Ein Schurke zum Verlieben - Sabrina Jeffries - E-Book

Ein Schurke zum Verlieben E-Book

Sabrina Jeffries

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Beschreibung

Victor Cale hätte es nie für möglich gehalten, dass seine Braut Isabella in kriminelle Machenschaften verwickelt sein könnte. Doch dann verschwindet Isa spurlos, nachdem die Diamanten der königlichen Familie Hollands gestohlen wurden. Und alle Indizien sprechen dafür, dass Isa für den Raub verantwortlich ist. Zehn Jahre später begegnen die beiden sich erneut - doch zu Victors Überraschung beschuldigt Isa nun ihn, die Diamanten einst entwendet zu haben. Sie beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen, und schon bald flammt die alte Leidenschaft zwischen ihnen wieder auf.

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Seitenzahl: 485

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Stammbaum der Familien Manton, Bonnaud und Cale

Prolog

1

2

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4

5

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7

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9

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Epilog

Anmerkung der Autorin

Die Autorin

Die Romane von Sabrina Jeffries bei LYX

Impressum

SABRINA JEFFRIES

Ein Schurke

zum Verlieben

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Andreas Fliedner

Zu diesem Buch

Als Victor Cale von der Ermittlungsagentur Manton beauftragt wird, in Edinburgh einer Heiratsschwindlerin auf die Schliche zu kommen, hätte er niemals damit gerechnet, dass es sich dabei um seine eigene Ehefrau handelt, die er seit zehn Jahren vergeblich sucht. Victor weiß augenblicklich, dass er auf der Hut sein sollte, schließlich nutze Isa seine blinde Verliebtheit schon damals schamlos aus, um ihm den Diebstahl der königlichen Juwelen anzuhängen und sich mit der Beute auf und davon zu machen – doch all die Jahre konnten ihrer Anziehungskraft auf ihn nichts anhaben! Auch Isa traut ihren Augen kaum, als plötzlich ihr verschwunden geglaubter Ehemann vor ihr steht und ihr Vorwürfe macht – schließlich war er derjenige, der sich von einem Tag auf den anderen aus dem Staub gemacht hatte. Doch Victors leidenschaftliche Küsse sind so verführerisch wie damals und führen ihr deutlich vor Augen, was sie all die Jahre vermisst hat. Während allmählich der Verdacht aufkeimt, dass Isa und Victor gemeinsam Opfer einer Intrige geworden sind, bleibt die einzig wichtige Frage: Ist ihre Liebe wirklich stark genug, um eine zweite Chance zu verdienen?

Für die wunderbare Dru und das Team »meines« Starbucks, die mich immer aufs Beste mit geeistem Kaffee und allen Arten von Bagels versorgen. Jeder von euch ist ein echter Schatz! Danke, dass ich bei euch schreiben darf.

Für meine Nichte Isabel »Isa« Martin und meinen Neffen Craig Martin. Danke für das Licht,das ihr in mein Leben bringt.

Und für meinen Bruder Daren Martin, der durch einen weisen Rat, den er mir an einem entscheidenden Punkt meiner Ehe gab, mein Leben für immer verändert hat. Danke – und ich liebe dich.

Prolog

Amsterdam 1818

Die Dunkelheit war schon vor einer Weile hereingebrochen. Die achtzehnjährige Isabella Cale hatte ihre Arme fest um den Nacken ihres frisch angetrauten Ehemanns Victor geschlungen, während er sie in ihr altes Zimmer im Haus ihrer Schwester Jacoba trug. Isa war nur ungern hergekommen, aber es war sicherer, als sich von Jacoba in ihrer Wohnung pflegen zu lassen. Ihre Schwester sollte keine Gelegenheit haben, nach den künstlichen Edelsteinen zu suchen, die Isa dort vor Jacobas Ehemann versteckt hatte. Und Victor weigerte sich, Isa alleine zu lassen, wenn sie krank war.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Hoffentlich hatte sie Erfolg damit, krank zu spielen. Und hoffentlich fand Victor nie heraus, dass ihre Halsschmerzen nur vorgetäuscht waren. Es war schwierig genug gewesen, sich den ganzen Tag krank zu stellen, während ihre Arbeit im Juweliergeschäft auf sie wartete. Aber jetzt machten Victors besorgte Blicke es noch schwieriger. Sie waren gerade eine Woche verheiratet, und das Letzte, was sie wollte, war, ihm etwas vorzumachen.

Doch sie hatte keine andere Wahl. Es war zu seinem eigenen Besten. Und zu ihrem.

»Bist du sicher, dass sie keinen Arzt braucht?«, fragte Victor Jacoba, während er Isa sanft auf ihr altes Bett legte.

»Sie braucht nur Ruhe und jemanden, der sie ein bisschen verwöhnt.« Jacoba deckte Isa zu. »Sie hat diese schrecklichen Halsentzündungen seit ihrer Kindheit. Aber sie dauern nie länger als eine Woche. Es war richtig, sie hierherzubringen. Es tut ihr nicht gut, allein zu sein.«

Früher hatte sie sich beim Klang der sanften Stimme ihrer Schwester immer sicher gefühlt. Aber das war gewesen, bevor ihr Vater, der Uhrmacher, vor sechs Jahren gestorben war. Bevor Papas Gehilfe, Gerhart Hendrix, Jacoba geheiratet und sie beide zu sich genommen hatte. Und bevor Gerhart angefangen hatte zu spielen.

Isa und Jacoba waren sich nicht mehr so nahe, wie sie es früher gewesen waren.

»Du musst keine Angst haben, dass ich sterbe, während du im Laden bist«, sagte Isa mit heiserer Stimme zu Victor. »So krank bin ich nicht.«

Victor hatte vorübergehend den Posten eines Nachtwächters bei dem Juwelier übernommen, für den sie als Diamantschneiderin arbeitete. Da sie tagsüber und Victor nachts arbeitete, konnten sie nicht viel Zeit zusammen verbringen. Deshalb war es für Isa himmlisch gewesen, heute mit Victor zu Hause bleiben zu können. Abgesehen davon natürlich, dass sie sich hatte krank stellen müssen.

Schatten der Liebe und Besorgnis umgaben Victors schöne haselnussbraune Augen. »Leider muss ich jetzt gehen, aber wenigstens kann sich Jacoba um dich kümmern.«

Oh, wie sehr wünschte sie sich, sie hätte den Mut gehabt, ihm die Wahrheit zu sagen! Aber dann hätte er sie vielleicht nicht mehr mit diesen zärtlichen Augen angesehen. Und das hätte ihr das Herz gebrochen. Es war besser, dem Problem aus dem Weg zu gehen.

Wenn es ihr gelang, ihre Schwester und ihren Schwager nur diese eine Nacht mit ihrer angeblichen Krankheit zu täuschen, dann würde morgen alles vorbei sein. Dann würde Victor nie etwas von Gerharts und Jacobas verrücktem Plan erfahren, die königlichen Juwelen aus dem Juweliergeschäft zu stehlen.

Als er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie auf die Stirn zu küssen, fiel ihm eine Locke seines welligen, eichenholzfarbenen Haares ins Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Aber wir erwarten die Leibgarde des Prinzen …«

»Ich weiß«, schnitt sie ihm das Wort ab, bevor er verraten konnte, dass die königlichen Juwelen morgen aus dem Geschäft abgeholt werden sollten. Jacoba durfte um keinen Preis erfahren, dass diese Nacht die letzte Gelegenheit war, sie zu stehlen. »Du wirst deinen Posten vielleicht nicht mehr lange haben. Also musst du arbeiten, solange du kannst.« Seine Anstellung endete morgen früh, wenn der Juwelier die königlichen Juwelen der Garde übergab.

»Ich werde schon eine neue Arbeit finden«, sagte er gereizt, »selbst wenn ich nicht bei dem Juwelier bleiben kann. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, versicherte sie hastig. Er war so leicht in seinem Stolz gekränkt, und sie wollte ihn nicht verletzen. Und überhaupt würde Victor im Handumdrehen eine neue Stellung finden, wenn er wollte. Zudem war der Juwelier ein alter Freund seiner Mutter und würde sicherlich eine Möglichkeit finden, Victor weiter zu beschäftigen. »Ich glaube an dich.«

Ihre Worte schienen Victor kaum zu besänftigen. »Du machst dir wegen irgendetwas Sorgen. Das sehe ich dir an.«

»Sei nicht albern.« War sie so leicht zu durchschauen? Grundgütiger, sie musste dafür sorgen, dass er ging, bevor sie sich verplapperte. Sie versuchte, ihre Stimme möglichst heiser klingen zu lassen. »Wenn du dich nicht beeilst, kommst du zu spät zur Arbeit.« Seine Schicht begann um acht Uhr abends, wenn der Juwelier nach Hause ging. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin bei Jacoba in guten Händen.« Sie verschluckte sich beinahe an ihrer Lüge.

Aber Victor schien nichts bemerkt zu haben. Er deckte sie sorgfältig zu und strich die Bettdecke glatt. »Morgen früh nach meiner Schicht hole ich dich ab, Mausi.« Sie zuckte zusammen, als sie den deutschen Kosenamen hörte. Victor benutzte oft Wörter aus allen möglichen Sprachen. Er sprach fließend Holländisch, Flämisch, Deutsch, Englisch und Französisch – was sie ziemlich beeindruckte. Aber trotzdem konnte sie es nicht leiden, wenn er sie Mäuschen oder Mausi nannte.

Vielleicht deshalb, weil sie sich tatsächlich wie eine Maus fühlte. In jeder Hinsicht. Sie sah irgendwie mäuseartig aus – nichtssagende braune Haare, die sich einfach nicht zu Locken drehen ließen, Hüften, die ein wenig zu breit für ihren kleinen Busen waren –, und sie benahm sich auch wie eine Maus. Sie hasste es, sich zu streiten oder Aufsehen zu erregen. Viel lieber verkroch sie sich in ihrer Werkstatt und schnitt Diamanten oder entwarf Schmuck. Deshalb hatte sie sich auch in diese Klemme gebracht.

Und deshalb lag sie einfach nur still da, während er zur Tür ging. Sie hätte ihn aufhalten und ihm die Wahrheit sagen müssen. Und sie hätte den Folgen ins Gesicht sehen müssen. Aber es war so viel einfacher, sich irgendwie durch diese Nacht hindurchzumogeln. Dann würde sie endlich frei sein. Und nie wieder ihrer Schwester und ihrem Schwager bei ihren dunklen Machenschaften behilflich sein müssen.

Sie würde nie wieder gefälschten Schmuck herstellen! Auch die Imitation der königlichen Parure, die aus Ohrgehängen, einer Halskette, einem Armband und einer Brosche bestand, hätte sie von sich aus niemals angefertigt. Aber Jacoba und Gerhart hatten ihr eingeredet, dass sie die Stücke ganz legitim als Nachahmungen des königlichen Schmucks verkaufen wollten. So hätten sie alle mit Isas Talent für die Herstellung künstlicher Edelsteine gutes Geld verdienen können. Das hatten sie zumindest gesagt. Wenn sie gewusst hätte, dass die beiden von Anfang an vorgehabt hatten, die Imitationen zu benutzen, um ein Verbrechen zu begehen …

Mit einem unterdrückten Stöhnen drehte sie sich auf die Seite und sah Victor hinterher, der mit Jacoba im Flur verschwand, wobei er ihr leise Anweisungen gab, wie sie sich um seine Frau kümmern sollte. Was hatte sie für einen schmucken Ehemann! Und er war so gut zu ihr. Sie lebte in beständiger Furcht, dass er von den schmutzigen Plänen ihrer Familie erfuhr. Und von der Rolle, die sie darin spielte.

Ihr schnürte sich die Kehle zusammen. Wie um alles in der Welt hatte sie es geschafft, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Wenn sie eine Maus war, dann war er ein Löwe. An seinen vielen Narben konnte man erkennen, dass er während seiner drei Jahre in der preußischen Armee viel durchgemacht hatte. Und hinter dem Blick seiner klaren, haselnussfarbenen Augen schienen noch immer die Erinnerungen an die Schlacht von Waterloo auf. Sie hatte den Verdacht, dass es in seiner Vergangenheit noch andere dunkle Geheimnisse gab, denn er sprach nie über seine Kindheit oder seine Familie. Er sah immer nur nach vorn und ließ sich von seiner Vergangenheit nicht aufhalten.

Sie hingegen lag hier im Bett und spielte krank. Oh, was hätte sie darum gegeben, mutig und draufgängerisch zu sein. Dann hätte sie Gerhart die Stirn bieten können, wenn er wieder mit seinen endlosen Tiraden anfing, wie er sie und Jacoba nach Papas Tod vor dem sicheren Ruin gerettet hatte. Es stimmte zwar, dass er sich um sie gekümmert hatte, aber das bedeutete nicht, dass sie jetzt für ihn ihr Glück und ihren Hals aufs Spiel setzen musste. Warum hatte sie nicht den Mut, ihm das einfach ins Gesicht zu sagen?

Weil Gerhart dann anfangen würde, sie und Jacoba anzubrüllen, und sie hasste Gebrüll. Und die eisigen Blicke. Und die Bemerkungen darüber, dass sie die Anstellung bei dem Juwelier Gerhart zu verdanken hatte – weil er ihr Talent zum Diamantschneiden gefördert hatte, das sie von Papa geerbt hatte.

Sie seufzte in ihr Kissen hinein.

»Du schläfst ja noch gar nicht«, sagte Jacoba, die geräuschlos wie eine Katze ins Zimmer zurückgekehrt war.

Isa fuhr zusammen. »Nein, noch nicht. Aber ich fühle mich schrecklich. Ich bin ganz schwach, und alle Knochen tun mir weh. Und mein Hals brennt wie Feuer.« Sie schluckte ihre Schuldgefühle hinunter und sah zu ihrer Schwester hoch. Jacoba war sieben Jahre älter als sie und wie eine Mutter für sie gewesen.

Früher.

Jacoba legte Isa die Hand auf die Stirn. »Du fühlst dich ein bisschen heiß an.«

Das kam davon, wenn man unter einem Berg schwerer Decken lag. Sie betete, dass die Schweißtropfen auf ihrer Stirn sie nicht verrieten. »Mir wird einfach nicht warm«, log sie mit heiserem Flüstern. »Es fängt immer mit Schüttelfrost an …«

»Ich weiß.«

Ihre Schwester musterte sie mit einem harten Blick, so als ob sie sich keine Sekunde von ihrer Komödie täuschen ließ. Isa hielt den Atem an. Nachdem der Juwelier seine Arbeit an den königlichen Juwelen beendet hatte, hatten Jacoba und Gerhart sie bedrängt, die Parure so rasch wie möglich gegen die Imitationen auszutauschen, die sie angefertigt hatte. Alles, was sie zu tun hatte – so hatten sie gesagt –, war, Victor die Schlüssel zu stehlen, während er tagsüber schlief, und den Tresor zu öffnen, wenn der Juwelier beim Mittagessen war.

Und dabei ihren Ehemann und alles, woran sie glaubte, zu verraten.

Seit Tagen hatte sie die beiden hingehalten. Aber gestern Abend hatte Gerhart damit gedroht, Victor einzuweihen und ihn zu überreden, den Austausch vorzunehmen. Das hatte Isa nicht zulassen können. Victor wäre entsetzt gewesen.

Sollte Gerhart ruhig toben, weil sie ausgerechnet am letzten Tag, an dem sie den Schmuck hätte austauschen können, krank wurde. Irgendwann würde er sich damit abfinden, diese Chance verpasst zu haben. Vielleicht gelang es ihm ja tatsächlich, die nachgemachten Schmuckstücke an irgendeine wohlhabende Dame zu verkaufen, die denselben Schmuck tragen wollte wie die Braut des Prinzen, so wie er es ursprünglich vorgehabt hatte.

Schließlich schien sich Jacoba doch von Isas vorgetäuschtem Leiden überzeugt zu haben, und ihre Züge wurden weicher. »Versuch ein wenig zu schlafen. Ich bringe dir etwas gegen die Halsschmerzen.«

»Danke dir«, murmelte Isa, wobei sich ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Sie hasste Jacobas Medizin. Aber als ihre Schwester mit dem ekelhaften Gebräu zurückkam, war Isa klar, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als es hinunterzuwürgen. Wenn sie sich weigerte, würde Jacoba misstrauisch werden.

Nachdem sie die Medizin tapfer geschluckt hatte, blieb ihre Schwester zu ihrer Überraschung an ihrem Bett sitzen und wischte ihr die Stirn mit einem feuchten Tuch ab, bis sie einschlief.

Als sie in der grauen Morgendämmerung erwachte, die in das Schlafzimmer sickerte, schien es ihr, als seien nur wenige Minuten vergangen. Sie fühlte sich zerschlagen und verwirrt. Wo war sie? Warum war sie nicht in ihrer Wohnung? Und wo war Vic…

Als die Erinnerung an den gestrigen Abend wiederkehrte, richtete sie sich kerzengerade im Bett auf. Es war gewöhnlich noch dunkel, wenn Victors Schicht um sechs Uhr morgens endete, aber der Helligkeit nach zu urteilen, war es schon nach sieben. Er hätte längst da sein müssen. Er hatte doch gesagt, dass er sie gleich nach der Arbeit abholen würde!

Im Flur wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Dann hörte sie Stimmen. Sie konnte gerade noch ihre Beine über den Bettrand schwingen, als auch schon Gerhart und Jacoba ins Zimmer traten.

»Wir haben es geschafft, Isa!«, rief Jacoba. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten, und sie führte einen kleinen Freudentanz auf. »Wir haben sie!«

Während Isa die beiden noch verwirrt anstarrte, zog ihr bulliger Schwager eine diamantbesetzte Halskette aus der Tasche und hielt sie in das schwache Morgenlicht. »Jetzt gehört alles uns. Wir brechen die Diamanten heraus und verkaufen sie in Paris. Ich kenne einen Händler, der uns gutes Geld dafür …«

»Hör auf!«, unterbrach ihn Isa, deren Magen sich zu einem harten Klumpen zusammenkrampfte. »Was willst du damit sagen? Habt ihr etwa die echten Juwelen?«

»Natürlich.« Gerhart wechselte einen Blick mit seiner Frau. »Du warst krank, also mussten wir auf eigene Faust handeln. Du hast doch wohl nicht gedacht, dass wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen? Wir haben es selbst in die Hand genommen, den Schmuck zu vertauschen.«

Ihre Gedanken rasten. »Aber wie … Victor hätte das nie zugelassen …«

»Doch, das hat er.« Jacoba trat auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schulter. »Nachdem ich ihm unseren Plan erklärt hatte, war er einverstanden, uns zu helfen, wenn wir ihm dafür die Ohrgehänge überlassen. Victor und ich haben die Imitationen aus eurer Wohnung geholt, und dann hat Victor den Schmuck im Laden eigenhändig vertauscht.«

Ein Schauder durchfuhr sie. War das der Grund für das Geflüster gewesen, das sie gestern Abend im Flur gehört hatte? Hatte Jacoba tatsächlich mit Victor über den Plan gesprochen?

»Wir haben ihm selbstverständlich einen Anteil überlassen«, warf Gerhart ein, »als Dank für deine Hilfe … und seine. Wenn ihr die Ohrgehänge verkauft, müsstet ihr genug Geld haben, um …«

»Das würde er nie tun!«, rief Isa erstickt aus. Ihre Kehle war vor Entsetzen wie zugeschnürt. Sie schüttelte Jacobas Arm ab und stand auf. »Er ist kein Dieb. Ich kenne ihn.«

»Offenbar weniger gut, als du dachtest.« Gerhart ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite, um das schwache Winterlicht hereinzulassen. »Ich hatte dir ja gesagt, dass er auf die Stimme der Vernunft hört, wenn du nur den Mut fasst, ihn einzuweihen.«

War das möglich? Hatte sie sich in ihrem Ehemann wirklich so sehr getäuscht? »Ich wollte warten, bis …«

»Ja, das wissen wir«, schnitt ihre Schwester ihr das Wort ab. »Du hast einfach nur vergessen, dass die Leibgarde des Prinzen heute Morgen die Juwelen abholen sollte. Du hattest natürlich nicht vor, uns das zu verschweigen und die Gelegenheit vorbeiziehen zu lassen, nicht wahr?«

»Natürlich nicht«, murmelte sie, ohne ihre Schwester anzusehen. Das durfte alles nicht wahr sein.

»Zum Glück hat Victor es erwähnt, als er gestern Abend gegangen ist«, sagte Jacoba, »sonst hätten wir unsere große Chance verpasst.«

Gütiger Himmel. »Wo ist Victor jetzt?« Isa eilte zur Tür. Sie musste wissen, ob er tatsächlich etwas so Ungeheuerliches getan hatte.

»Er hat die Stadt verlassen.« Gerhart steckte das Diamantencollier zurück in seine Jackentasche. »Er ist am meisten in Gefahr, verhaftet zu werden. Also hat er sich, gleich als seine Schicht vorbei war, auf den Weg nach Antwerpen gemacht. Im Juweliergeschäft erwartet man ihn erst heute Abend zurück. Und auch wenn er dann nicht auftaucht, wird man sich nicht allzu sehr wundern, da seine Arbeit als Wachmann ja heute enden sollte. Inzwischen …«

»Willst du damit sagen, dass Victor mich verlassen hat?« Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie wirbelte zu ihnen herum. »Mein Ehemann hat mich verlassen?«

»Nein, das verstehst du falsch«, sagte Jacoba mit vor Mitgefühl und Besorgnis überquellender Stimme. »Er verkauft in Antwerpen die Ohrgehänge, und dann treffen wir uns alle in Paris wieder. Dorthin fahren wir mit der Halskette, dem Armband und der Brosche. Es war Victors Vorschlag, dass wir uns trennen. Falls wir verfolgt werden, wird man nach zwei Paaren suchen, die gemeinsam reisen. Niemand wird damit rechnen, dass du mit uns kommst und er einen anderen Weg nimmt.«

»Natürlich werden deine Imitate alle täuschen«, warf Gerhart ein, »aber es ist besser, wenn wir weit genug weg sind, falls doch jemand Verdacht schöpft. Der Juwelier erwartet dich frühestens morgen zurück. Glücklicherweise hat Victor ihm schon gesagt, dass du krank bist. Das gibt uns Zeit für einen Vorsprung.«

»Und das Beste ist, wenn alle deine Imitate für echt halten, dann wird niemand jemals von dem Diebstahl erfahren!«, krähte Jacoba. Der merkwürdige Glanz in ihren Augen ließ es Isa eiskalt über den Rücken laufen. »Victor hat einen Brief bei eurem Vermieter zurückgelassen. Er schreibt darin, dass ihr beide lukrative Stellungen in Frankfurt angeboten bekommen habt. Dem Juwelier wird das glaubwürdig erscheinen, da Victors Arbeit als Nachtwächter ja heute endet. Es ist ein perfekter Plan!«

»Außer, dass ich nicht mitmachen wollte!«, rief Isa aus.

Gerhart sah sie scharf an. »Da hast du aber etwas anderes gesagt. Du hast gesagt, dass du nur auf den richtigen Moment wartest.«

Isas Mund fühlte sich auf einmal an wie ausgedörrt. »Nun, ich … ich habe gelogen. Ich will keine Diebin sein. Ich will nur Diamanten schneiden und Schmuck entwerfen und ein normales Leben führen.«

»Was glaubst du, wie dieses normale Leben aussehen wird, mit einem Ehemann, der keine Arbeit hat?«, erwiderte Jacoba bissig. »Was meinst du, wie lange es dauert, bis du deine Stellung an einen Mann verlierst? Und was dann?« Abrupt wandte sie ihren Blick von Isa ab, als ob der Anblick ihrer Schwester sie anwiderte. »Dein Mann hat wenigstens begriffen, wie gut unser Plan war.«

Isa reckte das Kinn vor. Diesmal würde sie keine Maus sein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Victor sich auf so etwas eingelassen hat.«

»Er ist nicht da, oder? Und er hat doch gesagt, dass er dich abholen würde. Dabei ist seine Schicht längst zu Ende.«

Jacobas Worte trafen sie wie ein Schlag. Ihre Schwester hatte recht. »Ich verstehe nur nicht …«

»Woher glaubst du, haben wir die Juwelen, du kleine Närrin?« Gerhart kam wütend auf sie zu. »Wir hätten den Tresor nicht alleine aufbrechen können. Man braucht fünf kräftige Männer, um das Ding nur anzuheben, und es dauert Stunden, die Schlösser zu öffnen. Wir brauchten die Schlüssel. Victors Schlüssel.«

Isas Puls hämmerte im Stakkato.

Gerhart wartete die Wirkung seiner Worte ab und fügte dann kalt hinzu: »Als ihm klar wurde, dass das die einzige Möglichkeit war, für seine Frau zu sorgen, war er froh, uns helfen zu können.«

Ich werde schon eine neue Arbeit finden, selbst wenn ich nicht bei dem Juwelier bleiben kann. Mach dir deswegen keine Sorgen.

Tränen schossen ihr in die Augen. War es ihre Schuld, dass er sich auf diese schreckliche Sache eingelassen hatte? Hatte er es getan, weil er dachte, dass sie ihm nicht zutraute, eine neue Stellung zu finden?

Gerhart nutzte seinen Vorteil. »Ich hätte eigentlich ein bisschen Dankbarkeit erwartet, für all das, was wir auf uns genommen haben, um für dich zu sorgen. Stattdessen stehst du hier herum und jammerst …«

»Gerhart, Liebling«, sagte Jacoba begütigend, »warum packst du nicht schon einmal unsere Sachen und lässt mich mit meiner Schwester allein?«

Gerhart warf Isa einen finsteren Blick zu. Sie stand da und presste die Hand auf ihren Bauch, als wollte sie die Angst besänftigen, die in ihren Eingeweiden tobte. Mit einem Schnauben verließ er das Zimmer.

Sobald Gerhart zur Tür hinaus war, trat Jacoba zu ihr. »Ich mag Victor genauso sehr wie du, Schwesterchen, aber du musst zugeben, dass du ihn kaum kennst. Er spricht nie über seine Vergangenheit. Es ist gut möglich, dass er etwas Derartiges nicht zum ersten Mal macht. Denk nur an all die Sprachen, die er spricht. Hat er dir je gesagt, wo er sie alle gelernt hat?«

Sie schluckte. Sie hatte Victor nie danach gefragt. Sie hatte einfach angenommen, dass er ein Mann von Welt war. Jemand, der Dinge wusste, die weit über ihren Horizont hinausgingen, obwohl er nur zwei Jahre älter war als sie. »Er war Soldat in der preußischen Armee«, erwiderte sie.

»Das erklärt, warum er Deutsch spricht. Aber woher kann er Englisch? Und Französisch? Ganz bestimmt nicht nur, weil er Soldat war. Ich vermute, er hat während des Krieges Dinge getan, für die er spezielle … Fähigkeiten brauchte.«

Da sie sich oft über Victors Schweigsamkeit gewundert hatte, konnte sie das nicht ausschließen.

»Außerdem«, fuhr Jacoba fort, »sind Soldaten praktisch denkende Menschen. Und da du ihm nie von unserem Plan erzählt hast, woher willst du wissen, dass er ihn nicht gutgeheißen hätte?«

Die Worte ihrer Schwester schnitten ihr mitten durchs Herz. Sie wusste es nicht. Sie konnte sich nur auf ihr Gefühl verlassen. Ihr Gefühl, das ihr sagte, dass Victor niemals stehlen würde. Aber konnte sie sich sicher sein? Oder wollte sie es nur glauben, weil sie ihn auf ein Podest gehoben hatte?

Schlimmer noch. Vieles von dem, was ihre Schwester und ihr Schwager gesagt hatten, klang glaubwürdig. Jacoba und Gerhart hätten den Tresor nicht ohne Victors Hilfe aufbrechen können. Und ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon acht war. Wenn er hätte kommen wollen, wäre er längst da gewesen.

Das tat am meisten weh.

»Er hat sich nicht einmal verabschiedet«, flüsterte Isa.

Jacoba fasste sie unters Kinn. »Warum sollte er, du Dummerchen? Ihr seht euch doch in ein paar Wochen wieder. Die Trennung ist nur vorübergehend. Er muss so weit wie möglich von Amsterdam entfernt sein, bevor man ihn im Geschäft zurückerwartet.« Sie legte ihre Stirn an Isas Schläfe. »Und wir müssen ebenfalls aufbrechen. Also komm jetzt. Victor hat deine Sachen schon gepackt. Und wir müssen uns beeilen, wenn wir rechtzeitig am Hafen sein wollen.«

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. »Kann ich nicht noch einmal in unsere Wohnung zurück?«

»Ich fürchte, dazu ist keine Zeit. Wir sind schon spät dran, und das nächste Paketboot geht erst in einigen Stunden.« Jacoba drückte Isas Hand. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe Victor die Adresse des Hotels gegeben, in dem wir in Paris absteigen werden. Wenn wir dort ankommen, wird sicherlich schon ein Brief von ihm auf dich warten.«

Isa zögerte. Doch was für eine Wahl hatte sie? Sie konnte nicht mehr ins Juweliergeschäft zurück. Selbst wenn die Fälschungen nie entdeckt wurden – sie wusste davon, und das würde ihr keine Ruhe lassen, bis sie schließlich alles zugeben würde.

Außerdem konnte sie Victor nicht verraten. Und Jacoba und Gerhart auch nicht. Sie waren schließlich ihre einzige Familie. Natürlich war sie wütend, dass die beiden sie einfach übergangen hatten. Aber jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen, und sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie ins Gefängnis geworfen oder gehängt wurden. Das wäre nicht auszudenken!

Auch sie selbst konnte leicht im Gefängnis landen oder gehängt werden. Immerhin war sie es gewesen, die Imitationen angefertigt hatte. Der Gedanke ließ sie am ganzen Leib erschauern.

»Einverstanden?«, drängte ihre Schwester.

Sie nickte. Aber während sie sich eilig auf die Abreise vorbereiteten, schwor sie sich, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass sie sich von den beiden für ihre dunklen Machenschaften hatte missbrauchen lassen.

Und sobald sie Victor in Paris wiedersah, würde sie herausfinden, was für eine Art Mann sie wirklich geheiratet hatte.

Vier Monate später hatte Isa immer noch kein Lebenszeichen von Victor. Und sie trug sein Kind unter ihrem Herzen. Grundgütiger, was sollte sie nur tun?

Traurig saß sie im Salon ihres luxuriösen Pariser Stadthauses und wartete auf die Post. Sie wusste selbst nicht, warum sie immer noch wartete. Ganz sicher war Victor etwas Schreckliches zugestoßen. Das war immer noch besser zu ertragen, als denken zu müssen, dass er sie einfach verlassen hatte.

Ein Strahl der Nachmittagssonne fiel durch die nur einen Spaltbreit geöffneten Seidenvorhänge und ließ Jacobas neue vergoldete Standuhr glänzen, tanzte über Gerharts kürzlich gekauften Perserteppich und brach sich wild funkelnd in der geschliffenen Kristallschale, die vor ihr auf dem Tisch stand. Aber sie hatte keine Freude an all den kostspieligen Anschaffungen.

Mit einem Seufzer nahm sie die wöchentliche Ausgabe der Gazette de France in die Hand, die vor ihr lag, und blätterte durch die Seiten. Ein Artikel in der Klatschspalte erregte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Französisch war zwar noch nicht perfekt, aber sie konnte dem Beitrag doch entnehmen, dass ein Juwelier namens Angus Gordon Paris verlassen wollte, um sich in seiner Heimat Schottland niederzulassen. Seine französische Ehefrau war gestorben, und nun wollte er in das Land seiner Kindheit zurückkehren.

Doch was sie aufmerksamer lesen ließ, war, dass dieser Gordon sich einen besonderen Ruf dadurch erworben hatte, dass er exquisite künstliche Edelsteine herstellte.

Sie murmelte einen Fluch – eine schlechte Angewohnheit, die sie in letzter Zeit angenommen hatte. Genau so ein Geschäft hätten sie sich in Amsterdam aufbauen können, wenn ihre Schwester und ihr Schwager nur ein bisschen mehr Geduld gehabt hätten.

Nein, damit wären sie nie zufrieden gewesen. Gerhart hatte schon wieder angefangen, darauf zu drängen, dass Isa noch mehr künstlichen Schmuck herstellte, den er dann als echt verkaufen wollte. Damit sie sich ein noch besseres Haus in einer noch besseren Gegend kaufen konnten, wo sie noch bessere Aussichten hatten, in die feine Gesellschaft aufzusteigen.

Sie hegte allerdings den Verdacht, dass er bloß mehr Geld wollte, um es bei Ringkämpfen zu verwetten. Da er selbst für kurze Zeit Ringer gewesen war, bevor er sich eine Knieverletzung zugezogen hatte, war er stets davon überzeugt, unfehlbar gewinnen zu müssen. Bei dem bloßen Gedanken, wieder Fälschungen anfertigen zu müssen, nur um Gerharts Wettleidenschaft zu befriedigen, überlief es sie eiskalt.

Jacoba kam mit einem Stapel Briefe herein, den sie geistesabwesend durchsah. Sie sah anders aus als damals. Um nicht erkannt zu werden, trug sie ihr Haar jetzt kürzer und zu kleinen Locken papillotiert. Gerhart hatte sich aus demselben Grund einen Bart stehen lassen.

Isa schlug rasch die Zeitung zu und fragte: »Ist etwas für mich dabei?«

Als sie das Zittern in Isas Stimme hörte, blickte ihre Schwester auf. »Nur Rechnungen.« Sie trat an den Tisch heran. »Schwesterchen, ich kann es nicht ertragen, dich in diesem Zustand zu sehen. Freust du dich denn nicht, dass du dir kaufen kannst, was du willst, und ins Theater gehen kannst, wann immer du willst?«

»Das war immer dein Traum, nicht meiner.« Jetzt begannen auch Isas Hände zu zittern. »Ich wollte nur Victor.«

Für einen Moment flackerte etwas wie Schuldbewusstsein in Jacobas Miene auf, doch dann verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck. »Nun, offensichtlich hat er dich im Stich gelassen. Der Schuft hat die Ohrgehänge genommen und ist untergetaucht. Daran können wir nichts ändern. Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu finden.«

Isa schluckte. Sie wusste, dass Jacoba recht hatte. »Wir müssten nicht nach ihm suchen, wenn du und Gerhart ihn nicht hinter meinem Rücken in euren Plan hineingezogen hättet. Wahrscheinlich war er so enttäuscht darüber, dass seine geliebte Frau bloß eine Fälscherin ist, dass er …«

»Bist du jemals auf den Gedanken gekommen, dass er seine ›geliebte Frau‹ vielleicht nur wegen ihrer Stellung bei dem Juwelier geheiratet hat?«, erwiderte Jacoba scharf.

Isa erbleichte. Nein, auf diesen Gedanken war sie noch nie gekommen. Doch sie hätte darauf kommen müssen.

Mit einem leisen Fluch eilte Jacoba zu ihr, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. »Es tut mir leid, kleine Schwester. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

Der Kummer schnürte ihr die Kehle zu. Jacoba sprach nur aus, was Isa sich selbst gegenüber nicht zugeben wollte. Es war höchste Zeit, dass sie der Wahrheit ins Gesicht sah. Eigentlich hatte sie nie verstanden, warum ein gut aussehender, schmucker Kerl wie Victor sie zur Frau genommen hatte. Sie war nicht groß und elegant und blond wie Jacoba. Sie war auch keine gute Köchin – und wollte nicht jeder Mann eine gute Köchin zur Frau? Lieber verbrachte sie lange Stunden damit, ihre Nase in Bücher über Schmuck zu stecken oder mit übel riechenden Chemikalien zu experimentieren.

»Glaubst du wirklich, er hat mich wegen … meiner Anstellung geheiratet?«, brachte sie heraus.

»Natürlich. Der Juwelier hat dich ständig über den grünen Klee gelobt. Victor dachte, wenn er dich heiratet, dann könne er länger dortbleiben. Der Juwelier hätte dann einen Posten für ihn gefunden, nur um dich behalten zu können.«

Isa brach das Herz. Sie hatte noch nie auf diese Weise darüber nachgedacht, aber es hörte sich logisch an. War sie für ihn tatsächlich nur die Maus gewesen, die man verjagte, sobald man hatte, was man wollte? War sie für ihn wirklich nur ein Mittel zum Zweck gewesen?

Wie hatte sie nur so blind sein können.

Doch sie wusste, wie das passiert war. Er hatte ihr mit seinen Küssen den Kopf verdreht, und sie hatte so fest daran geglaubt, dass sie ihn von seinen schmerzlichen Erinnerungen an den Krieg heilen konnte, dass sie sein wirkliches Ich nicht gesehen hatte. Er hatte nur die Diamantohrringe gesehen, die vor seiner Nase baumelten, und seine Seele dem Teufel verkauft.

Und dabei ihre Ehe weggeworfen.

»Es tut mir leid, dass ich so offen bin«, sagte Jacoba sanft, »aber ich dachte, du wärst mittlerweile selbst darauf gekommen.« Sie drückte Isas Hand fester. »Du verdienst etwas Besseres als Victor Cale.«

Isa sah ihre Schwester lange an, dann reckte sie das Kinn vor. Ja, Jacoba hatte recht. Sie verdiente einen Ehemann, der seine wahren Absichten nicht vor ihr verbarg. Der nicht davonlief, ohne auch nur Auf Wiedersehen zu sagen. Der sich nicht heimlich mit ihrer Schwester und ihrem Schwager verschwor, um einen Diebstahl zu begehen.

»Er hat dich nur benutzt«, fügte Jacoba hinzu.

So wie du und Gerhart?, hätte Isa am liebsten geantwortet.

Langsam dämmerte ihr, dass sie auch etwas Besseres verdiente, als von ihren nächsten Angehörigen ausgenutzt zu werden. Sie musste an ihr ungeborenes Kind denken. Es war eine Sache, zuzulassen, dass Jacoba und Gerhart sie benutzten. Es war etwas ganz anderes, zuzulassen, dass sie ihr Kind benutzten. Und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie das versuchen würden.

»Soll ich dir etwas holen?«, fragte Jacoba, die jetzt, nachdem sie losgeworden war, was sie hatte sagen wollen, wieder ganz die fürsorgliche Schwester war. »Du musst deine Kräfte für das Kind schonen, weißt du. Vielleicht möchtest du ein paar von den Sommerpfirsichen, die du so gern isst?«

»Ja, gern, danke schön«, murmelte sie.

Sobald Jacoba zur Tür hinaus war, schlug Isa wieder die Seite mit dem Artikel auf, den sie gelesen hatte. Mr Gordon hatte der Zeitung gesagt, dass es ihm am meisten leidtue, seine französischen Gehilfen zurücklassen zu müssen. Sie wollten ihm nicht in ein so wildes und karges Land wie Schottland folgen. Also würde er sich in Edinburgh neue Gehilfen suchen müssen, und das würde seine Zeit dauern.

Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Sie riss den Artikel aus und warf den Rest der Zeitung ins Feuer, damit Jacoba und Gerhart keinen Verdacht schöpften, dass sie etwas plante.

Plante sie etwas? Es war bestenfalls eine verrückte Idee. Einen Fremden davon zu überzeugen, sie als Gehilfin einzustellen und mit nach Schottland zu nehmen. Wie sollte sie das machen?

Indem sie ihr Herz stählte und ihre Furcht überwand. Es würde Kraft und Mut erfordern, Jacoba und Gerhart zu entwischen. Aber sie musste es tun. Sie konnte nicht länger bei ihnen bleiben, wenn sie sich noch eine Zukunft als respektable Frau erhoffte.

Papa hatte ihr Mamas Rubinring hinterlassen. Wenn sie ihn verkaufte, konnte sie die Überfahrt bezahlen, falls Mr Gordon nicht dafür aufkommen wollte. Und sie hatte ihre Begabung als Diamantschneiderin. Sie musste dem Juwelier nur zeigen, was sie konnte, und ihm ehrlich sagen, was sie wollte. Wenn er ein Herz hatte, dann würde es ihn vielleicht rühren, wenn sie ihm sagte, dass ihr Mann im Krieg gefallen war.

Das entsprach schließlich fast der Wahrheit. Für sie war Victor so gut wie tot. Zusammen mit ihrem alten Leben und allem, was es ihr bedeutet hatte. Wenn er sie hätte finden wollen, dann wäre ihm das sicherlich gelungen. Bis jetzt hatte er es jedenfalls nicht versucht.

Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie unterdrückte sie. Keine Tränen mehr. Kein Warten und kein Versteckspiel vor dem Leben mehr. Wenn sie sich selbst und ihr Kind retten wollte, dann musste es mit all dem vorbei sein.

Dann durfte sie keine Maus mehr sein.

1

London,

September 1828

Victor Cale ging in der Eingangshalle der Agentur Manton in einem unscheinbaren Stadthaus an der Bow Street auf und ab. Hoffentlich würde er seinen langjährigen Freund Tristan Bonnaud heute hier antreffen. Tristan musste Dominick Manton, den Inhaber der Ermittlungsagentur, davon überzeugen, Victor auf Probe als Ermittler einzustellen.

Nicht dass er keine nützlichen Kenntnisse gehabt hätte – er sprach sechs Sprachen fließend, war ein ganz passabler Schütze und hatte bereits Erfahrung mit der Arbeit als Ermittler. Vielleicht war es für ihn sogar von Vorteil, dass sich kürzlich herausgestellt hatte, dass er der Cousin von Maximilian Cale, dem Herzog von Lyons war – einem der reichsten und mächtigsten Männer Englands.

Das Wichtigste aber war, dass Tristan ihm niemals die Untaten seines Vaters vorhalten würde. Manchmal hatte Victor das Gefühl, dass er die Verbrechen seines Vaters wie ein Brandzeichen mit sich herumtrug, obwohl Max sie nie auch nur mit einem Wort erwähnt hatte. Ganz im Gegenteil, Max tat alles, was in seiner Macht stand, um seinem wiedergefundenen Cousin das Leben so angenehm wie möglich zu machen.

Doch genau da lag das Problem. Max schien fest entschlossen, ihn überall in der guten Gesellschaft Londons einzuführen. Aber Victor wusste, dass er sich dort niemals wohlfühlen würde. Eine Kindheit in englischen Feldlagern und drei Jahre bei der preußischen Armee waren keine gute Voraussetzung für die Feinheiten der vornehmen Welt. Genauso wenig wie seine kurze, unselige Ehe mit einer Lügnerin und Diebin.

Seine Miene verdüsterte sich. »Mr Manton lässt bitten, Sir.«

Victor drehte sich um und sah Dominick Mantons Butler, Mr Skrimshaw vor sich stehen. Skrimshaw trug ein lachsfarbenes Wams, blaue Kosakenstiefel und einen über und über mit goldenen Tressen besetzten Gehrock, sodass er aussah wie ein General aus einer Komödie. »Ich bin nicht gekommen, um Dom einen Besuch abzustatten«, bemerkte Victor.

»Ihr Herren, kommt, wir sitzen allzu lange«. Mit diesen knappen und merkwürdigen Worten steuerte Skrimshaw auf die Treppe zu. Offensichtlich erwartete er von Victor, dass er ihm folgte.

Erst jetzt erinnerte sich Victor, dass Skrimshaw sich nicht nur gelegentlich als Schauspieler betätigte, sondern auch eine Vorliebe dafür hatte, Zitate aus Shakespear’schen Dramen in seine Sätze einzuflechten. Victor hätte es vorgezogen, wenn der merkwürdige Kerl eine Vorliebe dafür gehabt hätte, sich klar auszudrücken und sich wie ein gewöhnlicher Mensch zu kleiden. Beim Anblick von Skrimshaws Gehrock taten einem ja die Augen weh. Vielleicht war es aber auch ein Kostüm für eine Theaterprobe. Bei Skrimshaw konnte man nie wissen.

Als der Butler ihn in Doms Arbeitszimmer führte, stellte Victor erleichtert fest, dass ihn dort sowohl Dom als auch Tristan erwarteten. Immer wenn er die beiden Halbbrüder zusammen sah, überraschte ihn die Familienähnlichkeit zwischen ihnen. Beide Männer hatten tintenschwarzes Haar, allerdings umrahmte Tristans Haar sein Gesicht in wilden Locken, während das von Dom kürzer geschnitten war, als es der Mode entsprach. Tristan hatte blaue Augen, während Doms grün waren, doch waren Form und Größe genau gleich. Und beide waren schlank und strahlten jene Art von Attraktivität aus, die Frauen zum Erröten brachte und ins Stottern geraten ließ, wenn einer von ihnen den Raum betrat.

Doch damit endete die Ähnlichkeit zwischen ihnen auch schon. Tristan mochte zweideutige Witze, ein gutes Glas Brandy und so viele hübsche Frauen, wie er in sein Bett locken konnte, ohne dass seine Arbeit als Ermittler darunter litt.

Dom mochte seine Arbeit und sonst nichts. Er wollte aus der Agentur Manton die führende Ermittlungsagentur Englands machen. Zweideutige Witze, Brandy und hübsche Frauen waren da nur unerwünschte Ablenkungen.

Victor war daher nicht überrascht, als Tristan auf ihn zukam und ihm auf die Schulter klopfte, während Dom sitzen blieb. »Wie geht es Ihnen, alter Knabe? Wir haben uns sicher schon ein paar Wochen nicht gesehen, nicht wahr?«

»Ein paar.« Victor warf Dom einen kurzen Blick zu. Doch die Miene von Tristans Halbbruder blieb undurchdringlich.

Victor hätte dieses Gespräch lieber ohne Dom geführt. Durch seine Anwesenheit konnte die Sache leicht unangenehm werden.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Tristan und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Schreibtisch. »Erzählen Sie uns, was Sie herführt.«

Mit einem Seufzer ließ sich Victor auf einem Stuhl nieder. Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Es ist im Grunde ganz einfach. Ich hatte gehofft, dass ich bei der Agentur Manton als Ermittler anfangen könnte.« Als er die Überraschung auf den Gesichtern der beiden Männer bemerkte, fuhr er hastig fort: »Sie müssten mich nicht bezahlen. Es reicht, wenn Sie mir meine Unkosten erstatten. Max hat mir eine großzügige Rente ausgesetzt. Aber ich muss etwas tun.«

Er hatte genug Zeit damit verbracht, die Rolle zu spielen, die man von ihm als Max’ lang verschollenem Cousin erwartete. Er musste wieder in die wirkliche Welt zurückkehren. Er musste die Suche nach seiner betrügerischen Ehefrau wieder aufnehmen.

Tristan wechselte einen Blick mit seinem älteren Bruder. Dann wandte er sich wieder Victor zu.

»Haben Sie schon genug vom herzoglichen Leben?«

»Sagen wir einfach, dass niemand mich vorgewarnt hat, was das herzogliche Leben alles mit sich bringt. Ich muss ständig zu Dinners und Festen und Bällen gehen, wo man mich mit Fragen über mein Leben im Ausland bombardiert, die ich nicht beantworten kann, ohne den Ruf des Hauses Lyons zu beschädigen.« Victor rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Und wenn die Leute mir nicht gerade Löcher in den Bauch fragen, dann reden sie über Mode oder über Pferderennen. Oder, was das Schlimmste ist, darüber, ob es wirklich unmoralisch ist, Walzer zu tanzen.«

»Und Sie haben keine Meinung über die moralischen Folgen des Walzertanzens?«, scherzte Tristan. »Ich muss mich doch sehr wundern.«

»Ich tanze nicht gern«, brummte Victor. Vor allem, weil er es nie gelernt hatte. Obwohl er es vielleicht eines Tages nachholen sollte.

»Ich tanze selbst auch nicht gern«, warf Dom ein, »aber es ist der beste Weg, in der guten Gesellschaft Damenbekanntschaften zu machen.«

»Victor braucht keine Damenbekanntschaften zu machen«, bemerkte Tristan trocken. »Die Damen werfen sich ihm von selbst an den Hals. Das war schon immer so. Und er hat sie immer abblitzen lassen. Jetzt, da er der Cousin ersten Grades eines Herzogs ist, ist er natürlich eine noch viel bessere Partie.«

Außer, dass er schon verheiratet war – was allerdings niemand wissen konnte.

Plötzlich stand Isas Bild vor seinen Augen, jung und unschuldig, wie sie ihn liebevoll ansah. Er rief sich zur Ordnung. Sie hatte ihm nur etwas vorgespielt. Sie hatte es von Anfang an darauf angelegt, ihn zu hintergehen, sie und ihre niederträchtige Verwandtschaft.

Nach all den Jahren klangen noch immer die Stimmen seiner Peiniger aus dem Kerker in Amsterdam in seinen Ohren. Sie hat dich nur benutzt, du verliebter Esel! Und trotzdem schützt du sie.

Das hatte er getan … zuerst. Er war während der ganzen Tortur stumm geblieben, weil er überzeugt gewesen war, dass Isa von nichts gewusst hatte. Es hatte Jahre gedauert, bis er sich eingestanden hatte, dass sie in den Diebstahl eingeweiht gewesen sein musste.

Jetzt suchte er nach ihr, wo immer und wann immer er konnte. Als er nach London gekommen war, hatte er die Suche zunächst aufgegeben. Er hatte gehofft, dass seine wiedergefundene englische Familie ihm helfen könnte, sie zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen.

Leider war ihm das nicht gelungen. Was sie ihm angetan hatte, ließ ihm keine Ruhe. Er musste sie finden. Unbedingt. Er redete sich ein, dass er sie finden musste, weil er nicht wollte, dass ihre gemeinsame Vergangenheit ihn eines Tages einholte und der Ruf seines Cousins dadurch Schaden nahm. Aber tief im Inneren wusste er, dass das eine Lüge war. Er musste sie aufspüren, weil das die einzige Möglichkeit war, Frieden zu finden. Weil sie nach all den Jahren noch immer seine Träume heimsuchte.

Er biss die Zähne zusammen. Schuld an allem waren der verdammte Herzog und seine neue Herzogin mit ihrem ständigen Geschnäbel und Geturtel. Max und Lisette waren so verliebt ineinander, dass wahrscheinlich schon Tauben in ihrem Betthimmel nisteten. Victor freute sich zwar von Herzen für seinen Cousin, aber manchmal schnürte ihm der Neid die Kehle zu.

Neid? Lächerlich. Das Einzige, worum er Max und Lisette beneidete, war, dass sie über ihr Leben selbst bestimmen konnten und er nicht. Wenn er Isa nicht fand, dann war er bis in den Tod an sie gekettet. Er hätte sich vielleicht von ihr scheiden lassen sollen – die holländischen Gesetze waren nicht so streng wie die englischen –, aber er wollte sie nicht freigeben, solange die Erinnerung an sie ihn noch gefangen hielt. Außerdem wollte er die Macht über seine abtrünnige Ehefrau behalten – bis er sie gefunden hatte. Dann würde er sie ihrer verdienten Strafe zuführen.

Die höhnischen Stimmen der Vergangenheit schnitten durch seine Gedanken. Sag die Wahrheit – deine Frau hat den falschen Schmuck angefertigt und die echten Juwelen gestohlen.

Wahrscheinlich hatten seine Peiniger recht gehabt, zur Hölle mit ihnen. Und er würde Isa dafür bezahlen lassen, bei Gott, und wenn er den Rest seines Lebens damit verbringen musste, sie zu suchen.

»Die Sache ist die«, sagte er knapp. »Ich halte dieses müßige Leben nicht mehr aus. Ich muss etwas Sinnvolles tun.«

Und er wollte lernen, wie man Leute fand, die verschwunden oder untergetaucht waren. Für diese Fähigkeit war Dom berühmt. Victor hatte sich bei den Fällen, die er gemeinsam mit Tristan in Antwerpen gelöst hatte, schon ein paar Tricks abgeschaut, aber das war nicht genug. Und jetzt, da er über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, konnte er seine Suche nach Isa ausdehnen. Vielleicht würden die beiden Halbbrüder ihm sogar helfen, wenn er seine Fähigkeiten erst unter Beweis gestellt hatte.

»Wir haben da doch noch diesen Fall, den wir eigentlich ablehnen wollten«, sagte Tristan zu Dom.

»Warum wollten Sie den Fall ablehnen?«, fragte Victor.

»Weil es eine merkwürdige Angelegenheit ist«, sagte Dom. »Der Fall ist zwar lukrativ, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Und es wird Zeit kosten, ihn zu bearbeiten, ganz zu schweigen davon, dass er eine Reise erfordert.«

»Victor wäre genau der richtige Mann dafür«, warf Tristan ein. »Er spricht Holländisch, er hat in Belgien gelebt … und er kann eine Lüge von der Wahrheit unterscheiden.«

»Was wissen Sie über Edinburgh?«, fragte Dom.

Victor kniff die Augen zusammen. »Eine Stadt in Schottland, wo es verdammt gute Soldaten und verdammt guten Whiskey gibt. Warum?«

»Wie würde es Ihnen gefallen, den guten Whiskey direkt in der Brennerei zu probieren?«

Victors Puls beschleunigte sich. »Gut – wenn das bedeutet, dass Sie mich nach Schottland schicken, um dort einen Fall zu übernehmen.«

»Weiß Ihr Cousin von Ihren Plänen?«, fragte Dom und sah ihn forschend an.

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Victor zurück.

Tristan lachte. »Dom legt keinen Wert darauf, den Herzog mehr als unbedingt notwendig in unsere Angelegenheiten hineinzuziehen. Er hat es immer noch nicht verwunden, dass man die Agentur Manton überall nur ›die Männer des Herzogs‹ nennt.«

Max war gezwungen gewesen, den Zeitungen eine ziemlich verwickelte Geschichte aufzutischen, wie er und Lisette Victor gefunden hatten, und dabei hatten die Journalisten irgendwie eine Verbindung zwischen Doms Agentur und Max hergestellt. Was Dom maßlos ärgerte.

»Wie würdest du es denn finden«, fragte Dom an Tristan gewandt, »wenn ein Herzog, der nichts dafür getan hat, die Lorbeeren für deine Arbeit erntet?«

»Ein Herzog, der nichts dafür getan hat?«, konterte Tristan. »Er hat schließlich für die gute Presse gesorgt, die uns jede Menge neuer Klienten eingebracht hat.« Ein plötzliches Glitzern trat in seine Augen. »Ganz zu schweigen davon, dass er uns kostenlos eine Sekretärin verschafft hat.«

»Lass Lisette bloß nicht hören, dass du sie als Sekretärin bezeichnest«, gab Dom zurück, »sonst kannst du deine Ermittlungen demnächst auf Feuerland führen.«

Lisette war nicht nur die Herzogin von Lyons, sondern zugleich auch Doms Halbschwester und Tristans Schwester. Das verrückte Weibsbild betrachtete es als eine Art Hobby, für ihre Brüder das Büro zu führen. Die Agentur Manton war daher im wahrsten Sinne des Wortes ein Familienunternehmen.

Victor ignorierte das übliche Geplänkel der Brüder. »Ich werde mit Max reden. Wenn ich für Sie arbeite, wird er das nicht zum Anlass nehmen, sich in die Geschäfte der Agentur Manton einzumischen, das verspreche ich Ihnen. Er hat sein Leben, ich habe meines.«

Dom sah skeptisch drein, doch Tristan sagte: »Komm schon, Dom, was kann es schaden, wenn du Victor eine Chance gibst? Du wolltest den Fall sowieso ablehnen, und das brauchst du jetzt nicht mehr.« Als Dom zögerte, fügte Tristan hinzu: »Wir schulden Victor einen Gefallen, das weißt du. Wenn er und der Herzog nicht gewesen wären, wäre ich immer noch in Frankreich und könnte nur davon träumen, nach Hause zurückzukehren.«

Dom seufzte tief. »Gut. Aber für den Anfang nur diesen einen Fall. Dann sehen wir weiter.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Victor. Ihm war, als würde ein Gewicht von seiner Brust genommen.

»Danken Sie mir erst, wenn Sie die Akte gelesen haben.« Dom suchte in einem Stapel Akten herum und gab Victor schließlich eine davon. »Es ist die Art von unappetitlicher Arbeit, die ich verabscheue. Es geht darum, den Leumund der potenziellen Verlobten eines jungen Mannes zu überprüfen – im Auftrag seiner misstrauischen Mutter.«

Victor betrachtete die schwungvolle Unterschrift unter dem Brief, der zuoberst in der Akte lag. »Unsere Klientin ist eine Baroness?«

»Eine verwitwete Baroness, Lady Lochlaw. Sie ist nicht gerade begeistert von der neuesten Angebeteten ihres Sohnes Rupert, einer Witwe namens Sofie Franke, die Holländisch spricht und behauptet, sie stamme aus Belgien.«

Franke? Das war der Mädchenname von Victors Mutter. Wie seltsam.

»Offensichtlich findet Lady Lochlaw, dass die Witwe verdächtig wenig über Belgien weiß«, sagte Tristan. »Da Sie ja selbst in Belgien gelebt haben, müssten Sie herausfinden können, ob sie lügt.«

Victor überflog den Brief, und sein Puls beschleunigte sich. »Und diese Mrs Franke verdient ihren Lebensunterhalt damit, dass sie künstliche Edelsteine herstellt?« Wie war das möglich? Es musste sich um einen Irrtum handeln.

»Richtig«, sagte Dom. »Sie können sich später die komplette Akte ansehen. Jetzt werde ich mich auf die wichtigsten Punkte beschränken: Nach den Einreisedokumenten kam sie vor fast zehn Jahren aus Frankreich nach Schottland, zusammen mit ihrem Geschäftspartner, der ebenfalls Juwelier ist. Und als wir Eugène Vidocq in Frankreich auf den Fall ansetzten, stellte sich heraus, dass unter der Pariser Adresse, die sie an der Grenze angegeben hatte, niemals eine Sofie Franke gewohnt hat. Es scheint überhaupt keine Sofie Franke in Paris gegeben zu haben, bevor diese Frau in Calais ein Schiff bestieg und nach Edinburgh reiste. Ich nehme an, Sie begreifen das Problem.«

Und ob er begriff. Victors Erregung wuchs, während er die Unterlagen durchblätterte. »Wissen wir irgendetwas über das Alter der Frau, oder darüber, wie sie aussieht?«

»Warum?«, fragte Tristan mit hochgezogenen Augenbrauen. »Spielt es eine Rolle, wie sie aussieht?«

»Möglicherweise«, erwiderte Victor. Aber nicht aus dem Grund, an den du denkst, du Schwerenöter.

»Die Baroness beschreibt sie als ›habgierige Sirene, die ihre Krallen in meinen Sohn geschlagen hat‹«, sagte Dom trocken. »Also vermute ich, dass sie hübsch ist. Was ihr Alter angeht, so hat die Baroness nichts davon geschrieben, wahrscheinlich, weil sie es nicht weiß. Aber da der Baron erst zweiundzwanzig ist, wird seine Freundin nicht allzu alt sein.«

»Ja, aber die Frau ist Witwe. Und sie sagt, dass ihr verstorbener Mann Soldat war«, warf Tristan ein. »Die Belgier haben seit Napoleon keinen Krieg mehr geführt – und das ist dreizehn Jahre her. Je nachdem, wann ihr Mann gestorben ist, könnte sie schon über dreißig sein.«

Sie sagt, dass ihr verstorbener Mann Soldat war. Victors Erregung nahm um einige Grade zu. Es leuchtete ein, dass Isa so nah wie möglich bei der Wahrheit geblieben war. »Möglicherweise hat sie jung geheiratet.« Und sie ahnte vielleicht, dass ihr angeblich verstorbener Ehemann auf der Suche nach ihr war.

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es zwei weibliche Juweliere gab, die sich auf künstliche Edelsteine spezialisiert hatten, holländisch sprachen und einen Soldaten geheiratet hatten? Der Zeitablauf stimmte in etwa, und es war gut möglich, dass Isa nach Paris gegangen war, nachdem sie ihn verlassen hatte. Hinzu kam, dass Mrs Franke offensichtlich ihren echten Namen und ihre wahre Herkunft verbarg. Und dass sie den Mädchennamen seiner Mutter trug.

Aber es ergab keinen Sinn. Die Isa, die er meinte, gekannt zu haben, war schüchtern und zurückhaltend gewesen. Sie hätte nie allein, ohne ihre Familie oder ihn eine Entscheidung getroffen. Sie hätte niemals den Mut gehabt, in ein anderes Land zu gehen und Teilhaberin eines Juweliergeschäfts zu werden.

Und die andere, die wirkliche Isa, so wie er sie jetzt sah – eine mit allen Wassern gewaschene Diebin, der es nur ums Geld ging –, hätte sich nicht in einer Stadt wie Edinburgh niedergelassen und dort zehn Jahre bescheiden gelebt. Sie wäre auf dem Kontinent geblieben und hätte unter falschem Namen ein Luxusleben geführt. Talentiert wie sie war, hätte sie vielleicht sogar noch weitere Schmuckdiebstähle begangen, und dafür hätte sie herumreisen müssen.

Wie konnte Mrs Franke dann Isa sein?

»Witwe oder nicht«, unterbrach Dom seine Gedanken, »sie muss jung genug sein, um Lochlaw einen Erben schenken zu können.«

Victor erstarrte. »Also glaubt die Baroness wirklich, dass ihr Sohn und diese Frau heiraten wollen?« Das nannte man wohl Ironie des Schicksals.

»Lady Lochlaw scheint es ernsthaft zu befürchten«, erwiderte Dom. »Ihr Sohn wird einen Haufen Geld erben, und er hat noch dazu einen Adelstitel.«

Victor stockte das Blut in den Adern. Nun, das konnte eine mit allen Wassern gewaschene Diebin durchaus reizen. Aber zehn Jahre waren eine lange Zeit, um einen Baron zu umgarnen. Vor allem hätte sie dann damit anfangen müssen, als er gerade zwölf war. Und war sie tatsächlich so skrupellos, Bigamie zu begehen?

Vielleicht hatte sie angenommen, dass Victor für ihr Verbrechen ins Gefängnis gegangen war. Und mit ihrem falschen Namen hatte sie sich möglicherweise sicher vor Entdeckung gefühlt.

»Wir können nur Gewissheit erlangen«, fuhr Dom fort, »wenn Sie nach Edinburgh fahren und die Situation in Augenschein nehmen. Sie wissen ja, wie solche Witwen sind. Sie sehen überall Mitgiftjägerinnen, die es auf ihre heiratsfähigen Söhne abgesehen haben.«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie solche Witwen sind«, erwiderte Victor. »Fünf Monate in der Londoner Gesellschaft haben aus mir keinen Experten gemacht. Sie sollten also vielleicht nicht unnötig betonen, dass ich der Cousin des Herzogs von Lyons bin. Denn wenn Ihre Klientin einen Ermittler will, der in der Welt des Adels zu Hause ist, dann werde ich sie gewiss enttäuschen.«

»Die Baroness ist nicht wegen des Herzogs auf die Agentur Manton aufmerksam geworden«, warf Tristan ein, »sondern weil jemand aus Edinburgh, für den Dom vor einigen Monaten einen Fall gelöst hat, uns empfohlen hat. Sie wird vielleicht nicht einmal Ihren Namen erkennen.« Er warf Victor einen amüsierten Blick zu. »Also können Sie so ungehobelt sein wie Sie wollen, alter Junge. Für die Baroness sind Sie nur einer von unseren Ermittlern.«

Victor seufzte erleichtert. »Gut.« Denn wenn Mrs Franke tatsächlich seine verschwundene Ehefrau war, dann war es ihm lieber, wenn sie nichts von seiner hochadligen Verwandtschaft erfuhr – wenigstens fürs Erste. Denn das Letzte, was er wollte, war, dass das diebische Ding und ihre Verwandtschaft – falls sie immer noch gemeinsame Sache machten – sich unter dem Vorwand, dass Isa und Victor verheiratet waren, in Max’ Leben drängten.

Was er wollte, war, unter seine Ehe mit Isa ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen. Vorausgesetzt, die Frau in Edinburgh war tatsächlich Isa. Wenn er beweisen konnte, dass sie in den Diebstahl der königlichen Juwelen verwickelt gewesen war, dann würde jedes Gericht in Europa einer Scheidungsklage stattgeben. Und er würde verdammt noch mal dafür sorgen, dass sie und ihre Verwandtschaft für ihr Verbrechen bezahlten.

Plötzlich sah er wieder Isas knappen und schroffen Abschiedsbrief vor sich:

Lieber Victor,

es war ein Fehler, dass wir geheiratet haben. Ich will mehr, als Du mir bieten kannst, deshalb habe ich eine Stellung bei einem Juwelier in einer anderen Stadt angenommen.

Eines Tages wirst Du mir dankbar sein.

Isa

Ihr dankbar sein? Schon damals hatte er ihre Worte als bitteren Hohn empfunden. Auch wenn er ihnen zunächst nicht geglaubt hatte. Sogar dann noch, als sie nicht nach Hause gekommen war. Sogar noch, nachdem ihre Schwester und ihr Schwager verschwunden waren – angeblich, um nach ihr zu suchen. Auch da hatte er noch gedacht, dass sie wohl einfach nur in Panik geraten war, weil es solch ein ungewohntes Gefühl war, verheiratet zu sein. Dass sie bald zurückkommen würde.

Alles war anders geworden, als eine Woche später jemand im Palast entdeckt hatte, dass die königlichen Diamanten gegen Fälschungen ausgetauscht worden waren. Als die Beamten vor seiner Tür standen, um ihn zu verhaften, da begriff er, dass Isa ihn wirklich verlassen hatte. Dass sie ihn zur Hölle geschickt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Erst da hatte er all die kleinen Hinweise bemerkt, die er zuvor nicht gesehen hatte. Ja, sie war in ihrer Hochzeitsnacht noch Jungfrau gewesen. Aber das war wohl das Einzige, worüber sie ihn nicht belogen hatte. Und wer weiß, vielleicht hatte sie ihn auch da getäuscht und die Bettlaken mit Schweineblut besprengt. Er war damals so blind vor Liebe gewesen, dass er ihr alles geglaubt hatte, was sie sagte.

Aber das war vorbei. Nachdem sie ihn im Stich gelassen hatte – und nach den wochenlangen Verhören –, war sein Herz zu Stein geworden. Er hatte gelernt, kalt und logisch zu sein und sich durch weibliche Ränke nicht mehr den Kopf verdrehen zu lassen. Dieses Mal würde er vorbereitet sein. Dieses Mal würde er den Spieß umdrehen. Dieses Mal würde er sie bezahlen lassen.

Vielleicht würde er sie dann ein für alle Mal vergessen können.

Einige Tage später traf Victor in Edinburgh ein. Dass Max dort ein Haus besaß, war keine allzu große Überraschung gewesen. Aber es hatte ihn gerührt, als Max ihm anbot, dort so lange zu wohnen wie nötig.

Beinahe hätte er abgelehnt. Er wollte nicht, dass seine Klientin oder Isa von seiner Verwandtschaft mit dem Herzog von Lyons erfuhren. Aber es war schwierig, zu dem Angebot seines Cousins, den er gerade erst besser kennenlernte, Nein zu sagen. Und noch schwieriger war es, dies Lisette gegenüber zu tun, der Frau seines Cousins, die sich prinzipiell in alles einmischte.

Glücklicherweise war das Haus kein eindrucksvoller Palast im Stadtzentrum, sondern eine Villa in einem Vorort. Dort würde er relativ anonym bleiben können, insbesondere, nachdem er den Bediensteten klargemacht hatte, dass seine Anwesenheit in Edinburgh diskret behandelt werden musste.

Sobald er sich eingerichtet hatte, machte er sich in einem Phaeton seines Cousins auf den Weg zum Charlotte Square, um seine Klientin zu treffen. Lady Lochlaw war ganz und gar nicht das, was Victor erwartet hatte – und das nicht nur wegen ihres relativ jungen Alters. Auch wenn man bei einer »verwitweten Baroness« gleich an eine tatterige alte Dame dachte, war ihm klar gewesen, dass sie höchstens in den Vierzigern sein konnte. Sie war frisch verwitwet, hatte die Trauerzeit eben beendet, und ihr Sohn war gerade zweiundzwanzig.

Was er allerdings erwartet hatte, war eine Frau, die sich ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Reichtums nur allzu bewusst war. Das war schließlich der Grund gewesen, warum sie die Agentur Manton beauftragt hatte, die »Freundin« ihres Sohnes unter die Lupe zu nehmen. Und da es im Allgemeinen auf heimlichen Neid hindeutete, wenn eine Frau eine andere als »Sirene« bezeichnete, hatte er vermutet, dass Lady Lochlaw selbst nicht besonders attraktiv war.

Nichts konnte weiter entfernt von der Wirklichkeit sein. Als er in den Salon ihres eleganten Stadthauses geführt wurde, stellte er überrascht fest, dass Lady Lochlaw groß und gut aussehend war, mit honigfarbenen Locken, kristallblauen Augen und einem Lächeln, mit dem sie jeden Mann sofort für sich einnahm. Oder auch nicht, wenn dieser Mann an dem, was sie anzubieten hatte, zufällig nicht interessiert war.

Und Victor war nicht interessiert. Er biss die Zähne zusammen, als sie einen abschätzenden Blick über seine Gestalt wandern ließ, während der Butler ihn ankündigte. »Mylady«, sagte er mit einer knappen Verbeugung.

»Bitte, Mr Cale, ich lege keinen Wert auf Förmlichkeiten«, schnurrte sie, während sie ihn beim Arm nahm und zu einem Sofa führte. »Wir sind hier nicht im langweiligen London, wissen Sie.«

Als sie sich niederließ und mit der Hand auf den Platz direkt neben sich klopfte, setzte sich Victor ans äußerste Ende des Sofas und sagte förmlich: »Aber Sie sind immer noch meine Auftraggeberin, Mylady. Und ich würde mir nie anmaßen …«

Den Ausdruck hatte er bei irgendeiner Abendeinladung in London aufgeschnappt. Bisher hatte er allerdings noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu benutzen.

»Wie äußerst wohlerzogen von Ihnen.« Sie warf ihm ein betörendes Lächeln zu. »Aber wenn ich geahnt hätte, was für ein schmuckes Mannsbild mir Mr Manton schicken würde, dann hätte ich darauf bestanden, dass Sie hier in unserem Stadthaus wohnen.« Sie klimperte kokett mit den Wimpern und beugte sich vor, um einen Finger seinen Arm hinabfahren zu lassen. »In seinem Empfehlungsschreiben erwähnte er, dass Sie in Waterloo gekämpft haben. Sie müssen auf dem Schlachtfeld einen imposanten Anblick geboten haben.«

Victor versuchte sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen und setzte ein nichtssagendes Lächeln auf. »Da ich damals erst siebzehn und noch grün hinter den Ohren war, vermutlich ja.« Er verlieh seiner Stimme einen kühlen, geschäftsmäßigen Ton. »Wir sollten jetzt vielleicht auf Ihren Sohn zu sprechen kommen.«