sich, Sie gemeiner, schrecklicher Kerl.« Nur Doms eiserner Griff hielt sie davor zurück, George von seinem Wallach herunterzuholen und ihm eine Ohrfeige zu versetzen.

»Genug, Monsieur!«, rief Maman hinter ihr. Sie trat vor die Tür und maß George mit einem kühlen Blick. »Das ist eine Sache zwischen Ihnen und mir. Lassen Sie die beiden aus dem Spiel.«

Georges Gesichtsausdruck wurde eisig. »Das ist eine Sache zwischen mir und Tristan.«

Maman war als Schauspielerin nicht umsonst der gefeierte Mittelpunkt der Touloner Gesellschaft gewesen. Obwohl sie ihre geröteten Augen und die Blässe ihrer Wangen nicht verbergen konnte, fragte sie mit perfekter Nonchalance: »Oh, was hat mein Sohn jetzt schon wieder angestellt?«

»Er hat mir mein Eigentum gestohlen. Und wir sind hier, um ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen.«

Sie winkte ab. »Davon weiß ich nichts.« Ein ungläubiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Können Sie beweisen, dass er Ihnen Ihr Eigentum gestohlen hat?«

Hucker ergriff das Wort: »Zeugen haben gesehen, wie er letzte Nacht Blue Blazes aus dem Stall gestohlen hat.«

Als Lisette sah, dass Maman noch blasser wurde, bekam sie weiche Knie. Zeugen. Das war schlecht.

Aber Maman blieb standhaft. »Wie dem auch sei, mich geht das nichts an. Ich kann meinem Sohn nicht ständig hinterherlaufen. Ich bin sicher, dass er das Pferd bald zurückbringt. Vielleicht ist es ja längst wieder im Stall. Wenn Eure Lordschaft jetzt gehen würden …«

»Ich gehe nirgendwohin, Mrs Bonnaud. Tristan würde als Erstes hierherkommen. Und wenn auch nur, um Ihnen von Vaters Tod zu berichten.« George starrte Maman mit jener trägen Arroganz an, deretwegen sie ihn alle hassten. »Ich werde mich also so einfach ausdrücken, dass selbst eine französische Hure mich versteht. Entweder Sie sagen mir auf der Stelle, wo Tristan ist, oder Sie räumen dieses Cottage morgen bei Tagesanbruch.«

Während Dom einen leisen Fluch murmelte, quiekte Lisette: »Das können Sie nicht tun!«

»Doch, das kann ich durchaus.« George musterte Maman. »Können Sie die Miete für diesen Monat bezahlen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte sie. Ihr Gesicht war jetzt aschfahl. »Das Cottage gehört Ambrose.«

»Gehörte. Mein Vater ist tot, erinnern Sie sich?«, entgegnete George kalt. »Jetzt gehört es mir, und ich verlange Miete. Können Sie bezahlen? Wenn nicht, habe ich das Recht, Sie vor die Tür zu setzen.« Er lächelte sein boshaftes Lächeln. »Sie haben einem Dieb Unterschlupf gewährt. Ich kann Sie so oder so vor die Tür setzen.«

Dom trat vor. »Du solltest ein Mindestmaß an Mitgefühl zeigen, George. Sie haben gerade erst von Vaters Tod erfahren und den Schock noch nicht verkraftet. Keiner von uns hat das. Lass ihnen wenigstens Zeit bis zur Beerdigung und zur Eröffnung des Testaments …«

»Du wirst dich doch nicht auf ihre Seite schlagen, Bruderherz«, sagte George schneidend, während sein Pferd vor- und zurücktänzelte. »Du wirst in Vaters Testament nämlich nicht bedacht. Er hat es kurz nach meiner Geburt gemacht und seitdem nicht geändert.«

Dom zog scharf die Luft ein. Offenbar hatte er das nicht gewusst. »Das kann nicht sein«, brach es aus ihm heraus.

»Wenn du mir nicht glaubst, frag Vaters Anwalt. Er hat Vater seit Jahren damit in den Ohren gelegen, dass er sein Testament auf den neuesten Stand bringen soll.« George lächelte süffisant. »Ich schlage also vor, du denkst noch einmal darüber nach, auf wessen Seite du stehst. Ich bin natürlich gerne bereit, meinem legitimen Bruder gegenüber großzügig zu sein und ihm das zu geben, was unser Vater versäumt hat, ihm in seinem Testament zu vermachen. Aber …«

Seine bösartige Pause ließ Lisette das Blut in den Adern gefrieren.

»Aber?«, hakte Dom nach.

»Ich kann deine Karriere als Anwalt auch mit einem Fingerschnippen beenden, bevor sie auch nur begonnen hat.« Er ließ seine Finger schnalzen. »Wenn du ihnen hilfst, Tristan vor mir zu verstecken, wirst du keinen Penny von Vaters Vermögen bekommen – kein Geld, keine Ländereien, gar nichts. Und ohne Geld wird es dir schwerfallen, dein Studium fortzusetzen.«

Verzweiflung ergriff Lisette. Doms Leben würde vorbei sein, noch bevor es richtig angefangen hatte. Das hatte er nicht wissen können, als er sich bereit erklärte, Tristan zu helfen.

»Wie soll ich ihn vor dir verstecken, wenn ich keine Ahnung habe, wo er ist?«, sagte Dom ruhig. Doch sie konnte spüren, unter welcher Anspannung er stand.

George runzelte die Stirn. »Überleg dir gut, für wen du dich entscheidest, kleiner Bruder. Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass du nichts bekommen wirst.«

Ein Ausdruck von enttäuschtem Vertrauen, der Lisette fast das Herz zerriss, malte sich auf Doms Gesicht. »Du hast tatsächlich den Nachtrag zu Vaters Testament verbrannt, nicht wahr?«

George erbleichte. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Ich habe erfahren, dass Vater auf seinem Totenbett einen Nachtrag zu seinem Testament verfasst hat, in dem er uns allen etwas hinterlassen hat. Auch mir. Und du hast ihn verbrannt.«

»Aha!«, George beugte sich im Sattel vor. »Du weißt also, wo Tristan ist. Er ist der Einzige …« Er unterbrach sich.

»Der von dem Nachtrag wusste?« Triumph blitzte in Doms Augen auf. »Ich dachte, du hast keine Ahnung, wovon ich spreche?«

George war offenbar nicht gewillt, sich von etwas so Nebensächlichem wie der Wahrheit einen Strich durch die Rechnung machen zu lassen. »Verschon mich mit deinen juristischen Tricks, kleiner Bruder. Wir sind hier nicht bei Gericht, und ich gebe nichts zu. Wo ist er, verdammt noch mal?«

»Ich habe es dir schon gesagt. Ich weiß es nicht.«

»Du lügst.«

»So wie du«, entgegnete Dom scharf.

»Dafür hast du keinen Beweis. Das Einzige, was du hast, ist das Wort eines ehrlosen, diebischen Bastards, der nur gewinnen kann, wenn er mich verleumdet.«

»Und du hast keinen Beweis dafür, dass ich weiß, wo er ist.«

»Ich brauche keinen Beweis. Ich bin der alleinige Erbe. Mein Wille ist Gesetz.« Seine Fäuste umfassten die Zügel fester. »Also, stehst du auf meiner Seite, kleiner Bruder? Oder auf ihrer? Wenn du dich nämlich für sie entscheidest, dann schwöre ich dir, bekommst du keinen Penny.«

Lisette hielt den Atem an. Selbst die Pferde schienen reglos auf Doms Antwort zu warten.

Er starrte George einen nicht enden wollenden Moment lang an. Dann drehte er sich um und bot Lisette seinen Arm. »Komm, Schwester. Es sieht so aus, als müssten wir bis morgen früh deine Sachen und die deiner Mutter zusammenpacken.«

Ungläubiges Erstaunen malte sich auf Georges Gesicht. Dann wurden seine Augen schmal. »Also gut. Du hast deine Entscheidung getroffen. Sag Tristan, dass dein Ruin auf seine Rechnung geht.«

Er riss seinen Wallach herum und blaffte die wartenden Männer an: »Durchsucht das Haus! Durchsucht die Felder und das Moor und jeden Meter Land von hier bis zur Küste! Er muss hier irgendwo sein!«

Während seine Männer ins Haus stürmten, sagte Lisette: »Dom, du darfst dich nicht …«

»Sag nichts, bis sie weg sind, mein liebes Mädchen«, flüsterte er. »Dann können wir reden.«

Er hatte recht mit seiner Vorsicht, aber sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht zu protestieren, als Hucker ihre Garderobe durchwühlte und die anderen Männer, unbeeindruckt von Mamans französischen Flüchen, die Einrichtung des Cottages auf den Kopf stellten. Hucker rauchte seine ekelhaften spanischen Zigarillos, und der Gedanke daran, wie ihr Übelkeit erregender Geruch sich in ihren Kleidern festsetzte, brachte sie fast um den Verstand.

Nach den Ereignissen des Tages fühlte sich Lisette am Ende ihrer Kräfte. Sie wollte die Männer anschreien, aber es hatte keinen Sinn. Nichts würde jemals wieder so sein wie früher. Papa war tot. Es würde nie wieder endlose Frühstücke geben, bei denen er ihnen lustige Stellen aus der Zeitung vorlas oder sie mit Anekdoten von seiner letzten Reise unterhielt. Es würde keine Spaziergänge mehr mit ihm und Maman entlang der Steilküste bei Flamborough Head geben. Keine Nächte mehr, in denen sie gemeinsam mit Dom und Tristan zu den Sternen hinaufsah.

Wieder brannten Tränen in ihren Augen. Wie sollte sie ohne das alles auskommen? Und was würde ohne Papa aus ihnen werden?

Georges Männer brauchten nicht lange, um herauszufinden, dass Tristan sich nicht im Cottage versteckte. Sobald sie fort waren, um die Umgebung nach Tristan abzusuchen, wandte sich Maman mit besorgter Miene an Dom. »Du musst das nicht tun, mein Junge. George wird dir keinen Penny geben. Das hätte dein Vater nicht gewollt.«

»Soll ich ihm Tristan ausliefern? Wäre dir das lieber?«

»Natürlich nicht, aber vielleicht kannst du noch einmal versuchen, vernünftig mit George zu reden …«

»Du hast ja gesehen, wie gut das funktioniert hat.«

Maman runzelte die Stirn. »Und wenn Tristan ihm das Geld gibt, das er für das Pferd bekommen hat? George kann doch nicht … Er wird doch nicht zulassen, dass man seinen eigenen Bruder aufhängt. Das wird er doch nicht, oder?«

»Er kann, und er wird, fürchte ich. Wenn ihm nicht einmal der Letzte Wille unseres toten Vaters etwas bedeutet, dann ist er zu allem fähig.« Dom blickte aus dem Fenster, wo George seine Männer zur Eile antrieb. »Außerdem habe ich den Verdacht, dass selbst, wenn ich gewissenlos genug wäre, ihm Tristan auszuliefern, mir das wenig einbringen würde, außer einem Leben unter Georges Knute. Er würde meine finanzielle Abhängigkeit von ihm immer wieder benutzen, um mich gefügig zu machen. Ich müsste ihm bei jedem Schurkenstück, das er ausheckt, zu Willen sein, und so will ich nicht leben.«

»Aber wie willst du leben?«, fragte Lisette. Dom war schließlich auch ihr Bruder. Sie wollte nicht, dass er sich zugrunde richtete.

Dom legte ihr einen Finger unters Kinn. »Ich bin ein erwachsener Mann, mein liebes Mädchen. Ich kann für mich selbst sorgen. Ich bin mit meinem Jurastudium zwar vielleicht noch nicht weit genug gekommen, um mir einen Posten als königlicher Beamter oder in einer Anwaltskanzlei zu verschaffen, aber ich habe einen Freund bei den Bow-Street-Ermittlern, und mit meinen Kenntnissen wird er mich vielleicht einstellen.« Er sah sie beide an. »Ich mache mir mehr Sorgen darum, wie ihr drei zurechtkommen werdet.«

Maman straffte die Schultern. »Wir gehen mit Tristan zu meiner Familie nach Toulon.«

Dom runzelte die Stirn. »Das heißt, ihr müsst alles aufgeben.«

»Nicht alles«, verbesserte ihn Maman. »Mir bleiben ja meine Kinder. Und im Übrigen hat mir euer Papa alles, was ich besitze, geschenkt, und George wird es früher oder später als Teil seines Erbes zurückfordern.« Sie schob das Kinn vor. »Ich werde ihm keine Gelegenheit geben, mich eine Diebin zu nennen. Und auch nicht Lisette. Wir nehmen unsere Kleider mit und sonst nichts.«

»Aber wovon wollt ihr in Frankreich leben?«, fragte Dom.

»Ich werde zurück zum Theater gehen.« Sie neigte kokett den Kopf zur Seite. »Ich bin immer noch jung und schön genug, oder nicht?«

Dom lächelte über ihre Eitelkeit. »Ja. Und ihr habt das Geld, das Tristan für das Pferd bekommen hat.«

»Er sollte es nicht behalten«, flüsterte Maman.

»Doch, das sollte er. Vater wollte, dass er es bekommt.«

Dom wurde nachdenklich. »Zumindest wissen wir, dass Vater wollte, dass wir alle unseren Anteil bekommen, auch wenn George das verhindert hat.«

Als Lisette den Schmerz bemerkte, der seine Züge verdunkelte, krampfte sich ihr Herz zusammen. »Papa hätte dich in seinem Testament bedenken müssen. Es war falsch von ihm, das nicht zu tun.«

»Du weißt doch, wie er war. Immer unterwegs, um eine neue Stadt oder eine neue Insel oder ein neues Meer kennenzulernen.« Ein bitterer Ton schlich sich in Doms Stimme. »Er hatte keine Zeit für so nebensächliche Dinge wie Verantwortung und Familie.«

»Denk nicht zu schlecht von ihm«, sagte Maman. »Er war vielleicht nicht besonders gut in diesen Dingen, aber er hat euch geliebt.« Sie sah Dom und Lisette an. »Er hat euch beide sehr geliebt.«

Dann fing Maman wieder an zu weinen und ging hinaus, um sich ein Taschentuch zu holen. Als Dom und Lisette allein waren, flüsterte sie: »Ja, er hat uns geliebt. Aber nicht genug.«

Das war das Problem, wenn man sich auf einen Mann verließ. Wenn es darauf ankam, dann konnte man auf Männer einfach nicht zählen. Papa … George … Sogar Tristan hatte mit seinem Zorn alles nur noch schlimmer gemacht. Von den Männern, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten, hatte nur einer immer das Richtige getan – und selbst Dom konnte jetzt nicht mehr tun, als sie auf ein Schiff nach Frankreich zu verfrachten.

Maman hatte einen Fehler gemacht, als sie auf Papa vertraut hatte. Es hatte ihr und ihren Kindern nur Kummer und Leid eingebracht.

Wieder musste Lisette die Tränen unterdrücken, die in ihrer Kehle hochstiegen. Nun, sie würde nicht so töricht sein. Bei der ersten Gelegenheit würde sie sich einen eigenen Platz in der Welt erobern, koste es, was es wolle. Sie würde keinem Mann die Gelegenheit geben, sie zu enttäuschen.

1

Covent Garden, London

April 1828

Kein einziger Brief von Tristan in dem ganzen Stapel.

Während der neblige Morgen draußen vor dem Fenster von dunkel- zu hellgrau aufklarte, warf Lisette die Post auf den Schreibtisch in Doms Arbeitszimmer. Das war typisch Tristan. Als sie aus Paris abgereist war, hatte er ihr versprochen, ihr einmal pro Woche zu schreiben. Anfangs hatte er sich an sein Versprechen gehalten, doch jetzt waren schon zwei Monate ohne eine einzige Zeile von ihm vergangen.

Es beunruhigte sie, dass der Strom seiner Briefe plötzlich versiegt war, doch zugleich verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihren nichtsnutzigen Bruder an den Füßen aufzuhängen und ein wenig baumeln zu lassen. Dann würde er spüren, was es für ein Gefühl war, so im Ungewissen gelassen zu werden.

»Bist du sicher, dass du mich nicht nach Edinburgh begleiten willst, um mir bei diesem Fall zu helfen?«, fragte Dom. »Du könntest Notizen für mich machen.«

Lisette sah hinüber zu ihrem Halbbruder, der lässig im Türrahmen lehnte. Mit seinen einunddreißig Jahren war er hagerer und muskulöser als früher, und über seine Wange zog sich eine Narbe, über deren Herkunft er nicht sprechen wollte. Aber er stand immer noch auf ihrer Seite.

Meistens jedenfalls. Sie zog die Stirn kraus. Manchmal konnte er genauso schlimm sein wie Tristan.

Seit Dom sie vor sechs Monaten aus Frankreich nach London geholt hatte, hatte sie getan, was sie konnte, um das Stadthaus, das er gemietet hatte, einigermaßen wohnlich zu gestalten. Nur weil es gleichzeitig als Büro der Agentur Manton diente, musste es ja nicht unbedingt kalt und unpersönlich sein. Aber was war der Lohn für ihre Bemühungen gewesen? Noch ein Mann, der versuchte, ihr Vorschriften zu machen.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du brauchst mich nicht, um Notizen zu machen. Du erinnerst dich doch sowieso an jedes Wort.«

»Aber du kannst Menschen besser beschreiben als ich. Dir fallen an ihnen Dinge auf, die ich gar nicht bemerke.«

Sie verdrehte die Augen. »Ich komme nur mit, wenn ich noch etwas anderes tun darf, als Beschreibungen von Leuten anzufertigen und dir Tee zu machen.«

Er betrachtete sie argwöhnisch. »Was zum Beispiel?«

»Zeugen befragen. Verdächtige verfolgen. Eine Pistole tragen.«

Immerhin lachte Dom nicht. Tristan hätte gelacht. Und dann wieder einmal versucht, einen passenden Ehemann für sie zu finden. Meistens suchte er sich dafür einen seiner angeberischen Soldatenfreunde aus, die sich so benahmen, als müsse ein halbenglischer Bastard dankbar für jeden Krümel ihrer Aufmerksamkeit sein.

Dom hingegen musterte sie nachdenklich, während er ins Zimmer trat. »Kannst du überhaupt mit einer Pistole umgehen?«

»Ja. Vidocq hat es mir gezeigt.« Nur einmal, bevor Tristan dem Schießunterricht ein Ende gemacht hatte. Aber das brauchte Dom ja nicht zu wissen.

Er war schon dabei, Eugène Vidocq, den ehemaligen Leiter der französischen Geheimpolizei, zu verfluchen. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass unser Bruder dich auch nur in die Nähe dieses Schurken gelassen hat.«

Sie zuckte die Schultern. »Wir brauchten das Geld. Und Vidocq brauchte bei der Sûreté Nationale jemanden, der ihm seine Karteikarten mit den Beschreibungen von Kriminellen ordnete. Es war eine gute Stellung.«

Und überraschenderweise hatte sie ihr Spaß gemacht. Nachdem Maman vor drei Jahren gestorben war, war Lisette zu Tristan nach Paris gezogen. Damals hätte sie alles für eine sinnvolle Beschäftigung getan, die sie von ihrem Schmerz ablenkte. Vidocq hatte sie ihr geboten. Von ihm hatte sie gelernt, wie man in einem Kriminalfall ermittelt. Vidocq wollte sie sogar als Agentin für die Sûreté anwerben, wie er es auch mit anderen Frauen getan hatte. Aber Tristan hatte sich geweigert, sein Einverständnis zu geben.

Sie schnaubte. Tristan fand es ganz selbstverständlich, schon seit vielen Jahren als Agent für die Sûreté zu arbeiten, aber seine Schwester musste er in Watte packen, bis sie einen Ehemann gefunden hatte. Was mit der Zeit immer unwahrscheinlicher wurde. Sie war schon sechsundzwanzig, um Himmels willen!

»Was sagst du, Dom«, fragte sie erwartungsvoll. »Wenn ich mitkomme, darf ich dann mehr, als nur Notizen machen?«

»Dieses Mal nicht. Aber vielleicht irgendwann einmal …«

»Das hat Tristan auch immer gesagt.« Sie rümpfte die Nase. »Und gleichzeitig hat er hinter meinem Rücken versucht, mich unter die Haube zu bringen. Und als das nicht funktionierte, hat er mich zu dir nach London geschickt.«

»Wofür ich ihm zutiefst dankbar bin«, sagte Dom mit dem Anflug eines Lächelns.

»Versuch nicht, mich mit Komplimenten abzulenken. Ich werde auch keinen von den Kandidaten ehelichen, die du für mich ausgesucht hast.«

»Umso besser«, erwiderte er gut gelaunt. »Ich habe nämlich keine Kandidaten anzubieten. Ich bin viel zu egoistisch, um dich verlieren zu wollen. Ich brauche dich hier.«

Sie sah ihn unsicher an. »Das sagst du nur so.«

»Keineswegs, mein liebes Mädchen. In deinem klugen Köpfchen befinden sich jede Menge Informationen über Vidocqs Methoden. Ich wäre ja ein Narr, wenn ich darauf verzichten würde, bloß um dich in den Hafen der Ehe einlaufen zu lassen.«

Lisette beruhigte sich. Als sie den Wunsch geäußert hatte, das Handwerk eines Ermittlers zu erlernen, war Dom wesentlich aufgeschlossener gewesen, als sie erwartet hatte. Vielleicht lag es daran, dass er selbst so hart hatte arbeiten müssen, um seine Ermittlungsagentur aufzubauen, nachdem George ihn um sein Erbteil gebracht hatte. Oder vielleicht daran, dass er sich gern an ihre gemeinsame Kindheit erinnerte.

Wie auch immer, sie würde ihm etwas Zeit lassen. Vielleicht würde er es sich irgendwann überlegen und ihr anspruchsvollere Aufgaben übertragen. Vielleicht würde sie eines Tages auf Reisen gehen und das Fernweh befriedigen können, das sie von Papa geerbt hatte. Es war schon ein Zeichen seines Vertrauens, dass Dom ihr während seiner Abwesenheit die Obhut über das Haus und die Dienstboten anvertraute. Er tat das zum ersten Mal.

»Also findest du, dass ich klug bin?«, fragte sie.

»Und rechthaberisch und starrköpfig und eine entsetzliche Nervensäge.« Als er ihren verletzten Gesichtsausdruck bemerkte, wurde sein Tonfall sanfter. »Und, ja, sehr klug. Du hast viele gute Eigenschaften, mein liebes Mädchen, die ich sehr schätze. Ich bin nicht Tristan, weißt du.«

»Ich weiß.« Sie sah die Briefe durch, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Da wir gerade bei deinem nichtsnutzigen Bruder sind, ich habe seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, so schweigsam zu sein. Normalerweise schreibt er einmal pro Woche.«

Dom schlenderte hinüber zum Schreibtisch, um einige Unterlagen für seine Reise zusammenzusuchen. »Vielleicht arbeitet er für Vidocq an einem Fall.«

»Aber Vidocq musste letztes Jahr als Leiter der Sûreté zurücktreten.«

Nachdem Vidocq zurückgetreten war, hatte Tristan nur mit großem Glück seine Stellung als Agent behalten können. Sie war entlassen worden. Also hatte ihr Bruder entschieden, dass es Zeit für sie war, sich einen Ehemann zu suchen. Zur Not sogar einen Engländer. Und da er selbst es nicht riskieren konnte, nach England zurückzukehren, da er dort noch immer als Pferdedieb gesucht wurde, hatte er es Dom überlassen, sie nach London zu holen.

»Dann arbeitet er vielleicht für Vidocqs Nachfolger an einem Fall«, sagte Dom, während er die Unterlagen in seine Mappe schob.

»Das bezweifle ich.« Sie erhob sich und ging langsam zum Fenster. »Tristan ist bei dem neuen Leiter der Sûreté nicht gerade beliebt.«

»Weil Tristan verdammt gut in seinem Metier ist. Dieser neue Kerl könnte ja nicht einmal einen Obsthändler überführen, der verfaulte Äpfel verkauft. Deshalb hasst er jeden, der besser ist als er.« Er sah sie von der Seite an. »Allerdings muss man zugeben, dass unser Bruder die Geduld jedes Vorgesetzten strapazieren kann. Er hält sich nur an seine eigenen Regeln, kommt und geht, wann er will, und neigt dazu, niemandem zu sagen, woran er gerade arbeitet.«

»Genau wie du«, sagte sie trocken.

Er lachte auf. »Ich gebe es zu. Aber ich bin mein eigener Chef, also kann ich es mir erlauben – er hat Vorgesetzte, die regelmäßig Berichte erwarten.«

»Das stimmt«, sagte sie geistesabwesend und blickte aus dem Fenster. Ein Mann in einem grauen Überzieher, der auf der anderen Straßenseite stand und aufmerksam das Haus betrachtete, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Er sah aus wie …

Sie trat näher an die Scheibe heran, und der Mann verschwand im Nebel. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie zwang sich, nicht darauf zu achten. Der Mann da draußen konnte unmöglich Hucker gewesen sein. Er würde nicht nach London kommen. Er war in Yorkshire mit Georges restlichen Lakaien. Wenn er überhaupt noch für George arbeitete.

Dom trat neben sie. »Außerdem hat er die unangenehme Eigenschaft, sich dauernd selbst in Schwierigkeiten zu bringen.«

»Wer?«, fragte sie geistesabwesend und wandte sich vom Fenster ab.

»Tristan.« Er musterte sie aufmerksam. »Wir reden doch die ganze Zeit über Tristan, oder?«

»Ja, natürlich.« Sie zwang sich, nicht mehr an Hucker zu denken. »Genau deswegen mache ich mir Sorgen um ihn. Weil er die Neigung hat, sich Ärger einzuhandeln. Sogar Vidocq meinte, dass Tristan absichtlich die Gefahr sucht.«

»Das stimmt. Aber er schafft es immer irgendwie, seinen Hals selbst aus der Schlinge zu ziehen. Dafür braucht er deine Hilfe nicht.« Doms Blick wurde weicher. »Ich hingegen brauche deine Hilfe bei allem Möglichen.« Er streckte ihr seine behandschuhte Hand hin und deutete auf einen Riss in der Handfläche. »Siehst du das? Es ist mir gerade heute Morgen passiert. Kannst du das in Ordnung bringen?«

Er versuchte, sie von ihren Sorgen abzulenken. Wie reizend von ihm. Aber ziemlich durchsichtig. Wortlos zog sie ihm den Handschuh von der Hand, holte ihr Nähzeug hervor und begann den Riss auszubessern.

Während sie damit beschäftigt war, kehrten ihre Gedanken zu dem Mann zurück, den sie draußen gesehen hatte. Sollte sie Dom davon erzählen? Nein, das wäre dumm. Er würde sich vielleicht entschließen, in London zu bleiben, und das konnten sie sich nicht leisten. Seine Agentur lief zwar von Tag zu Tag besser, aber einen so lukrativen Fall wie den in Schottland konnte er sich nicht entgehen lassen.

Außerdem war sie sich ja nicht einmal sicher, ob es wirklich Grund zur Besorgnis gab. Es war Jahre her, seit sie das Gut verlassen hatte – der Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite war vielleicht gar nicht Hucker gewesen. Es hatte keinen Zweck, Dom grundlos zu beunruhigen.

Sie war beinahe mit dem Handschuh fertig, als Doms einziger männlicher Bediensteter – Butler, Kammer- und Hausdiener in einem – das Arbeitszimmer betrat. »Es ist schon fast neun Uhr, Sir. Sie müssen in einer halben Stunde am Hafen sein.«

»Danke, Skrimshaw«, antwortete Dom mit sarkastischem Unterton. »Ich kann selbst auf die Uhr sehen.«

Der rotgesichtige Butler drückte die Brust heraus. »Ich bitte um Nachsicht, Sir, aber ›Wie Wellen an des Ufers Kieseln bersten, / So eilen unsre Stunden an ihr Ziel.‹«

Als sie sah, dass sich Doms Miene verfinsterte, unterdrückte Lisette ein Lachen und warf hastig ein: »Ich sorge dafür, dass er sich beeilt, Shaw. Er wird gleich unten sein.«

Skrimshaw schien nicht überzeugt zu sein, drehte sich aber um und verließ das Zimmer.

»Ich schwöre dir, wenn der Kerl mir noch einmal mit Shakespeare kommt, dann kann er sich nach einer neuen Stellung umsehen«, zischte Dom wütend.

»Das solltest du dir noch einmal überlegen. Du wirst niemals wieder jemanden finden, der seine Arbeit für ein so bescheidenes Gehalt macht.« Sie schnitt den Faden ab und reichte Dom den Handschuh. »Außerdem hast du ihn provoziert, weil du ihn mit seinem richtigen Namen angeredet hast.«

»Oh, um Himmels willen«, sagte er, während er seinen Handschuh überstreifte, »ich werde meinen Diener nicht mit seinem Bühnennamen anreden, ganz egal, wie er seine Abende verbringt.«

»Du solltest freundlicher zu ihm sein«, ermahnte sie ihn. »Weil du darauf bestanden hast, dass er mich nach Einbruch der Dunkelheit nicht im Haus allein lässt, während du unterwegs bist, hat er auf eine Rolle verzichtet, für die diese Woche die Proben beginnen sollen. Und außerdem hat er recht. Es ist höchste Zeit, dass du aufbrichst.« Sie kämpfte mit einem Lächeln. »Die Minuten fließen unaufhaltsam dahin.«

Mit einem unterdrückten Fluch wandte sich Dom zur Tür, hielt jedoch noch einmal inne und sah sich zu ihr um. »Was Tristan angeht – falls er sich noch nicht gemeldet hat, wenn ich aus Schottland zurückkomme, dann werde ich sehen, was ich herausfinden kann.«

»Danke, Dom«, sagte sie sanft. Sie wusste, was für ein Zugeständnis das für ihn bedeutete.

»Aber glaub nicht, ich laufe dem Halunken bis nach Frankreich nach«, brummte er. »Nur, wenn mich jemand dafür bezahlt.«

»Vielleicht löse ich ja den einen oder anderen Fall, während du in Edinburgh bist«, sagte sie leichthin. »Dann kann ichdich bezahlen.«

Er runzelte die Stirn. »Das ist nicht im Entferntesten komisch. Versprich mir, dass du nichts derart Törichtes versuchen wirst.«

Sie warf ihm ein rätselhaftes Lächeln zu und sah zur Uhr. »Du verpasst noch dein Schiff, wenn du dich nicht beeilst.«

»Dann mach es mir leicht, Lisette. Wenn du …«

»Jetzt geh schon«, lachte sie und schob ihn in Richtung Tür. »Du weißt ganz genau, dass ich dich nur ärgern will. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht.«

Endlich ging er, irgendetwas von anmaßenden Dienstboten und lästigen Schwestern vor sich hin murmelnd. Auflachend wandte sie sich wieder der Post zu. Sie ordnete die Briefe den Fällen zu, die sie betrafen, und legte die Anfragen wegen neuer Fälle auf einen separaten Stapel, um sie als Letzte durchzugehen.

Sie verbrachte den Tag damit, Briefe zu beantworten, Notizen zu Fällen zu machen, von denen sie dachte, dass Dom sie übernehmen könnte, und sich um den Haushalt zu kümmern. Es war schon fast Mitternacht, als sie zu Bett ging. Es war zwecklos, sich früher zurückzuziehen. Fast jeden Abend drängten sich die Theaterbesucher in dichten Trauben durch die Straße vor ihrer Haustür. Ihr gefielen der Lärm und das Menschengewühl. Sie erinnerten sie an die Theater in Toulon, in denen Maman aufgetreten war.

Nachdem sie zu Bett gegangen war, wurde es draußen etwas ruhiger. Meist blieb es bis zum Mittag des folgenden Tages so – zumindest an diesem Ende der Bow Street.

Als sie kurz nach Morgengrauen von einem heftigen Klopfen an der Haustür geweckt wurde, blieb ihr daher fast das Herz stehen. Wer konnte das zu so früher Stunde sein? Ach du liebe Zeit, war Doms Schiff nach Edinburgh aufgehalten worden?

Sie warf sich hastig ihren Morgenmantel über das Nachthemd und eilte hinab in die Eingangshalle, wo Skrimshaw bereits grummelnd zur Tür schlurfte. Er hatte kaum geöffnet, als auch schon eine männliche Stimme blaffte: »Ich verlange, Mr Manton zu sprechen.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, antwortete Skrimshaw, der ganz in seiner Rolle als Butler aufging. »Mr Manton empfängt so früh noch keine Klienten.«

»Ich bin kein Klient. Ich bin der Herzog von Lyons«, erwiderte der Mann in jenem Tonfall eisiger Verärgerung, den nur ein englischer Adliger beherrscht. »Und Mr Manton wird mich empfangen, wenn er weiß, was gut für ihn ist.«

Der drohende Tonfall des Mannes ließ Lisette in Panik zur Treppe stürzen.

»Wenn nicht«, fuhr der Herzog fort, »werde ich mit einem Schwarm Polizisten zurückkommen und jeden Zentimeter dieses Hauses nach ihm und seinem …«

»Mr Manton ist nicht zu Hause.« Mit diesen Worten eilte Lisette, ohne weiter darauf zu achten, dass ihre Garderobe kaum geeignet war, einem Besucher gegenüberzutreten, die Treppe hinunter. Das Letzte, was die Agentur Manton gebrauchen konnte, war ein zudringlicher Herzog, der mit einem Haufen Polizisten hier hereinplatzte, weil er wegen irgendeiner Lappalie aufgebracht war. Allein schon das Gerede würde sie ruinieren.

Doch als sie den Fuß der Treppe erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Denn der Mann, dessen Gestalt sich hinter Skrimshaw im Türrahmen abzeichnete, sah überhaupt nicht wie ein Herzog aus.

Nicht, dass er nicht wie ein Herzog gekleidet war – er trug einen mit teurem Samt bezogenen Zylinder, einen exquisit geschneiderten Kaschmirüberzieher und eine perfekt gebundene Schleife. Aber alle Herzöge, die sie bisher in den Zeitungen und auf satirischen Drucken gesehen hatte, hatten graue Haare und hängende Schultern gehabt.

Dieser Herzog aber hatte weder das eine noch das andere. Er war groß und breitschultrig und mit Abstand der bestaussehende Mann, den sie je gesehen hatte. Er war nicht schön. Nein, das nicht. Dafür waren seine Züge zu scharf geschnitten – sein Kinn zu kantig, die Augen zu tief liegend –, und sein goldbraunes Haar war eine Idee zu glatt, um modisch zu sein. Aber attraktiv, ja, das war er. Geradezu ärgerlich attraktiv.

»Dom ist nicht hier«, wiederholte sie.

»Dann sagen Sie mir, wo er ist.«

Dass er erwartete, sie würde nach seiner Pfeife tanzen, brachte sie in Harnisch. Sie wusste, wie man mit dieser Art von Männern umging. Auf keinen Fall durfte man sich von ihnen einschüchtern lassen und irgendetwas preisgeben. Schließlich wusste sie noch nicht einmal, was er eigentlich wollte. »Er ist nicht in der Stadt, weil er auswärts an einem Fall arbeitet, Euer Gnaden. Mehr bin ich nicht befugt zu sagen.«

Augen von der Farbe feinster Jade fuhren über ihre Gestalt und durchdrangen mühelos die fadenscheinige Fassade, die sie aufgerichtet hatte. Mit einem einzigen, schonungslosen Blick erfasste er ihr Alter, ihre familiären Verhältnisse, ihre gesellschaftliche Stellung und ließ sie überdeutlich empfinden, wer sie war – und wer sie nicht war.

Dann fixierte der Blick dieser alles durchdringenden Augen wieder ihr Gesicht. »Und wer sind Sie? Mantons Mätresse?«

Der Tonfall demonstrativer Herablassung, in dem er das Wort aussprach, ließ Skrimshaw purpurrot anlaufen. Doch bevor der Butler den Mund öffnen konnte, fasste sie ihn am Arm. »Ich kümmere mich um das hier, Shaw.« Obwohl er sich versteifte, erkannte Skrimshaw am Klang ihrer Stimme, dass sie keinen Widerspruch duldete. Widerstrebend trat er zurück.

Sie erwiderte den Blick des Herzogs kühl. »Woher wissen Sie, dass ich nicht Mr Mantons Gattin bin?«

»Manton ist nicht verheiratet.« Was für ein arroganter Lackaffe. Oder, wie Maman gesagt hätte … ein echter Engländer. Er sah vielleicht nicht aus wie ein Herzog, aber dafür benahm er sich wie einer. »Nein. Aber Mr Manton hat eine Schwester.«

Damit schien der Herzog nicht gerechnet zu haben. Dann fing er sich wieder und warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. »Nicht, dass ich wüsste.«

Langsam wurde sie wirklichärgerlich. Sie vergaß seine Drohung, vergaß, dass es noch früh am Morgen war, und sie vergaß, dass sie nur ein Nachthemd mit einem Morgenmantel darüber trug. Alles, was sie sah, war ein zweiter George, ein Mann, der außer vor sich selbst und seiner gesellschaftlichen Stellung vor nichts Respekt hatte.

»Ich verstehe.« Sie marschierte auf ihn zu und sah ihm direkt ins Gesicht. »Da Sie ja schon so gut über Mr Manton Bescheid wissen, brauchen Sie uns wohl nicht mehr, um Ihnen Auskunft darüber zu geben, wann er zurückkommt oder wie Sie ihn erreichen können. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Euer Gnaden.«

Sie machte Anstalten, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber er trat einen Schritt vorwärts und hinderte sie daran. Als sie wütend den Blick zu ihm hob, bemerkte sie einen Schimmer von Respekt in seinen Augen. »Verzeihen Sie mir, Madam, aber mir scheint, dass wir beide uns auf dem falschen Fuß erwischt haben. Vielleicht sollten wir noch einmal von vorne anfangen.«

»Vielleicht sollten Sie noch einmal von vorne anfangen und dabei versuchen, nicht über Ihre eigenen Füße zu stolpern.«

Er zog die Augenbrauen hoch. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass eine derart unbedeutende Person wie sie so mit ihm sprach. Dann nickte er. »Ich werde mich bemühen, Ihrem Wunsch nachzukommen. Aber ich habe gewisse Gründe für meine Unhöflichkeit. Wenn Sie mir gestatten, einzutreten, um Ihnen alles zu erklären, verspreche ich, mich wie ein Gentleman zu benehmen.«

Als sie ihn skeptisch ansah, trat Skrimshaw zu ihr und flüsterte: »Kommen Sie wenigstens von der Tür weg Miss, bevor jemand Sie so sieht, nur mit …«

Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass praktisch jeder, der auf der Straße vorbeiging, sehen konnte, wie sie hier in Nachthemd und Morgenmantel stand. Kein Wunder, dass der Herzog sie für Doms Mätresse gehalten hatte. »Ja, natürlich«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück, um ihn eintreten zu lassen.

Der Herzog schloss die Tür hinter sich. »Danke schön Miss … Miss …«

»Bonnaud«, ergänzte sie.

Bevor sie auch nur zu einer Erklärung ansetzen konnte, warum sie einen anderen Namen trug als Dom, sagte der Herzog mit seltsam gepresster Stimme: »Ach, diese Schwester sind Sie.«

Die Art, wie er die Worte betonte, ließ ihr das Blut in die Wangen schießen. »Die Bastardschwester«, sagte sie spitz.

»Die Schwester, die gleichzeitig Tristan Bonnauds Schwester ist.« Sein durchdringender Blick fuhr erneut an ihrer Gestalt herab.

Ein warnendes Gefühl ließ ihre Brust eng werden. »Sie kennen Tristan?«

»In gewisser Weise. Er ist der Grund, warum ich hier bin.« Er sah sie scharf an. »Ich hatte gehofft, Manton könne mir sagen, wo sich der Schuft in London versteckt hält. Aber Sie werden es mir vermutlich kaum verraten.«

Ein eisiger Schauder lief ihr das Rückgrat hinunter. Das konnte nichts Gutes bedeuten. War Tristan etwa so töricht gewesen, nach England zurückzukehren …

Nein, das war unmöglich. »Sie müssen sich täuschen, Sir. Tristan ist seit Jahren nicht mehr in London gewesen. Und wenn er herkommen würde, wären wir die Ersten, die davon erführen. Aber Dom und ich haben nichts von ihm gehört.«

Er musterte sie prüfend. »Was nur beweist, dass ich Manton richtig eingeschätzt habe. Ich hatte mich schon gewundert, dass ein Mann von so untadeligem Ruf wie der Bonnauds Schliche gutheißen würde. Aber wenn er nichts davon wusste …«

»Was für Schliche, Sir?«, fragte sie. Ihr Puls hatte sich bei jedem Wort des Herzogs um einige Schläge beschleunigt. »Was hat mein Bruder getan?«

»Verzeihen Sie, Madam, aber das würde ich gern mit jemandem besprechen, der ihm weniger nahesteht. Sagen Sie mir, wo Manton ist, und ich lasse Sie in Frieden.«

Jetzt, nachdem er angedeutet hatte, dass Tristan irgendetwas Schreckliches getan hatte? Das kam nicht infrage. »Wie ich schon sagte. Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen. Aber wenn Sie mir sagen, was Tristan ihrer Meinung nach getan hat, dann verspreche ich Ihnen, sein Handeln ebenso unparteiisch zu beurteilen, wie Sie es tun.«

Skrimshaw gab etwas von sich, was zuerst wie ein Lachen klang, sich aber unter dem vernichtenden Blick des Herzogs in ein Husten verwandelte.

»Es hat den Anschein, als ob wir in eine Sackgasse geraten sind«, sagte der Herzog eisig.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, so sieht es aus.«

»Ich werde nicht gehen, bevor ich nicht die Auskunft erhalten habe, die ich wünsche.«

»Und ich werde Ihnen diese Auskunft nicht geben, bevor ich nicht weiß, was hier gespielt wird. Sie haben also die Wahl, Euer Gnaden. Sie können mit mir offen und ehrlich über Ihr Ungemach sprechen, und ich werde Ihnen dabei helfen, die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen. Oder Sie können für die nächste Woche oder länger Ihre Zelte in unserem Salon aufschlagen und dort auf Doms Rückkehr warten.«

»Eine Woche!«, entfuhr es dem Herzog.

»Wie ich schon sagte, er arbeitet an einem Fall. Das kann manchmal seine Zeit dauern.«

Lyons fluchte leise in sich hinein. »Sind Sie sich darüber im Klaren, dass ich ein halbes Dutzend Beamte hier aufmarschieren lassen kann, um das ganze Haus nach den Informationen, die ich brauche, durchsuchen zu lassen?«

Jetzt war es an ihr, ihn mit einem vernichtenden Blick zu fixieren.

»Das könnten Sie in der Tat. Dann würden Sie jedoch herausfinden, dass Sie mich mit einem solchen Vorgehen nur noch widerspenstiger machen würden. Bis Sie mit den Beamten hier sind, hätte ich längst alle Informationen, die für Sie interessant sein könnten, vernichtet. Und dann müssten Sie mich schon ins Gefängnis werfen, um irgendetwas aus mir herauszubekommen.«

Er kniff die Augen zusammen, und dann ließ er zu ihrer Überraschung ein raues Lachen hören. »Sie sind eine Respekt einflößende Gegnerin, Miss Bonnaud.«

»Ich fasse das als Kompliment auf«, sagte sie mit einem Anflug von Koketterie.

»So wollte ich es auch verstanden wissen. Also gut, ich erzähle Ihnen, was ich weiß, wenn Sie mir erzählen, was Sie wissen.« Er deutete mit dem Kopf auf Skrimshaw. »Aber nur, wenn wir unsere Unterhaltung unter vier Augen fortsetzen.«

Jetzt, nachdem sie das erste Scharmützel gewonnen hatte, begann sie sich vor der bevorstehenden Schlacht zu fürchten. Wenn er unter vier Augen mit ihr sprechen wollte, dann musste Tristan wirklich etwas sehr Schlimmes angestellt haben.

»Natürlich, Euer Gnaden«, sagte sie, aber ihre Stimme zitterte. Dann wandte sie sich an Skrimshaw. »Wenn Sie so gut wären, Mrs Biddle zu sagen, sie soll uns Tee nach oben ins Arbeitszimmer bringen. Ich vermute, wir werden ihn nötig haben.«

»Sie werden mehr als nur Tee nötig haben«, murmelte Skrimshaw, während er dem Herzog Hut und Überzieher abnahm und anschließend im rückwärtigen Teil des Hauses verschwand.

Lisette begann, die Treppe emporzusteigen. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam Licht in dieses Durcheinander bringen werden.«

Der Herzog folgte ihr die Stufen hinauf. »Das will ich verdammt noch mal hoffen.«

Das tat sie ebenfalls. Denn ihr Gefühl sagte ihr, dass es katastrophale Folgen für ihre beiden Brüder haben würde, wenn es ihr nicht gelang, diese Angelegenheit zur Zufriedenheit des Herzogs aufzuklären. Und für ihre Brüder war sie bereit, fast alles zu tun.

2

Maximilian Cale, der Herzog von Lyons, folgte der jungen Frau die Treppe hinauf. Er staunte immer noch, dass sie auf seinen Bluff nicht hereingefallen war. Denn seine Drohung mit einer polizeilichen Durchsuchung war ein reiner Bluff gewesen. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte er die Behörden nicht in die Angelegenheit hineinziehen. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Situation und des Klatsches, der unweigerlich folgen würde, wenn auch nur das Geringste an die Öffentlichkeit drang, legte er größten Wert auf Diskretion.

Er hatte jedoch die Hoffnung noch nicht aufgegeben, Miss Bonnaud so weit einschüchtern zu können, dass sie ihm verriet, wohin Manton gereist war. Er starrte auf ihren kerzengeraden Rücken, während sie vor ihm die knarrenden Stufen emporstieg, und schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte er Miss Bonnauds Sturheit unterschätzt.

Er versuchte, sich das Wenige, was er im Laufe der Jahre über die Familien Manton und Bonnaud gehört hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Allerdings konnte er sich nur daran erinnern, dass Tristan Bonnaud und seine Schwester die illegitimen Kinder des Viscount Rathmoor mit einer französischen Schauspielerin waren.

Sie konnte ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie sprach die Konsonanten mit einer Weichheit aus, die etwas Französisches hatte, auch wenn ihre Ausdrucksweise durch und durch englisch war. Und obwohl ihre unverblümte Art und ihre ungewöhnliche Körpergröße nichts mit den zartgliedrigen und koketten Französinnen gemein hatten, die Nacht für Nacht die Theater bevölkerten, schien sie doch einen ähnlichen Hang zum Dramatischen zu haben.

Zweifellos hatte sie auch noch ganz andere Vorzüge. Ihr kaum verhülltes Hinterteil, das sich ihm auf Augenhöhe darbot, vermittelte ihm einen hervorragenden Eindruck ihrer weiblichen Reize. Ihre Bewegungen waren harmonisch und fließend, und er fragte sich, ob sie sich im Bett genauso bewegen würde.