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Sein Herz hält der arrogante Duke verschlossen – bis er Beatrice begegnet …
Die mitreißende Regency Romance-Reihe von Bestsellerautorin Sabrina Jeffries
Fletcher „Grey“ Pryde, der 5. Duke of Greycourt, genießt den unverdienten Ruf eines Schurken, was ihm aber ganz recht ist. Denn Grey konzentriert sich lieber auf die Erweiterung seines Herzogtums als nach einer Frau an seiner Seite zu suchen. Doch als er die charmante, unkonventionelle Beatrice trifft, die die Beerdigung seines Stiefvaters organisiert, ist er sofort von ihr angetan …
Beatrice Wolfe hat es längst aufgegeben, romantische Gefühle zu entwickeln, und auch der arrogante Duke of Greycourt ändert ihre Meinung nicht. Dann allerdings soll Grey seiner Mutter bei ihrem neuesten „Projekt“ helfen: die unmodische Beatrice bei ihrer Einführung in die Gesellschaft zu unterstützen. Nach und nach lernt Beatrice hinter die Fassade des Duke zu sehen und erkennt sein verletztes Herz. Doch als Grey anfängt, in den Geheimnissen ihrer Familie zu graben, muss sie sich entscheiden, ob ihre Loyalität bei ihrer Familie liegt … oder bei dem Mann, der ihr Herz gefangen nimmt.
Erste Leserstimmen
„Wenn man Liebesromane liebt, muss man einfach diesen Roman von Sabrina Jeffries lesen!“
„Ein sehr unterhaltsamer historischer Liebesroman mit einem Hauch von Krimi.“
„Leidenschaftliche und zum Träumen schöne Regency Romance!“
„Zwischen Beatrice und Grey knistert es von Anfang an. Ich liebe ihren witzigen Schlagabtausch.“
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2021
Fletcher „Grey“ Pryde, der 5. Duke of Greycourt, genießt den unverdienten Ruf eines Schurken, was ihm aber ganz recht ist. Denn Grey konzentriert sich lieber auf die Erweiterung seines Herzogtums als nach einer Frau an seiner Seite zu suchen. Doch als er die charmante, unkonventionelle Beatrice trifft, die die Beerdigung seines Stiefvaters organisiert, ist er sofort von ihr angetan …
Beatrice Wolfe hat es längst aufgegeben, romantische Gefühle zu entwickeln, und auch der arrogante Duke of Greycourt ändert ihre Meinung nicht. Dann allerdings soll Grey seiner Mutter bei ihrem neuesten „Projekt“ helfen: die unmodische Beatrice bei ihrer Einführung in die Gesellschaft zu unterstützen. Nach und nach lernt Beatrice hinter die Fassade des Duke zu sehen und erkennt sein verletztes Herz. Doch als Grey anfängt, in den Geheimnissen ihrer Familie zu graben, muss sie sich entscheiden, ob ihre Loyalität bei ihrer Familie liegt … oder bei dem Mann, der ihr Herz gefangen nimmt.
Deutsche Erstausgabe April 2021
Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-526-3 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-236-1
Copyright © 2019 by Sabrina Jeffries, LLC Titel des englischen Originals: Project Duchess
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK, NY 10018 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Übersetzt von: Nadine Erler Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: ©Nazar Yosyfiv, ©Francesco Scatena, ©Phatthanit, © Kozlik, © jakkapan periodimages.com: ©Maria Chronis, VJ Dunraven Productions, PeriodImages.com Korrektorat: Susanne Meier
E-Book-Version 14.12.2022, 13:56:49.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für Joyce Ratleyfür die vielen, vielen Jahre, in denen Du unsere autistischen Kinder und Erwachsenen unterrichtet hast und auch sonst für sie da warst. Wir werden Deine Klugheit und Dein wunderbares Wesen vermissen. Ich weiß, dass Du auch weiterhin Großartiges leisten wirst.
Und für meine AgentinPam Ahearn von der Ahearn Agency,die mich seit 31 Jahren in guten und in schlechten Zeiten unterstützt. Ich hoffe, dass es noch lange so weitergeht!
London Society Times
HERZOGINWITWE VERLIERT DRITTEN EHEMANN
Wie versprochen, liebe Leser, beeilen wir uns, Ihnen das neueste Gerücht mitzuteilen, und es ist noch dazu ein höchst frappierendes. Die ehemalige Lydia Fletcher hat nun die zweifelhafte Ehre, die Witwe gleich dreier Herzöge zu sein, die des vierten Duke of Greycourt, des zweiten Duke of Thornstock und des kürzlich verstorbenen dritten Duke of Armitage. Es ist ihr auch gelungen, jedem einen Erben zu gebären und in einem Fall sogar einen Erben und einen Ersatzmann – mit gemischten Ergebnissen. Während ihr Sohn Fletcher Pryde, der fünfte Duke of Greycourt, das Vermögen seines Vaters verzehnfacht hat, munkelt man, er würde auch einer geheimen Loge lasterhafter Junggesellen angehören. Angesichts der Zurückhaltung dieses Gentlemans kann man sich kaum jemanden vorstellen, der weniger Hang zu so schändlichem Treiben hätte, aber wie heißt es so oft: Stille Wasser sind tief. Ein solches Gerücht glaubt man eher, wenn es um ihren zweiten Sohn – Marlowe Drake, den dritten Duke of Thornstock – geht, der angeblich eine Vorliebe für leichte Mädchen hat. Seine Zwillingsschwester, Lady Gwyn, die soeben in London eingetroffen ist, wird ihm dieses Verhalten jedoch schwer machen, denn er muss ein wachsames Auge auf ihre Bewerber haben. Ihre erste Saison dürfte sehr interessant werden und der Unterzeichner wird sie aufmerksam beobachten. Zuletzt kommen wir zu Sheridan Wolfe, dem vierten Duke of Armitage. Er hat den Großteil seines Lebens in Preußen verbracht, wo sein verstorbener Vater Botschafter war. Für die Gesellschaft ist er der große Unbekannte der Familie, aber es wird ihm wahrscheinlich nicht schwer fallen, eine Erbin zu finden, die bereit ist, ihre Mitgift gegen den begehrten Titel einer Herzogin einzutauschen. Wenn ja, sollte sie ihm schleunigst einen Erben und einen Ersatzmann gebären, denn sein jüngerer Bruder Colonel Lord Heywood Wolfe liegt schon auf der Lauer und wartet auf seine Chance, den Titel zu erben!
Wahrhaftig, all die Nachkommen der Herzoginwitwe Lydia sollten so schnell wie möglich ihrerseits für Nachwuchs sorgen, da es – man muss es mit Schaudern feststellen – in der Familie liegt, dass die Herzöge früh das Zeitliche segnen. Die Beerdigung findet auf Armitage Hall in Lincolnshire statt.
London, September 1808
An einem schönen Nachmittag im Herbst erklomm Fletcher Pryde, der fünfte Duke of Greycourt, die Stufen zu seinem Stadthaus in Mayfair. Er war in Gedanken an seine geschäftlichen Angelegenheiten versunken und wahrscheinlich lag es daran, dass er den sprechenden Blick seines Butlers nicht bemerkte, als er durch die Tür ging.
„Euer Gnaden, ich fühle mich verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass …“
„Nicht jetzt, Johnston. Ich habe um acht ein Abendessen und hoffe, den alten Brierley noch vorher in seinem Klub zu erwischen. Er verkauft Land in der Nähe meines Landsitzes in Devon, das ich brauche, wenn ich mich weiter verbessern will. Und ich muss Berichte durchgehen, bevor ich überhaupt mit ihm reden kann.“
„Noch mehr Land, Grey?“, sagte eine junge weibliche Stimme. „Manchmal denke ich, du kaufst Ländereien so wie Frauen Kleider! Und da du als pfiffiger Geschäftsmann bekannt bist, bezahlst du wahrscheinlich auch noch weniger!“
Grey fuhr herum. „Vanessa!“ Er warf Johnston einen wütenden Blick zu. „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass sie hier ist?“
Sein Butler hob die Augen ein wenig, als sei er nahe daran, sie zu rollen. „Ich habe es versucht, Sir.“
„Ah. Richtig. Ich denke, das haben Sie.“
Grey lächelte Vanessa Pryde nachsichtig an. Mit vierundzwanzig war sie zehn Jahre jünger als er und mehr eine kleine Schwester als eine Cousine ersten Grades. Er übergab dem Diener seinen Hut, die Handschuhe, die er auf der Fahrt getragen hatte, und den Mantel. Grey erkannte den Diener nicht, der Vanessa anstarrte wie ein Bettler eine Prinzessin. Kein Wunder, dass der Lakai von ihrem herzförmigen Gesicht, ihrer wohlproportionierten Figur und der rabenschwarzen Lockenmähne fasziniert war, doch es war höchst unangemessen. Grey warf dem Kerl einen der gebieterischen Blicke zu, in denen er ein Meister war.
Der Diener errötete und eilte davon, Johnston trat vor und murmelte: „Entschuldigen Sie bitte, Euer Gnaden. Er ist neu hier. Ich werde natürlich mit ihm sprechen.“
„Tun Sie das.“ Dann wandte er sich Vanessa zu, die das Zwischenspiel anscheinend gar nicht mitbekommen hatte. „Ich hatte nicht mit dir gerechnet.“
„Das hättest du aber tun sollen, Cousin.“ Vanessa machte einen einstudierten Knicks und lächelte schelmisch. „Oder sollte ich sagen: ‚baldiger Verlobter‘?“
„Mach keine Witze darüber“, knurrte er. Jedes Mal, wenn er sich vorstellen wollte, mit Vanessa verheiratet zu sein, sah er sie als Wickelkind auf dem Arm ihres Vaters, seines Onkels Eustace Pryde, und es gelang ihm nicht. Er hatte sie aufwachsen sehen und konnte sie sich nicht als seine Frau vorstellen. Zum Glück hatte auch sie nicht den Wunsch, ihn zu heiraten.
Und so kam es, dass sie immer, wenn ihre ehrgeizige Mutter sie hierher schickte – mit der ausdrücklichen Anweisung, ihn in eine ausweglose Lage zu bringen, sodass sie heiraten mussten –, die meiste Zeit damit verbrachten, eine glaubwürdige Erklärung dafür zu finden, dass Vanessa „ihn knapp verpasst hatte“.
„Mach dir keine Sorgen.“ Vanessa lachte ein wenig. „Meine Zofe ist mitgekommen. Sie wird wie immer jede Ausrede beschwören, die wir Mama präsentieren. Also gehen wir zum Tee in den Salon.“
Sollte Vanessa ruhig die Führung seines Haushalts übernehmen. Als sie durch die Halle schlenderten, sagte er: „Du siehst gut aus.“
Sie tänzelte ein Stück vorwärts und drehte sich zu ihm um, sodass er stehen bleiben musste, als sie ihren Rock wirbeln ließ. „Also gefällt dir mein neues Kleid? Das darf ich Mama nicht verraten. Sie hat es selbst ausgesucht, damit ich dir den Kopf verdrehe. Ich habe ihr gesagt, Gelb sei deine Lieblingsfarbe.“
„Ich hasse Gelb.“
Ihre blauen Augen funkelten. „Genau.“
Ihm entfuhr ein hilfloses Lachen. „Du bist ein Wildfang, meine Liebe. Wenn du nur ein Zehntel der Energie, du die dafür aufwendest, deine Mutter zu ärgern, in die Suche nach einem Mann stecken würdest, hättest du zwanzig Bewerber, die um deine Hand betteln würden.“
Ihre Stimmung sank. „Das habe ich schon. Aber du weißt doch, wie Mama ist. Bevor du nicht aus dem Rennen bist, wird sie nicht akzeptieren, dass ich den Antrag eines geringeren Sterblichen annehme.“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „Also würdest du bitte heiraten? Eine andere? Sonst muss ich als alte Jungfer sterben!“
„Das wird nie passieren und wir wissen es beide.“ Er nahm sie ins Visier. „Einen Augenblick – hast du jemand Bestimmtes im Auge?“ Sie errötete und er erschrak. Vanessa hatte einen furchtbaren Geschmack bei Männern. „Wer ist es?“, fragte er.
Sie hob das Kinn. „Das sage ich dir nicht.“
„Weil du weißt, dass ich dagegen wäre, und das heißt, dass es der Falsche ist.“
„Das ist er nicht! Er ist Dichter!“
Verdammt. Vanessa hatte es so nötig, einen Dichter zu heiraten, wie er es nötig hatte, kochen zu lernen. Dann … „Ein berühmter Dichter?“, fragte er hoffnungsvoll. Wenn der Mann Geld hatte, konnte es klappen. Wer Vanessa heiratete, brauchte Geld wie Heu, und sei es nur, um ihre Kleider zu finanzieren.
Sie wandte sich ab und ging in Richtung Salon. „Er wird noch berühmt. Mit meiner Hilfe und Unterstützung.“
„Gott steh uns bei.“ Er hatte beinahe Mitleid mit diesem Dichter, wer auch immer es war. „Ich nehme an, deine Mutter ist dagegen.“
„Als ob ich es ihr jemals erzählen würde“, schnaubte sie und betrat den Salon.
Vanessas Zofe thronte mit ausdrucksloser Miene auf der Couch. Sie war es zweifellos gewohnt, den Kontrast zu ihrer temperamentvollen Brötchengeberin zu bilden.
„Dann ist es noch nicht weit gediehen“, sagte Grey und war erleichtert, dass er sich nicht auch noch darum kümmern musste. Er hoffte immer noch, Brierlys Klub zu erreichen, bevor der Mann ging.
„Wie sollte es überhaupt gedeihen?“ Vanessa nahm sich ein Plätzchen und verschlang es gierig wie immer. „Mama ist so versessen darauf, dass ich dich heirate – ich kann sie nicht dazu bewegen, mich auf Veranstaltungen gehen zu lassen, auf denen mein … Freund sich vielleicht auch sehen lässt.“ Sie warf ihm einen unheilverkündenden Blick zu. „Und dank dem neuesten Klatsch über dich ist sie nun wieder in Fahrt gekommen. Sie glaubt wirklich den ganzen Unsinn, du würdest eine geheime Loge liederlicher Junggesellen betreiben.“
Er schnaubte. „Ich würde mich nie mit so einem Lästigen herumschlagen. Dazu habe ich weder Zeit noch Lust und es wäre auch zu mühsam, die Diskretion zu wahren, die dafür nötig wäre, wenn man bedenkt, wie viel die Leute reden. Ich hoffe, du hast ihr gesagt, dass ich meine Kraft lieber meinen Ländereien widme.“
„Ja, aber sie hat mir nicht geglaubt. Das tut sie ja nie.“
„Aber sie hat dich hergeschickt, damit du dich mit dem Anführer dieser geheimen lasterhaften Truppe verlobst? Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Die Tratschgeschichten haben sie nur noch mehr angestachelt, mich mit dir zu verheiraten. Hmm.“
„Sie fürchtet wahrscheinlich, dass ich meine Reichtümer für ein ‚zügelloses‘ Leben verschwende, bevor du mich und mein Herzogtum für unsere Nachkommen gesichert hast.“
„Oder sie denkt, dass ein Mann von solcher Zügellosigkeit leicht zu beeinflussen sei. Dabei müsste sie dich besser kennen. Jedenfalls kenne ich dich besser. Du hast wirklich nichts Unbeherrschtes an dir.“ Vanessa tippte sich mit dem Finger ans Kinn. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit – dass Mama das Gerücht über die Loge selbst ausgestreut hat.“
„Wozu?“
„Vielleicht hofft sie, meine Konkurrentinnen abzuschrecken, indem sie dich in ein schlechtes Licht rückt.“
„Ich sage es ungern, meine Liebe, aber Gerüchte über die Lasterhaftigkeit eines Mannes schrecken die Konkurrenz nur selten ab. Wenn das der Plan der Mutter ist, ist es sehr dumm von ihr. Und es beweist meine Meinung über Tratsch: Gerüchte sind nur Unterhaltung für Leute, die sich langweilen. Wenn die Mitglieder der Gesellschaft nur ein Zehntel der Energie, die sie dafür aufwenden –“
„Ich weiß, ich weiß – wir sind alle frivol und nutzlos“, sagte sie schelmisch. „Du bist der einzige Vernünftige.“
Die Zofe sah aus, als müsse sie sich das Lachen verkneifen und würde dabei fast explodieren. Er warf Vanessa einen reuevollen Blick zu. „Hältst du mich für so wichtigtuerisch und arrogant, meine Liebe?“
„Noch schlimmer.“ Ein Lächeln milderte den Vorwurf. „Und damit verlasse ich dich.“ Die Zofe räusperte sich und Vanessa sagte: „Oh, das hätte ich fast vergessen! Ich habe ja noch etwas für dich.“ Sie fischte einen versiegelten Brief aus ihrem Pompadour. „Der wurde an uns geschickt und nicht an dich. Das ist seltsam. Vielleicht hat deine Mutter gehört, dass du seit Wochen nicht mehr hier warst. Aber wir wissen nicht, warum sie dachte, wir würden dich öfter zu sehen bekommen.“
Er ignorierte die Beklemmung, die er plötzlich empfand. „Du weißt genau warum.“
Vanessa seufzte und kam auf ihn zu. Sie sprach leise, damit nur er es hörte. „Musst du deine Mutter immer noch bestrafen?“
„Sei nicht albern“, sagte er leichthin, um das Schuldgefühl zu verdrängen, das in ihm aufkeimte. „Ich bestrafe sie nicht. Außerdem hat sie noch ihre anderen Kinder, die ihr Gesellschaft leisten. Ich muss nicht auch noch vor ihr katzbuckeln.“
Vanessa schniefte. „Als ob du jemals vor jemandem katzbuckeln würdest. Und ja, du bestrafst sie, auch wenn du es nicht zugibst.“
Als er das Mitleid in Vanessas Augen sah, bereute er, dass e r seine Mutter erwähnt hatte. Er streckte die Hand nach dem Brief aus, aber Vanessa wollte ihn nicht hergeben. „Sie liebt dich, das weißt du.“
„Ja.“ Was sollte er sonst sagen? Er liebte sie auch, auf seine eigene Art.
Grey wollte sich den Umschlag in die Westentasche stecken, dann hielt er inne. Der Brief sah für Mutters Verhältnisse sehr dünn aus. Mit einem unguten Gefühl öffnete er ihn und las die kurze Nachricht:
Mein lieber Grey,
ich muss Dir leider mitteilen, dass Dein Stiefvater verstorben ist. Die Beerdigung findet am Dienstag in Armitage Hall statt.
In Liebe
Mutter.
P. S.: Bitte komm. Ich stehe es ohne Dich nicht durch.
Grey starrte wie betäubt auf diese Worte. Maurice, der einzige Vater, den er je gekannt hatte, war tot. Bitte komm. Ich stehe es ohne Dich nicht durch. Himmel, Mutter musste am Boden zerstört sein.
Offenbar sah man ihm an, wie sehr die Nachricht ihn mitnahm, denn Vanessa nahm ihm den Brief aus der Hand und sah ihn dann entsetzt an. „Oh, Grey, wie furchtbar. Es tut mir so leid.“
„Danke“, murmelte er, aber er kam sich unehrlich vor. Er hatte Maurice kaum gesehen, seit die Familie vor ein paar Monaten aus Preußen zurückgekommen war. Seine Bitterkeit hatte ihn ferngehalten und jetzt war es zu spät.
Vanessa las den Brief noch einmal und runzelte die Stirn. „Maurice … Das ist Sheridans Vater, nicht wahr? Dann wird er jetzt wohl Herzog.“
Ihre Stimme klang seltsam und das weckte seine Aufmerksamkeit. „Sheridan? Seit wann bist du so vertraut mit meinem Halbbruder? Du hast ihn doch erst einmal gesehen.“
„Drei Mal, um genau zu sein“, murmelte sie. „Und zwei Mal haben wir sogar miteinander getanzt.“
Oh oh. Sheridan sollte sich besser vor Vanessa in Acht nehmen. Wenn sie sich für einen Mann interessierte, ließ sie ihn nicht mehr aus den Klauen. „Sag nicht, dass er der ‚Dichter‘ ist, auf den du ein Auge geworfen hast.“
Sie hob den Blick bei seinem scharfen Ton. „Rede keinen Unsinn. Sheridan hat keinen einzigen poetischen Gedanken im Kopf.“
Sie hatte recht, aber woher wusste sie es? „Jetzt, da er Herzog ist, musst du ihn Armitage nennen.“
„Ein weiterer Grund für mich, kein Interesse an ihm zu haben. Ich werde nie einen Herzog heiraten, egal, was Mama will. Ihr seid alle zu … zu …“
„Wichtigtuerisch und arrogant?“
Anscheinend merkte sie, dass sie einen Mann, der gerade einen nahen Verwandten verloren hatte, nicht kränken sollte. Sie wand sich. „So ähnlich.“ Er sagte nichts und sie fügte hinzu: „Du hast wirklich reichlich Herzöge in der Verwandtschaft.“
„Das passiert eben, wenn die Mutter drei Mal gut heiratet.“
„Sie wird eine richtige Dynastie hinterlassen. Manche Leute würden sagen, sie hätte hervorragend geplant.“
„Sie hat sicher nicht geplant, drei Mal Witwe zu werden“, sagte er scharf.
Vanessa sah bekümmert aus. „Natürlich nicht. Es tut mir leid, Grey, es war gedankenlos von mir.“
Er rieb sich die Nase. „Nein, es ist … Die Nachricht hat mich einfach aus der Fassung gebracht.“
„Natürlich. Wenn ich etwas tun kann …“
Grey antwortete nicht. Er dachte schon daran, dass Sheridan jetzt Duke of Armitage war. Maurice war nur ein paar Monate lang Herzog gewesen und nun war Sheridan gezwungen, das Erbe anzutreten. Ihm schwirrte sicher der Kopf. Grey musste nach Armitage Hall, und sei es nur, um Sheridan und Mutter bei den Vorbereitungen für die Beerdigung am Dienstag zu helfen. Moment – heute war Sonntag. Aber was für ein Sonntag? Himmel, hatte er das Begräbnis seines Stiefvaters schon versäumt?
„Wann ist der Brief angekommen?“, fragte er.
Die Zofe antwortete. „Ich glaube, es war letzten Freitag, Euer Gnaden.“
„Das stimmt“, sagte Vanessa. „Freitag.“
Armitage Hall war in der Nähe der Stadt Sanforth. Wenn er die Lakaien erwischte, bevor sie seinen Koffer ausgepackt hatten, konnte Grey innerhalb einer Stunde Trauerkleidung anlegen und sich wieder auf den Weg machen. Es wäre ein Leichtes, Lincolnshire morgen zu erreichen. „Ich muss los“, sagte er und wandte sich der Tür zu.
„Ich komme mit“, sagte Vanessa.
„Sei nicht albern“, fuhr Grey sie an, bevor die Zofe widersprechen konnte. „Du fährst wie immer nach Hause und sagst deiner Mutter, ich sei nicht hier gewesen. Diesmal hast du die beste Entschuldigung dafür, dass du mich nicht angetroffen hast. Sag ihr einfach, ich hätte schon vom Tod meines Vaters gehört und sei nach Lincolnshire aufgebrochen. Verstanden?“
„Aber … aber wie kannst du schon von seinem Tod gewusst haben, wenn du den Brief noch gar nicht hattest?“
„Sag, die Diener hätten dir erzählt, ich hätte schon einen Brief bekommen.“ Sein gesunder Menschenverstand meldete sich. „Wahrscheinlich habe ich das sogar, ich habe nur meine Post noch nicht durchgesehen. Mutter hätte nichts dem Zufall überlassen. Sie wird mir einen Haufen Nachrichten geschickt haben.“ Auch wenn sie noch so sehr vom Kummer überwältigt war.
Vanessa legte ihm die Hand auf den Arm. „Grey, es sollte jemand mitkommen. Du bist zu aufgewühlt.“
„Ich komme allein zurecht.“ Das würde er auch, verdammt noch mal. „Nun kümmere dich wieder um deine Angelegenheiten. Ich muss Vorbereitungen treffen, bevor ich aufbrechen kann.“
„Natürlich.“ Sie nickte ihrer Zofe zu, die aufstand. „Ich erzähle Mama von deinem Verlust – vielleicht legt sie ihre Intrigen dann für eine Weile auf Eis.“
„Irgendwie habe ich da Zweifel.“ Er beugte sich zu ihr und flüsterte: „Sei vorsichtig mit deinem Dichter, meine Liebe. Du verdienst etwas Besseres.“
Sie zog eine Grimasse. „Ich glaube nicht, dass ich Gelegenheit haben werde, ihm zu begegnen, solange du in Trauer bist. Mama wird mich niemanden sehen lassen, bis du wieder zur Verfügung stehst.“
„Gut. Es wäre ein schrecklicher Gedanke, dass du jemanden unter deinem Rang heiratest und ich nicht da bin, um es zu verhindern.“
Sie warf den Kopf zurück und ging zur Tür. „Man kann auch aus Liebe heiraten, weißt du? Manchmal erinnerst du mich wirklich an Mama mit deinen Ansichten über die Ehe.“
Mit diesem letzten Giftpfeil marschierte sie hinaus, die Zofe trabte hinterher. Wie albern. Er war nicht wie Tante Cora, diese habgierige Furie. Er war nur vernünftig. Liebe kam in seinen Plänen nicht vor, weil sie keinen Gegenwert in Geld hatte. Wenn er heiratete, dann eine vernünftige Frau, die sich mit Reichtum und dem Titel Herzogin zufriedengab, die nicht von Luftschlössern träumte und keine Gefühlsduselei oder Liebe oder anderen romantischen Unsinn von ihm erwartete.
Er hatte durch harte Erfahrungen gelernt, seinem Herzen einen Panzer anzulegen.
Lincolnshire, England
Die Ehrenwerte Miss Beatrice Wolfe stand vor Armitage Hall und musterte den Eingang mit kritischen Blicken. Der Totenschild hing über der Tür – diesmal nicht schief – und die Türen und Fenster waren mit schwarzem Krepp verhangen. Es sah angemessen aus, so, wie es sich für einen Herzog gehörte.
Sie hätte ihrem Onkel Armie, wie sie und ihr Bruder Joshua den letzten Duke of Armitage immer genannt hatten, nicht solche Ehre widerfahren lassen. Allein der Gedanke an Onkel Armies letzten Jahre, in denen er ständig versucht hatte, sie zu befingern oder ihr einen Klaps auf den Po zu geben, ließ sie frösteln.
Onkel Maurice dagegen, der das Herzogtum nach Onkel Armies Tod geerbt hatte, hatte sie mit Güte und Respekt behandelt. Er und ihre Tante Lydia hatten Sonnenschein, Lachen und Fröhlichkeit nach Armitage Hall zurückgebracht. Jetzt lastete wieder der Tod auf dem Anwesen. Ihr stiegen Tränen in die Augen. Ach, erst vor einer Woche hatten sie die schwarzen Schleier und den Totenschild entfernt, die man nach Onkel Armies Tod aufgehängt hatte. Zwei Herzöge waren innerhalb weniger Monate gestorben. Es war wirklich schrecklich.
Ihr Cousin Sheridan erschien im Türrahmen, er sah nach den letzten Tagen aus wie ein Gespenst. Er hatte seinem Vater nahegestanden und nahm dessen Tod schwerer als alle anderen – außer Tante Lydia. Natürlich hatte es auch Sheridans Bruder Heywood sehr getroffen, aber Heywood war beim Militär und hatte wahrscheinlich noch nicht einmal vom Tod seines Vaters erfahren, deshalb wusste sie nicht, wie er es aufnehmen würde.
Sheridan lächelte sie matt an. „Verzeih mir, Bea, dass ich dich störe, aber Mutter hat mich gebeten, noch einmal nachzusehen, ob Grey gekommen ist.“ Er schaute die Auffahrt entlang. „Wie ich sehe, ist er nicht gekommen. Sonst würde eine riesige Reisekutsche hier draußen stehen.“
Beatrice lachte. Sie mochte ihren Cousin. Mit achtundzwanzig war er nur zwei Jahre älter als sie und sie war gern mit ihm zusammen. Niemand in der Familie legte großen Wert auf Förmlichkeit, Sheridan noch weniger als alle anderen, aber das würde sich sicher ändern. „Du bekommst bald selbst eine riesige Kutsche, jetzt, da du Duke of Armitage bist.“
„Wohl eher nicht.“ Auf seinem Gesicht malte sich Traurigkeit ab. „Das Herzogtum ist in schlechter Verfassung, fürchte ich. Kein Geld für große Kutschen. Mit etwas Glück kann ich die Lage verbessern, aber das wird dauern. Und ich habe nicht gedacht, dass ich so schnell erbe.“
„Ich weiß. Es tut mir so leid. Wie geht es Tante Lydia?“
Er seufzte. „Nicht gut. Es kam für uns alle völlig unerwartet.“ Er ließ den Blick zu dem Wald schweifen, der hinter dem ausgedehnten Rasen lag, und fragte angespannt: „Wird … nun ja … dein Bruder zur Beerdigung kommen?“
Sie schluckte. Joshua war schwierig, um es milde auszudrücken. „Ich bin sicher, dass er kommt.“ Das war gelogen. Bei ihm war nie etwas sicher.
Aber Sheridan nahm ihre Worte erleichtert auf. „Gut. Wir bekommen ihn nicht so oft zu sehen, wie wir gern würden.“
„Ich würde ihn auch nie sehen, wenn ich nicht im gleichen Haus wohnen würde. Joshua ist nicht gern unter Menschen.“ Das war vorsichtig ausgedrückt. Sie nahm es ihm angesichts der Umstände nicht übel‚ aber sie würde alles tun, dass sein Erscheinen auf der Beerdigung das Mindeste war, das er den neuen Bewohnern von Armitage Hall schuldete. Vor allem Sheridan, dem neuen Hausherrn, der sie aus ihrem Heim, dem ehemaligen Witwensitz, werfen konnte, wann immer er wollte. Vor allem, da Sheridans Mutter nun die Herzoginwitwe war und vielleicht in dem Haus leben wollte, das rechtmäßig ihr gehörte.
Beatrice wollte nicht daran denken. „Kann ich noch etwas für Tante Lydia tun?“
„Meinen Halbbruder Grey hervorzaubern?“ Er fuhr sich mit der Hand durch seine aschblonden Locken. „Tut mir leid.“
„Ich bin sicher, dass er bald da ist.“
Er stieß ein harsches Lachen hervor. „Ich nicht. Ich bin nicht einmal sicher, dass er Mutters Briefe bekommen hat. Manchmal denke ich, mein Bruder hat vergessen, dass er überhaupt eine Familie hat. Er ist zu beschäftigt damit, der wichtige Herzog des verdammten Greycourts zu sein.“
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte den „Herzog des verdammten Greycourts“ nie gesehen, aber genug in der Skandalpresse gelesen, um zu wissen, dass sie ihn nicht mögen würde. Es hieß, er habe mehrere Liebschaften mit Frauen gehabt, eine schöner als die andere, und schon das machte sie misstrauisch. Es erinnerte sie nur allzu sehr an Onkel Armie.
„Stimmt das, was in der Zeitung steht?“, fragte sie. „Dass dein Bruder eine geheime Loge lasterhafter Junggesellen betreibt?“
„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Grey erzählt uns nie etwas. Soweit ich weiß, könnte er im Schlaf Wohltätigkeitsvereine leiten.“
„Das bezweifle ich“, murmelte sie. Dann wurde ihr klar, dass sie seinen Bruder beleidigte, und fügte hastig hinzu: „Aber die Geschichte über die Loge klingt sehr weit hergeholt. Warum sollte er es geheim halten? Ein Herzog kann ungestraft tun und lassen, was er will, also warum sollte er nicht ganz offen eine Loge des Lotterlebens betreiben? Was ist eine Loge überhaupt? Es hört sich an wie ein Klub. Ist es ein Klub? Ich meine …“ Ihr dämmerte, dass sie wie immer plapperte. Sheridan musterte sie eindeutig belustigt. Sie sollte aufhören. „Herzöge sind ja oft Mitglieder in Klubs. Also ist es wahrscheinlich nur ein Klub.“ Einer, zu dem Gesindel keinen Zutritt hatte. Denn darin waren Herzöge auch gut. Vor allem Greycourt, nach allem, was sie gehört hatte. Er war reicher als Gott, also konnte er sich jeden Klub leisten. Wahrscheinlich hatte er sein Vermögen dadurch angehäuft, dass er bei seinen Geschäften rücksichtslos war, somit konnte er auch zerstören, wen immer er wollte. Vielleicht lag es daran, dass die Gesellschaft an seinen Lippen hing. Oder daran, dass er nur selten etwas sagte, das keine Folgen hatte.
Obwohl sie sich um ihre Tante sorgte, hoffte sie, dass er nicht kommen würde. Männer wie er brachten sie zur Verzweiflung. Hier draußen waren ihr nicht viele von der Sorte begegnet, aber die wenigen, die sie dank Onkel Armie getroffen hatte, hatten keinen guten Eindruck gemacht.
Sheridan atmete tief durch. „Ich fürchte, ich habe dich mit meinem Ärger über meinen Bruder belästigt, das war nicht meine Absicht. Du hast schon so viel getan, um uns zu helfen.“ Er machte eine unbestimmte Geste zu den Fenstern. „All das. Du hast die Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen, die Haushaltsbücher weiter geführt … Was würden wir ohne dich machen?“
Das Lob wärmte ihr das Herz. Vielleicht würde Sheridan sie und Joshua doch nicht sofort vor die Tür setzen. „Danke. Ich helfe gern.“ Vor allem ihrer Tante. Tante Lydia war anders als alle anderen Frauen, die sie je gekannt hatte – voller Energie und Lebenslust, mit gütigem Herzen und wachem Verstand. So wie Sheridan.
Er nickte in Richtung Eingang. „Ich gehe lieber hinein. Mutter möchte, dass ich den Anzug aussuche, den Vater im Sarg tragen soll.“ Er schluckte krampfhaft. „Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, es selbst zu tun.“
Der Ärmste. „Das kann ich verstehen. Du bist ein guter Sohn.“
„Ich versuche es.“ Er schaute wieder die Auffahrt entlang und sein Gesicht verhärtete sich. „Da wir von Söhnen reden – sag mir Bescheid, wenn Grey kommt, ja?“
„Natürlich.“
Er machte Anstalten, ins Haus zu gehen, hielt dann aber inne. „Eine Sache noch. Mutter wollte, dass ich dir sage, dass sie dir weiterhin helfen will, dich auf dein Debüt vorzubereiten. Es wird nur etwas langsamer gehen.“
„Oh!“ Beatrice hatte es ganz vergessen. „Sag ihr, dass sie sich jetzt nicht um so etwas kümmern muss, um Himmels willen. Ich komme schon zurecht.“
„Mutter geht es tatsächlich besser, wenn sie etwas zu tun hat, in dem sie mit Leib und Seele aufgehen kann. Und sie findet es schrecklich, dass du nie die Chance hattest, richtig in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Sie möchte für Abhilfe sorgen.“
„Das ist sehr lieb von ihr.“ Aber es war auch beängstigend.
Beatrice streifte lieber mit den Jagdhunden durch den Wald, als durch einen Ballsaal zu wirbeln. Sie hasste es, wenn Männer ihre unmoderne Aufmachung, ihre kleinen Brüste und ihr alles andere als vollkommenes Gesicht taxierten und sich dann von ihr abwandten, weil sie ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig war.
„Mutter tut nur das Richtige.“ Sheridan beobachtete ihr Mienenspiel mit der Sorge eines Cousins. „Wir wissen alle, wie Onkel Armie seine Pflichten dir gegenüber vernachlässigt hat.“
„Danke.“ Wenn sie dachten, er sei nur nachlässig gewesen, war es gut, dass sie nicht ahnten, wie ihr Leben mit ihm wirklich gewesen war.
Sie hielt den Atem an und betete, dass Sheridan nichts mehr über Onkel Armie sagen würde. Als er ins Haus ging, entspannte sie sich wieder. Dass in den nächsten Wochen alle unter einem Dach leben würden, war vielleicht schwieriger, als sie gedacht hatte. Sie hoffte, dass Onkel Maurice’ Tod sie davon ablenken würde, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Und in Joshuas. Vor allem in Joshuas – nicht einmal sie hatte den Mut, die genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie drängte den Gedanken beiseite, sah sich Armitage Hall noch einmal von außen an und ging dann hinein.
Sie trug einem Diener auf, alle Spiegel zu verhängen. Das hätte schon erledigt sein sollen, aber Armitage Hall litt zurzeit unter Personalmangel und in so einem riesigen Haus dauerte es eine Weile, sich um alles zu kümmern. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Schachteln mit Beerdigungskeksen zu, die der Konditor am Morgen geliefert hatte. Sie mussten auf einem Tisch im Foyer ausgelegt werden, damit die Trauergäste sich auf dem Weg zur Zeremonie bedienen konnten. Sie packte die Schachteln aus und fing an, die Kekse zurechtzulegen. Jeder war in weißes Papier gehüllt, das Bilder vom Tod zeigte und mit schwarzem Wachs versiegelt war. Der Anblick der vielen kleinen Schädel, Särge, Sanduhren und gekreuzter Knochen, arrangiert auf dem Tisch, ließ sie schaudern … und sich erinnern. Sie sah sich als Zehnjährige, untröstlich auf dem Begräbnis ihres Vaters, und war so in Gedanken versunken, dass sie den Klang der Schritte erst hörte, als sie ganz nahe waren.
„Was in Gottes Namen sind diese scheußlichen Dinger?“, dröhnte eine tiefe Männerstimme.
Sie drehte sich um und sah einen Fremden. Er trug noch seinen Wintermantel und einen Hut, sein durchdringender Blick war auf den Tisch hinter ihr gerichtet. Das musste der Duke of Greycourt sein, denn seine Trauerkleidung war sehr elegant. Ihr fiel auch die Ähnlichkeit auf, die er mit Sheridan hatte. Die gebogene Nase, die Augenfarbe – wie zerborstene grüne Flaschen – und die hohe Stirn. Ganz zu schweigen von seiner Größe an sich. Beatrice war selbst groß für eine Frau, aber Greycourt überragte sie um ein paar Zentimeter. Seine Größe, seine Aufmachung und seine strenge Miene waren beeindruckend und wirkten zweifellos auf viele Frauen einschüchternd.
Aber nicht auf sie. Sie war arrogante Lords gewohnt.
Er sah sie frostig an. „Nun?“, hakte er nach. „Was ist das?“
„Das sind Beerdigungskekse“, sagte sie steif. Sein Auftreten schreckte sie ab. „Es ist hier üblich, sie den Trauergästen mit einem Glas Portwein anzubieten.“
„Tatsächlich?“, sagte er und nahm seinen kostbaren Biberhut ab. „Oder ist es einfach ein Trick des örtlichen Bestatters, um Leuten wie meiner Mutter mehr in Rechnung stellen zu können? Ich habe noch nie von dieser Sitte gehört.“
„Oh, nun gut, wenn Sie noch nie von dieser Sitte gehört haben, kann es sie nicht geben“, sagte sie und konnte ihren Ärger nicht im Zaum halten. „Was nicht in London passiert, interessiert Leute wie Sie nicht, nicht wahr?“
Die Bemerkung schien ihn aus dem Konzept zu bringen, was kein Wunder war, denn sie hätte nicht so etwas zu einem Trauernden sagen sollen. Warum, oh, warum hatte sie gesagt, was sie dachte? Sie versuchte normalerweise, es sich zu verkneifen, aber das war schwierig, wenn der Herzog so ein Arsch war. Das Wort „Arsch“ sollte man nicht einmal denken. Ihrem Bruder sei Dank war das ihr zweites Problem – wie ein Kutscher zu fluchen. Immerhin hatte sie nicht laut geflucht.
Zu ihrer Überraschung blitzte in seinen Augen Belustigung auf. Jetzt, da sie auf sie gerichtet waren, erkannte sie, dass sie nicht grün waren, sondern blau wie das Meer, als habe die Natur die Augenfarben seiner Mutter und seines Halbbruders – Blau und Grün – gemischt, um eine ganz eigene Farbe zu erschaffen.
Es beunruhigte sie ebenso wie das entwaffnende Lächeln, mit dem Greycourt sie bedachte und das seine scharfen Gesichtszüge weicher wirken ließ. „Ich verstehe, dass Sie nicht die Tochter des örtlichen Bestatters sind, für die ich Sie zunächst gehalten habe.“
Diesmal widerstand sie dem Drang, ihn anzufauchen. Himmel – die Tochter eines Bestatters? Sie wünschte ihm die Pocken an den Hals! „Nein, das bin ich nicht“, sagte sie eisig.
Sein Lächeln wurde breiter, aber es reichte nicht bis zu seinen Augen. „Sie wollen mir nicht verraten, wer Sie sind?“
„Sie ziehen offenbar lieber selbst Ihre Schlüsse.“ O Gott, sie tat es schon wieder – sagte einfach, was ihr durch den Kopf schoss.
Greycourt gluckste vergnügt. „Also wird es ein Ratespiel?“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß mit einem Blick, der ihre Aufmachung taxierte, ihr aber nicht das Gefühl gab, dass er ihre weiblichen Formen angaffte. „Nun, Sie sind eindeutig keine Dienerin. Eine Dienerin wäre nicht so gut angezogen.“
„Sie sind zu gütig, Sir“, sagte sie und ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
Ihr Ton entlockte ihm ein Lachen. „Nun sagen Sie schon, wer Sie sind, denn ich schwöre, ich habe keine Ahnung. Und ich glaube allmählich, dass ich die Antwort wissen möchte.“
Oh oh.
In diesem Augenblick kam die Rettung durch keinen Geringeren als Sheridan. „Grey!“, rief er. „Du bist gekommen! Mutter wird sich freuen!“
Greycourt klopfte seinem Halbbruder auf die Schulter; offensichtlich mochte er ihn. „Wie geht es ihr?“
Sheridan seufzte. „Es wird ihr besser gehen, jetzt, da du hier bist.“
War das, was Greycourt übers Gesicht huschte, Schuldbewusstsein? Wenn ja, stimmte es Beatrice milder. Jedenfalls ein wenig.
„Ich wäre früher gekommen“, sagte er, „aber ich war auf Reisen und habe den Brief erst gestern erhalten.“
Sheridan wandte sich an Beatrice. „Siehst du, Bea? Ich habe dir gesagt, dass der Brief vielleicht lange unterwegs war.“
„Das hast du.“ Sheridan hatte ihr noch mehr erzählt, aber sie hielt es nicht für klug, darauf aufmerksam zu machen, auch wenn Greycourt sie auf dem falschen Fuß erwischt hatte.
„Ihr beide seid euch noch nicht begegnet?“, fragte Sheridan.
„Wir wurden einander noch nicht offiziell vorgestellt“, sagte Greycourt und warf ihr einen ironischen Blick zu, der sie verblüffte.
„Nun dann“, sagte Sheridan, „Bea, wie du dir vielleicht schon gedacht hast, das ist mein Bruder Grey.“
„Halbbruder“, verbesserte Grey ihn.
Sheridan zog ein Gesicht. „Musst du das unbedingt betonen?“
„Ja, sonst würde es die Dame verwirren. Da du der Erbe des Herzogtums Armitage bist, müsste sie sich fragen, ob ich viel jünger sei, als ich aussehe, oder ein unehelicher Sohn. Ich bin keines von beidem, deshalb hielt ich es für richtig, alles klarzustellen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Sir“, sagte Beatrice mit falscher Liebenswürdigkeit. „Nicht jeder zieht voreilige Schlüsse, bevor er die Tatsachen kennt.“
„Ach nein?“, säuselte Greycourt. „Wie ungewöhnlich.“
„Und wenn du mir die Zeit gelassen hättest, dich vorzustellen, Bruder“, sagte Sheridan giftig, „hätte ich meiner Cousine erklärt, wer du bist.“
Zu Beatrice’ großer Genugtuung wurde Greycourt bei diesen Worten blass. „Cousine? Die Tochter deines Onkels Armie?“
„Nein, die seines jüngeren Bruders Lambert. Er ist schon vor Jahren gestorben.“
„Ich verstehe.“ Greycourt sah Beatrice an. „Verzeihen Sie mir meine anfängliche Grobheit, Miss Wolfe. Ich hatte keine Ahnung, dass Sheridan und Heywood eine Cousine haben.“
„Und einen Cousin obendrein“, warf Sheridan ein. „Beas Bruder heißt Joshua.“ Dann blinzelte er. „Moment – du warst grob zu Bea?“
„Es war nichts“, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. „Seine Lordschaft fand keinen Gefallen an den Beerdigungskeksen, das war alles.“
Greycourts Augen funkelten sie an. Offenbar war es ihm nicht entgangen, dass sie seine Entschuldigung nicht wirklich angenommen hatte.
„Ah“, sagte Sheridan, „die sind wirklich furchtbar, nicht wahr? Aber der Bestatter hat uns versichert, sie seien auf einem Begräbnis in Sanforth unentbehrlich.“
„So?“, sagte Greycourt und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, der sie wieder in Harnisch brachte.
„Glauben Sie mir“, sagte Beatrice frostig, „wenn es vor der Zeremonie keine Beerdigungskekse und keinen Portwein gäbe, würde die ganze Grafschaft über die Familie herziehen.“
„Ja, und alle unsere Angestellten haben das Gleiche gesagt“, sagte Sheridan. „Die Köchin war entsetzt bei der Vorstellung, dass wir keine anbieten würden. Aber ich finde sie immer noch grässlich. Tut mir leid, Bea.“
„Sie sind schrecklich“, gestand sie, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihrem Cousin recht zu geben und Greycourt die Zunge herauszustrecken. Das wäre kindisch gewesen, hätte aber großen Spaß gemacht. „Nach Papas Begräbnis waren noch so viele übrig, dass wir und die Dienstboten sie monatelang gegessen haben. Ich kann den Geschmack bis heute nicht ausstehen.“
Als sie in Greycourts Augen Mitgefühl aufkeimen sah, bereute sie, so viel gesagt zu haben. Vielleicht verbarg sich tief – sehr tief – in seinem Inneren ein anständiger Mann, aber sie wollte nicht, dass er sie bedauerte.
„Da wir von den Angestellten reden“, sagte Sheridan und sah sich in der Diele um, „wo sind die Diener? Der arme Grey steht immer noch mit seinem Hut in der Hand da.“
„O Himmel“, sagte sie und ärgerte sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, einen zu rufen. Kein Wunder, dass Greycourt sie für eine Landpomeranze hielt. „Ich nehme seinen Mantel und seinen Hut.“
Sheridan packte sie am Arm, bevor sie die Hand ausstrecken konnte.
„Nicht nötig. Ich mache es.“ Er warf Greycourt einen raschen Seitenblick zu. „Bea hat von früh bis spät geschuftet, um uns bei den Vorbereitungen für die Beerdigung zu helfen. Ich fürchte, wir haben zu wenig Personal und sie weiß am besten, was zu tun ist.“
„Das ist sehr gütig von Ihnen, Miss Wolfe.“ Es klang, als würde Greycourt wirklich meinen, was er sagte.
Vielleicht hatte sie ihn zu schnell abgestempelt. Wenn er sich Unterstellungen verkniff, war er gar nicht so schlimm.
Ein Diener stürzte in die Eingangshalle. „Verzeihen Sie mir, Euer Gnaden, wir waren hinten und haben die Kutsche nicht gehört.“ Er beeilte sich, Greycourt Hut und Mantel abzunehmen, neigte den Kopf vor Sheridan und fügte hinzu: „Es wird nicht wieder vorkommen, Euer Gnaden.“
„Sorgen Sie sich nicht“, sagte Sheridan freundlich. „Ich weiß, dass jeder alle Hände voll zu tun hat.“
Als der Diener weg war, murmelte Greycourt: „Vorsicht, Sheridan. Du bist jetzt der Herr im Haus. Du willst doch nicht, dass deine Diener dir auf der Nase herumtanzen. Es ist wichtig, von Anfang an Grenzen zu setzen.“
Und da fiel Beatrice wieder ein, warum er ihr unsympathisch gewesen war. Ja, er war attraktiv mit seinen geraden weißen Zähnen, den feinen Zügen, dem zerzausten schwarzen Haar und den schönen Augen, aber er war auch ein überheblicher Schweinehund, der glaubte, ihm gehöre die Welt. Sie würde ihn nie mögen.
Nie.
Sheridan hatte gesagt, dass er zu ihrer Mutter wollte, und Grey war einverstanden, vor allem, weil Miss Wolfe mitkam. Den meisten in der Gesellschaft hätte sie nicht gefallen, denn sie mochte eindeutig die Sonne – man sah es an ihrer goldenen Haut und den Sommersprossen auf ihren Pfirsichwangen. Die Klatschtanten hätten ihren forschen Gang bemängelt und über ihre vollen, sinnlichen Lippen und die kaffeebraunen Augen gelästert, ganz zu schweigen von den feinen Strähnen glatter nussbrauner Haare, die sich immer wieder aus ihrem dicken Knoten lösten. Glattes Haar und dunkle Augen waren gerade nicht in Mode. Aber er hatte sich nie nach der Mode gerichtet. Die Vorstellung, den Knoten zu lösen und zu sehen, wie lang ihre Mähne war, brachte sein Blut unklugerweise in Wallung. Ihre Energie hatte die gleiche Wirkung, auch wenn er sich dagegen sträubte, und er fragte sich, wie sie diese Energie im Bett einsetzen würde. Als sie dann allen voran auf die Treppe zuging, störte es ihn nicht, dass er einen Blick auf ihren runden Po werfen konnte, der gut in die Hände eines Mannes gepasst hätte. Über ihr Naserümpfen hätte er am liebsten gelacht. Er fand offenbar keine Gnade vor ihren Augen. Das war kein Wunder angesichts seines Rufes, den er nicht ganz zu Unrecht hatte. Als er sich aus der Fuchtel seiner Tante und seines Onkels befreit hatte, hatte er sich die Hörner abgestoßen, doch das hatte nicht annähernd so lange gedauert wie der Ruf, den es ihm eingebracht hatte und der ihm immer noch anhaftete – Miss Wolfes Reaktion hatte es bewiesen. Aber normalerweise waren es die ehestiftenden Mütter, die an ihm verzweifelten, und nicht ihre Töchter. Das brachte ihn auf die Frage, wo die Mutter des Mädchens war. Und warum wusste er nichts über diesen Zweig der Familie Wolfe? Es war wohl nicht allzu überraschend, denn er hatte seine Familie in den letzten zwanzig Jahren nur selten gesehen. Auch davor hatte er sich nur wenig für die Verwandtschaft seines Stiefvaters Maurice interessiert und sich darauf beschränkt, mit seinen Halbgeschwistern, den Zwillingen Gwyn und dem Duke of Thornstock, den alle nur Thorn nannten, durch die Straßen von Berlin zu ziehen. Das erinnerte ihn an … „Wo ist Gwyn? Ist Thorn schon da?“
„Seit gestern Abend“, sagte Sheridan. „Glücklicherweise war Thorn in seinem Stadthaus in London, als der Unfall passierte, deshalb konnte er schnell kommen.“
„Unfall?“ Grey runzelte die Stirn. „Mutter hat nur gesagt, Maurice sei gestorben. Ich dachte, er wäre krank gewesen.“
Zu seiner Überraschung warf Sheridan Miss Wolfe einen unbestimmten Blick zu. „Er ist ertrunken – darum mussten wir die Ausgabe tätigen und einen Einbalsamierer aus London kommen lassen. Aber wir reden später mehr darüber.“
Sheridan stieg hinter Miss Wolfe die Treppe hinauf. Nach Sheridans früherer Klage über Personalmangel machte Grey die Bemerkung über den Einbalsamierer nachdenklich. Er war sich Miss Wolfes Anwesenheit bewusst und senkte daher die Stimme. „Bist du zurzeit in finanziellen Schwierigkeiten?“
„Zurzeit?“ Sein Bruder lachte bitter auf, öffnete eine Tür und ließ Grey und Miss Wolfe den Vortritt. „Darüber müssen wir auch noch sprechen.“ Diesmal machte er eine vielsagende Kopfbewegung zum anderen Ende des Zimmers.
Grey folgte seinem Blick und sah seine Mutter in Witwentracht. Neben ihr saß Gwyn in einem ähnlichen Kleid aus tiefschwarzem Bombasin. Die beiden waren dabei, schwarze Bänder um Rosmarinzweige zu winden. Das Zimmer roch auch sehr nach Rosmarin und Lavendel, mit denen die Vasen reichlich gefüllt waren. Dann trat Sheridan vor und Grey erblickte den Sarg. Seine Hände fingen an zu zittern und er steckte sie in die Manteltaschen. Maurice. Er brachte es nicht fertig, sich der Leiche zu nähern. Noch nicht. Stattdessen wandte er sich seiner Mutter und seiner Halbschwester zu. Die beiden waren so beschäftigt, dass sie ihn noch nicht gesehen hatten. Mutters Gesicht wirkte eingefallen und von ihrem sonstigen Lächeln war nichts zu sehen. Er erinnerte sich genau, dass Maurice sie zum Lächeln hatte bringen können, sogar, wenn sie ärgerlich auf ihn gewesen war. Aber heute konnte Maurice sie nicht zum Lächeln bringen. Grey schnürte es die Kehle zu. Nie wieder. Aber als Miss Wolfe die beiden Frauen fragte, ob sie Hilfe bräuchten, brachte Mutter doch ein Lächeln zustande, auch wenn es nur ein bleicher Schatten des sonstigen war. „Wir sind fast fertig“, sagte sie, „aber danke. Ich weiß nicht, was wir ohne dich getan hätten, meine Liebe.“
Dann sah sie Grey. Mit einem erstickten Schrei sprang sie auf, rannte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Ihr vertrauter Duft nach Stärke und Zitronen ließ ihm wieder die Kehle eng werden. Es war ein Gefühl, das er lieber nicht genauer untersuchen wollte, denn dahinter steckte der Schmerz über einen Verlust aus Kindheitstagen und drohte, ihn zu überwältigen.
„Ich bin so froh, dass du da bist“, flüsterte sie. „Ich habe befürchtet …“
„Ah, aber jetzt bin ich hier. Du hättest dir keine Sorgen machen müssen.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die roten Locken, bevor er sie losließ.
Auf die ergrauenden roten Locken. Diese Mahnung an das Alter seiner Mutter traf ihn schwer. Sie war erst Anfang fünfzig, aber wie lange würde es dauern, bis sie sie zu Grabe tragen würden? Der Gedanke schnürte ihm die Brust zu. Er hatte in seinem Leben ohnehin nur sehr wenig Zeit mit ihr verbracht.
Dann sah er, dass ihr Tränen über die bleichen Wangen liefen, und der Anblick traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Er hatte seine Mutter schon oft weinen sehen, sie war eine emotionale Frau, die sich nicht scheute, ihre Gefühle zu zeigen, vor allem bei Theaterstücken oder Romanen, die sie sehr bewegten. Sie lachte auch viel, fluchte und schwärmte von ihren Kindern. So war sie eben.
Aber diese Tränen rührten nicht daher, dass ihr ein Gedicht nahegegangen war, und genau deshalb tat es ihm weh. Er drückte ihr sein Taschentuch in die Hand. „Mutter, es tut mir so leid wegen Maurice.“
Sie nickte nur, offenbar zu mitgenommen, um zu antworten, und wischte sich mit seinem Taschentuch die Tränen weg.
„Wenn ich irgendetwas tun kann …“
„Du könntest ihn zur Abwechslung ‚Vater‘ nennen.“ Sie starrte ihn mit ihren verschleierten blauen Augen an. „Er war immer traurig, dass du damit aufgehört hast, als du nach England gekommen bist.“
Als ich nach England verbannt wurde, meinst du wohl. Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Vorhaltungen. Und warum fiel es ihm schwer, ihr ihren Wunsch zu erfüllen? Es war doch nur eine Kleinigkeit.
Trotzdem fühlte es sich wie eine große Aufgabe an. „Natürlich. Was immer du willst.“
Ihr entfuhr ein Seufzer. „Entschuldige bitte, dass ich kurz angebunden bin. Ich bin nur …“
„Überwältigt vor Kummer. Ich weiß.“ Er nahm ihre Hand. „Du hast jedes Recht, so kurz angebunden zu sein, wie du möchtest.“
Sie hob eine Augenbraue. „Das werde ich dir in einer Woche vorhalten, wenn du wegen meiner Verdrießlichkeit die Flucht ergreifen willst.“
Er zwang sich zu einem Lächeln, stöhnte aber innerlich, weil sie erwartete, dass er eine Woche bleiben würde. „Ich habe schon viel von dir erlebt, Mutter, aber Verdrießlichkeit nicht.“ Er sah, dass seine Halbschwester ihre Beratungen mit Miss Wolfe beendet hatte und auf sie beide zukam. „Gwyn ist ein ganz anderer Fall.“
Gwyn hörte es, was er auch beabsichtigt hatte. „Sag lieber nichts Schlechtes über mich“, wies sie ihn zurecht, „sonst wird es dir noch leidtun, dass du so lange gebraucht hast, um hierher zu kommen! Ich war nahe daran, Thorn loszuschicken, damit er dich holt, aber ich fürchtete, ihr würdet alle beide in den Bordellen von London verschwinden und wir würden keinen von euch jemals wieder zu Gesicht bekommen.“
Er ignorierte die Stichelei, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sah sich dann im Zimmer um. „Wo ist Thorn eigentlich?“
„Das weiß man nie. Du kennst ihn doch – er findet Wein, Weib und Gesang, wohin er auch reist. Das hat er von dir gelernt.“
Es zeigte, wie wenig Zeit sie miteinander verbracht hatte, dass sie immer noch nichts über seinen wahren Charakter wusste. „Er hat nichts dergleichen von mir gelernt.“
Gwyn musterte ihn mit schwesterlicher Skepsis. „Warum hat Vater dann immer befürchtet, du würdest Thorn hier in England auf Abwege führen?“
„Ich habe keine Ahnung. Thorn ist sehr wohl fähig, von selbst auf Abwege zu geraten, und Mau… Vater hätte das wissen müssen. Und egal, welcher Unsinn vielleicht in der Zeitung stehst, ich bin nicht Thorn. Ich verschwende meine Zeit nicht im Bordell.“
„Hmm. ‚Der Herr, wie mich dünkt, gelobt zu viel.‘“
„Verschone ihn mit Shakespeare-Zitaten“, sagte Mutter bittend. „Sonst fängt er noch an, mich mit Fletcher-Zitaten zu piesacken.“
„Ich piesacke dich nicht, Mutter“, erwiderte er und war erleichtert, das Thema zu wechseln. „Ich denke nur, dass du gegenüber unserem Vorfahren parteiisch bist. Shakespeare war der bessere Bühnenautor, das weißt du genau.“
„Ich weiß nichts dergleichen! Fletcher hat einige der charmantesten und geistreichsten Stücke der englischen Sprache geschrieben. The Wild Goose Chase bringt mich immer zum Lachen.“
„Siehst du, was du angerichtet hast, Grey?“ Gwyn lächelte. „Als Nächstes spielt sie noch die Szenen nach!“
„Verzeih mir, Schwesterchen“, sagte Grey, „aber du hast damit angefangen. Ich verteidige mich nur.“
Sheridan gesellte sich zu ihnen. „Was hat Grey jetzt wieder angestellt?“
Mutters zornige Miene glättete sich wieder. „Nichts. Heute kann er nichts falsch machen.“
Grey spürte einen Kloß in der Kehle.
„Das ist schön zu hören“, sagte Sheridan ausdruckslos. „Ich muss ihn nämlich für eine Weile entführen.“
Mutter umklammerte Greys Hand noch fester. „Wirklich? Er ist doch gerade erst angekommen.“
„Ich fürchte ja“, antwortete Sheridan. „Aber ihr habt später noch reichlich Zeit füreinander. Er will nämlich länger auf Armitage Hall bleiben.“ Er sah Grey durchdringend an. „Nicht wahr?“
Verdammt. „Jetzt ja.“ Grey richtete den Blick auf seinen Bruder. „Also sag mir, wie lange bleibe ich genau?“
„Darüber sprechen wir noch.“ Sheridan machte eine Handbewegung Richtung Tür. „Gehen wir?“
Grey drückte seiner Mutter rasch die Hand und sagte: „Ich bin bald wieder da, Mutter. Haltet mir einen Stuhl warm, ja?“
Dann folgte er seinem Bruder zur Tür hinaus und durch die Halle in Maurice’ einstiges Arbeitszimmer. Grey nahm Platz, Sheridan goss ihnen beiden einen Branntwein ein und reichte Grey ein Glas. Als Sheridan stehen blieb und in den bernsteinfarbenen Likör starrte, fragte Grey: „Geht es um die Finanzen der Familie? Ich bezahle gern die Beerdigung und biete dir ein Darlehen an, zu welchen Bedingungen du auch immer …“
„Es geht nicht um Geld. Noch nicht jedenfalls.“ Sheridan nippte an seinem Branntwein, dann sah er Grey ins Gesicht. „Es geht darum, wie Vater gestorben ist.“
„Er ist ertrunken.“
Sheridan begegnete seinem Blick. „Ja. Aber ich glaube nicht, dass es ein Unfall war.“
„Wovon in Gottes Namen redest du?“
„Ich glaube, Vater wurde ermordet.“
Grey genehmigte sich einen gewaltigen Schluck Branntwein und dann noch einen. „Und wie bist du darauf gekommen?“
„Durch ein paar Dinge. Zunächst sind da die genauen Umstände seines Todes. Er ist ertrunken, nachdem er anscheinend von der Brücke in der Nähe des Witwensitzes in den Fluss gefallen ist …“
„Es gibt einen Witwensitz?“
„Dort wohnen Bea und ihr Bruder Joshua, seit mein Großvater gestorben ist.“
Grey hatte gedacht, Miss Wolfe sei nur wegen der Beerdigung auf Armitage Hall, aber offenbar gehörte sie hierher. Seltsam, dass er ihr bei seinen beiden früheren Besuchen nicht begegnet war.
„Wo genau ist dieses Witwenhaus?“, fragte Grey.