Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten - Matthias Granzow-Emden - E-Book

Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten E-Book

Matthias Granzow-Emden

0,0

Beschreibung

Diese neuartige Einführung in die deutsche Grammatik verbindet schulgrammatisches Wissen und neuere Grammatikmodelle in anschaulicher und verständlicher Weise miteinander. Lehramtsstudierende können sich damit die Kenntnisse und Kompetenzen aneignen, die sie für ihr Studium und ihren künftigen Beruf brauchen, erfahrene Lehrkräfte erhalten wichtige Impulse für neue Wege im Deutschunterricht. Mit den funktional orientierten Erklärungen zum Feldermodell und den zahlreichen systematisch gestalteten Tabellen im Bereich der Verben, Nomen/Nominalgruppen, Präpositionen und Pronomen bekommt die Schulgrammatik eine tragfähige Grundlage. Die Tabellen eignen sich darüber hinaus für DaF-/DaZ-Kurse sowie für die autodidaktische Aneignung des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache. Die neue Auflage wurde gründlich überarbeitet und erweitert. Ein unglaublich sympathisches und leicht verständliches Buch zur Grammatik (Markus Nickl, Grammatik, Lesetipps, Linguistik, blog.doctima.de)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 477

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Prof. Dr. Matthias Granzow-Emden lehrt Didaktik der deutschen Sprache am Institut für Germanistik der Universität Potsdam.

narr BACHELOR-WISSEN.DE

Deutsche Grammatikverstehen und unterrichten

narr BACHELOR-WISSEN.DE

narr BACHELOR-WISSEN.DE ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge

in den Bänden steht, was Studierende brauchen

der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert

das fachliche Grundwissen wird am Ende jeder Einheit in zahlreichen Übungen vertieft

auf www.granzow-emden.de finden Sie die Lösungshinweise zu allen Übungen, weitere Materialien zum Selbststudium sowie Kopiervorlagen und PDF-Projektionen für Lehrveranstaltungen

auf www.bachelor-wissen.de finden Sie ebenfalls die Lösungshinweise sowie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu dieser Reihe

Matthias Granzow-Emden

Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten

unter Mitarbeit von Johannes Luber

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019

2., überarbeitete Auflage 2014

1. Auflage 2013

© 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen · Deutschland

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.

Internet: www.bachelor-wissen.de

eMail: [email protected]

CPI books GmbH, Leck

ISSN 1864-4082

ISBN 978-3-8233-8134-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-9134-0 (ePDF)

ISBN 978-3-8233-0196-7 (ePub)

Inhalt

Seminarmaterialien unter www.granzow-emden.de

Vorwort

1Wege zur Grammatik

1.1Die implizite Grammatik und die Sprachen in der Sprache oder: Gibt es gutes und schlechtes Deutsch?

1.2Die explizite Grammatik und die Entwicklung des Standarddeutschen

1.3Warum wir eine andere Schulgrammatik brauchen

1.4Die Säulen der Schulgrammatik

1.5Das Tor zur Schulgrammatik

1.6Weitere Aspekte für eine bessere Schulgrammatik

1.7Übungen

1.8Verwendete und weiterführende Literatur

2Das Verb als Schlüssel zum grammatischen Verstehen

2.1Warum das Verb nicht als Tätigkeitswort bezeichnet werden sollte

2.2Das Verb und die Satzglieder

2.3Hinweise für den Unterricht

2.4Übungen

2.5Verwendete und weiterführende Literatur

3Grammatische Modellbildung

3.1Modellbildung

3.2Sprache als Gegenstand: Begriffsbildung und Terminologie

3.3Form und Funktion in der Natur

3.4Form und Funktion in kulturell geschaffenen Gegenständen

3.5Form und Funktion in der Sprache

3.6Der Regelbegriff

3.7Muster statt Regeln

3.8Muster und Markierungen

3.9Normen und Normenvermittlung in der Schule

3.10Exkurs: Ein e ist nicht nur ein e

3.10.1Buchstaben und ihre Ordnungsfunktion: Das e als Buchstabe

3.10.2Grapheme als Schriftzeichen: Das e als Graphem

3.10.3Silben und ihre Bedeutung für die gesprochene und geschriebene Sprache: Das e als Silbe

3.10.4Morpheme als Bausteine der Sprache: Das e als Morphem

3.11Übungen

3.12Verwendete und weiterführende Literatur

4Die Feldgliederung als zentrales Muster der deutschen Sprache

4.1Die prinzipielle Zweiteiligkeit des Verbs und die Feldgliederung des Satzes

4.2Linkes Verbfeld

4.3Rechtes Verbfeld

4.4Übergangsbereiche der Klammerbildung

4.5Vorfeldbesetzung

4.6Das leere Vorfeld: Der Verberstsatz als markierte Satzform

4.7Nachfeldbesetzung

4.8Didaktische Bedeutung der Feldgliederung und Überblick

4.9Hinweise für den Unterricht

4.10Übungen

4.11Verwendete und weiterführende Literatur

5Formen und Funktionen von satzverbindenden und verweisenden Einheiten

5.1Text- und satzverbindende Einheiten

5.2Sprachliches Zeigen

5.3Adverbien und Adjektive

5.4Subjunktionen und Verbletztsätze – Adverbien und Verbzweitsätze

5.5Konjunktionen als Einheiten jenseits der Feldgliederung

5.6Partikeln

5.7Überblick zu Adverbien, Subjunktionen, Konjunktionen und Partikeln

5.8Übungen

5.9Verwendete und weiterführende Literatur

6Eine neue Satzlehre für die Schule

6.1Warum die schulische Satzlehre problematisch ist

6.1.1Aussage-, Frage- und Aufforderungssatz

6.1.2Haupt- und Nebensatz

6.2Die drei Satzformen im Deutschen – auch als Grundlage verständiger Kommasetzung

6.3Satzfunktionen

6.4Fragen über Fragen

6.4.1Ja-Nein-Fragen

6.4.2W-Fragen

6.5Satzzeichen

6.6Übungen

6.7Verwendete und weiterführende Literatur

7Starke und schwache Verben und die verschiedenen Verbarten

7.1Die Stammformen des Verbs

7.1.1Schwache Verben

7.1.2Starke Verben

7.1.3Unregelmäßige Verben

7.2Die Unterscheidung verschiedener Verbarten: Vollverben, Hilfsverben, Modalverben

7.2.1Entstehung der Verbarten durch Grammatikalisierung

7.2.2Funktionsverben

7.2.3Die Verben sein und werden als Voll-, Kopula- und Hilfsverb

7.2.4Modalverben

7.2.5Weitere Verben mit Infinitiv

7.2.6Reflexive und reziproke Verben

7.3Übungen

7.4Verwendete und weiterführende Literatur

8Formen und Funktionen des Verbs im Satz

8.1Person und Numerus bei Subjekt und finitem Verb

8.1.1Person im Singular

8.1.2Person im Plural und Überblick

8.1.3Imperativformen: Eine besondere zweite Person

8.2Das Verb, sein Bezug zur Zeit und die Tempora

8.3Verbformen im Aktiv und Passiv (Genus verbi)

8.4Die Partizip II-Form zur Bildung von Verbformen

8.5Verbformen im Modus Indikativ und Konjunktiv

8.6Übungen

8.7Verwendete und weiterführende Literatur

9Übersicht zu den Verbformen: Aktiv- und Passivformen im Indikativ und Konjunktiv

Hinweise für den Unterricht

9.1Präsens

9.2Präsensperfekt

9.3Futur

9.4Futurperfekt

9.5Präteritum

9.6Präteritumperfekt

9.7Konjunktiv Präsens

9.8Konjunktiv Präsensperfekt

9.9Konjunktiv Futur

9.10Konjunktiv Futurperfekt

9.11Konjunktiv Präteritum

9.12Konjunktiv Präteritumperfekt

9.13würde-Konjunktiv

9.14Übungen

9.15Verwendete und weiterführende Literatur

10Nomen, Nominal- und Präpositionalgruppen

10.1Nomen als zentrale semantische Einheiten

10.2Nomen als lexikalische Einheiten

10.3Nomen als syntaktische Einheiten

10.4Die Feldgliederung eines typischen Satzgliedes

10.5Das linke Nominalfeld: Sprachliches Zeigen als Ausgangspunkt der Nominalgruppe

10.6Zusammenspiel von linkem und rechtem Nominalfeld: Zeigen und Nennen

10.7Exemplarische Analysen der Nominalgruppe

10.8Das leere linke Nominalfeld: Begleiterlose Nominalgruppen

10.9Hinweise für den Unterricht

10.10Übungen

10.11Verwendete und weiterführende Literatur

11Attribute

11.1Adjektivattribute

11.2Genitivattribute

11.3Präpositionalattribute

11.4Appositionen

11.5Relativische Attribute

11.6Abfolge mehrerer Attribute und weitere Attributsarten

11.7Hinweise für den Unterricht

11.8Übungen

11.9Verwendete und weiterführende Literatur

12Kasus, Numerus und Genus

12.1Genus

12.2Numerus

12.3Kasus

12.4Der Kasus: Die übliche Fragemethode im Unterricht

12.4.1Ein Schulbuchbeispiel

12.4.2Warum man weder Kasus noch Satzglieder mit der Fragemethode einführen sollte

12.5Ein anderer Zugang zum Kasus

12.5.1Rektion der Präpositionen

12.5.2Wechselpräpositionen

12.5.3Rektion der Verben

12.5.4Rektion von Adjektiven

12.5.5Rektion der Nominalgruppe

12.5.6Einheiten, die den Kasus weiterleiten: als und wie

12.5.7Freie Kasus

12.5.8Der Kasus und seine Vermittlung in der Grundschule

12.5.9Unterrichtsmaterial

12.6Übungen

12.7Verwendete und weiterführende Literatur

13Die Deklination der Nominalgruppe

13.1Zur Arbeit mit Deklinationstabellen

13.2Zur Ordnung der Kasus und Genera in der Tabelle

13.3Die Deklination der Personalpronomen

13.4Besondere Deklinationsformen der Nomen

13.5Hinweise für den Unterricht

13.6Übungen

13.7Verwendete und weiterführende Literatur

14Die traditionelle Satzgliedlehre

14.1Warum wir auf den Prädikatsbegriff verzichten sollten

14.2Die Satzglieder

14.2.1Das Subjekt und subjektlose Sätze

14.2.2Die Objekte

14.2.3Adverbialien

14.3Statt eines Nachworts

14.4Übungen

14.5Verwendete und weiterführende Literatur

Register

Abbildungsnachweise

Vorwort

Für viele, die Deutsch unterrichten oder einmal unterrichten wollen, ist die Grammatik der am meisten mit Unsicherheit, Abneigung oder sogar Angst besetzte Bereich – nicht selten wegen der Erinnerungen an den eigenen Deutschunterricht. Weil man selbst nicht immer verstand, was die Lehrkraft versuchte zu erklären, scheint es sich hier um eine schwierige, vielleicht auch nur intuitiv beherrschbare Geheimwissenschaft zu handeln. Der Rollenwechsel von der Schülerin über die Studentin und Lehramtsreferendarin zur Lehrerin bzw. vom Schüler zum Lehrer erfordert von Ihnen eine erneute und andersartige Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache und mit Ihrem grammatischen Wissen. Diese Vorstellung erscheint Ihnen vielleicht aus den unterschiedlichsten Gründen als recht unangenehm: Plötzlich sollen Sie Kinder und Jugendliche mit einem Lernbereich konfrontieren, der eher an Mathematik als an Sprache erinnert, der viele unverständliche Termini enthält und die Wörter der Sprache durch irgendwelche Regeln aufeinander bezieht, wobei jeder einzelnen Regel so viele Ausnahmen entgegenstehen, dass deren Vermittlung wenig reizvoll erscheint. Sie sollen sich mit Inhalten auseinandersetzen, deren Sinn sich Ihnen nie so recht erschlossen hat. Wenn Sie Ihre sprachlichen Kompetenzen, also Ihre Fähigkeit, etwas mündlich oder schriftlich auszudrücken, mit dem in Beziehung setzen, was Sie in Ihrem eigenen Grammatikunterricht gelernt haben, sind für Sie vielleicht keine klaren Verbindungen erkennbar. Trotzdem können Sie die Inhalte des Grammatikunterrichts nicht ignorieren, weil es die Forderungen der Lehrpläne gibt.

Sie sollen einen Bereich vertreten, dem Sie mitunter distanziert oder sogar abgeneigt gegenüberstehen. Bei dieser Vorstellung vermischen sich inhaltliche und persönliche Erwägungen. Wenn Sie sich nicht gut genug in der Grammatik auskennen, könnten Sie die Fragen oder Spitzfindigkeiten der Schülerinnen und Schüler in Verlegenheit bringen und Ihre fachliche Autorität in Frage stellen. Dann geht es gar nicht mehr alleine um die Inhalte, sondern um Ihr professionelles Selbstverständnis, das an diesem Punkt in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Wer deshalb versucht, die Grammatik im Studium zu umgehen, verschiebt das Problem und trägt dazu bei, dass der Grammatikunterricht seinen schlechten Ruf so beharrlich aufrechterhält. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, haben Sie sich dieses Buch besorgt.

Wenn Sie sich nach Ihrer Schulzeit nun ein weiteres Mal der Grammatik zuwenden, wird sich Ihnen zeigen, dass Ihr Problem mit dem Grammatikunterricht nicht nur Ihr Problem ist. Die Grammatik, die in der Schule unterrichtet wird, gilt als alte Wissenschaft, die in Anlehnung an die lateinische Grammatik entwickelt wurde. Dass sie so alt ist und in ihren Grundzügen bis in die Antike zurückreicht, gibt ihr eine gewisse Würde. Die Grammatik ist sicherlich der einzige schulische Arbeitsbereich, der sich in seinen Inhalten seit Mitte des 19. Jahrhunderts nur unwesentlich verändert hat. Mit dieser langen Tradition sind aber auch eine Erstarrung und eine Abkoppelung von der modernen Sprachwissenschaft verbunden. Vieles wurde zu sehr vereinfacht und dadurch falsch. An anderen Stellen wurden die theoretischen Defizite durch unverständliche Erklärungen überdeckt. Es machten sich Methoden breit, von denen niemand sagen kann, wofür sie gut sind, und noch immer scheint es im Grammatikunterricht darum zu gehen, möglichst viel abfragbares Wissen zu erzeugen.

Die Grammatik sollte aber im Deutschunterricht keine zusätzliche Belastung sein, sondern die Modelle bereitstellen, die das Leben in einer Schriftkultur erleichtern. Dann geht es im Grammatikunterricht nicht um ein ängstliches Befolgen von Regeln und Vermeiden von Fehlern, sondern um ein beobachtendes und spielerisches Entdecken der Sprache und der Muster, die sie zusammenhalten. Damit kommt Bewusstheit und Lebendigkeit in die Sprache und Schrift – nicht nur für Sie, sondern auch für die Kinder und Jugendlichen, die Sie einmal unterrichten werden.

Nach vielen sehr erfreulichen Rückmeldungen findet sich in dieser dritten Auflage alles, was sich in den beiden vorigen bewährt hat. Als besonders geeignet stellte sich immer wieder das Modell der Feldgliederung heraus, das um exemplarische Textanalysen in Abschnitt 6.2 erweitert wurde. Mit einem solchen Modell lässt sich die ebenso verbreitete wie widersprüchliche Unterscheidung von Haupt- und Nebensatz überwinden (dazu der neue Abschnitt 6.1.2). Auch seine Übertragung auf die Nominalgruppe und in der Folge auf Satzglieder zeigt die zutiefst menschliche Orientierung an Mustern in der Sprache (dazu der erweiterte Abschnitt 10.4).

Am Ende jeder Einheit finden Sie Übungen, die sich für das Selbststudium und als Impulse für Seminarveranstaltungen eignen. Lösungshinweise gibt es auf der Verlagshomepage (www.bachelor-wissen.de) sowie auf meiner Homepage unter www.granzow-emden.de. Lehrende finden dort weiterhin in Lehrveranstaltungen erprobte Seminarmaterialien mit Arbeitsblättern, Kopiervorlagen und PDF-Projektionen. All dies wird kontinuierlich überarbeitet und erweitert – im Inhaltsverzeichnis verweist die Maus in der Randspalte auf bereits bestehende Materialien.

Inspiriert und begleitet hat mich bei dieser dritten Auflage Veronika Sabisch – von Herzen Dank! Johannes Luber danke ich für die zahllosen Stunden bei der Entstehung dieses Buches – für die Ideen zur Gesamtkonzeption, die Hartnäckigkeit im Detail und den Humor.

Potsdam, im Juli 2019

Matthias Granzow-Emden

Einheit 1

Wege zur Grammatik

Inhalt

1.1Die implizite Grammatik und die Sprachen in der Sprache oder: Gibt es gutes und schlechtes Deutsch?

1.2Die explizite Grammatik und die Entwicklung des Standarddeutschen

1.3Warum wir eine andere Schulgrammatik brauchen

1.4Die Säulen der Schulgrammatik

1.5Das Tor zur Schulgrammatik

1.6Weitere Aspekte für eine bessere Schulgrammatik

1.7Übungen

1.8Verwendete und weiterführende Literatur

Überblick

In der Sprache gibt es viele Sprachen – Dialekte, Idiolekte, Soziolekte, Gruppensprachen – und letztlich hat jeder Mensch seine natürlich erworbene Erstsprache (auch „Muttersprache“ genannt). Diese Sprachen unterscheiden sich in ihrer Lautung, in ihrem Wortschatz und in ihrer impliziten Grammatik. Die vielen Sprachen in der Sprache machen es nötig, dass man sich auf eine gemeinsame Sprache einigt, die jeder verstehen sollte. Ihre Vermittlung steht im Mittelpunkt des Deutschunterrichts – wir nennen diese Sprache auch Standardsprache. Sie hängt eng mit der Schrift zusammen und macht eine explizite Grammatik notwendig. In der langen Tradition des Grammatikunterrichts haben sich jedoch Darstellungsweisen verfestigt, die einem angemessenen Verständnis der expliziten Grammatik und damit auch dem Zugang zur Standardsprache und zu unserer Schriftkultur im Wege stehen.

1.1Die implizite Grammatik und die Sprachen in der Sprache oder: Gibt es gutes und schlechtes Deutsch?

Mit der Sprache haben wir die bemerkenswerte Fähigkeit, Gedanken von einem Kopf in den anderen zu vermitteln. Diese Möglichkeit haben die Generationen in den vielen tausend Jahren vor uns ausgiebig genutzt und dabei Muster geschaffen, die sie immer weiter ausdifferenziert haben. Wenn sprachliche Formen ihre Funktion in einer brauchbaren Weise erfüllten, wurden sie zu einem natürlichen Bestandteil der Sprache. Was wir heute in den vielen Sprachen der Welt an Mustern vorfinden, gehört in einer ganz natürlichen Weise zum Menschen, und die kognitiven Voraussetzungen zum Spracherwerb haben unsere Vorfahren praktischerweise der folgenden Generation immer weitervererbt.

Grammatik im Spracherwerb

Muttersprache

Der Spracherwerb von Kindern ist so untrennbar mit dem Menschsein verbunden, dass der Linguist Steven Pinker von einem „Sprachinstinkt“ spricht. Jede natürliche Sprache hat eine Grammatik als eine Art Betriebssystem, auf dessen Grundlage die Sprache läuft. Dies erscheint so selbstverständlich, dass sich kaum jemand über diese komplexe Fähigkeit wundert. Niemand erklärt kleinen Kindern, ob und wann Adjektive dekliniert werden und welche Endungen sie als Attribute in Abhängigkeit von Genus, Numerus und Kasus bekommen. Es ist offensichtlich, dass Kinder das Sprechen so nicht lernen würden. Was kleine Kinder beim Spracherwerb tun, lässt sich nicht als ein Reiz-Reaktions-Schema deuten – es kann nicht ausschließlich auf Imitation beruhen. Trotz der mitunter ungrammatischen Eingaben entwickeln sie ein grammatisches Gespür, was in ihrer Sprache möglich ist und was nicht – ihre Sprache ist im Übrigen immer eine besondere Ausprägung der Sprache, die von den Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen gesprochen wird und die deshalb auch als Muttersprache bezeichnet wird. Diese Fähigkeit, Grammatisches in der Sprache zu erkennen und in den eigenen Sprachgebrauch zu integrieren, gehört zu dem Faszinierendsten, was das menschliche Leben auf der Erde hervorgebracht hat. Die Kinder selbst erleben ihre Sprachfähigkeiten aber nicht als etwas Besonderes. Sie erscheinen ihnen so natürlich wie das Gehen auf zwei Beinen.

implizite Grammatik in den Varietäten

Variation als natürliche Gegebenheit in der Sprache

Die Grammatik, die in jeder Sprache in dieser natürlichen Weise steckt, wird als implizite Grammatik bezeichnet. Sie ist da, sie wird natürlich erworben, und in diesem Sinne kann auch kein Mensch sagen, dass er von Grammatik überhaupt keine Ahnung habe. Eine implizite Grammatik steckt in jedem Dialekt des Deutschen und auch in jeder anderen Varietät wie z. B. den Jugendsprachen. In keiner Varietät gibt es „falsche Regeln“. Auch wenn sie noch so sehr von dem abweichen, was wir für normal halten, hat jede Varietät in gleicher Weise ihre Daseinsberechtigung und eine vollwertige Grammatik in dem Sinne, dass sie Formen für alle in dieser Sprache notwendigen Funktionen entwickelt hat. Hierbei Wertungen abzugeben (wie „gutes/schlechtes Deutsch“ oder „schöner“ und „hässlicher Dialekt“ oder auch „die Jugendlichen verhunzen die Sprache“) ist immer unangemessen und wird der Sache nicht gerecht. Jede Sprache bekommt durch die Menschen, die sie benutzen, ihre Würde und den Status einer vollwertigen Sprache. Wer eine ihm fremde Varietät mit dem Hinweis abwertet, diese Sprache sei „an sich“ unzulänglich oder minderwertig, sucht einen rational erscheinenden Grund, um andere Menschen abzuwerten.

Beispiel

(aus: Pinker, Steven: Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Sprache bildet. München: Kindler 1996, S. 431)

„Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Naturfilm. Gezeigt werden die üblichen großartigen Aufnahmen von Tieren in ihrem natürlichen Lebensraum. Doch dann klärt Sie der Sprecher über einige bedenkliche Fakten auf. Die Delphine machen falsche Schwimmbewegungen, der Kuckuck ruft zu nachlässig, die Meisen bauen ihr Nest nicht richtig, die Pandabären halten den Bambus in der falschen Pfote, das Lied des Buckelwals enthält verschiedene wohlbekannte Fehler, und die Schreie der Affen sind schon seit Hunderten von Jahren in einem stetigen Verfall begriffen. Wahrscheinlich würden Sie denken: Was um alles in der Welt soll es bedeuten, dass das Lied des Buckelwals einen ‚Fehler‘ enthält? Singt der Buckelwal denn nicht so, wie ein Buckelwal eben singt? Und wer, zum Teufel, ist eigentlich dieser Sprecher? Doch wenn es um die menschliche Sprache geht, glauben die meisten Leute solchen Beurteilungen nicht nur, sondern halten sie sogar für besorgniserregend.“

Sprache kann soziale Gruppen verbinden und trennen

Die vielen Sprachen in der Sprache leben von ihrem Spiel mit Mustern auf unterschiedlichsten Ebenen. Zum auffälligsten gehört in den Dialekten der Klang, wenn sich die Laute (Phoneme) unterscheiden oder auch die Sprachmelodie (Prosodie). Unterschiede finden sich auch im Wortschatz und in der Grammatik. Das Schöne an den sprachlichen Varietäten ist die kulturelle Vielfalt, die damit in einem Sprachraum zustande kommt. Dem Individuum vermittelt die eigene Sprache ein Gefühl von „Nestwärme“, wenn man sich unter seinesgleichen bewegt, was zur Gruppenbildung führt. Dies kann aber nicht nur Zusammengehörigkeit bewirken, sondern auch Ab- und Ausgrenzung bedeuten.

Beispiel

Dies und noch mehr kann ein kleines Filmchen illustrieren, das im Internet unter www.youtube.com/watch?v=27wkJ6KDolk zu finden ist und sichtbar macht, was in der selbstverständlichen Sicht auf schulische Bildung und insbesondere den schulischen Schrifterwerb mitunter in den toten Winkel gerät. Das parodistische Filmchen heißt „Ostdeutsch“ und enthält eine etwas zynische Parodie auf eine Alphabetisierungskampagne. Die wiederum bestand aus mehreren Spots, in denen Menschen durch ihre fehlende Schriftkenntnis in Not geraten. Alle diese Spots enden mit dem Slogan: „Schreib dich nicht ab – Lern lesen und schreiben“.

In der Parodie passiert Folgendes: Ein Kfz-Mechaniker steht vor der geöffneten Motorhaube eines Autos; er raucht und isst ein belegtes Brötchen. Hinter ihm macht sich der Kühler des Autos in einer Dampfwolke Luft; da kommt der Chef vorbei und mahnt seinen Mitarbeiter demonstrativ ab. Diese Abmahnung erfolgt in einer sächsischen Mundart. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf die Werkstattordnung, die an der Wand hängt:

Gibbe raus!

Keene Feddbemmen fressn!

Glozzn off!

ORBEIDN!

Der sichtlich eingeschüchterte Mitarbeiter fragt verstört, was das denn heiße und ob er jetzt entlassen sei. Seine Sprache lässt keinen besonderen Dialekt erkennen. Da greift vermittelnd ein weiterer Mitarbeiter mit einer leichten dialektalen Färbung – ebenfalls sächsisch – ein. Er erklärt dem Chef, sein Kollege könne kein Ostdeutsch (wir wissen, dass „Ostdeutsch“ weder ein Dialekt noch sonst eine Varietät des Deutschen ist, sondern allenfalls das, was „Wessis“ dafür halten könnten, aber man sollte Witze ja eigentlich nicht erklären). Die Handlung endet versöhnlich und mit einem Appell: Der Chef legt dem zurechtgewiesenen Mitarbeiter den Arm um die Schultern, entschuldigt sich fast, dass er das nicht gewusst habe und sagt verständnisvoll, dass man da „doch was machen“ müsse. Parallel dazu wird (im Stil einer politischen Aufklärung) ein Schriftband eingeblendet, das um einen gesprochenen Appell ergänzt wird:

Über 60 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig Ostdeutsch. „Schreib dich nicht ab. Lerne Ostdeutsch (…).“

Worin liegt nun der Erkenntniswert des Filmchens? Der folgende Gedankengang setzt voraus, dass wir die Vorschriften an der Wand als Standard betrachten: So könnte eine Werkstattordnung in geschriebener Form aussehen. Damit würde sich dann das Ostdeutsche als die überregional gültige Sprache auszeichnen – eben eine, die man im deutschen Sprachraum lesen und schreiben können muss. Die Verfehlungen des Mitarbeiters, der raucht und isst und eben nicht arbeitet, gehen auf die Unkenntnis dieses Standards zurück. „Lerne Ostdeutsch“ hieße im Rahmen des erzählten Filmchens: Setz dich mit der Schrift auseinander – du brauchst sie zur Teilhabe an der Gesellschaft, weil diese Gesellschaft als Schriftkultur existiert. Was also eine Gesellschaft durch Schrift zum Standard erhebt, hat eine gewisse Dignität, und es hat sich in aufgeklärten Schriftkulturen bewährt, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft mit dieser Sprache – und jenseits des Filmchens in unserer „richtigen Welt“ ist das die deutsche Standardsprache – umgehen können.

1.2Die explizite Grammatik und die Entwicklung des Standarddeutschen

Entstehung expliziter Grammatiken

Die Dialekte und die vielen anderen Varietäten sind der Ursprung in der geschichtlichen Entwicklung der Sprache, die wir heute als das Deutsche bezeichnen. Für die weiteren Überlegungen begeben wir uns zunächst in die Vergangenheit: In einer kleinräumigen mittelalterlichen Gesellschaft spielte die Schrift eine weitaus geringere Rolle als in unserem heutigen Medienzeitalter. Die mündlichen Dialekte bestimmten in vielfältiger und ausgeprägter Form das Leben, und wenn etwas aufgeschrieben werden sollte, führte die Lautorientierung zu unterschiedlichsten Schriftbildern – sogar innerhalb eines Textes. Diese Vielfalt der Schreibung findet sich auch in frühneuhochdeutschen Texten. So enthält das angefügte Textbeispiel aus dem frühen 16. Jahrhundert von Valentin Ickelsamer, den man als einen der ersten Didaktiker des Deutschen bezeichnen kann, drei Schreibweisen für die Konjunktion und: uñ, und, unnd.

Abb. 1.1Beispiel Frühneuhochdeutsch

… von der impliziten zur expliziten Grammatik

Seit dem Mittelalter stand für Kirche und Wissenschaft das Lateinische als verbindende Sprache zur Verfügung – eine Sprache, die europaweit in Lateinschulen unterrichtet und von allen Gelehrten verwendet wurde. Da es keine natürlichen Sprecher des Lateinischen mehr gab, war die Schrift der einzige Bezugspunkt für die Überlieferung. Im Bemühen, das Geschriebene zu verstehen und in den Lateinschulen vermitteln zu können, wurde die implizite Grammatik des Lateinischen aufgeschrieben, gelehrt und damit explizit gemacht. Zu den bekanntesten Grammatiken gehörte die im vierten nachchristlichen Jahrhundert verfasste Lateingrammatik des Donat Aelius. Sie war die Grammatik des Mittelalters, sodass „Donat“ als metonymischer Ausdruck für die Grammatik verwendet wurde. Wenn jemand „seinen Donat nicht beherrschte“, hatte er zu wenig Ahnung von expliziter Grammatik.

Entwicklung von Standardsprachen aus den Volkssprachen

Mit dem ausgehenden Mittelalter nahm in Europa die Bedeutung der Volkssprachen zu. Die Entwicklung des Buchdrucks und die Reformationsbewegung trugen entscheidend dazu bei, dass sich das Neuhochdeutsche als neue Sprache entwickeln und überregional verbreiten konnte. Diese neue Sprache wurde zur Sprache der Literatur und gedruckter Texte und löste das Lateinische als Wissenschaftssprache ab. Sie wurde zu einer verbindenden Sprache in einem Sprachraum, dessen Grenzen nicht von vornherein feststanden. Dies zeigt bis heute die sprachliche Realität in der Schweiz und in den Niederlanden: Vom heutigen Standarddeutsch sind zahlreiche Schweizer Dialekte etwa gleich weit entfernt wie das Niederländische. Trotzdem betrachten wir das Niederländische als eine eigene Sprache und das Schweizerdeutsche als Dialekt.

Die Schrift war auf mehrfache Weise der Motor für die Entwicklung des Standarddeutschen. Sobald es Texte in deutscher Sprache gab, durfte auch ein Publikum nicht fehlen, das diese Texte lesen konnte. Die Institution Schule, die nach wie vor einer kleinen Elite vorbehalten war, beschränkte sich nicht mehr auf das Lateinische und erweiterte das Lesen- und Schreibenlernen auf die deutsche Sprache. Aus dem Lateinunterricht wurde die Tradition der expliziten grammatischen Unterweisung auf den Deutschunterricht übertragen. Dies zeigt sich bis heute in den grammatischen Einteilungen und dem grammatischen Fachvokabular.

Interessanterweise findet sich in der über 1600 Jahre alten Grammatik des Donat die Reihenfolge seiner acht „Redeteile“ (partes orationis), wie er die Wortarten nannte, im Wesentlichen auch heute noch in der Wortartengliederung im Inhaltsverzeichnis des Grammatikdudens von 2016:

Abb. 1.2

1.3Warum wir eine andere Schulgrammatik brauchen

Probleme der Schulgrammatik

Es ist das Ziel des Deutschunterrichts, die Kinder und Jugendlichen mit der Schrift und der Standardsprache vertraut zu machen. Weil die unterschiedlichen Varietäten mehr oder weniger von der Standardsprache abweichen, kann die Aneignung des Deutschen über die Schrift auch als erster Fremdsprachunterricht betrachtet werden. Ob der Grammatikunterricht diesen Prozess in bestmöglicher Weise unterstützt, wird seit vielen Jahrzehnten bezweifelt und führte mitunter sogar zur Forderung, diesen Arbeitsbereich ganz abzuschaffen. Diese Forderung wird in der Praxis zumindest so weit aufgegriffen, dass zahlreiche Lehrkräfte dem Literaturunterricht den Vorzug geben und Grammatikunterricht oftmals nur als ein Abarbeiten von Lehrplanvorgaben stattfinden lassen. Was unter solchen Vorzeichen im Unterricht geschieht, kann keine Begeisterung für das Faszinierende an der Sprache hervorrufen, es ermöglicht keine Einblicke in das System und erscheint weitgehend nutzlos.

Die Ursachen des Dilemmas, in dem sich die Schulgrammatik befindet, sind aber nicht nur an der Basis bei den Lehrkräften zu suchen: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat 1982 ein „Verzeichnis der grammatischen Fachausdrücke“ veröffentlicht. Dieses Verzeichnis distanziert sich ausdrücklich von den verschiedenen Sprachtheorien der modernen Sprachwissenschaft und ist bis heute die verbindliche Grundlage für die Lehrpläne. Dies führt in der Praxis zu mindestens vier Problemen:

Fehlende Definitionen der Fachausdrücke: Was die grammatischen Fachausdrücke im Einzelnen bezeichnen sollen, bleibt an vielen Stellen ungeklärt. Zu den verschiedenen Termini finden sich in Schulbüchern ganz unterschiedliche Erklärungen. Man verwendet zwar das gleiche Wort, meint aber ganz Unterschiedliches. So wird das Prädikat in Schulbüchern ganz unterschiedlich verstanden und dargestellt – mal als finite Verbform, mal als das Vollverb eines Satzes, manchmal versteht man darunter beides zusammen und manchmal alles, was nicht Subjekt des Satzes ist. Am Ende werden Verb und Prädikat gleichgesetzt, was nicht nur die terminologische Differenzierung fragwürdig erscheinen lässt. Mehr dazu erfahren Sie in den Einheiten 2 und 14.

Irreführende Fachausdrücke: Im Grammatikunterricht gibt es zahlreiche eingedeutschte Fachausdrücke, die zwar „kindgemäß“ erscheinen, weil sie eine Bedeutung erkennen lassen, aber irreführend sein können. Wer z. B. das Verb als „Tätigkeitswort“ kennengelernt hat, deutet mit diesem Terminus die zentrale Einheit der Grammatik auf unangemessene Weise, was systematische Einsichten verhindern kann. Daneben wird er die wichtigsten und häufigsten Verben wie sein, haben, werden, bleiben, dürfen nicht als Verben erkennen oder aber sie als Ausnahmen betrachten (→ Abschnitt 2.1).

Isolierte Vermittlung der Fachausdrücke: Die verbindlichen Termini der KMK-Liste finden sich schon ab der dritten und v. a. in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe in den Lehrplänen. Im Unterricht werden sie mitunter „abgearbeitet“ und nur benannt, ohne dass ihre Bedeutung begrifflich geklärt wird oder übergreifende Muster der Sprache deutlich würden. In höheren Klassen wird dieses meist fragmentarische Wissen oftmals nur als „schlechtes Gewissen“ eingesetzt; sprachliches Wissen wird somit niemals relevant für das Durchdringen von Sprachstrukturen und kann damit auch nicht das Erschließen von Texten unterstützen.

Ausschluss der Wissenschaft: Neuere Erkenntnisse der Sprachwissenschaft bleiben in der Schulgrammatik außen vor (wie z. B. die sog. Wortgruppen, die Feldgliederung des Satzes oder funktionale Aspekte). Eine solche Wissenschaftsferne gibt es sonst in keinem Schulfach – man stelle sich einen entsprechenden Chemie-, Physik- oder Biologieunterricht vor, der 150 Jahre Wissenschaft einfach ignoriert.

In einem gemeinsamen Projekt bemühen sich seit 2009 Linguisten und Fachdidaktiker in einer deutschlandweiten Arbeitsgruppe, die Defizite des Verzeichnisses von 1982 zu überwinden. Den aktuellen Stand können Sie auf der Webseite www.grammatischeterminologie.de einsehen.

Die unzulänglichen Vorgaben der KMK sind aber nicht der einzige Grund, weshalb der Grammatikunterricht seinen wichtigen Beitrag zur Vermittlung von Schrift und Standardsprache nicht leisten kann. Einen nicht weniger gravierenden Einfluss hat die traditionelle Wortartenlehre, die kategorial angelegt ist. Davon handelt der folgende Abschnitt.

1.4Die Säulen der Schulgrammatik

Die schulische Grammatik hat zwei Säulen: Die eine ist die Wortartenlehre, die andere ist die Satzgliedlehre. Beide müssen nach den Vorgaben der Lehrpläne im Grammatikunterricht vorkommen, und auch die Lehrwerke für den Deutschunterricht enthalten beides, weil sie sonst nicht zugelassen werden.

Abb. 1.3

Die Wortartenlehre als eine der beiden Säulen der traditionellen Grammatik wird kategorial gefasst. Kategorial meint nichts anderes, als dass die Wörter „an sich“ bestimmten Kategorien – den Wortarten – zugeordnet werden. Wenn wir eine kategoriale Sichtweise einnehmen, ist eine der zentralen Ausgangsfragen, wie viele Wortarten es gebe (fünf oder acht oder zehn …). Mit dem Nomen, Verb und Adjektiv werden drei Hauptwortarten unterschieden, die als wichtigste Inhaltswörter eine semantische Hauptfunktion haben. Daneben gibt es die Funktionswörter, zu denen traditionell die Pronomen und Artikelwörter, aber auch Präpositionen und Konjunktionen bzw. Subjunktionen gezählt werden, die einen Satz grammatisch zusammenhalten.

Abb. 1.4Kandinsky, Wassily: Roter Fleck II, 1921 (Ausschnitt)

Ein Grammatikunterricht, der in dieser Weise auf Wortartenebene versucht, die Einzelteile zu ordnen, entspricht einer Ordnung, die Ursus Wehrli in seinem schönen Buch „Kunst aufräumen“ in ein Bild von Kandinsky bringt – er ordnet in Abb. 1.5 die Formen aus Abb. 1.4 nach ihrer Farbe (Wehrlis und Kandinskys Originale sind farbig und hier aus technischen Gründen im Zweifarbdruck wiedergegeben). Wir hätten beispielsweise einen blauen Stapel mit Nomen, einen roten mit Verben, einen schwarzen mit Präpositionen usw. Eine solche Ordnung ist ein erheblicher Eingriff in das ursprünglich vorhandene Bild und setzt nicht zuletzt voraus, dass jemand in der Lage ist, die Farben zu erkennen und entsprechend zu ordnen.

Abb. 1.5Wehrli, Ursus: Aufgeräumte Version von Kandinskys Bild, 2002

relationales Verständnis der Wortarten

Kinder in der Schule können aber, um im Bild zu bleiben, die unterschiedlichen Farben noch nicht unterscheiden. Wortarten lassen sich nicht wie Farben vom bloßen Anschauen erkennen. Zwar gibt es Wörter wie Sonne und schwimmen, die man als prototypische Vertreter der Nomen oder Verben betrachten mag, aber im folgenden Satz scheinen sich diese Zuordnungen umzukehren:

Nach dem Schwimmen sonne ich mich auf der Liegewiese.

Dieses Beispiel ist keine „Ausnahme“ und alles andere als spitzfindig. Prinzipiell können so gut wie alle Wörter zu Nomen werden (→ Einheit 10). Nomen erscheinen nur im Wörterbuch als kategoriale Einheiten. Um ihre Großschreibung zu beherrschen, braucht man aber ein relationales Wortartenverständnis. Das bedeutet, dass ein Wort nicht ein Nomen „ist“, sondern „als Nomen verwendet wird“, was sich erst in seiner Relation zu anderen Einheiten im syntaktischen Zusammenhang zeigt. Auch die anderen Wortarten können auf eine syntaktische und damit relationale Weise sehr viel angemessener wahrgenommen werden wie die folgende Unterscheidung der Präposition bzw. der Subjunktion seit (→ Abschnitt 10.4 und 5.4):

Seit meiner Einschreibung an der Universität ist es mir nicht mehr langweilig. Seit ich mich an der Universität eingeschrieben habe, ist es mir nicht mehr langweilig.

Erst mit einem relational bzw. syntaktisch begründeten Wortartenbegriff, den wir in diesem Buch entwickeln wollen, wird auch klar, warum im ersten Satz kein Komma stehen darf, während im zweiten eines stehen muss.

Satzglieder: relational und unverstanden

Neben der kategorialen Wortartenlehre steht als weitere Säule der traditionellen Grammatik die Satzgliedlehre, die sich relational versteht. Ein Subjekt, ein Objekt oder ein Adverbiale (= adverbiale Bestimmung) bekommt seine Bezeichnung erst durch sein Verhältnis zum Verb im Satz. Der prinzipiell geniale Gedanke der Satzgliedlehre kann im Grammatikunterricht nirgendwo anknüpfen, weil er reduziert wird auf die Fragemethode: Was man mit „Wen oder was“ erfragen könne, sei ein Akkusativobjekt. Dabei bleibt nicht nur im Dunkeln, was ein Akkusativobjekt sein soll, sondern auch, was die einzelnen Bestandteile Akkusativ und Objekt bedeuten sollen. Wenn Satzglieder komplexer werden und als weitere Bestandteile von Satzgliedern Attribute hinzukommen, ist man mit dem schulgrammatischen Wissen meist überfordert, obwohl gerade an dieser Stelle grammatisches Wissen sinnvoll werden könnte, um die Komplexität der Sprache in den Griff zu bekommen.

Das Problem der beiden traditionellen Säulen ist, dass sie in der Schule sehr unverbunden und unverbindlich nebeneinanderstehen und zu zwei verschiedenen Grammatiktheorien, einer kategorialen und einer relationalen, führen. Zuallererst werden die Wörter auf der kategorialen Ebene in isolierter Form in Wortarten eingeteilt. Die vermeintlich kindgemäßen Kriterien sind für die Zielgruppe meist nicht nachvollziehbar und oftmals sogar falsch (→ Abschnitt 2.1). Das Wissen führt bereits dort zu Widersprüchen – so z. B. mit der Frage, ob ein substantiviertes Verb ein Substantiv oder ein Verb sei. Der nächste Konflikt kommt spätestens dann, wenn sie von der kategorialen zur relationalen Ebene wechseln und verstehen sollen, warum sie in der Satzgliedlehre die Verben im Satz nicht mehr als Verben, sondern als Prädikat bezeichnen sollen, obwohl eine als Verb verwendete Einheit niemals ein Satzglied sein kann und die Verben erst im Satz die für Verben typische Leistung entfalten (→ Abschnitt 2.2/14.1 und Einheit 4).

1.5Das Tor zur Schulgrammatik

Wortarten im syntaktischen Zusammenhang betrachten

In diesem Buch geschieht bereits die Wortartenlehre auf einer relationalen Grundlage. Anders gesagt: Wir gehen von einem syntaktischen Wortartenbegriff aus, der Wörter von Anfang an in ihrem Zusammenspiel mit anderen Wörtern im Satz wahrnimmt. Dieses Zusammenspiel führt zu Wortgruppen. Ein Verständnis für die Wortgruppen und den Satz ist wiederum die Voraussetzung für ein Verständnis der Wortarten. Es kommt – um auf den Kandinsky-Vergleich zurückzukommen – darauf an, z. B. die „roten Formen“ so konsequent wie nur möglich in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen. Hierfür könnten nur die roten Elemente farbig hervorgehoben werden, während alle anderen Farben in unterschiedlichen Grautönen in den Hintergrund treten. Die Gesamtgestalt bliebe erkennbar; gleichzeitig könnten einzelne Teile in den Fokus gelangen. Übertragen wir eine solche Sichtweise auf den Satz, kommen von Anfang an die Wortgruppen und damit die relational verstandenen Wortarten in den Blick, die für die Darstellung in diesem Buch zentral sein werden. Hierbei geht es v. a. um die folgenden Wortgruppen:

Sätze als „Verbgruppen“: Die wichtigste und komplexeste Wortgruppe ist der Satz selbst. Weil die zentrale Einheit des Satzes das Verb ist, können wir den Satz auch als die maximal ausgebaute Verbgruppe betrachten (→ Einheit 2).

Nominalgruppen: Typischerweise bestehen sie aus einem Pronomen oder aus Begleiter und Nomen. Zwischen Begleiter und Nomen können Adjektive bzw. Adjektivgruppen treten; sie gehören auch zur Nominalgruppe (→ Einheit 10). In den meisten Satzgliedern steht eine Nominalgruppe im Zentrum (→ Abschnitt 10.4). Für den Schulgebrauch spricht m.E. nichts dagegen, diese Wortgruppe als Nomengruppe zu bezeichnen.

Präpositionalgruppen: Einer Nominalgruppe kann prinzipiell eine Präposition vorangehen. So entsteht diese Wortgruppe (→ Einheit 10.4 und 12.5.1 f.), die auch als Präpositionsgruppe bezeichnet werden könnte.

Ausgehend von diesen drei Wortgruppen lassen sich die meisten grammatischen Erscheinungen verstehen.

Abb. 1.6

Ein Wort „ist“ damit nicht ein Verb oder ein Nomen, sondern es wird in der Sprache als Verb oder als Nomen verwendet. Dies bringt drei Vorteile:

1.Das Wortartenverständnis baut sich nicht durch Definitionen auf, sondern wird im Zusammenspiel mit anderen Einheiten erkennbar.

2.Von Anfang an stehen Sätze als die natürlichen Einheiten der Sprache im Mittelpunkt und nicht einzelne Wörter.

3.Es entsteht ein Tor, bei dem die relationalen Wortarten über die Wortgruppen mit den ebenfalls relationalen Satzgliedern verbunden sind (Abb. 1.6).

Texte als Ausgangspunkt der Sprachbetrachtung

Wenn wir beim Satz und bei Wortgruppen ansetzen, ist das keine Abstraktion, die die Kinder überfordern würde. Die Kinder und Jugendlichen gehen vielmehr von genau der Sprache aus, die ihnen in Texten begegnet. Texte sind die Einheiten der Sprache. Ich gehe hierbei von einem weiten Textbegriff aus – ein Text kann auch aus einem Werbespruch auf einem Plakat bestehen, auf dem das Bild wie eine Situation mit einbezogen wird, und auch das in einer bestimmten Situation Gesagte kann als Text verstanden werden. Ein Text besteht aus Sätzen, und nur im Satz lassen sich Wörter wie lieb, Liebe und lieben unterschiedlichen Wortarten zuordnen. Der relationale Wortartenbegriff ist die Grundlage, um irgendwann auch den kategorialen Wortartenbegriff in Tabellen oder Wörterbüchern zu verstehen. Was man am Ende in Wörterbüchern findet – dass lieben als Verb, seit aber sowohl als Präposition als auch als Subjunktion aufgelistet wird, ist das Ergebnis grammatischer Überlegungen und nicht der Ausgangspunkt.

systematisches Wissen auf Wortebene

Wenn man zu solchen Ergebnissen gelangt ist, kann es durchaus sinnvoll sein, das Wissen weiter zu systematisieren – also z. B. Gruppen wie starke und schwache Verben oder Hilfs- und Vollverben zu unterscheiden oder auch die Deklination von Nominalgruppen in Tabellen aufzulisten. Das Sortieren von Formen kann Einheiten in einer Weise ins Bewusstsein heben, wie es in ihrem natürlichen Umfeld in Texten oder Sätzen nicht möglich wäre. Tabellen für den Schulgebrauch sollten aber – wo immer dies möglich ist – den Kontext, die Bedingungen für das Erscheinen bestimmter Formen sichtbar machen. Dieses Prinzip betrifft nicht nur die Arbeit mit Tabellen, es sollte sich in Einführungen, Erklärungen, Tafel- und Heftaufschrieben oder auch entsprechenden Wandplakaten wiederfinden. In diesem Buch finden sich solche Tabellen z. B. in Einheit 9 zur Konjugation und in Einheit 13 zur Deklination.

1.6Weitere Aspekte für eine bessere Schulgrammatik

Im Folgenden seien fünf weitere Aspekte genannt, die uns zu einer besseren Schulgrammatik führen können. Dazu gehört,

1.die Grammatik als ein Modell von Sprache zu verstehen,

2.neuere Erkenntnisse bei der Modellierung einer Schulgrammatik einzubeziehen,

3.Muster in der Sprache zu entdecken,

4.das Zusammenspiel von Form und Funktion zu erkennen und

5.die Vielsprachigkeit im Deutschunterricht wahrzunehmen.

zu 1.: Eine explizite Schulgrammatik kann nichts anderes als ein Modell sein, das die Muster der Sprache beschreibt. Modelle können die Wirklichkeit mehr oder weniger angemessen darstellen (→ Abschnitt 3.1). Das bedeutet, dass die Didaktik eine angemessene Modellierung der Grammatik entwickeln muss – ein Anliegen, zu dem dieses Buch beitragen soll.

zu 2.: In den unterschiedlichen Modellen der Sprachbeschreibung, die in neuerer Zeit entwickelt wurden, gibt es sehr brauchbare Ansätze. Viele lassen sich mit der althergebrachten Grammatik verbinden – die traditionelle Grammatik darf schon deshalb nicht ignoriert werden, weil sie durch ihre Tradierung im Deutschunterricht ein kulturelles Allgemeingut ist. Die Verbindung traditioneller Sichtweisen der Grammatik mit neueren Erkenntnissen bedeutet dabei keinesfalls einen „zusätzlichen Ballast“ für den Unterricht. Diese Erkenntnisse können Brücken zwischen den zum Teil sehr isolierten schulgrammatischen Wissensbeständen sein, sie können auch vieles vereinfachen und dazu beitragen, Widersprüche in der Beschreibung zu vermeiden. In diesem Sinne will dieses Buch neue Aspekte für den Grammatikunterricht aufgreifen.

zu 3.: Bei jedem Handeln entwickeln sich Muster: Es spielt sich etwas ein, das sich bewährt, und was sich bewährt und eingespielt hat, wird zum Muster. Muster finden wir nicht nur in den sozialen Umgangsformen, sondern auch in der Sprache auf allen ihren Ebenen. Dabei entsteht aus den Formen, die sich für bestimmte Handlungszwecke bewähren, die Grammatik einer Sprache. Mit dem sprachlichen Muster können wir einen Denkrahmen gewinnen, der Sprachliches angemessener darstellen kann als der überkommene Regelbegriff (→ Abschnitt 3.6 ff.).

zu 4.: Das Verhältnis von Form und Funktion wird in der traditionellen Grammatik in sehr undifferenzierter Weise dargestellt. Funktionales bleibt häufig ausgeblendet oder wird in unangemessener Weise auf Formen bezogen. Eine konsequente Reflexion dieses Verhältnisses fehlt jedoch (→ Einheit 3.3 ff.).

zu 5.: Der Deutschunterricht ist in verschiedener Hinsicht vielsprachig: Zum einen bringen alle Kinder „ihre Muttersprache“ mit und erleben die Standardsprache als etwas Fremdes – nicht nur durch das neue Medium der Schrift, sondern auch durch die besondere, von der mündlich gebrauchten Sprache abweichende Konzeption des Schriftlichen. Zum andern hat sich in den deutschsprachigen Ländern die Realität an den Schulen in den vergangenen Jahren grundlegend verändert: Viele Kinder und Jugendliche haben eine andere Muttersprache erworben und müssen sich das Deutsche als Zweitsprache aneignen. Vergleicht man die grammatischen Inhalte des „normalen Deutschunterrichts“ mit denen des Deutsch als Zweit- oder Fremdsprachunterrichts (DaZ/DaF), werden mitunter erhebliche Unterschiede in der Darstellung der Sprachstruktur sichtbar. Während der eine Unterricht in seiner Tradition gefangen und als „Muttersprachunterricht“ konzipiert war – in der irrigen Annahme, die Schülerinnen und Schüler würden schon können und wissen, was sie in diesem Unterricht lernen –, wurde in der DaZ- und DaF-Didaktik nicht nur gesehen, dass es hier etwas zu lernen gibt, sondern es bestand auch die Freiheit, schlüssigere Darstellungen der Grammatik hinzuzuziehen oder zu entwickeln. Solche Erkenntnisse können ebenso den in einer deutschen Varietät sprechenden Kindern zur Bewusstwerdung dienen. In diesem Sinne möchte die hier dargestellte Grammatik unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden. Denn wider besseren Wissens eine widersprüchliche und für die konkreten Bedürfnisse vielfach nutzlose Grammatik zu unterrichten, ist nicht nur unter ökonomischer Perspektive unverantwortlich, sondern auch unter sozialer, weil dies insbesondere jene zurücklässt, die durch eine andere Erstsprache schwierigere Startbedingungen an deutschen Schulen haben.

Abb. 1.7

Führen grammatische Kenntnisse zu einem besseren Sprachgebrauch?

Voraussetzung für einen besseren Grammatikunterricht ist schließlich eine angemessene Erwartung der Lehrkräfte an das, was der Grammatikunterricht zu leisten vermag. Er kann jedenfalls keine „schnelle Lösung“ für sämtliche Sprachprobleme sein. Grammatikunterricht zielt nicht unmittelbar auf den Sprachgebrauch. Zu einem angemessenen Sprachgebrauch kann nur der jahrelange Umgang mit Sprache führen – Zuhören, Sprechen, das Vorgelesen-Bekommen und Lesen von Geschichten und Texten jeglicher Art wirken hierbei zusammen. Der Grammatikunterricht führt zu Kenntnissen über Sprache und kann einen bewussten Sprachgebrauch einleiten. Dabei ist die Schrift Ausgangs- und (wenigstens vorläufiger) Zielpunkt des Grammatikunterrichts, worauf auch das Wort Grammatik selbst hinweist (gramma – griech. der Buchstabe). Wer schreibt, braucht Grammatik, und wer liest, ist mit einem grammatischen Begleitbewusstsein erfolgreicher. Wo Sprache komplex wird, können grammatische Untersuchungen erhellend sein und das Verstehen von Sprachlichem befördern. Wenn es um die Verstehensmöglichkeiten und Interpretationen literarischer Texte geht, steckt in der grammatischen Analyse ein Potential, das in Schule und Studium noch viel zu wenig genutzt wird.

Vermittelt über die Schrift kann auch der mündliche Sprachgebrauch von den grammatischen Kenntnissen profitieren – dies funktioniert aber nicht nach der Formel „Heute gelernt – morgen gekonnt“. Bewusstmachungsprozesse zeigen mitunter sogar den gegenteiligen Effekt: Sie können eine vorübergehende Verunsicherung bewirken – das weiß jeder, der ein Musikinstrument beherrscht und beim Spielen überlegt, was seine Finger da eigentlich tun. Auch Kinder sprechen ihre Muttersprache schon recht routiniert, wenn sie in die Schule kommen und werden von der Schrift immer wieder „aufgehalten“, wenn sie lernen, das unbewusst Gekonnte immer besser zu beherrschen.

1.7Übungen

Lösungshinweise unter www.bachelor-wissen.de und www.granzow-emden.de

1Der Asterixband Der Große Graben erschien in unterschiedlichen Ausgaben.

Dr große Graba (Asterix schwätzt Schwäbisch)

Da grosse Grobn (Asterix redt wienerisch)

Dr gross Grabe (Asterix redt Schwyzerdütsch)

Beschreiben Sie an diesem Beispiel das grundlegende Problem, das sich nicht nur historisch bei der Entwicklung einer Standardsprache stellt, sondern auch bei der schulischen Vermittlung der Standardsprache.

2Zeigen Sie an den folgenden beiden Sätzen, welche Probleme mit einem kategorialen Zugang zu den Wortarten verbunden sind:

1.Das Schreiben lernt man in der Schule.

2.Das schreiben wir erst einmal ins Heft.

3

Beispiel

(Jacob Grimm, 1847, aus: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6190/14)

In der Sprache aber heißt pedantisch, sich wie ein Schulmeister auf die gelehrte, wie ein Schulknabe auf die gelernte Regel alles einbilden und vor lauter Bäumen den Wald nicht sehn; entweder an der Oberfläche jener Regel kleben und von den sie lebendig einschränkenden Ausnahmen nichts wissen, oder die hinter vorgedrungnen Ausnahmen still blickende Regel gar nicht ahnen. Alle grammatischen Ausnahmen scheinen mir Nachzügler alter Regeln, die noch hier und da zucken, oder Vorboten neuer Regeln, die über kurz oder lang einbrechen werden.

Was könnte aus Grimms Beschreibung der Sprachentwicklung für den Grammatikunterricht folgen?

4Die folgende Bundestagsrede von Loriot trägt zwar Züge des Standarddeutschen, weicht aber auch in erheblicher Weise von dem ab, was wir als üblichen Sprachgebrauch betrachten. Zeigen Sie Beispiele für solche Abweichungen.

Beispiel

(aus: Loriot: Das Frühstücksei, Zürich: Diogenes 2003, S. 77–79 © 2008 Diogenes Verlag AG Zürich)

1

Meine Damen und Herren, Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch – ohne darum herumzureden – in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden. Ich kann meinen politischen Standpunkt in wenige Worte zusammenfassen: Erstens das Selbstverständnis unter der Voraussetzung, zweitens,

5

und das ist es, was wir unseren Wählern schuldig sind, drittens, die konzentrierte Be-inhal-tung als Kernstück eines zukunftweisenden Parteiprogramms.

 

Wer hat denn, und das muß vor diesem hohen Hause einmal unmißverständlich ausgesprochen werden. Die wirtschaftliche Entwicklung hat sich in keiner Weise … Das wird auch von meinen Gegnern nicht bestritten, ohne zu verkennen, daß in

10

Brüssel, in London die Ansicht herrscht, die Regierung der Bundesrepublik habe da – und, meine Damen und Herren … warum auch nicht? Aber wo haben wir denn letzten Endes, ohne die Lage unnötig zuzuspitzen? Da, meine Damen und Herren, liegt doch das Hauptproblem. Bitte denken Sie doch einmal an die Altersversorgung. Wer war es denn, der seit 15 Jahren, und wir wollen einmal davon absehen, daß niemand

15

behaupten kann, als hätte sich damals – so geht es doch nun wirklich nicht! Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die Fragen des Umweltschutzes, und ich bleibe dabei, wo kämen wir sonst hin, wo bliebe unsere Glaubwürdigkeit? Eins steht doch fest, und darüber gibt es keinen Zweifel. Wer das vergißt, hat den Auftrag des Wählers nicht verstanden. Die Lohn- und Preispolitik geht von

20

der Voraussetzung aus, daß die mittelfristige Finanz-planung, und im Bereich der Steuerreform ist das schon immer von ausschlaggebender Bedeutung gewesen … Meine Damen und Herren, wir wollen nicht vergessen, draußen im Lande, und damit möchte ich schließen. Hier und heute stellen sich die Fragen, und ich glaube, Sie stimmen mit mir überein, wenn ich sage …

25

Letzten Endes, wer wollte das bestreiten!

Ich danke Ihnen …

1.8Verwendete und weiterführende Literatur

Bredel, Ursula; Fuhrhop, Nanna; Noack, Christina (2011): Wie Kinder lesen und schreiben lernen. Tübingen: Francke.

Budde, Monika; Riegler, Susanne; Wiprächtiger-Geppert, Maja (2011): Sprachdidaktik. Berlin: Akademie Verlag.

Crystal, David (1995): Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt a. M.; New York: Campus Verlag.

Donatus, Aelius (2009): Die Ars maior des Aelius Donatus. Lateinischer Text und kommentierte deutsche Übersetzung einer antiken Lateingrammatik des 4. Jahrhunderts für den fortgeschrittenen Anfängerunterricht. Hrsg. v. Axel Schönberger. Frankfurt a. M.: Valentia.

Dudenredaktion (2016) (Hrsg.): DUDEN. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 9., überarbeitete Auflage. Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: Dudenverlag.

Haueis, Eduard (2007): Unterricht in der Landessprache. Beiträge zur Orientierung des didaktischen Denkens. Baltmannsweiler: Schneider.

Ivo, Hubert (1994): Muttersprache, Identität, Nation. Sprachliche Bildung im Spannungsfeld zwischen einheimisch und fremd. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Keller, Rudi (2004): Ist die deutsche Sprache vom Verfall bedroht? http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/uploads/media/Sprachverfall.pdf (Zugriff am 30. 04. 2018).

Löffler, Heinrich (2005): Wie viel Variation verträgt die deutsche Standardsprache? Begriffsklärung: Standard und Gegenbegriffe. In: Eichinger, Ludwig M.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Standardvariation: Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Berlin; New York: de Gruyter, 7–27.

Oomen-Welke, Ingelore (2010): Sprachliches Lernen im mehrsprachigen Klassenzimmer. In: Frederking, Volker; Huneke, Hans Werner; Krommer, Axel; Meier, Christel (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts, Band 1: Sprach- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 409–426.

Peyer, Ann (1996): Forta sano estas la plej alta bono de la homa vivo. Wie funktionieren Wörter in einer künstlichen Sprache? In: Praxis Deutsch 139, 60–64.

Pinker, Steven (1996): Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Sprache bildet. München: Kindler.

Rothstein, Björn (2010): Sprachintegrativer Grammatikunterricht. Zum Zusammenspiel von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik im Mutter- und Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Stauffenburg.

Schneider, Jan Georg (2011): Hat die gesprochene Sprache eine eigene Grammatik? Grundsätzliche Überlegungen zum Status gesprochensprachlicher Konstruktionen und zur Kategorie ‚gesprochenes Standarddeutsch‘. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 39, 165–187.

Schneider, Jan Georg; Hackländer, Astrid (2012): ‚Korrektes Deutsch‘? Eine Spracherkundung im Unterricht. In: Deutschunterricht 4, 38–45.

www.grammatischeterminologie.de (Diskussion und Ergebnisse einer Arbeitsgruppe zur Revision der KMK-Liste – Zugriff am 30. 04. 2018).

www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/1982/1982_02_26-Verzeichnis-grammatischer-Fachausdruecke.pdf (KMK-Liste von 1982 – Zugriff am 30. 04. 2018).

Einheit 2

Das Verb als Schlüssel zum grammatischen Verstehen

Inhalt

2.1Warum das Verb nicht als Tätigkeitswort bezeichnet werden sollte

2.2Das Verb und die Satzglieder

2.3Hinweise für den Unterricht

2.4Übungen

2.5Verwendete und weiterführende Literatur

Überblick

Das Verb ist die wichtigste sprachliche Einheit, wenn man die Grammatik verstehen will. Es ist die formenreichste Einheit der Sprache, hat einen großen Einfluss auf die meisten anderen Einheiten, die in einem Satz erscheinen, und macht einen Satz zum Satz. Insofern kann man den Satz auch als eine Wortgruppe betrachten, die vom Verb bestimmt wird. Für einen ersten Zugang reduziert die Schulgrammatik das Verb als Tu-, Tun- oder Tätigkeitswort auf eine semantische Funktion und lenkt die Sprachaufmerksamkeit in eine Richtung, die von grammatischem Verstehen wegführt. Davon handelt der erste Abschnitt.

Dass das Verb die bestimmende Einheit des Satzes ist, wird sich im zweiten Abschnitt zunächst darin zeigen, dass es Ergänzungen bei sich hat. Solange Ergänzungen im Satz vorhanden sind, erscheinen sie recht unauffällig. Fehlen Ergänzungen, entsteht eine auffallende Leerstelle. Dies wird ein Text von Loriot illustrieren, in dem manches vom üblichen Sprachgebrauch abweicht. Während die Ergänzungen in der Verbbedeutung angelegt sind, können Angaben als vom Verb zugelassene Einheiten für zusätzliche Informationen im Satz sorgen.

Inwiefern das Verb den Satz bestimmt, wird sich auch in den Einheiten 4, 6–9 und 14 zeigen.

2.1Warum das Verb nicht als Tätigkeitswort bezeichnet werden sollte

Tradition des Tätigkeitsworts

Das Verb als „Tätigkeitswort“ oder auch als „Tu-“ oder „Tunwort“ hat eine sehr lange Tradition. In der in Abschnitt 1.2 bereits erwähnten Lateingrammatik, dem „Donat“ aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert, findet sich die folgende Beschreibung:

Verbum est pars orationis cum tempore et persona sine casu aut agere aliquid aut pati aut neutrum significans.

(Das Verb ist ein Redeteil mit temporaler und personaler Markierung ohne Deklination, das ausdrückt, dass man entweder etwas tut oder erleidet oder keines von beidem.)

Die Tradition der semantischen Beschreibung („dass man entweder etwas tut oder erleidet oder keines von beidem“) fand sich lange Zeit auch an prominenter Stelle im Grammatikduden. Bis zu seiner 6. Auflage von 1998 war es üblich, auch das Verb semantisch einzuführen. Die ersten Überschriften zur Untergliederung der Verben waren:

Das Verb

(…)

Bedeutungsgruppen

(…)

Tätigkeitsverben (Handlungsverben)

(…)

Vorgangsverben

(…)

Zustandsverben

(…)

In 23 der 24 in Brandenburg und Berlin zugelassenen Schulbücher für die 5. Klasse wird das Verb ganz entsprechend mithilfe des semantischen Kriteriums eingeführt – dafür zwei Beispiele:

Abb. 2.1Wort & Co 5, Buchner 2004, S. 88

Abb. 2.2Deutschbuch 5, Cornelsen 2004, S. 88

Sind Verben Tätigkeitswörter?

Damit bewegen sich die Schulbücher im Rahmen der zugelassenen Termini aus dem KMK-Verzeichnis von 1982 (→ Abschnitt 1.3). Nur wenn „der deutsche Ausdruck für einen grammatikalischen Begriff unmissverständlich“ sei, sollte er in der Liste neben dem lateinischen Terminus auftauchen. Der semantisch motivierte Terminus ist aber nicht nur missverständlich, sondern auch in verschiedener Weise irreführend. Der Linguist und Sprachdidaktiker Hans Glinz hat vor längerer Zeit aus einem Textkorpus von 100.000 Wörtern die 25 Verben zusammengestellt, die am häufigsten vorkommen, und zwar in der folgenden Reihenfolge:

Tab. 2.1(nach Glinz Sprachbuch 3. Lehrerband, Westermann 1977)

Die 25 häufigsten Verben im Deutschen (in dieser Reihenfolge):

sein

werden

haben

können

müssen

wollen

machen

sollen

lassen

kommen

geben

sagen

gehen

sehen

stehen

nehmen

wissen

mögen

halten

bleiben

leben

liegen

tun

sprechen

dürfen

Allenfalls die unterstrichenen zehn Wörter können zur Bezeichnung einer Tätigkeit verwendet werden (ob man z. B. machen tun kann, ist eine philosophische Frage …), sie kommen aber in den 100.000 Wörtern lediglich 1.267 mal vor. Die restlichen fünfzehn Verben, die keine Tätigkeit bezeichnen, erscheinen dagegen 6.551 mal, also fünfmal so häufig. Wenn 60 % der 25 häufigsten Verben keine Tätigkeit bezeichnen, müssen sie, sobald man die Kinder und Jugendlichen davon überzeugt hat, dass sie trotzdem „Tätigkeitswörter“ seien, als Ausnahmen erscheinen.

Sind Nomen auch Tätigkeitswörter?

Das Problem besteht aber auch in umgekehrter Hinsicht: In der semantischen Beschreibung der Wortarten im Grammatikduden finden sich Tätigkeiten, Zustände und Ereignisse auch bei den Nomen (dort als „Substantive“ bezeichnet):

1.2.1 Gegenständlichkeit: Konkreta und Abstrakte

Konkreta (Singular: das Konkretum) nennt man die Substantive, mit denen etwas Gegenständliches bezeichnet wird, zum Beispiel:

Mensch, Mann, Frau, Kind, Fisch, Aal, Blume, Rose, Tisch, Fenster, Auto, Wald, Wasser, Frankfurt, Karl May, Titanic

Abstrakta (Singular: das Abstraktum) nennt man die Substantive, mit denen etwas Nichtgegenständliches bezeichnet wird, zum Beispiel etwas Gedachtes. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

Menschliche Vorstellungen: Geist, Seele

Handlungen: Schlag, Wurf, Schnitt, Boykott

Vorgänge: Leben, Sterben, Schwimmen, Schlaf, Reise

Zustände: Friede, Ruhe, Angst, Liebe, Alter

Eigenschaften: Würde, Verstand, Ehrlichkeit, Krankheit, Dummheit, Länge

Verhältnisse oder Beziehungen: Ehe, Freundschaft, Nähe, Unterschied

Wissenschaften, Künste: Bilogie, Mathematik, Musik, Malerei

Maß- und Zeitbegriffe: Meter, Watt, Gramm, Jahr, Stunde, Mai

Abb. 2.3Duden. Die Grammatik, 9., überarb. Auflage, Dudenverlag 2016, S. 151

Der Terminus „Tätigkeitswort“ ist nicht zuletzt deshalb irreführend, weil prinzipiell jedes Verb auch als Nomen verwendet werden kann:

Reinhold hat sich beim Klettern verletzt.

Sie können sich an jedem x-beliebigen Text klarmachen, vor welche Schwierigkeiten Kinder gestellt werden, die mit der semantischen Erklärung einen Begriff des Verbs entwickeln sollen:

Beispiel

(aus: Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN) vom 22. 09. 2011; Markierungen: M. G.-E.)

Rechtzeitig beworben

Ein fünfjähriger Junge hat sich bei der Polizei in Bocholt beworben. Sein Lebenslaufist kurz. „Besuch des Kindergartens ‚Über den Wolken‘“ ist der einzige Eintrag des kleinen Niklas in der Rubrik „Werdegang“. Das teilte ein Sprecher der Polizei am Mittwoch mit. Im Anschreibensteht: „Ich möchte gerne meine Ausbildungstarten, sobald ich den Kindergarten und meine schulische Ausbildungabgeschlossen habe. Zu meinen Hobbysgehört das Spielen mit Polizeiautos.“

Mit dem Tätigkeitskriterium lässt sich nur ein Bruchteil der Verben (in blau) erkennen. Wenn Sie beispielsweise nach der Tätigkeit im letzten Satz fragen, landen Sie beim Spielen mit Polizeiautos, vielleicht auch bei den Hobbys, aber nicht beim Verb gehört. Hingegen können zahlreiche Nomen im Text mit Tätigkeiten in Verbindung gebracht werden – sie sind im Text unterstrichen. Solche Nomen bzw. als Nomen verwendeten Wörter werden insbesondere von denjenigen falsch geschrieben, die die Definitionen und Erklärungen in Schulbüchern ernst nehmen und anwenden wollen.

Verben wiederum lassen sich im Satz nur selten semantisch identifizieren, weil sie dort in besonderen Formen erscheinen. Fragt man im ersten Satz nach der Tätigkeit, wird man kaum auf die Formen hat … beworben stoßen usw.

Ziel des Grammatikunterrichts

Das Problematische an dem Versuch einer semantischen Begriffsbildung liegt aber nur an der Oberfläche darin, dass Wortarten falsch klassifiziert werden. In der Tiefe geht es um viel mehr: Es geht um das eigentliche Ziel des Grammatikunterrichts. Der Horizont der Kinder und Jugendlichen sollte nicht beim Erfassen von Inhaltlichem enden, sondern so erweitert werden, dass sie die Sprache als System begreifen lernen. Dazu gehört auch, sprachliche Formen in Texten fokussieren zu können.

unangemessene Begriffsbildung und die Folgen

Ein „erster semantischer Zugang“ durchkreuzt dieses Ziel. Mit den semantisch begründeten Termini für syntaktisch begründete Einteilungen wird ein unangemessenes Begriffsverständnis angebahnt, und weil das Verb die zentrale Einheit für den Satz ist, kann dabei auch ein angemessenes Verständnis für die gesamte Grammatik verbaut werden. Das falsche Wissen erscheint den Kindern und Jugendlichen zunächst einfach, vielleicht allzu einfach. Im zweiten Anlauf, wenn das Tätigkeitswort zum Verb umgetauft wird, scheint sich nur der Terminus zu ändern, während der unangemessene Begriff, der hinter dem Terminus steht, als früh gelegte und ganz tiefe Spur das grammatische Wissen prägt und mitunter ein Leben lang wirksam ist.

Dies zeigt sich, wenn erfahrene Lehrkräfte, die Schulbücher verfassen, die unangemessene Vermittlung der Wortarten umstandslos auf die sog. Satzgliedlehre übertragen. In sage und schreibe zehn von 24 in Berlin und Brandenburg zugelassenen Schulbüchern wird das sog. Prädikat ausdrücklich als erfragbare Einheit eingeführt – man könne es beispielsweise mit „Was tut“ oder „Was geschieht“ erfragen. Das ist ein kaum zu überbietender Unsinn – wir werden darauf in Abschnitt 14.1 zurückkommen.

In Einheit 4 werden Sie das wichtigste Muster der deutschen Sprache kennenlernen – die sog. Feldgliederung, bei der das Verb die entscheidende Rolle spielt. Am Ende der vierten Einheit finden Sie auch methodische Hinweise, wie ein solcher Verbbegriff bereits in der Primarstufe gebildet werden kann. Warum ein syntaktischer Verbbegriff das Fundament einer didaktisch verantwortbaren Grammatik sein muss, erfahren Sie im folgenden Abschnitt.

2.2Das Verb und die Satzglieder

Das Verb ist der Schlüssel zum Verständnis der Sprachstruktur. Ob man etwas mitteilt, darstellt, wissen möchte, vermutet usw.: Verbhaltige Einheiten, die wir Sätze nennen, erscheinen beim Sprechen und Schreiben. Sätze sind allgegenwärtig und so selbstverständlich, dass wir uns zunächst einen Text anschauen wollen, der aus vorwiegend zweifelhaften Sätzen besteht.

Beispiel

(aus: Loriot: Das Frühstücksei, Zürich: Diogenes 2003, S. 77–79 © 2008 Diogenes Verlag AG Zürich)

Bundestagsrede

Meine Damen und Herren, Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch – ohne darum herumzureden – in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden. Ich kann meinen politischen Standpunkt in wenige Worte zusammenfassen: Erstens das Selbstverständnis unter der Voraussetzung, zweitens, und das ist es, was wir unseren Wählern schuldig sind, drittens, die konzentrierte Be-inhal-tung als Kernstück eines zukunftweisenden Parteiprogramms.

Wer hat denn, und das muß vor diesem hohen Hause einmal unmißverständlich ausgesprochen werden. Die wirtschaftliche Entwicklung hat sich in keiner Weise … Das wird auch von meinen Gegnern nicht bestritten, ohne zu verkennen, daß inBrüssel, in London die Ansicht herrscht, die Regierung der Bundesrepublik habe da – und, meine Damen und Herren … warum auch nicht? (…)

Der Text spielt auf unterschiedlichen Ebenen mit den Hörer- bzw. Lesererwartungen. Er enthält viele inhaltsschwere Worte – es gehe um einen „politischen Standpunkt“, um das „Kernstück eines zukunftsweisenden Parteiprogramms“. Trotz vieler Worte ist der Text erstaunlich inhaltsleer. Es erscheinen zahlreiche Verweise, die nicht ausgeführt werden – man könnte von Wegweisern sprechen, die nirgendwohin zeigen; hier nur zwei Beispiele:

Der Einschub im ersten Satz „… und davon sollte man ausgehen …“ nennt keinen Bezugspunkt, wovon man ausgehen sollte.

Im letzten hier wiedergegebenen Satz („Das wird auch von meinen Gegnern nicht bestritten …“) bleibt unklar, worauf das einleitende Das verweist.

Dass der gesamte Text so fragmentarisch wirkt, liegt zum einen daran, dass sich die aneinandergereihten Äußerungen inhaltlich nicht aufeinander beziehen und ihnen damit die inhaltliche Kohärenz fehlt. Wir hätten aber auch Schwierigkeiten, die einzelnen Äußerungen als „Sätze“ oder als abgeschlossene Gedanken zu bezeichnen. Der Grund dafür liegt in Loriots Umgang mit den Verben. Mit einem Verb ist in einem Satz ein Gedanke eröffnet, der auch abgeschlossen werden muss. Und dagegen verstößt Loriot bereits nach der Anrede:

Meine Damen und Herren, Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch – ohne darumherumzureden – in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden.

Ergänzungen des Verbs

Uns wird also vorenthalten, was Politik denn bedeute. Eine solche im Verb angelegte Information wird in Grammatiken als Ergänzung bezeichnet, und das Verb und seine Ergänzungen sind grundlegend für das, was wir sowohl grammatisch als auch inhaltlich als Satz oder Gedanken verstehen.

Valenz

Infinitiv

Zu jedem Verb gibt es ein oder auch mehrere Ergänzungsmuster – sie erinnern an das im Chemieunterricht vermittelte Bild von Atomen, die „ihre Ärmchen ausstrecken“ und eine bestimmte Anzahl und Art anderer Elemente an sich binden und so zu Molekülen werden. Aus der Chemie wurde auch der Fachterminus „Valenz“ (Wertigkeit) für dieses Phänomen entliehen. Da die Valenz eines Verbs unabhängig ist von seiner Konjugationsform im Satz, nutzen wir für Darstellungen der folgenden Art den Infinitiv, also die Grundform, die auch als Wörterbucheintrag benutzt wird. Das Verb bedeuten