Die amerikanische Braut - Sabrina Jeffries - E-Book

Die amerikanische Braut E-Book

Sabrina Jeffries

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Beschreibung

Die amerikanische Braut

Abby kann es kaum erwarten, Spencer endlich wiederzusehen! Vier Monate waren die leidenschaftlichen Briefe des Viscounts die einzige Verbindung zu dem Mann ihrer Träume. Nun folgt Abby ihm nach England – als seine Frau! Doch in London angekommen, erlebt sie die schrecklichste Demütigung ihres Lebens! Denn Spencer gibt vor, von einer Hochzeit nichts zu wissen. Und sein Bruder, dem Abby bereits ihre Mitgift anvertraut hat, ist spurlos verschwunden. Alles sieht nach einer Verschwörung aus – wenn die verlangenden Küsse des Viscounts nicht so deutlich von Liebe sprächen …

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Seitenzahl: 521

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IMPRESSUM

HISTORICAL VICTORIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage 2024 in der Reihe HISTORICAL VICTORIA, Band 73

© 2004 by Sabrina Jeffries Originaltitel: „Married To The Viscount“ erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York Deutsche Erstausgabe 2005 im CORA Verlag in der Reihe HISTORICAL GOLD, Band 160 Übersetzung: Alexandra Kranefeld

Abbildungen: Ildiko Neer / Trevillion Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751526401

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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PROLOG

Philadelphia, Anfang Dezember 1821

Spencer Law, der fünfte Viscount von Ravenswood, saß mit seinem jüngeren Bruder Nat in einer lauten Schenke mitten in Amerika. Er leerte einen Becher Apfelwein nach dem anderen und versuchte zu vergessen. Aber es half alles nichts!

Am nächsten Morgen würde Spencer in das von Unruhen gebeutelte England heimkehren – zurück zu einem geschwächten Parlament, einer unzufriedenen Bevölkerung und seinen Pflichten als Staatssekretär des Innenministeriums. Die Bürde der Verantwortung, die in den letzten Tagen von ihm genommen schien, würde wieder schwer auf seinen Schultern lasten.

Spencer rief laut nach der Bedienung, was Nat sehr zu erheitern schien. „Nun mal langsam, alter Junge. Du wirst dich betrinken.“

„Genau das habe ich vor.“

„Der große Ravenswood ertränkt seine Sorgen? Ich erkenne dich kaum wieder! Normalerweise bist du viel zu beschäftigt damit, England vor dem Untergang zu bewahren, als dass du dir so etwas leisten könntest. Oder wolltest.“ Nat stützte seine Arme auf den schweren Eichentisch. „Du hast dich allerdings sehr verändert, seit wir vor zwei Wochen hier angekommen sind.“ Er legte den Kopf schräg und sah seinen Bruder an. „Das liegt an Dr. Mercers Tochter, nicht wahr?“

„Sei nicht albern.“

Aber schon ging ihm wieder das Bild Abigail Mercers durch den Kopf, die ihr Vater ‚meine Wildrose‘ nannte. Eine passende Bezeichnung für eine Frau mit blattgrünen Augen, blütenzarter goldener Haut und einem wundervollen dunkelroten Mund … „Du hast ihr gestern ein Lied vorgesungen“, meinte Nat.

„Ich habe ihr von der Hochzeit des Figaro erzählt, und sie wollte etwas daraus hören. Worauf willst du hinaus?“

„Du hast in deinem ganzen Leben noch nie irgendjemandem etwas vorgesungen!“

„Es gab nie einen Anlass dazu.“

„Es wäre dir nie in den Sinn gekommen“, erwiderte Nat trocken. „Bis du Miss Mercer getroffen hast. Und plötzlich verbringst du den ganzen Tag damit, mit einem hübschen Mädchen aus Übersee zu plaudern …“

„Was sollte ich denn sonst tun, während du mit ihrem kranken Vater Geschäfte machst?“ Spencer blickte in seinen Becher, der schon wieder leer war.

„Du scheinst mich zumindest nicht vermisst und dich bestens mit ihr unterhalten zu haben.“

Ganz genau. Sie war unterhaltsam, natürlich, unkompliziert – sehr amerikanisch und ganz anders als all diese englischen Misses, die sich von seinem Titel und seinem Vermögen beeindrucken ließen. Miss Mercer war ganz unbefangen und behandelte ihn, als wären sie beide einander ebenbürtig.

Sie besaß sogar die Dreistigkeit, ihn wegen seiner ständigen Grübeleien aufzuziehen! Er kannte keine Engländerinnen, die so etwas wagen würden. Wegen seines gesellschaftlichen Ranges – oder weil sie von seiner Ernsthaftigkeit eingeschüchtert waren – konnten sie in seiner Gegenwart nie unbeschwert sein.

Engländerinnen schienen auch kein Interesse an Diskussionen zu haben, geschweige denn an Politik. Aber Miss Mercer stürzte sich mit der für ihre Landsleute so typischen Zuversicht und Begeisterung in jede Auseinandersetzung.

Sie faszinierte ihn.

„Eigentlich“, fuhr Nat fort und riss Spencer aus seinen Gedanken, „bin ich sehr erfreut, dass ihr beide euch so gut versteht. Es könnte mir helfen, ihren Vater für mein Vorhaben zu erwärmen.“ Er straffte die Schultern. „Hast du dir mittlerweile überlegt, ob du mir etwas Geld vorstrecken kannst?“

Spencer langte über den Tisch nach dem Becher seines Bruders. Noch war er nicht betrunken genug, um sich mit Nats finanziellen Eskapaden zu befassen. „Damit du deinen verrückten Plan, in Dr. Mercers Unternehmen einzusteigen, umsetzen kannst?“

„Es ist ein guter Plan“, entgegnete Nat. „Ich weiß, dass du Vorbehalte gegen die Mercer Medicinal Company hast, aber aus den Geschäftsbüchern geht hervor, dass sich das Mittel in den letzten sieben Jahren sehr gut verkauft hat. Wäre Dr. Mercer nicht krank geworden, würde er jetzt ein reicher Mann sein, anstatt von seinen Gläubigern verfolgt zu werden. Er braucht nur jemanden wie mich, der das Unternehmen wieder auf Vordermann bringt, während er sich nicht um die Geschäfte kümmern kann.“

„Er wird sich nie wieder um die Geschäfte kümmern“, berichtigte ihn Spencer. „Der Mann liegt im Sterben, Nat.“

„Aber dann sollte er gerade an mich verkaufen!“, rief Nat ungerührt. „Und du hättest mich niemals nach Amerika begleitet, um dir die Firma anzusehen, wenn dir die Investition nicht auch lohnend erschiene.“

Spencer ließ sich seufzend gegen die Wand sacken. „Ich konnte dich nicht alleine gehen lassen … bei deiner Vorgeschichte.“

Nat schnaubte wütend. „Musst du mir meine Misserfolge immer wieder vorhalten? Du solltest dabei nie vergessen, dass ich immer nur versucht habe zu tun, was du wolltest. Ich habe dir gleich gesagt, dass ich für die Juristerei nicht tauge, aber du hast darauf bestanden, dass ich studiere – also habe ich es getan.“

„Anscheinend nicht sehr gewissenhaft, sonst wärst du nicht durch die Prüfungen gefallen. Und was war mit der Marine? Nicht einmal mein Einfluss konnte deinen Rauswurf verhindern.“

Nat verzog das Gesicht. „Ich bin eben für die Marine ungeeignet. Ich kann nicht einmal eine Kutsche geradeaus lenken!“ Er beugte sich vor und senkte die Stimme. „Aber ich weiß, dass ich mit der Firma Erfolg haben werde, weil ich gut mit Zahlen umgehen kann. Das ist auch der Grund, weshalb ich beim Spielen immer so viel gewonnen habe.“

„Immer?“ Spencer trank den Apfelwein in Nats Becher aus. Wo zum Teufel steckte nur die Bedienung?

„Gut, an einem Abend war ich leichtsinnig – und du musstest dafür bezahlen.“

„Eine ziemliche Summe, soweit ich mich erinnere.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber diesmal ist es anders. Der alte Mercer hat keine Wahl. Er will seine Firma nicht allein seiner Tochter vermachen, da er glaubt, ihr fehle der Geschäftssinn, um das Unternehmen aus den roten Zahlen zu führen. Aber wenn er niemanden findet, der als ihr Geschäftspartner einspringt, ist er gezwungen, alles irgendeinem ungeliebten Verwandten zu hinterlassen. Ich komme ihm doch wie gerufen und muss ihn nur noch davon überzeugen, dass er das auch so sieht.“

Die mürrische Bedienung knallte zwei frisch gefüllte Becher auf den Tisch, und Spencer zog seinen mit Nachdruck zu sich heran. Auf die Vorstellung, dass Miss Mercer mit seinem Bruder zusammenarbeitete, musste er erst einmal einen tiefen Schluck trinken …

Er durfte gar nicht daran denken, dass sie dann Nat, und nicht ihm, ihr schelmisches Lächeln zuwerfen würde. Spencer seufzte. Aber er würde nicht bleiben können, während Nat seinen waghalsigen Plan verfolgte. Nach dem plötzlichen Rücktritt des Innenministers wurde Spencer dringend in London gebraucht. Ob er wollte oder nicht, er musste sich damit abfinden, dass seine friedvolle Zeit in Amerika vorbei war.

Spencer fluchte und nahm einen großen Schluck Apfelwein.

Als er den Becher wieder absetzte, fragte er Nat: „Was meint eigentlich Evelina dazu? Du hast deiner zukünftigen Frau doch erzählt, dass du mit der schönen Abby Mercer ein Unternehmen führen willst?“

Nat betrachtete seinen Bruder nachdenklich. „Evelina wird das verstehen. Sobald der alte Mann gestorben ist, werde ich seine Tochter auszahlen. Miss Mercer hat dann genügend Geld, um ihr Leben zu bestreiten, und mir gehört die Mercer Medicinal Company.“

„Du hast keine Ahnung, wie man ein Unternehmen führt.“

„Du wusstest auch nicht, wie man mit einem Gewehr umgeht, als Vater ein Offizierspatent der Armee für dich gekauft hat, und trotzdem hast du deinen Mann gestanden.“

„Was blieb mir anderes übrig“, knurrte Spencer. Er missgönnte seinem Bruder die Freiheit, tun zu können, was er wollte. Spencer hatte diese Freiheit verloren, als sein älterer Bruder unerwartet gestorben war.

„Zudem werde ich das Unternehmen nicht leiten“, fuhr Nat fort. „Dafür stelle ich einen Geschäftsführer ein.“

In Spencers Kopf toste es, aber noch war er nicht völlig betrunken. „Und du willst, dass ich dir Geld dafür gebe.“

Nat besaß den Anstand zu erröten. „Nicht die ganze Summe. Ich habe die letzten zwei Jahre sehr sparsam gelebt und etwas von meinem Unterhalt zurückgelegt. Ich brauche nicht viel.“

Spencer verdrehte die Augen und griff erneut nach seinem Becher, aber Nat hielt seine Hand zurück. „Bald werde ich heiraten, und deshalb möchte ich etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen – etwas, das ich will, und nicht etwas, das du für mich aussuchst.“ Ein mattes Lächeln huschte über Nats Gesicht. „Ich weiß, dass ich mit dem Projekt Erfolg haben kann. Also was sagst du dazu? Wirst du mir Geld schicken, wenn ich den alten Mercer so weit bekomme, meinem Plan zuzustimmen?“

Spencer versuchte immer noch, Miss Mercers verführerische Lippen zu vergessen. Die er nie küssen würde, nie küssen konnte, selbst wenn er nicht abreiste. Er leerte seinen Becher. „Schreib mir, wenn ich wieder in London bin, und ich werde sehen, was ich tun kann.“

Nats Gesicht hellte sich auf. „Prächtig, alter Junge, ganz prächtig! Ich wusste, dass du mir helfen würdest.“ Nachdem diese Sache nun geklärt war, ergriff Nat seinen Becher mit Apfelwein. Während er trank, schaute er Spencer aufmerksam über den Rand seines Bechers hinweg an. „Du findest Miss Mercer also schön?“

Durch das Getöse in seinem Kopf glaubte Spencer die Worte „In ihrer Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht“ zu hören.

Nat blickte ihn entgeistert an. „Jetzt rezitierst du auch noch Gedichte!“

Hatte er das laut gesagt? Spencer fluchte leise und schwang seinen leeren Becher in Richtung seines Bruders. „Ich zitiere immer Verse, wenn ich getrunken habe.“

„Du musst sehr betrunken sein, um Byron zu zitieren. Oder sehr beeindruckt von Miss Mercer.“

„Wer wäre das nicht?“

„Manche Männer fänden ihren Teint zu dunkel …“, wandte Nat ein.

„Manche Männer sind Dummköpfe.“ Spencer hob seinen Becher und runzelte die Stirn, als ihm einfiel, dass der Becher leer war.

Mit einem leisen Lachen schob Nat ihm seinen eigenen Becher zu. „Mich überrascht einfach nur, dass es den großen Ravenswood nicht zu stören scheint, dass sie Halbindianerin ist.“

„Hör auf, mich immer so zu nennen.“ Spencer wich Nats prüfendem Blick aus, als er den Becher seines Bruders nahm. „Halbindianerin oder nicht, sie ist nicht von schlechten Eltern. Die Familie ihres Vaters ist in Philadelphia sehr einflussreich, und der Vater ihrer Mutter war Häuptling der Seneca, eines Irokesenstammes.“

„Woher weißt du das?“

„Sie hat es mir erzählt.“

„Ah ja. Während eurer ganzen Gespräche. Und war das alles, was ihr gemacht habt? Reden?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Grölendes Gelächter von einem der anderen Tische hallte in Spencers Kopf wider, und er rieb sich seine hämmernden Schläfen.

„Du begehrst diese Frau … gib es zu. Wann immer du sie siehst, bekommst du diesen gewissen Ausdruck in den Augen …“

„Red nicht solchen Unsinn.“ Und der Teufel hole den Bengel dafür, dass er so viel mitbekam!

Nat beobachtete ihn genau. „Vielleicht solltest du versuchen, sie zu deiner Geliebten zu machen.“

Spencer rang sich ein Lächeln ab. „Ihre leichtfertige Zuversicht würde mich binnen eines Monats in den Wahnsinn treiben.“ Er starrte gedankenverloren in seinen Becher und ließ sich Nats Vorschlag durch den Kopf gehen. Abby Mercer wäre seine Geliebte und würde ihre lebensfrohe Energie einzig darauf richten, ihn zu beglücken, ihn zu begehren und sich nackt mit ihm in seinem Bett zu wälzen …

Eine lächerliche Vorstellung! Frauen aus gutem Hause ließen sich nicht dazu herab, die Geliebte eines Mannes zu werden. Außerdem hatte er keine Lust mehr, sich eine Geliebte zu halten. Die Rolle, die ihm bei diesen Arrangements zufiel, war nur ein schlechter Abklatsch der Rolle des Ehemanns, die ihm für immer versagt bleiben würde.

„Ich vermute also richtig, dass es für dich nicht in Frage kommt, sie zu heiraten“, sagte Nat süffisant.

„Ganz genau.“

„Auf mich machte sie einen erstklassigen Eindruck, aber dir ist sie wahrscheinlich nicht vornehm genug.“

„Das hat damit nichts zu tun. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht heiraten.“

„Weil du dein Auge schon auf eine andere geworfen hast?“, hakte sein Bruder nach.

„Ganz sicher nicht.“ Spencer senkte seine Stimme. Sein Kopf drohte zu zerspringen, wenn er zu laut sprach. „Ich kann sie nicht heiraten, ich kann überhaupt niemanden heiraten.“

„Natürlich kannst du. Du musst heiraten! Und das möglichst bald. Du bist siebenunddreißig und solltest endlich mit einer Frau ein geregeltes Leben beginnen.“

„Ich kann nicht.“ Verdammt ärgerlich, dass nun auch noch seine Worte so verschwommen klangen. „Ich werde nie heiraten.“ Er bemerkte Nats düsteren Blick und fügte hinzu: „Das sollte dich glücklich machen – du oder dein Sohn werden alles erben.“

„Ich will nicht alles erben!“, verkündete Nat entsetzt. „Evelina und ich werden völlig zufrieden sein mit dem, was du uns überlässt. Glaub also nicht, dass du dich so einfach aus der Verantwortung stehlen kannst. Ich habe keinerlei Verlangen danach, den Titel zu erben und für Pächter und Ländereien verantwortlich zu sein.“

„Aber ein Unternehmen willst du leiten?“

„Besitzen, nicht leiten. Das habe ich dir doch erklärt.“ Nat schaute finster drein. „Das Familienerbe interessiert mich nicht.“

„Mich hat es auch nicht interessiert“, entgegnete Spencer. „Aber ein Mann hat seine Pflicht zu erfüllen. Deine ist es, einen Erben zu zeugen.“

„Du liebe Güte, du meinst es ernst. Du hast wirklich nicht vor zu heiraten.“

Spencer nickte und hatte auf einmal das Gefühl, seine Beine würden nachgeben. „Nein“, seufzte er. „Ich werde Junggeselle bis an mein Lebensende bleiben.“

„Wieso? Das hat doch hoffentlich nichts mit Dora zu tun. Nur weil Vater und unsere Stiefmutter eine unglückliche Ehe geführt haben, heißt das nicht, dass es bei dir auch so sein muss.“

Es steckte weitaus mehr dahinter, als Nat vermutete, aber Spencer wagte nicht, es ihm zu erläutern. Stattdessen starrte er missmutig in seinen leeren Becher. Nat rief nach mehr Apfelwein, und Spencer hob den Kopf, in dem sich jetzt alles drehte. „Ich darf nicht mehr. Ich bin betrunken.“

„Noch nicht betrunken genug.“ Nat bedachte ihn mit einem grimmigen Lächeln. „Lass uns auf die Neuigkeit anstoßen, dass mein perfekter Bruder dieselben Schwächen zeigt wie wir Normalsterbliche.“

„Nicht perfekt“, murmelte Spencer, „ganz und gar nicht. Das ist das Problem, verstehst du?“

„Nein, verstehe ich nicht.“ Wie durch ein Wunder tauchten zwei frisch gefüllte Becher auf, die Nat beide Spencer hinschob. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass du mir etwas erklärst.“

1. KAPITEL

Wenn er einen unerwarteten Gast ankündigt, kann auch dem besten Butler ein Fauxpas unterlaufen. Doch sollte er sich um die angemessene Etikette bemühen, denn man kann nie wissen, welche Bedeutung der Gast für den Haushalt seiner Herrschaft hat.

Empfehlungen für den unerschütterlichen Diener, von dem Butler eines sehr bedeutenden Gentleman

London, 15. April 1822

Die zukünftige Braut war da, doch der zukünftige Bräutigam ließ seit zwei Stunden auf sich warten. Das Verlobungsdiner versprach zum Stadtgespräch der Saison zu werden.

Spencer, der gegen seinen Willen Gastgeber dieses verhängnisvollen Abends war, ließ den Blick über die makellos gedeckte Tafel in seinem Londoner Stadthaus schweifen und seufzte. Wann würde er diesem freudlosen Ereignis ein Ende setzen und sich in sein Arbeitszimmer und zu seinem Cognac zurückziehen können?

Dank seiner Geistesgegenwart und seinem Talent zu lügen ahnten seine Gäste jedoch nicht, welch ein Albtraum der Abend war. Solange er nicht wusste, warum Nat verschwunden war, würde er sie auch nicht in sein Geheimnis einweihen.

Er blickte zu Lady Evelina hinüber, der zukünftigen Braut. Glücklicherweise schien sie ihm seine an den Haaren herbeigezogene Geschichte abgenommen zu haben. Wie eine Porzellanpuppe saß sie mit anerzogener Perfektion auf ihrem Stuhl; blonde Ringellocken rahmten ihre makellose Stirn, ihre Wangen waren rosig, aber nicht gerötet, und ihr Kleid hatte einen perfekt auf ihre Alabasterhaut abgestimmten Farbton.

Als sie merkte, dass Spencer sie betrachtete, betupfte Evelina geziert ihre geschwungenen Lippen mit einer Damastserviette. „Ich hoffe wirklich, dass sie Nathaniel nicht die ganze Nacht über auf der Polizeiwache behalten. Stand in seiner Nachricht etwas darüber, wie lange es dauern könnte?“

Diese verdammte erfundene Nachricht! „Nein, aber eine Weile werden sie ihn wohl dabehalten“, log Spencer mit der geübten Leichtigkeit des Spionagechefs, der er bis vor wenigen Jahren gewesen war. „Er wird eine Zeugenaussage gegen den Straßendieb machen müssen, den er gerade noch davon hatte abhalten können, einer Dame ihren Handbeutel zu stehlen.“

„Wie mutig von ihm, den Schuft ganz alleine zu verfolgen“, meinte Evelina bewundernd. „Und ihn dann auch noch persönlich auf der Wache abzuliefern war sehr ehrenhaft von ihm.“

„Ja, Nat ist ein wirklicher Ehrenmann.“ Diese Lüge fiel ihm wegen Evelinas schwärmerischer Gutgläubigkeit besonders schwer.

Aber was blieb Spencer anderes übrig? Sich in einen heldenhaften Kampf für die Gerechtigkeit verwickeln zu lassen, war eine akzeptable Entschuldigung dafür, nicht zu seinem eigenen Verlobungsdiner zu erscheinen – doch das hieß noch lange nicht, dass man seine zukünftige Braut versetzen durfte. Solange Spencer nicht den Grund für Nats plötzliches Verschwinden kannte, würde er weiter lügen müssen. Andernfalls würden Evelina und ihre Mutter, die verwitwete Lady Tyndale, öffentlich gedemütigt. Und das würde Spencer niemals zulassen.

Wo zum Teufel steckte Nat? Als Spencer ihn das letzte Mal eine Stunde vor dem Diner gesehen hatte, hatte sein Bruder keinerlei Andeutungen gemacht, sich aus der Affäre ziehen zu wollen. Und obwohl Spencers Butler McFee beobachtet hatte, dass Nat kurz darauf eine Nachricht erhielt, hatte niemand ihn das Haus verlassen sehen. Aber finden konnte ihn auch niemand, weder im Haus noch in seinen bevorzugten Lokalen in London.

Nat war einfach verschwunden und – wie es schien – mit Absicht. In was für Schwierigkeiten konnte ein Mann innerhalb nur weniger Stunden geraten?

Spencer seufzte. Seit seiner Rückkehr aus Amerika vor einem Monat hatte Nat sich seltsam benommen – er zeigte ein auffälliges Interesse für die Post, kam und ging, wie es ihm gefiel, hatte geheimnisvolle Zusammenkünfte und benahm sich überhaupt wie ein Mann, den noch der Hafer sticht, nicht wie einer, der sich auf seine Hochzeit vorbereitete.

Und jetzt das. Wo um Himmels willen war er?

„Nun, ich für meinen Teil bin ja überrascht, dass Nathaniel die Geistesgegenwart besessen hat, uns überhaupt eine Nachricht zukommen zu lassen“, verkündete Evelinas Mutter. „Aber so umsichtig ist er immer.“

„Und ehrenhaft“, fügte ihre Tischnachbarin mit einer Spur Sarkasmus hinzu, „vergessen Sie bitte nicht, wie ehrenhaft er ist.“

Jetzt steckte auch noch Lady Brumley ihre Nase in die Angelegenheit! Spencer fluchte leise. Warum nur hatte Evelinas Mutter eine Frau eingeladen, die eine bekannte Klatschkolumnistin war? Er hätte sich die Gästeliste genauer anschauen sollen!

Aber wegen der innenpolitischen Krise in England war ihm keine Zeit geblieben, sich um die Planung des Verlobungsdiners zu kümmern, um dessen Ausrichtung Lady Tyndale ihn gebeten hatte. Also hatte er ihr alles Weitere überlassen, und damit war aus der von ihm geplanten familiären Zusammenkunft ein gesellschaftliches Ereignis geworden. Das hatte er nun davon, die Verantwortung einer Frau zu übertragen, die wenig intelligent, aber über die Maßen eitel war!

Und übermorgen musste noch der Verlobungsball durchgestanden werden, den Lady Tyndale zum Glück in ihrem Haus gab. Spencer schauderte bei dem Gedanken. Wahrscheinlich hatte Evelinas Mutter alles eingeladen, was Rang und Namen hatte.

Wenn es denn überhaupt einen Ball geben würde … In Anbetracht von Nats Verschwinden konnte man da nicht mehr so sicher sein.

Spencers Miene verfinsterte sich. Er wollte verdammt noch mal, dass Nat endlich sesshaft wurde! Neunundzwanzig war ein gutes Alter, um zu heiraten, und die zwanzigjährige Evelina war wie für ihn geschaffen. Sie war in diesen Nichtsnutz verliebt, seit sie ein junges Mädchen war. Und was wollte ein Mann denn mehr?

„Diese Nachricht von Ihrem Bruder“, begann Lady Brumley, „könnten wir die auch einmal zu Gesicht bekommen, Ravenswood? Ich werde über dieses Ereignis in der Zeitung berichten und möchte jedes Detail über Mr. Laws edle Tat wissen.“

Was diese neugierige Frau wirklich wollte, war, einen Skandal aufzudecken! Sie hatte ihm seine Geschichte offensichtlich nicht abgenommen. Genau das hatte ihm noch gefehlt: Lady Brumley, die mit spitzer Feder ihren Vermutungen in ihrer berüchtigten Kolumne freien Lauf ließ.

„Ich dachte, Sie hätten Ihre eigenen Quellen.“ Scheinbar gelangweilt nippte Spencer an seinem Rotwein. „Oder sind Sie es leid, Ihre Fakten zu prüfen?“

Sie zahlte ihm seinen Sarkasmus mit gleicher Münze heim: „Ich fürchte, wenn ich bis morgen warte, werde ich nur noch die offizielle Version hören. Auf Grund Ihrer Position im Innenministerium gehe ich nicht davon aus, dass ich von irgendeinem Wachmann oder Friedensrichter mehr erfahren würde, als Sie ihnen zu erzählen gestatten.“

„Stimmt.“ Spencer setzte sein Glas ab. „Aber ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was es zu wissen gibt.“

Er warf verstohlen einen Blick auf die Uhr und konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Zwei Stunden und dreizehn Minuten! Vielleicht hatte Nat sich doch nicht einfach nur aus dem Staub gemacht. Könnte er tatsächlich in Schwierigkeiten geraten sein? Aber wie? Und weswegen?

„Ich würde die Nachricht trotzdem gerne sehen …“, setzte Lady Brumley erneut an.

„Wissen Sie, Mylord“, unterbrach Evelina, „Nathaniel hat mir und Mama alles von seinem letzten Besuch in Amerika erzählt, aber von Ihnen haben wir noch gar nichts darüber erfahren.“

Spencer schaute das Mädchen überrascht an. Die höfliche Evelina fiel nur selten jemandem ins Wort, schon gar nicht der resoluten Lady Brumley. Vielleicht durchschaute sie die Situation ja besser, als er vermutet hatte.

Als die allgemeine Aufmerksamkeit sich Evelina zuwandte, errötete sie, blickte aber unverwandt Spencer an. „Wie hat es Ihnen in Amerika gefallen? Sie waren ja nur kurz da. Nat war begeistert. Er sprach in den höchsten Tönen von den Mercers und zeigte sich sehr beeindruckt von Dr. Mercers medizinischem Met.“ Sie lächelte ihre Zuhörer an. „Das ist ein Mittel gegen Verdauungsstörungen.“

„Nie davon gehört“, warf Lady Brumley ein. „Und Sie können mir glauben, dass ich alle Mittel gegen Verdauungsbeschwerden kenne.“

„Es wird bislang nur in Amerika vertrieben, Mylady.“ Evelina nahm sich mit zitternden Händen etwas von dem Spargel. „Aber Nathaniel glaubt, dass es sich auch hier gut verkaufen könnte. Als Gegenleistung für eine Teilhaberschaft an der Firma vertreibt Nathaniel das Mittel in England.“

Spencer hatte nichts von Nats Plänen gewusst. Was hatte sein Bruder ihm noch verschwiegen?

Lady Brumley warf Spencer einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sind Sie wahnsinnig geworden, Mylord? Warum erlauben Sie Ihrem Bruder, ein so waghalsiges Projekt zu verfolgen?“

„Aber nein“, wandte Evelina schnell ein. „Nathaniel hält das Vorhaben für sehr Gewinn bringend. Seine Lordschaft glaubt das ebenfalls – er hat bereits Investitionen zugesagt.“

„Stimmt das, Ravenswood?“, fragte Lady Brumley. „Sie unterstützen diesen Unsinn?“

„Ich bin immer auf der Suche nach einer guten Geldanlage.“ Tatsächlich hatte Nat ihn noch nicht um Geld gebeten, und Spencer erinnerte sich nur dunkel an die Nacht, in der er so betrunken gewesen war, dass er Nat anscheinend finanzielle Hilfe zugesichert hatte. „Ich hatte zwar nur wenig Zeit, mich in Mercers Firma umzusehen, aber alles machte einen sehr soliden Eindruck.“

„Nathaniel ist fest entschlossen, das Unternehmen zum Erfolg zu führen“, fuhr Evelina fort. „Sie müssen wissen, er hat eigene Anteile an der Firma. Natürlich muss er noch die Tochter des Arztes an der Firma beteiligen. Aber da Miss Mercer die Einzige ist, die die Rezepturen für die Medizinmischungen kennt, braucht er ohnehin ihre Hilfe.“

Abigail Mercer. Spencer fluchte innerlich. Er hatte die Amerikanerin für einige Stunden vergessen, aber es bedurfte nur ihrer Erwähnung, um ihm ihr Bild erneut in Erinnerung zu rufen – ihr strahlendes Lächeln, die neckenden grünen Augen, ihre von der Sonne gebräunte Haut. Warum konnte er dieses Bild nicht verdrängen? Nur zwei Wochen hatte er mit ihr verbracht, und dennoch suchte sie seine Gedanken seit Monaten heim.

„Dann hat Nat … äh … Ihnen von Miss Mercer erzählt?“ Spencer aß eine Gabel voll Tauben-Pastete. Was nur mochte Nat berichtet haben, ohne sofort Evelinas Eifersucht zu wecken?

„O ja“, antwortete Evelina. „Das arme Ding hat ihre Mutter sehr früh verloren, und jetzt ist auch noch ihr Vater todkrank. Und mit sechsundzwanzig ist sie immer noch nicht verheiratet! Wenn ihr Vater stirbt, wird es noch schwieriger für sie werden, einen Mann zu finden. Nathaniel sagt, dass sie zudem schwarze Haare und einen dunklen Teint hat und unansehnlich wie eine Krähe ist.“

Spencer hätte sich beinahe verschluckt. Seit wann konnte Nat so gut lügen wie sein älterer Bruder? „Ich glaube, dass es weniger an Miss Mercers Aussehen als vielmehr an den Umständen liegt, dass sie unverheiratet ist.“

„Ach ja?“, meinte Evelina interessiert.

„Ihr Vater war lange Zeit krank. Da sie sein einziges Kind ist, musste sie allein die Pflege übernehmen, so dass ihr nicht viel Zeit blieb, sich nach einem passenden Ehemann umzuschauen.“ Ganz zu schweigen davon, dass einige Gentlemen sie sicher auch ablehnten, weil sie Halbindianerin war. „Aber ich bin sicher, dass sie doch noch einen Mann finden wird. Sie ist eine wunderbare Frau mit einem guten …“

Er verstummte. Alle Frauen am Tisch blickten ihn jetzt mit wachsender Neugier an. Verdammt! Normalerweise verstand er sich darauf, nichts zu sagen, was den klatschsüchtigen Damen der Gesellschaft irgendeinen Anlass zu Spekulationen bieten würde, aber er musste in Gedanken zu sehr mit Nats geheimnisvollem Verschwinden beschäftigt gewesen sein.

Nach dem verschmitzten Funkeln in Lady Brumleys Augen zu urteilen, war es nun zu spät, den Schaden zu beheben.

„Sie scheinen recht viel über Miss Mercer zu wissen“, verkündete die Klatschtante. „Vielleicht ist sie ja nicht ganz so unansehnlich, wie Ihr Bruder behauptet. Wie hat sie Ihnen denn gefallen, Ravenswood?“

Die Antwort blieb ihm glücklicherweise erspart, da die Tür zum Speisesaal sich öffnete und sein Butler eintrat. McFee näherte sich dem Tisch und beugte sich zu Spencer hinunter. Als dieser feststellte, dass McFees ansonsten gerötetes schottisches Gesicht ganz blass war, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Was gibt es?“, fragte er leise.

„Ich muss unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Mylord.“

Wahrscheinlich hatte McFee Neuigkeiten von Nat. Spencer erhob sich und wandte sich seinen Gästen zu. „Ich bitte um Ihr Verständnis, aber ich muss Sie für einen Moment allein lassen.“

Unter dem Gemurmel höflicher Zustimmung eilte Spencer aus dem Speisesaal. McFee folgte ihm auf den Fersen, und sobald er die Tür geschlossen hatte, fragte Spencer: „Was ist passiert?“

„Eine Frau erwartet sie.“

Spencers Gesicht verfinsterte sich. McFee benutzte den Ausdruck „Frau“ nur für eine bestimmte Sorte Damen. Wenn Nat jetzt schon irgendein Flittchen mit einer Nachricht schickte … „Was will sie?“

„Mit Ihnen sprechen.“

„Über meinen Bruder?“

„Nein, Mylord.“

Spencer atmete auf. „Dann teilen Sie ihr mit, dass sie morgen wiederkommen soll. Ich habe für so etwas heute Abend keine Zeit.“

„Sie hat darauf bestanden. Und ich glaube, Sie sollten mit ihr reden.“

Spencer zog bei dieser anmaßenden Äußerung seines Butlers eine Augenbraue hoch.

„Warum? Wer ist sie?“

„Wissen Sie … nun … das heißt …“

„Um Himmels willen, nun spucken Sie es schon aus!“, rief Spencer ungeduldig. „Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.“

McFee nahm eine Haltung verletzter Würde an. „Sie behauptet, Lady Ravenswood zu sein. Ihre Frau.“

„Meine was?“

Seine Stimme hallte durch den Gang bis in die prächtige Vorhalle mit den hohen Decken, in der Abigail Mercer mit ihrer Dienerin Mrs. Graham wartete. Abby spitzte die Ohren. „Ich glaube, Seine Lordschaft ist über unsere Ankunft unterrichtet worden.“

„Gott sei Dank“, meinte Mrs. Graham düster. „So wie dieser Mr. Soundso von einem Butler sich benommen hat, habe ich mich schon gefragt, ob er uns überhaupt Seiner Lordschaft melden würde.“

Abby verkniff sich ein Lächeln. Mrs. Graham arbeitete schon seit Ewigkeiten für die Mercers: zunächst als Abbys Kinderfrau und später als guter Geist der Familie. Obwohl die Witwe langsam in die Jahre kam und zudem ihre Launen hatte, konnte sich Abby nicht vorstellen, ohne sie auszukommen. „Ich hatte befürchtet, wir hätten uns in der Tür geirrt, vor allem wegen all der Kutschen vor dem Haus. Seine Lordschaft scheint Gäste zu haben, wenngleich ich nicht verstehen kann, warum er das am Abend unserer Ankunft …“

„Mich interessiert eigentlich nur, warum er niemanden zum Hafen geschickt hat, um uns abzuholen. Haben Sie ihm denn nicht mitgeteilt, mit welchem Schiff wir ankommen, Mylady?“

„Natürlich habe ich das. Es ist seltsam, dass Seine Lordschaft so wenig Interesse für unser Wohlergehen zeigt.“

Lärm am anderen Ende der Halle, sich öffnende und schließende Türen und das Gemurmel mehrerer Stimmen ließen Abby aufhorchen.

Mrs. Graham runzelte die Stirn. „Seine Lordschaft klang ohne Zweifel überrascht, als er von unserer Ankunft erfuhr. Aber ich denke, Mylady …“

Abby brach in Gelächter aus. „Du liebe Güte, würden Sie bitte aufhören, mich so zu nennen? Es ist schon schlimm genug, dass Sie darauf bestanden haben, dass ich dieses lächerliche Korsett trage. Aber ein ‚Mylady‘ in jedem Satz ist wirklich zu viel des Guten.“

Mrs. Graham rümpfte die Nase. „Sie sind jetzt eine Viscountess und gewöhnen sich am besten daran.“

„Ich fühle mich nicht wie eine Viscountess. Ich kann mir selbst Lord Ravenswood kaum als Viscount vorstellen. In Amerika wirkte er eher wie ein Gentleman vom Lande. Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft immer wohl.“

„Es wird auch Zeit, dass ein paar Männer endlich merken, was für ein prächtiges Mädchen Sie sind. Aber die ganze Sache mit der Ferntrauung hat mir nicht gefallen, und der arme Mr. Nathaniel Law, der für seinen Bruder einspringen musste …“

„Da es keine Liebesheirat war, kann ich wohl kaum romantisches Benehmen von Seiner Lordschaft erwarten.“

Wenngleich, die Art wie er sie manchmal angesehen hatte während der zwei Wochen, die er in Amerika gewesen war … Allein der Gedanke daran jagte ihr einen Schauer freudiger Erwartung über den Rücken.

Mit Mühe besann sie sich wieder auf die praktische Seite ihrer Abmachung.

„In seinen Briefen stand, dass er mich heiraten würde, da er ‚Respekt und Bewunderung‘ für mich empfindet. Dieselben Gefühle hege ich auch für ihn.“ Und weshalb sollte seine Bewunderung im Laufe der Zeit nicht zu Liebe werden?

Vielleicht empfand er schon jetzt mehr für sie, als er in einem unpersönlichen Brief eingestehen wollte. Wieso hätte er sonst eine alte Jungfer aus Amerika geheiratet, die noch dazu Halbindianerin war? Sein großes Haus bestätigte nur ihre Vermutung, dass der gut aussehende, kluge und liebenswürdige Lord Ravenswood jede englische Lady haben könnte – wenn er nur wollte.

Aber er hatte sich für sie entschieden. Der Gedanke ließ ihr Herz höher schlagen.

Wieder öffnete und schloss sich eine Tür, aber diesmal folgte dem Gemurmel vom anderen Ende der Halle das Geräusch von Schritten. „Ich glaube, er kommt.“

„Der Herr stehe uns bei!“ Mrs. Graham strich sich eine unbändige Locke ihres ergrauenden roten Haares aus der Stirn. „Schnell, Mylady, geben Sie mir etwas von dem Met für meinen Atem.“

„Gute Idee.“ Obwohl der Met eigentlich für medizinische Zwecke gedacht war, verlieh es doch auch einen wunderbar süßen Atem. Abby nahm ihre kleine Flasche aus dem gewebten Beutel, den sie an einer Kordel um ihr Handgelenk trug, und gab ihrer Dienerin das Fläschchen.

Mrs. Graham öffnete es, nahm einen Schluck, schnitt eine Grimasse und gab es Abby zurück. „Das Zeug schmeckt wirklich widerlich.“

„Aber der Geruch macht das wieder wett, finden Sie nicht?“ Abby setzte die Flasche an ihre Lippen, atmete tief das betörende Aroma von Rosmarin und Orangenöl ein und nahm dann einen kleinen Schluck.

Die Schritte waren auf halbem Wege verstummt, und wieder war Gemurmel zu vernehmen. Abby ließ die Flasche schnell in ihrem Handbeutel verschwinden. Warum kam Lord Ravenswood nicht einfach zu ihnen?

„Wie schaue ich aus?“ Als sie an ihrem zerknitterten Reisekleid herunterblickte, stöhnte Abby. „Oh, wie furchtbar! Ich möchte nicht, dass er mich so sieht!“

„Wenn man bedenkt, welche Strapazen Sie auf sich genommen haben, um überhaupt hierher zu kommen, machen Sie dafür einen sehr hübschen Eindruck.“ Mrs. Graham stellte sich vor sie und strich Abbys schwarzen Rock aus geripptem Taft glatt. „Sie hätten mich Ihr Korsett enger schnüren lassen sollen. Dieses Kleid muss ordentlich geschnürt sein, um richtig zu fallen.“

Abby schnaubte. „Ich platze jetzt schon aus allen Nähten und kann kaum atmen.“

Mrs. Graham schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sie sind es nur nicht gewohnt, das ist alles. Ihre Mutter, Gott hab sie selig, hätte Sie nicht mit ihren seltsamen Vorstellungen davon abhalten sollen, sich ordentlich zu kleiden.“

„Seltsame Vorstellungen“ war Mrs. Grahams höfliche Umschreibung für alles, was Abbys Mutter, die dem Stamme der Seneca angehörte, sich von den Vorstellungen und Traditionen der Indianer bewahrt hatte. „Mama hatte recht damit, dass Korsetts nicht gesund sind“, entgegnete Abby.

„Aber feine Damen müssen sie tragen, vor allem in England. Sie wollen doch nicht, dass diese Engländer denken, Sie wären irgendein Mädchen vom Lande, das nicht dafür taugt, eine Viscountess zu sein, oder?“

„Was hat das zu bedeuten?“, polterte eine Stimme hinter ihnen los.

Mit einem kleinen Schrei wirbelte Mrs. Graham herum, und Abby fuhr erschrocken zusammen. Hinter einem Treppenabsatz tauchte der Viscount persönlich auf, den untadeligen Mr. McFee an seiner Seite.

Mein Ehemann, rief Abby sich bei dem Anblick Seiner Lordschaft ins Gedächtnis. Und der Himmel stehe ihr bei, was für ein Mann! Sie hatte ihn noch nie für einen offiziellen Anlass gekleidet gesehen: Seine breiten Schultern füllten den doppelreihigen Frack mühelos aus, und der Stoff seiner figurbetonten Hosen spannte sich über seinen muskulösen Beinen.

Bis auf das Hemd war er ganz in Schwarz gekleidet. Seine dunkle Kleidung, die silbergrauen Augen und sein sich rasch verfinsterndes Gesicht erinnerten sie an Hino, den Donnergott aus den Erzählungen der Seneca-Indianer, die sie von ihrer Mutter kannte. Hino, der Blitz, Donner und Sturm in sich vereinte.

Der Viscount kam eilig näher, und als er gebieterisch vor ihr stand, musste sie hörbar schlucken. Sie hatte vergessen, wie groß er war. Und wieso blickte er sie so streng an? Das hatte er noch nie getan. „Mylord, es scheint, dass wir Sie überrascht haben, aber …“

„Das haben Sie tatsächlich.“ Seine knappen Worte ließen sie frösteln. Dann wanderte sein Blick von ihrem Gesicht weiter nach unten. „Sie tragen Trauer.“

Sie nickte. „Papa ist vor zwei Monaten gestorben.“

Sein finsteres Gesicht hellte sich auf. „Dann möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen.“

„Danke. Es war natürlich absehbar, aber dennoch … vermisse ich ihn.“

„Natürlich tun Sie das“, sagte er mit teilnahmsvoller Stimme.

Gott sei Dank! Für einen Moment hatte Sie ihn für einen Fremden gehalten und nichts mehr von dem aufmerksamen Gentleman in ihm gesehen, den sie in Amerika kennen gelernt hatte.

Er kam näher, und ihr schlug sein vertrauter Duft von Bergamotte entgegen.

„Der Tod kommt immer unerwartet, meine Liebe, ganz gleich, wie sehr man versucht, sich darauf vorzubereiten.“

Seine Anteilnahme ließ ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie wischte sie weg, und sein Gesicht nahm einen noch sanfteren Ausdruck an.

Er drückte ihr sein Taschentuch in die Hand. „Ich verstehe jetzt, weshalb Sie hier sind. Ich vermute, dass Sie nach England gekommen sind, um mit meinem Bruder über geschäftliche Angelegenheiten zu verhandeln.“ Als sie aufhörte, ihre Tränen zu trocknen, und ihn mit offenem Mund anstarrte, lächelte er. „Verzeihen Sie mir, Miss Mercer, wenn ich zunächst etwas kurz angebunden war, aber mein Butler muss sich geirrt haben, als er Sie mir meldete. Er sagte, dass meine Frau hier auf mich warte, und ich …“

„Er hat sich nicht geirrt.“ Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um sein Taschentuch. Er hatte sie Miss Mercer genannt! Du lieber Himmel, er wollte doch nicht etwa leugnen … „Sie wissen sehr genau, dass wir verheiratet sind.“

Sein Lächeln erstarb. „Das wäre mir neu.“

Abby schaute sich Hilfe suchend nach Mrs. Graham um, aber die gute Frau stand nur da und starrte Lord Ravenswood fassungslos an, scheinbar sprachlos auf Grund seiner Dreistigkeit, mit der er alles abstritt.

Abby rief sich ins Gedächtnis, dass sie die Nachfahrin eines großen Seneca-Häuptlings war, und straffte die Schultern. „Dann sollten Sie vielleicht erklären, was Sie in Ihren Briefen meinten, als Sie schrieben, dass Sie mich zu heiraten wünschten.“

Sein Gesicht verfinsterte sich erneut. „Ich habe Ihnen keine Briefe geschrieben.“

„Aber ich habe sie doch hier bei mir!“ Sie war jetzt wirklich beunruhigt und durchsuchte ihren Handbeutel, bis sie die Briefe gefunden hatte, und hielt sie ihm entgegen. „Hier … die sind von Ihnen!“

Er nahm die Briefe und überflog sie kurz. Als er seinen Blick wieder hob, blitzte es in seinen Augen. „Ich sehe diese Briefe zum ersten Mal, Madam.“

Sie bekam kaum noch Luft, und das lag nicht nur an dem verflixten Korsett. „Aber es ist Ihre Unterschrift!“

„Nein, das ist sie nicht. Ich gebe zu, dass es eine sehr gute Fälschung ist, aber eben eine Fälschung. Außerdem passt sie nicht einmal zur Handschrift der Briefe.“

Sein unheilvoller Blick ließ vermuten, dass er von ihr die Erklärungen erwartete, die eigentlich von ihm kommen sollten.

„Natürlich nicht. Ihr Bruder teilte mir mit, dass Ihr Sekretär die Briefe geschrieben und Sie sie nur unterzeichnet haben. Aber Nathaniel versicherte mir auch, dass Sie selbst sie diktiert hätten und …“

„Nat hat Ihnen diese Briefe gegeben?“

„Ja. Er sagte, sie seien Paketen beigelegt gewesen, die er von Ihnen bekam.“

Er überflog die Briefe noch einmal, wobei jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. „Ja, das ist tatsächlich Nats Schrift.“

Panik begann in Abby aufzusteigen. „Sie meinen, dass er sie geschrieben hat? Warum sollte er … ich bestehe darauf, mit Ihrem Bruder zu sprechen.“

„Da werden Sie sich gedulden müssen“, entgegnete Spencer scharf. „Er ist praktischerweise vor ein paar Stunden verschwunden, und wir versuchen seitdem vergebens, ihn zu finden.“

Du lieber Himmel! Jetzt ergab alles für Abby einen Sinn. Nathaniel war es gewesen, der die Heirat als Gegenleistung für eine Teilhaberschaft an Papas Firma ausgehandelt hatte. Er war es gewesen, der sie und Papa davon überzeugt hatte, dass Lord Ravenswood sehr an der Verbindung mit ihr interessiert sei. Und es war Nathaniel gewesen, der ihre Mitgift an sich genommen hatte.

Wie betäubt suchte Abby in ihrem Handbeutel nach dem etwas offizieller aussehenden Dokument. Als sie es gefunden hatte, hielt sie es Spencer mit zitternder Hand hin. „Und das bedeutet vermutlich auch, dass Sie von nichts wissen.“

Lord Ravenswood nahm das Dokument argwöhnisch entgegen und begutachtete es. Als er wieder aufblickte, hatte sein Gesicht einen schmerzlichen Ausdruck angenommen. „Es tut mir so leid, Miss Mercer …“

„Nein“, flüsterte sie. „Nein, das glaube ich nicht. Sie können nicht wirklich meinen …“

„Ich versichere Ihnen, dass ich meinem Bruder nicht die Befugnis erteilt habe, irgendeine Heirat zu arrangieren. Ich kann mir nicht erklären, weshalb er das getan hat. Ich gebe zu, dass er ein oder zwei Mal meine Unterschrift gefälscht hat, aber das war nur Spielerei, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass er jemals so etwas tun würde.“

„Grundgütiger“, murmelte Mrs. Graham und begann sich hektisch Luft zuzufächeln, als würden sich gerade all ihre Träume in Luft auflösen.

Und auch Abby schien ihre Hoffnungen begraben zu müssen. Lord Ravenswood hatte nie vorgehabt, sie zu heiraten. All die Gefühle, die sie ihm zugeschrieben hatte, die süßen Tagträume ihres gemeinsamen Lebens, die sie heraufbeschworen hatte, waren allesamt ihre eigenen Hirngespinste gewesen. Hirngespinste, die Nathaniel für sich zu nutzen gewusst hatte.

Das ganze Ausmaß ihrer Demütigung wurde ihr bewusst und schlug wie eine kalte Welle über ihr zusammen. Hier war sie, in England, ihre spärlichen Ersparnisse fast völlig aufgebraucht, ihrer Mitgift und der Firma ihres Vaters beraubt …

Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Sie versuchte, tief durchzuatmen, aber das verflixte Korsett hinderte sie daran, und plötzlich begann sich der ganze Raum um sie herum zu drehen, und die kleinen Punkte bildeten einen einzigen großen Punkt, der alles andere ausblendete, und sie versank in Dunkelheit …

2. KAPITEL

Lassen Sie sich niemals von ungeschliffenen Dienstboten anderer Herrschaften zu schlechtem Verhalten verleiten. Ihre Herrschaft wird es Ihnen danken, und den anderen Dienstboten bleibt es überlassen, die ihre zu verärgern.

Empfehlungen für den unerschütterlichen Diener

Sobald Spencer bemerkte, dass Miss Mercer erblasst war, fürchtete er das Schlimmste. Als ihre Knie nachgaben, ließ er alle Papiere fallen und fing die junge Frau gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie zu Boden stürzen konnte.

Ihr Kopf fiel zurück, als er ihren kraftlosen Körper hochhob. Sie sah wirklich elend aus – und das war alles seine Schuld.

„Jetzt sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben … Sie Engländer, Sie!“, schrie Mrs. Graham. „Wie können Sie es wagen, sich so gegenüber meiner Herrin zu verhalten, die in ihrem ganzen Leben niemandem etwas zu Leide getan hat?“

Während er auf Miss Mercers sonst so lebendiges Gesicht blickte, aus dem nun alle Lebensgeister verschwunden zu sein schienen, nahm Spencers Besorgnis stetig zu. Verdammt, sie hätte schon längst wieder zu sich kommen sollen!

„Sie haben es sich anders überlegt, nicht wahr?“, fuhr Mrs. Graham aufgebracht fort. „Oder haben mit Ihrem Bruder einen Plan ausgeheckt, um an die Mitgift zu kommen?“

„Es gibt eine Mitgift?“, murmelte er. Das konnte nur ein schlechter Traum sein.

„Sie wissen sehr wohl, dass es eine Mitgift gibt!“

„Nein. Aber scheinbar wusste es mein Bruder.“ War das der Grund, warum Nat diese verrückte Sache geplant hatte? Wegen einer Mitgift?

„Ja, den Eindruck habe ich auch!“ Mrs. Grahams Stimme nahm an Schärfe zu. „Ihr Bruder ist nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Dieb! Und wenn Sie glauben, dass ich ruhig zuschaue, wie Sie meine Herrin ausplündern, dann …“

„Was ist denn das für ein Geschrei?“, ließ sich eine Stimme aus dem Hintergrund vernehmen.

„Ist Nathaniel gekommen?“, fragte eine andere, jüngere Stimme.

Spencer drehte sich um und stellte fest, dass Lady Tyndale und Evelina ihn und die Frau in seinen Armen fragend anschauten. „Nein. Gehen Sie bitte zurück in den Speisesaal.“

„Wer ist diese Frau?“, erkundigte sich Evelina.

„Die Gattin Seiner Lordschaft“, verkündete Mrs. Graham mit dem Brustton der Überzeugung, „soeben aus Amerika angereist.“ Sie sammelte die Papiere ein, die Spencer hatte fallen lassen, und übergab sie Evelina.

Spencer wusste nicht, was er zuerst tun sollte: sich weiter um die immer noch Besorgnis erregend bewusstlose Miss Mercer kümmern oder eine Erklärung abgeben, über die er sich selbst noch im Unklaren war. Er entschied sich für das dringendere Anliegen.

„McFee“, wandte er sich an seinen Diener, „kümmern Sie sich mit Mrs. Graham darum, dass das Gepäck der Damen hereingebracht wird. Alle anderen kehren bitte in den Speisesaal zurück – dies ist eine private Angelegenheit. Ich komme so bald wie möglich nach.“

Mit Miss Mercer in seinen Armen schritt Spencer den Gang hinunter. Er musste sie an einen Ort bringen, wo es warm war und sie wieder zu Kräften kommen konnte. Zu seinem Arbeitszimmer mit dem behaglichen Kaminfeuer war es nicht weit.

Ihr flacher Atem und die kränkliche Färbung ihres sonst so frischen Gesichts gaben ihm Anlass zur Sorge. Noch nie war eine Frau seinetwegen ohnmächtig geworden. Und dass es nun gerade diese Frau war, die in Amerika immer so stark und glücklich gewirkt hatte, bereitete ihm größtes Unbehagen.

Gefälschte Briefe? Eine Heiratsurkunde? Eine gestohlene Mitgift? Was zum Teufel war in seinen Bruder gefahren?

Die Antwort fiel ihm plötzlich siedend heiß ein. Es musste etwas mit Nats Absichten auf die Teilhaberschaft zu tun haben! Warum sonst hätte der Schuft sich vorhin aus dem Staub machen sollen? Er musste von Miss Mercers Ankunft in England erfahren haben und war schleunigst in Deckung gegangen.

Daran tat er auch gut! Wenn dieser Trottel irgendwann wieder auftauchte, würde Spencer ihn so lange verprügeln, bis er auch noch sein letztes bisschen Verstand verloren hätte.

Als Spencer sein Arbeitszimmer erreichte, vernahm er, wie Mrs. Graham allen, die es hören wollten, von seiner Ferntrauung mit Miss Mercer berichtete. Was für ein heilloser Schlamassel!

Dennoch, seine größte Sorge galt zunächst einmal Miss Mercer. Immer noch reglos, lag sie weich und warm in seinen Armen. Aber als er sie behutsam auf eine Chaiselongue legte und von ihr nicht den leisesten Laut vernahm, vergrößerte sich seine Besorgnis schlagartig.

Riechsalz. Er brauchte Riechsalz! Aber wo sollte er das in seinem Junggesellenhaushalt auftreiben?

Sein Blick fiel auf Miss Mercers Handbeutel. Er öffnete ihn hastig und war erleichtert, ein Fläschchen darin zu finden. Er drehte den Verschluss ab und hielt Miss Mercer die Flasche unter die Nase.

Als sie den ersten Hauch der süßlichen Kräutermischung einatmete, seufzte Abby tief auf, und ihre zarten Augenlider öffneten sich flatternd. Gott sei Dank! Er stellte die Flasche auf den Boden und nahm Abbys Hände in die seinen. Die Kälte ihrer Finger beunruhigte ihn.

„Miss Mercer“, begann er mit gesenkter Stimme, „geht es Ihnen gut?“

„Was … was ist passiert?“

„Sie sind in Ohnmacht gefallen. Was kann ich tun, damit es Ihnen wieder besser geht? Möchten Sie etwas Wein? Oder vielleicht einen Brandy?“

„Kor… Korsett“, flüsterte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Du lieber Himmel – hatte sie ihren Verstand zusammen mit ihrem Bewusstsein verloren? „Wie bitte?“

„Ich bekomme keine Luft“, wisperte sie atemlos. „Das … Korsett. Ich bin … nicht gewohnt … eins zu tragen.“

Als sie die Verschlüsse an der Vorderseite ihres Kleides zu öffnen begann, verstand er, was sie ihm zu sagen versuchte. Er beobachtete sprachlos, wie sie weiter ihr Kleid aufknöpfte, sich aus dem engen Oberteil wand und es auf ihre Hüften fallen ließ, um an die Rückenschnürung ihres Korsetts zu kommen. Fasziniert betrachtete er ihre wunderbare goldbraun schimmernde Haut, die über der Spitzenverzierung ihres Unterkleides sichtbar wurde.

Abby versuchte wieder zu Atem zu kommen und schaute zu ihm auf. „Helfen Sie mir“, bat sie.

Mit schnellen Schritten war Spencer bei der Tür und schloss sie. Dann wandte er sich wieder Abby zu und drehte sie vorsichtig auf die Seite. Aber als er die Verschnürungen ihres Korsetts lockern wollte, musste er feststellen, dass sie sorgfältigst verknotet waren.

„Schneiden Sie sie einfach durch“, hauchte sie. „Befreien Sie mich von diesem Ding.“

Mit entschlossener Miene holte er ein Papiermesser von seinem Schreibtisch. Aber er merkte bald, dass es gar nicht so leicht war, die engen Schnüre zu lösen. Er musste sein Messer behutsam unter dem Stoff des Korsetts ansetzen und geduldig eine Verschnürung nach der anderen durchtrennen, bevor das unselige Kleidungsstück endlich nachgab.

Mit einem erleichterten „Ahhh“ entspannte sich Miss Mercer und atmete tief durch.

„Ich werde nie verstehen, warum Frauen solche Folterinstrumente tragen“, murmelte Spencer und legte das Messer beiseite.

„Normalerweise trage ich so etwas nicht.“ Abby rollte sich wieder auf den Rücken, das Oberteil ihres Kleides hing ihr zerknittert um die Taille, und das Korsett bedeckte nur noch locker ihr Unterkleid. „Aber Mrs. Graham bestand darauf, dass eine Viscountess unbedingt ein Korsett anzuziehen habe, also …“, sie atmete wieder tief ein, „Mrs. Graham dachte, es sei der Situation angemessen.“

Eine Viscountess. Schuldgefühle übermannten Spencer. Nat mochte sie zwar im Hinblick auf Spencers Wunsch, sie zu heiraten, hinters Licht geführt haben, aber sie hatte allen Grund gehabt, seinem Bruder zu glauben. Die amerikanischen Gerichte würden sowohl die Briefe als auch die Heiratsurkunde so lange als gültig anerkennen, bis Spencer das Gegenteil beweisen konnte. Nur wie um alles in der Welt sollte er das tun?

Er merkte, dass hinter ihm jemand das Zimmer betreten hatte.

„Geht es ihr besser?“, fragte Evelina schüchtern.

„Mir scheint, es könnte ihr gar nicht besser gehen“, antwortete Lady Brumley trocken.

Spencer stöhnte. Nun war Lady Brumley sogar schon in sein Arbeitszimmer vorgedrungen!

„Also wirklich, Lord Ravenswood“, fuhr die Klatschkolumnistin unbeirrt fort, „Sie hätten ruhig warten können, bis Ihre Gäste gegangen sind, bevor Sie … äh … Ihren ehelichen Pflichten nachkommen.“

Verdammt! Bis jetzt hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, welchen Eindruck es erweckte, wenn seine „Frau“ hier mit halb geöffnetem Kleid und gelöstem Korsett auf der Chaiselongue lag und er sich wie ein Wüstling über sie beugte. Er richtete sich hastig auf.

„Seine Lordschaft hat lediglich versucht, für mein Wohlbefinden zu sorgen“, erklärte Miss Mercer.

„Davon bin ich überzeugt.“ Lady Brumley bückte sich, um die Flasche aufzuheben, die Spencer auf den Boden gestellt hatte. „Was ist das? Etwas, um für Ihr … mmh … Wohlbefinden zu sorgen?“

„Das ist Riechsalz!“, fuhr Spencer sie an.

„Es ist der Met“, verkündete Miss Mercer.

Dann platzte Mrs. Graham ins Zimmer. „O Mylady, geht es Ihnen gut?“ Sie erfasste mit einem Blick die Situation und blickte Spencer voller Entsetzen an. „Was hat der Unmensch Ihnen angetan?“

„Raus!“ Spencer hatte genug von dieser Farce. „Alle raus! Ich möchte einen Moment allein sein mit Miss … mit meiner … Gehen Sie jetzt, und gönnen Sie einem Mann sein Privatleben.“

„Mylord, Sie müssen mich das erklären lassen …“, setzte Abby an und richtete sich auf.

Ihr Korsett fiel dabei völlig herunter und gab den Blick auf ihr Unterkleid frei, dessen Material so hauchdünn war, dass ihre dunklen Brustspitzen deutlich zu erkennen waren.

Einen Augenblick lang standen alle wie erstarrt da, auch Spencer. Er konnte seinen Blick nicht von Miss Mercer abwenden, die sich hier ihres Korsetts entledigte, als sei sie geradewegs seinen erotischen Junggesellenträumen entstiegen.

Dann schrie Lady Tyndale auf: „Aber meine Gute, Ihr Kleid!“, was Spencer aus seiner Erstarrung riss.

Er stellte sich vor die Chaiselongue, um Abby vor den Blicken des stetig größer werdenden Publikums zu schützen, das nun in sein Arbeitszimmer drängte. „Verlassen Sie jetzt das Zimmer. Alle! Sie auch, Mrs. Graham. Ich werde mich um Ihre Herrin kümmern.“

Widerstrebend zog sich die Dienerin zusammen mit den anderen zurück, die alle aufrichtig entrüstet wirkten. Sogar die neugierige Lady Brumley trat schweigend den Rückzug an – allerdings nicht, ohne das kleine Fläschchen eingesteckt und Spencer mit einem viel sagenden Blick bedacht zu haben.

Eine himmlische Stille senkte sich über sein Arbeitszimmer – bis Spencer eine klägliche Stimme hinter sich hörte: „Ich … ich bekomme das Kleid nicht zu.“

Er drehte sich zu Miss Mercer um. Sie hatte das Korsett abgelegt, sich bereits wieder in die Ärmel ihres Kleides gezwängt und versuchte nun vergebens, es zu schließen.

„Ohne das Korsett kann ich das Oberteil nicht zumachen … weil … nun …“

Er zwang sich, seinen Blick von der Stelle ihres Körpers abzuwenden, die sie daran hinderte, ihr Kleid zu schließen. Stattdessen zog er schnell seinen Frack aus und legte ihn ihr um die Schultern. Dabei atmete er wieder einen Hauch des süßlichen Kräuterduftes ein, der sie umgab. Lieblich, sinnlich, betörend …

O Gott, er musste aufhören, sich solchen Vorstellungen hinzugeben!

„Danke, Mylord“, murmelte sie, „ich fing gerade an, mich etwas … bloßgestellt zu fühlen.“

„Es ist meine Schuld. Ich hätte nicht Ihr Korsett zerschneiden sollen.“

Sie lächelte sie an. „Hätten Sie das nicht getan, wäre ich umgekommen.“ Sie senkte den Kopf. „Ich komme mir sehr dumm vor. Ich bin noch nie zuvor in Ohnmacht gefallen.“

Mit einem Seufzer setzte er sich neben sie. „Unter den gegebenen Umständen war das nur verständlich. Mein Bruder wird viel zu erklären haben.“

„Sie meinen, weil er die Heirat mit einem Mann arrangiert hat, der mich gar nicht will?“, platzte sie heraus. Sie warf ihre Beine entschlossen über den Rand der Chaiselongue und begann ihre Röcke zu ordnen. „Es war dumm von mir, allen seinen Beteuerungen zu glauben. Ich hätte wissen müssen, dass Männer wie Sie nicht irgendeine unbedeutende Amerikanerin heiraten. Aber Ihr Bruder war sehr überzeugend …“

Vielleicht sollte er ihre Vermutung richtig stellen, dass sie als seine Ehefrau nicht tauge. Aber das würde auch bedeuten, ihr zu erklären, dass er überhaupt nicht vorhatte, jemals zu heiraten, was wiederum zu den üblichen Fragen führen würde. Da er darauf keine andere Antwort als die Wahrheit hatte – die er sich aber weigerte, jemand anderem anzuvertrauen –, war es besser, das Thema gar nicht erst anzusprechen.

Aber er musste unbedingt herausfinden, wie weit er rechtlich in die Sache verstrickt war. Und dazu musste er ihr einige Fragen stellen.

Er betrachtete ihr Gesicht. Es hatte schon wieder etwas Farbe, und Abby sah nicht so aus, als würde sie gleich wieder in Ohnmacht fallen. Eine bessere Gelegenheit als diese würde es vielleicht nicht geben, die Angelegenheit zu ergründen. „Mrs. Graham erwähnte eine Mitgift. Stimmt es, dass mein Bruder diese an sich genommen hat?“

Abby begegnete gelassen seinem Blick. „Ja.“

Spencer fluchte leise. Er hatte gehofft, dass alles nur ein Hirngespinst ihrer aufgebrachten Dienerin gewesen war. „Aber wie war das möglich? Ihr Vater hätte die Bankanweisung doch sicher auf meinen Namen ausgestellt. Und Nat hätte sie nicht ohne meine Zustimmung einlösen können.“

Sie schauderte bei der Erinnerung. „Leider bestand meine Mitgift aus Goldmünzen, die Papa angespart hatte. Er verwahrte sie zu Hause, bis ich heiraten würde.“

Spencer fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Konnte diese Nacht überhaupt noch schlimmer werden, als sie schon war? „Ich wage ja kaum zu fragen, aber wie hoch war die Mitgift?“

„Papa ließ sie für Ihren Bruder in englischen Pfund schätzen, und soweit ich mich erinnere, handelte es sich um etwa fünftausend Pfund.“

Ja, die Nacht konnte tatsächlich noch schlimmer werden. Fünftausend Pfund war eine Summe, die einen Mann durchaus in Versuchung führen konnte, dessen jährliches Einkommen nicht annähernd so hoch war. „Miss Mercer, vielleicht sollten Sie mir erklären, wie es eigentlich zu dieser Hochzeit kam.“

„Gerne.“ Obwohl sie sich aufrecht hielt, konnte er aus dem Zittern ihres Kinns schließen, wie sehr sie um Fassung rang. „Nachdem Sie Philadelphia verlassen hatten, war Nathaniel sehr aufmerksam Papa gegenüber.“

Den Vornamen seines Bruders aus ihrem Mund zu hören, machte ihn plötzlich wütend. „Und scheinbar auch Ihnen gegenüber! Sie reden sehr vertraut von ihm.“

Sie reckte trotzig ihr Kinn. „Er bat mich darum, da ich ja nun bald seine Schwester sein würde.“

Spencer seufzte. „Ja, richtig. Erzählen Sie weiter.“

„Papa hatte schon immer vorgehabt, die Hälfte seines Unternehmens meinem Mann zu überlassen, wer auch immer das sein würde. Er hoffte sehr, dass Ihr Bruder mich heiraten würde, aber Nathaniel beteuerte, sein Herz sei bereits vergeben.“ Ihre schönen Augen funkelten. „Vermutlich war auch das eine Lüge.“

„Nein“, versicherte ihr Spencer, „das stimmt tatsächlich. Seine Verlobte ist heute Abend sogar anwesend. Sie kam vorhin als Erste ins Arbeitszimmer.“

„Oh.“ Abby betrachtete angelegentlich ihre Hände. „Die elegante, junge blonde Dame.“

„Die beiden haben schon seit einiger Zeit vor zu heiraten.“ Spencer stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, da ihm seine Unruhe nicht länger erlaubte, still zu sitzen. „Heute Abend war das Verlobungsdiner der beiden, aber Nat ist nicht erschienen.“

Abby runzelte die schöne Stirn. „Könnte er von meiner Ankunft in England erfahren haben?“ Sie dachte einen Moment nach. „Aber ja, natürlich! Ich habe Ihnen doch einen Brief geschrieben. Er muss ihn abgefangen haben.“

„Das würde zumindest erklären, warum er in der letzten Zeit ein so auffälliges Interesse an der Post hatte. Wie viele Briefe haben Sie mir geschrieben?“

„Zwei. Einen gleich nach unserer Hochzeit und einen weiteren wegen der Reise. Für mehr war keine Zeit.“ Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber den ersten gab ich Nat mit, als er zurückreiste.“

„Ich verstehe. Und nachdem er den zweiten Brief auch unterschlagen hatte, wird er jemanden zum Hafen geschickt haben, der nach Ihrem Schiff Ausschau hielt und ihn dann benachrichtigte.“ Spencer fluchte innerlich. „Was auch die Nachricht erklären würde, die Nat kurz vor seinem Verschwinden erhalten hat.“

Die Gründlichkeit, mit der dieser Plan ausgearbeitet worden war, erschreckte Spencer. Welchen Zweck konnte Nat damit verfolgen? Sich die Mitgift mitsamt der Firma anzueignen? Nat hatte schon viele Dummheiten in seinem Leben begangen, aber nie hatte er etwas gestohlen.

Spencer setzte sich nachdenklich an seinen Schreibtisch. „Sie haben mir von unserer Ferntrauung erzählt …“

„Ja. Nachdem Nathaniel klar wurde, dass Papa das Unternehmen nur meinem Onkel oder aber meinem Ehemann hinterlassen würde, versuchte er Papa umzustimmen.“ Ihre Stimme bekam einen bitteren Unterton. „Ich hätte ihm gleich sagen können, dass er damit keinen Erfolg haben würde. Papa war immer sehr daran gelegen, dass ich eine gute Partie mache. Er wollte allen beweisen, dass meine indianische Abstammung dem nicht im Wege stünde. Er stellte meinetwegen Haus- und Tanzlehrer ein, kaufte mir Bücher über gesellschaftliche Umgangsformen …“

Sie seufzte. „Aber da Nathaniel mich nicht heiraten wollte, beharrte Papa auf seinem Plan, das Unternehmen seinem eigenen Bruder zu vermachen. Um also überhaupt an einen Teil meiner Erbschaft zu kommen, hätte ich bei meinem Onkel leben müssen.“

„Keine sehr verlockende Aussicht, wie ich vermute.“

Ein freudloser Ausdruck trat in ihre dunklen Augen. „Papas Familie hat sich wegen seiner Heirat mit meiner Mutter schon vor Jahren von ihm losgesagt. Ich bin davon überzeugt, dass mein Onkel mich nur bei sich aufnehmen würde, damit ich ihm in der Firma behilflich bin, aber ich würde behandelt werden wie … nun ja …“

„Eine arme Verwandte. Oder schlimmer.“

Sie nickte. „Das war natürlich nicht in Papas Sinne, aber er traute mir auch nicht zu, dass ich das Unternehmen alleine führen könnte. Deshalb hätte er es so gerne gesehen, dass ich heirate.“

„Und nachdem Nat ihm in dieser Hinsicht nicht entgegenkam, wurde ich zum Opferlamm auserkoren.“

„Wenn Sie wollen, können Sie das natürlich so betrachten“, erwiderte sie gereizt. „Aber davon ganz abgesehen, behauptete Nathaniel zwei Monate nach Ihrer Abreise, einen Brief von Ihnen erhalten zu haben, in dem Sie mich in den höchsten Tönen priesen.“ Sie spielte verlegen mit den Ärmeln seines Fracks und fügte mit sanfter Stimme hinzu: „Ich hätte wohl besser daran getan, dem keinen Glauben zu schenken, aber Sie müssen auch zugeben, dass … nun … dass Sie und ich einige sehr angenehme Gespräche geführt haben. Und deshalb dachte ich … ich meinte …“

„Ja, ich ahne, worauf Sie hinauswollen.“ Er hatte ihr zwar nie Avancen gemacht, aber sein Verhalten war einnehmend genug gewesen, um Nats Behauptungen glaubwürdig erscheinen zu lassen.

„Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mich einmal wegen meines ‚naiven amerikanischen Optimismus‘ aufgezogen haben, der eines Tages mein Untergang sein würde?“ Sie wendete ihren Blick ab, und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. „Sie hatten allem Anschein nach recht.“

„Ich versichere Ihnen, dass es mir keinerlei Genugtuung bereitet, mich in dieser Hinsicht bestätigt zu sehen, Miss Mercer. Vor allem da es mein Bruder ist, der Ihren Ruin bewirkt hat.“

Sie winkte ab. „Nathaniel sicherte Papa zu, dass er im Gegenzug für eine fünfzigprozentige Teilhaberschaft – die andere Hälfte ginge an Sie als meinem Ehemann – unsere Heirat in die Wege leiten würde. Aber wegen Papas schlechtem Gesundheitszustand und Ihrer momentanen Unabkömmlichkeit in England müsse eine Ferntrauung stattfinden.“

„Ihr Vater stimmte einem derart seltsamen Vorschlag zu?“

„Scheinbar litt auch er unter ‚naivem amerikanischem Optimismus‘.“ Als ihr auffiel, dass Spencers Miene sich bei dieser sarkastischen Bemerkung verfinsterte, wurde ihr Ton wieder weicher. „Ich nehme an, er sah einfach keinen anderen Ausweg. Ihm war es sehr wichtig, mich nach seinem Tode versorgt zu wissen. Und er hatte Sie sehr zu schätzen gelernt.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Spencer verärgert. „Ich vermute, dass sich nicht allzu oft ein Viscount nach Philadelphia verirrt.“

Sie schaute ihn verletzt an. „Ich hatte gehofft, Sie würden uns besser kennen. Aber ich habe mich wohl getäuscht.“ Sie reckte trotzig das Kinn. „Ich bin keine Heiratsschwindlerin, Mylord. Ich habe meine eigene Mitgift … zumindest hatte ich eine, bevor Ihr Bruder sie mir nahm.“ Je länger sie redete, desto weiter hob sich ihr stolzes Kinn. „Papa war weniger an Ihrem Titel und Ihrem Vermögen interessiert als an Ihrem Charakter. Er schätzte Sie, weil er annahm, dass Sie ein guter Mensch seien. Wie wenig er doch wusste! Ich bin mir sicher, hätte er geahnt …“

„Ich bin geradezu ernüchtert, Miss Mercer“, erwiderte Spencer amüsiert. „Bitte fahren Sie doch fort.“

Sie zögerte etwas verunsichert. Dann fuhr sie fort: „Wir vollzogen die Ferntrauung, und Ihr Bruder sprang als Ihr Stellvertreter ein.“

„Und niemand hatte irgendwelche Zweifel an dem Ganzen?“

Ihr Kopf schoss empor, und ihre Augen funkelten bedrohlich. „Warum sollte jemand Zweifel haben? Alle hatten Sie persönlich kennen gelernt. Es gab die Briefe mit den Heiratsversprechen. Ihr eigener Bruder machte sich für die Verbindung stark. Wie hätten da Zweifel aufkommen sollen?“

„Ich verstehe, was Sie meinen.“

Nur leicht besänftigt, zog sie sich seinen Frack, der ihr immer wieder von den Schultern rutschte, bis unter das Kinn. Spencer hatte den Eindruck, dass ihr vielleicht kalt war. Er stand auf und stocherte in der Glut, bis im Kamin wieder ein wärmendes Feuer brannte.