Deutsche Wirtschaft und Politik - Marcel Boldorf - E-Book

Deutsche Wirtschaft und Politik E-Book

Marcel Boldorf

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Beschreibung

Die Wirtschaft beeinflusst die Politik, und die Politik beeinflusst die Wirtschaft. Beide stehen in einem spannungsvollen Wechselverhältnis, das sich im Laufe der Geschichte immer wieder verschoben hat: Dem späten Kaiserreich waren ordnungspolitische Eingriffe in die Wirtschaft noch weitgehend unbekannt. Das änderte sich, als mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg eine lange Phase wirtschaftlicher Regulierung begann. Während dann nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik eine Phase der Deregulierung einsetzte, ging die DDR zur Planwirtschaft über. Und seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist auch in der deutschen Politik die weltweite Deregulierung und Liberalisierung der Märkte spürbar. In seiner verständlichen und übersichtlich gegliederten Einführung erläutert Marcel Boldorf die Wirtschaftsordnungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland und ihre politische Einbettung. Er liefert so einen gut lesbaren Überblick zu einem grundlegenden Thema für das Verständnis unserer Welt.

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Seitenzahl: 285

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GESCHICHTE KOMPAKT

Marcel Boldorf wurde 1996 an der Universität Mannheim promoviert und 2003 am selben Ort habilitiert. Nach Stationen in Bochum, Saarbrücken, München, an der Humboldt-Universität, Frankfurt (Oder) und Köln hat er aktuell eine Professur für Deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Lyon 2 Lumière in Frankreich inne.

Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner, Volker Reinhardt

Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Uwe Puschner

Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Walter Demel, Merith Niehuss, Paul Nolte

GESCHICHTE KOMPAKT

Marcel Boldorf

Deutsche Wirtschaft und Politik vom Kaiserreich bis ins 21. Jahrhundert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildungsnachweis:

Bundesarchiv: S. 27, 48, 81, 83, 99, 129, 133;Bundesarchiv/Bundesregierung: S. 107, 114;akg.images: S. 143

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Redaktion: Dirk Michel, MannheimSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandabbildung: 1965: Bundeskanzler Ludwig Erhard besichtigtSchachtanlage des Steinkohlebergbaus. Foto: ©akg-images.Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26072-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-73772-7eBook (epub): 978-3-534-73773-4

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Inhaltsverzeichnis

Geschichte kompakt

Vorwort

  I. Von der liberalen Ära zum ordnungspolitischen Umbruch des Ersten Weltkriegs

1. Das Kaiserreich auf dem Weg zum Interventionsstaat

2. Reorganisation durch Kriegswirtschaft

Literaturhinweise

 II. Krisenjahre der Weimarer Republik

1. Nachkriegsordnung im Zeichen der Inflation

2. Interventionspolitik und finale Krise

Literaturhinweise

III. Wirtschaftsdeformation im Nationalsozialismus

1. Überwindung der Weltwirtschaftskrise

2. Rassistische Exklusion und korporativer Umbau der Wirtschaft

3. Staatliche Intervention im Vierjahresplan

4. Kriegswirtschaft

Literaturhinweise

IV. Das geteilte Deutschland im wirtschaftlichen Wettbewerb

1. Weichenstellungen der Besatzungszeit

2. Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland

3. Zentrale Verwaltungswirtschaft der DDR

Literaturhinweise

 V. Wirtschaftsfragen im vereinigten Deutschland

1. Ökonomische Transformation im Vereinigungsprozess

2. Ausblick auf die Berliner Republik

Literaturhinweise

Literaturverzeichnis

Register

Geschichte kompakt

In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

Kai Brodersen

Martin Kintzinger

Uwe Puschner

Volker Reinhardt

Vorwort

Das spannungsreiche Wechselverhältnis von Wirtschaft und Politik kann aus zwei Perspektiven angenähert werden: „Die Politik deformiert die Wirtschaft“ und „Die Wirtschaft treibt die Politik“. Beide Aphorismen hatten in Deutschland seit dem Kaiserreich Gültigkeit, wenn auch der erste Satz eine längere Periode starker Staatseingriffe und Regulierungen charakterisiert, während der zweite eher für das ausgehende 20. Jahrhundert steht. Dass die Wirtschaft die Politik treibt, ist eine jüngere Erfahrung, die heute insbesondere mit der auf den Finanzmärkten ausgelösten Wirtschaftskrise um das Jahr 2008 in Verbindung gebracht wird. Aber auch die Rekonstruktionsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem Ausbau der Sozialstaatlichkeit kann mit dem Denkansatz, dass die Politik von der Wirtschaft getragen wird, erklärt werden. Politische Regulierungen, die zur Deformation der Wirtschaft führten, stehen dagegen vor allem mit den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang. Aber selbst unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und relativ wirtschaftsliberalen Regierungen setzten sich Deregulierungen nur zögerlich durch, denn sie erforderten nicht nur ein politisches Umdenken, sondern hatten ein Anwachsen des allgemeinen Wohlstandes zur Voraussetzung.

Zwei Phasen relativ liberaler Wirtschaftsordnungen bilden den Rahmen für den Zeitabschnitt, den dieses Buch behandelt. Die weitreichende Liberalität in der Mitte des 19. Jahrhunderts war vom Vorbild des britischen Freihandels inspiriert. Der Staat enthielt sich der Wirtschaftsregulierung, oft war vom laisser faire die Rede. Eine gewisse Entsprechung fand diese Art des Wirtschaftsliberalismus im ausgehenden 20. Jahrhundert und wurde nun vielfach als Neoliberalismus bezeichnet. Mit der verstärkten Rezeption der Lehren der Chicagoer Schule wuchs ab den 1970er Jahren der Glaube an die Effizienz freier Märkte und die Skepsis gegenüber Staatseingriffen in die Wirtschaft nahm zu. Beispiele für den darauf folgenden Rückzug des Staates aus der Wirtschaft sind die Privatisierung ehemals staatlicher Wirtschaftsdomänen wie der Post, der Bahn oder der öffentlichen Versorgungsleistungen.

Zwischen den beiden liberalen bzw. nach Liberalisierung strebenden Perioden liegt unser Hauptbetrachtungszeitraum, der durch einen massiven staatlichen Interventionismus, kulminierend in den Kriegswirtschaftsordnungen, geprägt war. Die folgende Darstellung lässt die Wirtschaftsordnungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts sowie ihre politische Einbettung chronologisch Revue passieren. Im deutschen Kaiserreich entstand der Wille zu ordnungspolitischen Eingriffen in die Wirtschaft. Diese Tendenz verstärkte sich schlagartig mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Dabei setzte der schrittweise Übergang in eine gelenkte Kriegswirtschaft Prozesse in Gang, die teilweise längerfristige Wirkungen entfalteten. Die Schuldenfinanzierung des Ersten Weltkriegs kulminierte in der Inflationskrise des Jahres 1923. Ein System der Bewirtschaftung wurde für Rohstoffe und andere wirtschaftliche Inputfaktoren errichtet; spätestens mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916 unterlag der Arbeitsmarkt einer umfassenden staatlichen Lenkung. In der Demobilisierungsphase hoben die demokratischen Regierungen zwar manche Regulierung auf, doch verblieb die Wirtschaft aufgrund der geschaffenen Zwänge, zu denen sich neue wie die Reparationsbelastung gesellten, in einem engen Korsett. Hinzu kamen starke außenwirtschaftliche Einflüsse, die eine erfolgreiche Rekonstruktion behinderten: Weltweit ergriffen viele Staaten protektionistische Maßnahmen, die bis in die 1930er Jahre zu einer Bilateralisierung der Wirtschaftsbeziehungen führten. Die 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise lässt sich als Kulminationspunkt einer Entwicklung deuten, in der die wirtschaftlichen Zwänge die politischen Handlungsspielräume immer mehr einengten. In der vorgestellten Lesart war die Krise jedoch vielmehr ein Produkt politisch zu vertretender Regulierungen, die mit einem Konjunktureinbruch zusammentrafen. Auch Letzterer kann als Ergebnis des politisch gewollten Protektionismus gedeutet werden. Mithin trieb nicht die Wirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre die Politik, sondern es waren umgekehrt politische Entscheidungen, die als Ursache der Krise auszumachen sind.

In den 1930er Jahren setzte sich die Regulierungspolitik im internationalen wie im deutschen Kontext fort; ihr wichtigstes Kennzeichen blieb die Abkehr von einem multilateralen Handelssystem. In seiner spezifischen Zuspitzung stellte das NS-Regime die Weichen auf ein autarkes Wirtschaftssystem, das binnen weniger Jahre in eine umfassendere Kriegswirtschaft überführt wurde, als sie der Erste Weltkrieg gekannt hatte. Unter NS-Hegemonie fand nicht nur eine Deformation der Wirtschaft im Deutschen Reich statt, sondern große Teile Europas wurden in die erzwungene Umgestaltung einbezogen. Die Kriegsführung des NS-Machtapparates beruhte erneut auf Schuldenfinanzierung, zu der eine Vielzahl europäischer Länder über Besatzungskosten und ungleiche Handelsbedingungen zwangsweise Beiträge leisteten.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist als Periode der schrittweise erfolgenden Deregulierung zu beschreiben, zumindest wenn man die westdeutsche Entwicklung betrachtet. Der Startpunkt war die befreiende Wirkung der Währungs- und Wirtschaftsreform des Jahres 1948. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass in der Rekonstruktionsphase erst allmählich alle Wirtschaftsbeschränkungen, z.B. auf dem Kapital- oder Wohnungsmarkt, aufgehoben wurden. Das wirtschaftliche Wachstum, das historisch beispiellos war, eröffnete der Politik erhebliche Spielräume, insbesondere im Hinblick auf die Umverteilung des Volkseinkommens z.B. durch die Sozialversicherung. Erstmals seit Jahrzehnten stieg der materielle Lebensstandard, nachdem die Reallöhne 1950 noch kaum über dem Niveau von 1913 lagen.

Prinzipiell waren viele Elemente, die man mit dem Wirtschaftsaufschwung der Bundesrepublik verbindet, auch für Ostdeutschland gültig, wenn auch in abgeschwächter Form und nur im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Keinesfalls galt dies aber für die wirtschaftliche Liberalisierung, denn mit der Errichtung der Planwirtschaft wurde schon in der SBZ ein System eingerichtet, das die im frühen 20. Jahrhundert angewandten Regulierungen bei Weitem übertraf. Zunächst erwies es sich zwar für die Generierung von extensivem Wachstum als dienlich, scheiterte aber beim Übergang zu intensivem Wachstum. Die im Vergleich zur Bundesrepublik stark gebremste Wohlstandsentwicklung ließ die treibende Kraft der Wirtschaft immer mehr verebben. Gegen Ende der staatlichen Existenz der DDR mussten zur Sicherung des Konsums immer höhere Subventionssummen aufgewandt werden, was zulasten der Investitionen ging und die dem Plansystem immanente Wachstumsschwäche perpetuierte.

Die überdurchschnittlichen Wachstumsraten der Bundesrepublik hielten bis in die 1970er Jahre an, als externe Schocks für eine Abschwächung des Wachstums sorgten, was sogleich als Krisenphänomen gedeutet wurde. Mit dem Übergang zum Monetarismus fand eine weltweite Deregulierung und Liberalisierung der Märkte statt, die nun auch Bereiche betraf, die sich vorher geschützt unter staatlicher Obhut befanden. Die wirtschaftliche Liberalisierung entzog der Politik Handlungsmöglichkeiten, zumal die günstigen Effekte überdurchschnittlicher Wachstumsraten zunehmend entfielen. Die für das Jahrhundert kennzeichnende Entwicklung kehrte sich um: Die Wirtschaft, insbesondere die Finanzwirtschaft, trieb die Staatspolitik, die ihrerseits beträchtliche Mittel aufzubringen hatte, um das fragile kapitalistische Wirtschaftssystem zu stützen. Hauptkennzeichen dessen war die ab Mitte der 1970er Jahre entstehende Massenarbeitslosigkeit, die das staatliche Engagement dauerhaft herausforderte.

Grundsätzlich funktioniert die Wirtschaft auch ohne Politik, obwohl die Politiker oft das Gegenteil glaubhaft machen wollen. Wirtschaftspolitische Entscheidungen, die begrenzt gedacht waren, wirkten sich manchmal anders auf die Wirtschaft aus, als es die Akteure beabsichtigten. Allerdings scheint wirtschaftliche Entwicklung per se zu wachsender Staatspräsenz in der Wirtschaft und größerer politischer Einflussnahme zu führen. Das nach dem deutschen Ökonomen Adolph Wagner (1835–1917) benannte Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit beruht auf seiner Beobachtung, dass der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt mit fortschreitender Entwicklung ansteigt. Die der industriellen Gesellschaft eigene Komplexität forderte staatliches Handeln in vielfältiger Weise heraus. Zudem bewirkte die Entwicklung der Volkswirtschaften zu Dienstleistungsgesellschaften, dass der Staat immer mehr Leistungen verbrauchte und somit zu einem großen Teil selbst für die Entstehung des Sozialprodukts sorgte. Auch diese theoretischen Überlegungen zum säkularen Anstieg der Staatstätigkeit fließen in die folgende Darstellung zur Expansion der Wirtschaftspolitik ein.

I. Von der liberalen Ära zum ordnungspolitischen Umbruch des Ersten Weltkriegs

Überblick

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts existierte eine freie Marktwirtschaft, die ihre liberalen Grundzüge nach Gründung des Kaiserreichs immer mehr verlor. Mit der Popularisierung der Idee des Staatssozialismus rückten bis zur Jahrhundertwende wirtschaftspolitische Eingriffe immer häufiger auf die politische Agenda. Das Entstehen einer engen Verbindung von Staat und Wirtschaft, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts prägte, war nicht allein das Resultat der Kriegsanforderungen, sondern ist in längere Kontinuitätslinien einzubetten. Im Konkreten waren die ordnungspolitischen Umbrüche durch den Ersten Weltkrieg allerdings fundamental, zumal sie für die staatlichen Regulierungen der nachfolgenden Jahrzehnte als Modell dienten.

Zeittafel

 

Mai 1873

Gründerkrach

21. Oktober 1878

Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie

1879

Schutzzölle auf agrarische und industrielle Importgüter

1883, 1884, 1889

Gesetze zur staatlichen Kranken-, Unfall- und Altersversicherung

19. Dezember 1887

Gründung der Deutschen Kolonialgesellschaft

1893

Rheinisch-Westfälisches Kohlesyndikat und Bund der Landwirte

29. Februar 1904

Kartell des Deutschen Stahlwerksverbands

Dezember 1905

Denkschrift des Grafen von Schlieffen (Schlieffen-Plan)

1. August 1914

Kriegseintritt des Deutschen Reichs

4. August 1914

Bewilligung der ersten Kriegsanleihe durch den Reichstag

13. August 1914

Einrichtung der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium

Januar 1915

Rationierung durch Lebensmittelkarten für Brot und Mehl

22. Mai 1916

Errichtung des Kriegsernährungsamtes

Sept.–Dez. 1916

Umbau der preußischen Kriegslenkungsbehörden

5. Dezember 1916

Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst

Februar 1917

Einsatz von Reichskommissaren in den kriegswichtigen Sektoren

April 1917

Kohlesteuergesetz

1. Das Kaiserreich auf dem Weg zum Interventionsstaat

Mit der Reichsgründung 1871 setzte ein kurzzeitiger Aufschwung ein, der den Trend des seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Wachstums fortzusetzen schien. Daran geknüpfte überoptimistische Erwartungen führten zu vermehrten industriellen Investitionen sowie Spekulationen an der Börse. Die Euphorie endete wenig später durch eine Krise, für die eine Kombination von finanziellen Faktoren und Überinvestitionen verantwortlich zeichnete. Die bis zum Ende der 1870er Jahre anhaltende Gründerkrise wurde von den Zeitgenossen dramatischer wahrgenommen, als sie in einer rückblickenden quantitativen Betrachtung erscheint. Aus dem Verständnis des 20. Jahrhunderts betrachtet, handelte es sich lediglich um eine „Stockungsspanne“, der schon ab Mitte der 1890er Jahre ein erneuter Aufschwung folgte.

Gründerkrise

Immerhin unterbrach die Gründerkrise aber den ersten industriellen Konjunkturzyklus jäh. Sie präsentierte sich vorrangig als Krise der neuen Industrien und ihrer Vergesellschaftungsformen. Der Börsenwert der deutschen Aktiengesellschaften halbierte sich zwischen 1872 und 1873. Zahlreiche Betriebe gingen in Konkurs, was sich als Abbau der spekulativ aufgebauten Überkapazitäten interpretieren lässt. Die neue Gesellschaftsform der Aktienbank war in besonderer Weise betroffen: Von den gut 100 Aktienbanken, die im Gründerboom gegründet worden waren, gingen binnen kurzer Zeit mehr als zwei Drittel bankrott. Solche Krisenerscheinungen schienen auf das Ende der Blüte der industriell-gewerblichen Entwicklung zu deuten. Bei fallenden Preisen blickten die Politiker mit Besorgnis auf die Intensivierung des Wettbewerbs auf den internationalen und den nationalen Märkten. Zeitgenössische Berichte thematisierten vermehrt das Problem der Arbeitslosigkeit in der Industriegesellschaft. Mit Skepsis verfolgte die Reichsregierung unter Kanzler Otto von Bismarck (1815–1898) das Emporkommen der sozialdemokratischen Opposition.

Wirtschaftspolitische Wende

Die Wahrnehmung gewandelter politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse zog zwischen 1876 und 1884 eine Trendwende der deutschen Wirtschaftspolitik nach sich. Der Politikwechsel hatte langfristig wirksame Kennzeichen, die unter anderem in der zollpolitischen Wende des Jahres 1879 gründen. Noch zum Zeitpunkt der Reichsgründung hatte sich der neue deutsche Nationalstaat durch niedrige Importzölle ausgezeichnet, die an die preußische Freihandelspolitik anknüpften. Während des Gründerbooms erfolgte sogar eine unilaterale Öffnung des deutschen Marktes, d.h., im Vertrauen auf die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft senkte die Reichsregierung die Zölle unter das in Handelsverträgen festgelegte Niveau, ohne mit Gegenleistungen von den Vertragspartnern zu rechnen. Damit standen Landwirtschaft und Schwerindustrie der internationalen Konkurrenz auf dem inländischen Markt ungeschützt gegenüber. Angesichts gleichzeitig sinkender Transportkosten führte diese Marktöffnung zu bedeutenden Getreideimporten aus Übersee, insbesondere aus den USA. Trotz des wachsenden Einsatzes von Kunstdünger konnte die deutsche Landwirtschaft den neuen Wettbewerbern nicht die Stirn bieten. Gegen die wachsende Konkurrenz formierte sich eine starke Opposition der nichtkapitalistischen Kräfte in der Gesellschaft des Kaiserreichs, die vom Adel und den ostelbischen Großagrariern dominiert war.

Zollpolitik

Im Zuge der zollpolitischen Wende von 1879 erließ die Reichsregierung agrarische Schutzzölle, die insbesondere die Getreideimporte betrafen, aber auch die bereits abgeschafften Viehzölle wurden wieder eingeführt. Die Großagrarier begriffen derartige auf dem Neomerkantilismus fußende Maßnahmen als Schutz ihrer ökonomischen Basis. Die Rolle der agrarischen Schutzzölle darf nicht unterschätzt werden, denn selbst am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren noch knapp 40 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt, d.h., er umfasste fast genauso viele Erwerbstätige wie der gewerbliche Sektor.

Stichwort

Neomerkantilismus

Die merkantilistische Zoll- und Gewerbepolitik des 18. Jahrhunderts wollte den Absatz der heimischen Produzenten auf dem inländischen Markt vor auswärtiger Konkurrenz schützen. Im 19. Jahrhundert beurteilten die Nationalökonomen dieses Ordnungskonzept negativ, obwohl der absolutistische Staat durchaus rationale Erwägungen verfolgt hatte: Das Streben nach einer positiven Handels- bzw. Zahlungsbilanz war der Inbegriff des merkantilistischen Denkens. Die Herstellung veredelter Produkte im eigenen Land verhinderte, dass Geld, d.h. Edelmetall in Form von Silber oder Gold, in andere Länder abfloss. Die Veredelung der Rohstoffe im eigenen Land war wirtschaftsfördernd, denn dies schuf Arbeit und ließ neues gewerbliches Know-how entstehen. Zollschutz konnte zur Förderung der jungen Gewerbezweige dienlich sein.

Der Neomerkantilismus, den die zollpolitische Wende von 1879 einleitete, wich in relevanten Punkten vom Modell des 18. Jahrhunderts ab. Das deutsche Kaiserreich wies zu keinem Zeitpunkt eine aktive Handelsbilanz auf. Fortwährende Importüberschüsse führten zu einer defizitären Handelsbilanz, die allerdings durch die Dienstleistungsbilanz und die Nettoerträge aus dem Auslandsvermögen ausgeglichen wurde. Klassische Ziele der merkantilistischen Politik wurden nicht mehr verfolgt, denn Instrumente wie die explizite Exportförderungs- oder die Importsubstitutionspolitik fehlten. Unterdessen bereitete der Neomerkantilismus die Grundlage für das Entstehen der interventionistischen Wirtschaftspolitik, d.h. den Willen zur administrativen Einflussnahme auf den Wirtschaftsprozess.

Auch industrielle Lobbyisten forderten Zölle, darunter Vertreter bedeutender Branchen wie der Textil- und Schwerindustrie. Die Industriellen sprachen aber selten mit einer Stimme, zum Beispiel waren die Webereien an billigen Garnimporten aus England interessiert, während die Spinnereien auf den Schutz des inländischen Marktes drängten. Die heimischen Eisenproduzenten pochten auf Schutzzölle, während die weiterverarbeitenden Zweige der Schwerindustrie für billige Roheisenimporte eintraten. Aufstrebende neue Branchen wie der Maschinenbau, die Chemie- und die Elektroindustrie nahmen weltweit eine Führungsposition ein und hatten deshalb kein Interesse an Zöllen. Trotz dieses heterogenen Gefüges setzten sich – anders als in den Jahrzehnten zuvor – die Befürworter höherer Zölle durch. Die Regierung Bismarck führte in einer Reihe von Branchen Industriezölle ein, die vor allem die Basisprodukte wie Garne oder Roheisen betrafen. Deutschland stand mit seiner zollpolitischen Wende keineswegs allein, denn auch andere Länder, z.B. Frankreich 1881, gingen zu protektionistischen Zolltarifen über. Allein Großbritannien hielt die Fahne des Freihandels weiterhin hoch. In dieser Phase, die zudem durch den Beginn des imperialistischen Wettlaufs („scrumble for Africa“) geprägt war, ging die Welt, die sich für kurze Zeit auf dem Weg in einen globalen Freihandel befunden hatte, langfristig zu einer Abschottung der industriellen Großmächte voneinander über. Durch den Weltkrieg steigerte sich die antiliberale Handelspolitik zu einem internationalen Protektionismus, der in der Zwischenkriegszeit anhielt und erst mit der Liberalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg endete.

Innovationsdichte

Für Länder wie Deutschland, dessen Industrien sich an der Spitze des technischen Fortschritts bewegten, hemmten die hohen Zölle mancher Branchen die Ausfuhrgeschäfte nicht nachhaltig, wie man an der Mitte der 1890er Jahre einsetzenden Aufschwungphase erkennen kann. Sie beruhte nicht zuletzt auf einer starken Position im Exportgeschäft und erklärte sich durch große Produktivitätsfortschritte in den führenden Industriezweigen der Elektrotechnik, der Chemie und des Maschinenbaus. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international war die Zeitspanne bis zum Ersten Weltkrieg durch eine bemerkenswerte Innovationsdichte gekennzeichnet. Der russische Ökonom Nikolai Kondratjew (1892–1938) deutete die internationale Hochkonjunktur als erste industriell geprägte „lange Welle“ und betrachtete als ihre Grundlage die hohen Investitionen in neue Techniken.

Staatliche Intervention

Innenpolitisch verfolgte Bismarck mit der wirtschaftspolitischen Wende um 1879 das Ziel, die auch als Schutzzollparteien bezeichneten Konservativen für seinen Regierungskurs einzunehmen. Damit einher ging die Zurückdrängung der liberalen und freihändlerisch gesinnten Parteien. Die Erhebung von Agrar- und Industriezöllen hatte einen weiteren wichtigen Effekt, nämlich die Erhöhung der Reichseinnahmen, zumal die Regierung Gesetze zur Besteuerung importierter Genussmittel wie Tabak, Tee und Kaffee folgen ließ. Mit der Erhöhung der Staatseinnahmen vergrößerten sich die interventionspolitischen Spielräume. Die Staatsausgaben erreichten einen Anteil von 15 Prozent des Sozialprodukts, sodass der öffentliche Sektor zu einem nennenswerten Faktor im Wirtschaftskreislauf wurde. Bismarck erlaubte diese Entwicklung, sich einem zeitgenössisch als Staatssozialismus bezeichneten Gesellschaftsmodell zuzuwenden.

Stichwort

Staatssozialismus

Da der Marxismus nur wenig konkrete ordnungspolitische Vorstellungen bot, war der Staatssozialismus im Kaiserreich die eigentliche ordnungspolitische Alternativvorstellung zur Marktwirtschaft. Hans-Ulrich Wehler zufolge war er eine „paternalistische Reformbereitschaft einiger aufgeschlossener Konservativer“. Als Begründer der Denkrichtung galt der Nationalökonom Adolph Wagner; weitere namhafte Vertreter der auch als „Kathedersozialisten“ bezeichneten Gelehrten waren Werner Sombart (1863–1941) und Lujo Brentano (1844–1931). Wagner erweiterte den Eigentumsbegriff dadurch, dass er neben dem vorherrschenden privaten auch für staatliches bzw. öffentliches Eigentum eintrat. Die letzteren Formen ermöglichten die Gestaltung von Zugriffsrechten des Staates, sei es durch Verstaatlichung, Kommunalisierung oder Monopolisierung, sodass sich die privat erzielten Gewinne minderten. Als Mittel des Staatssozialismus empfahl Wagner eine gesellschaftspolitisch orientierte Fiskalpolitik, d.h. der Staat sollte Steuern erheben und Ausgaben tätigen, die einem sozialen Zweck genügten und damit zur Einkommensumverteilung beitrugen. Ein Beispiel war Bismarcks Vorschlag zur Finanzierung des Staatsbeitrags zur Sozialversicherung aus indirekten Steuern, die durch Errichtung eines staatlichen Tabakmonopols einzunehmen waren.

Das Konzept des Staatssozialismus stand, wie man es von der Begrifflichkeit vermuten könnte, der konservativen Wende keineswegs entgegen. Ein beredtes Beispiel dafür war das Verbot der sozialistischen Organisationen im Jahr 1878. Unter dem Vorwand der Verhinderung „gemeingefährlicher Bestrebungen“ billigte die konservative Reichstagsmehrheit ein Gesetz, das jenseits der allgemein gültigen Rechtsnormen auf die Zerschlagung und polizeiliche Verfolgung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zielte. Im Gegenzug zur politischen Unterdrückung leitete die Regierung Schritte zum Ausbau der staatlichen Verteilungspolitik ein, für die dank der Erhöhung der Staatseinnahmen größere Spielräume existierten. Das Kernstück des von Bismarck vorangetriebenen patriarchalischen Politikkurses war das System der Sozialversicherung, das im Sinne einer obrigkeitlichen Gewährung installiert wurde. Die zwischen 1883 und 1889 erlassenen Gesetze zur Errichtung der staatlich organisierten Pflichtversicherung deckten die drei grundlegenden Risiken der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung ab: Krankheit, Unfall sowie Alter und Invalidität. Überhaupt stiegen die Aufwendungen von Reich, Einzelstaaten und Kommunen für Bildung und Soziales. Trotz der aktiven Einflussnahme auf die Verteilung des Nationaleinkommens lässt sich im Kaiserreich noch keine zielgerichtete staatliche Wirtschaftspolitik ausmachen. Es existierten weder Konzepte noch Instrumente für eine Struktur-, Wachstums- oder Konjunkturpolitik.

Staatsloyale Bürokratie

Schließlich hatte die konservative Neuorientierung der bismarckschen Politik noch eine Auswirkung auf die Bürokratie, die gleichfalls langfristig wirksam war. Mit der Abkehr vom Liberalismus erfolgte eine systematische Auswechslung der freihändlerisch und liberal orientierten Staatsbeamten. Die unter Preußens Innenminister Robert von Puttkamer (1828–1900) in den 1880er Jahren unter strenger Anwendung der Sozialistengesetze betriebene Säuberung der Verwaltungen erhöhte die Einflussmöglichkeiten der staatstragenden korporativen Gruppen, insbesondere der preußischen Junker und der Großindustriellen. Diese Kräfte entwickelten sich zur Säule des Obrigkeitsstaates, weil sie Bismarcks Politikwechsel loyal unterstützten.

Wirtschaft und Kolonialismus

Dem Drang nach außen mittels des Erwerbs von Kolonien stand das deutsche Kaiserreich zunächst zögerlich gegenüber, wurde dann aber ab 1884/85 umso intensiver davon erfasst. Das Konzept des Sozialimperialismus unternahm den Versuch, die Deutung der innenpolitischen und wirtschaftlichen Situation des Kaiserreiches mit dem Wandel seiner Außenpolitik in Verbindung zu bringen.

Stichwort

Sozialimperialismus

Die These des Sozialimperialismus besagt, dass die Reichsregierung den aus der ungelösten Arbeiterfrage resultierenden innenpolitischen Druck durch außenpolitische Erfolge zu kompensieren suchte. Nach Hans-Ulrich Wehler handelte es sich um die „Strategie herrschender Eliten, […] die Dynamik der Wirtschaft und der sozialen und politischen Emanzipationskämpfe in die äußere Expansion zu leiten, von den inneren Mängeln des sozialökonomischen und politischen Systems abzulenken und durch reale Erfolge seiner Expansion […] zu kompensieren“. Als Argumente für die Annahme, dass expansive Außenpolitik zu wirtschaftlicher Prosperität führe, wurden die Schaffung neuer Absatzmärkte in den Kolonien und eine dortige Ansiedlung der überschüssigen Bevölkerung genannt. Die deutschen Siedlungskolonien seien zu fördern, um die Auswanderung nach Amerika einzudämmen. Der verschwindend geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Kolonien standen nach Max Weber (1864–1920) lediglich die „Beutegewinne“ einzelner Kolonialgesellschaften gegenüber, die von Lobbyisten wie dem Alldeutschen Verband oder dem Deutschen Flottenverein unterstützt wurden.

Wirtschaftliche Kolonialdebatte

Parallel zur konservativen Wende setzte im Kaiserreich eine Debatte um die Notwendigkeit territorialer Expansion ein, in der wirtschaftliche Argumente nicht unbedeutend waren. Eine große öffentliche Aufmerksamkeit erzielten Äußerungen wie diejenige des Journalisten und promovierten Theologen Friedrich Fabri (1824–1891), der als rheinischer Missionsinspektor mit der Ausbildung nach Übersee entsandter Missionare betraut war. Er trat vehement für deutsche Kolonialambitionen ein und betonte bei seinem Appell auch wirtschaftliche Argumente.

Quelle

Friedrich Fabri: Bedarf Deutschland der Kolonien?

Aus: Fabri, Friedrich: Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung, Gotha 1879, S. 1, 46 u. 110.

Es dürfte nachgerade an der Zeit sein, die Frage „Bedarf Deutschland der Colonien?“ zur öffentlichen Verhandlung zu bringen. Schon einmal, unter dem ersten Freudenrausch über das neu gebildete Deutsche Reich, im Jahre 1871/1872, durchflogen unsere Presse flüchtige Rufe nach Colonien. […] Sowohl die Reichsregierung, wie die öffentliche Meinung verhielten sich damals ablehnend, so dass der schwache Anlauf rasch wieder verflogen war. Heute liegen die Dinge wesentlich anders. […] Die Gründe für diesen Stimmungswechsel sind unschwer zu erkennen. Vornämlich drei Gesichtspunkte dürften in fraglicher Richtung bestimmend wirken: unsere wirtschaftliche Lage, die Krisis unserer Zoll- und Handelspolitik, und unsere sich mächtig entwickelnde Kriegsmarine. […] Wir bedürfen daher nicht nur einer gesunden Steuer- und Zollpolitik […], der baldigen Wiedergewinnung reichlicher, lohnender Arbeit; wir bedürfen neuer, fester Absatz-Märkte. […] Aber sollte die deutsche Nation, von Haus aus seetüchtig, gewerblich, wie merkantil befähigt, zur agriculturellen Colonisation vor anderen geschickt, und mit so reichlichen, verfügbaren Arbeitskräften ausgestattet wie kein anderes der modernen Cultur-Völker, nicht auch auf diesem neuen Wege sich erfolgreich Bahn brechen? Wir zweifeln daran um so weniger, je überzeugter wir sind, dass die Colonial-Frage heute bereits eine Lebens-Frage für die Entwicklung Deutschlands geworden ist.

Für Fabri war die kolonialpolitische Wende nicht nur Teil deutscher Großmachtpolitik, sondern verkörperte auch sein Verständnis einer aktiven Handelspolitik, die nicht mehr auf der Idee des Freihandels, sondern auf dem Schutzzollsystem basierte. Wirtschaftliche Argumente wie die Wiedergewinnung von Arbeit wurden mit der Forderung nach dem Erwerb von Kolonien für das Deutsche Reich verknüpft. Bei Anbruch des Zeitalters des Imperialismus verbanden führende Gruppen der deutschen Gesellschaft mit kolonialer Expansion die Hoffnung auf die Sicherung billiger Rohstoffquellen, die Schaffung von Absatzmärkten für industrielle Produkte und von Investitionsmärkten für den infrastrukturellen Ausbau, z.B. durch die Eisenbahn. Die öffentliche Meinung unterstützte den Erwerb von Kolonialbesitz bzw. die Sicherung von Einflusssphären in umstrittenen Gebieten wie China.

Finanzierung des Kolonialbesitzes

Ganz anders sah die Realisierung solch weitreichender außenwirtschaftlicher Hoffnungen aus. Der Konflikt um die wirtschaftliche Rolle der Kolonien entbrannte vor allem um die vorgezogene Reichstagswahl vom Januar 1907, der „Hottentottenwahl“, die notwendig wurde, weil das Parlament einen Nachtragshaushalt von 29 Millionen Mark zur weiteren Finanzierung des südwestafrikanischen Kolonialkrieges gegen die Nama ablehnte. Die Ablehnung der Kriegsfinanzierung begründeten die SPD sowie der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger (1875–1921), der ein halbes Jahr zuvor eine vernichtende „Kolonial-Bilanz“ vorgelegt hatte, mit den hohen Verwaltungskosten und dem geringen wirtschaftlichen Nutzen der Kolonien. Dagegen stemmten sich andere politische Gruppen, wie auf einem 1907 verteilten Flugblatt des Berliner Wahlausschusses der liberalen Parteien zu lesen ist: „Wenn die deutschen Kolonien gut ausgebaut und entwickelt werden, kann der deutsche Fabrikant an den Einkaufspreisen sparen und dafür seinen Arbeitern den Lohn erhöhen.“ Die dieser Aussage zugrunde liegende protektionistische Idee beruhte offensichtlich auf einer Kostensenkung für die Kolonialmacht, die mit Etablierung eines Exportmonopols an die inländischen Importeure weitergegeben werden sollte.

Prioritäten des Außenhandels

Die Vorstellungen vom außenwirtschaftlichen Nutzen der Kolonien entsprachen aber keineswegs der zeitgenössischen Realität. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der intraindustrielle Handel von ungleich größerer Bedeutung als der Handel mit den Kolonialgebieten. Für Deutschland galt wie für die übrigen europäischen Mächte, dass der Afrikahandel völlig vernachlässigenswert war. Insbesondere für Exporte spielte der neu kolonialisierte Kontinent keine Rolle, denn zwischen 1880 und 1910 gingen nur 1,4 Prozent der deutschen Exporte in afrikanische Länder. Selbst unter den afrikanischen Handelspartnern nahmen nicht die eigenen Kolonien, sondern das britische Südafrika und die nordafrikanischen Länder des Maghreb die führenden Positionen ein. Auch die Bilanz der Siedlungswirtschaft war keineswegs zufriedenstellend. Nur wenige deutsche Siedler ließen sich von den widrigen Klimaverhältnissen Südwestafrikas anziehen, wo profitable Agrarwirtschaft nur in Betrieben mit einer Größe von mehr als 5.000 Hektar zu betreiben war. Die Kosten für die Errichtung und den Unterhalt der tropischen Plantagen in Ostafrika, Kamerun und Togo lagen meist über deren Ertrag, sodass Produkte wie Baumwolle, Kautschuk, Erdnüsse, Palmöl, Nutzholz sowie Kaffee und Kakao auf dem Weltmarkt billiger zu erwerben waren. Nur die von Max Weber als Beutegewinne bezeichneten Profite einzelner Unternehmer stachen aus der negativen Kolonialbilanz heraus: Die 1888 an das Bergamt der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika vergebenen Minenschürfrechte sicherten die exklusive Förderung von Kupfer und Bleierzen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs beliefen sich die jährlichen Exportwerte auf fünf bis acht Millionen Mark, die aber als Gewinne der Einzelgesellschaft verbucht wurden. Die deutschen Kolonien nahmen keineswegs die Rolle eines privilegierten Außenhandelspartners ein und boten auch kaum geeignete Siedlungsflächen oder Anlagemöglichkeiten für agrarische und infrastrukturelle Investitionen. Darüber hinaus erwies sich die Kontrolle der Territorien als kostspielig, wie der mit großer Härte geführte Kolonialkrieg gegen Nama und Herero (1904–1907) zeigte.

Korporatismus

Hinsichtlich der gesellschaftlichen Verfasstheit gewannen korporative Gruppierungen an Gewicht. Den aufstrebenden Gewerkschaften stellten sich mächtige Arbeitgeberverbände entgegen, die sich zudem zu Kartellen und Syndikaten zusammenschlossen. Der Hintergrund war, dass die Industriellen nach dem Schock der Gründerkrise trotz einer allgemein liberalen Haltung am Nutzen der reinen Wettbewerbswirtschaft zu zweifeln begannen. Durch Übereinkommen mit den Unternehmern der gleichen Branche wollte man schrankenlose Konkurrenz eindämmen und Regelungen herbeiführen, um die Produktion annähernd dem Bedarf anzupassen und eine Überproduktion zu verhindern. Kartelle wurden als „Kinder der Not“ betrachtet, die mit der Zollpolitik des Reichs einen Schutz gegen die ausländische Konkurrenz böten.

Stichwort

Kartelle (Syndikate)

Der Begriff Syndikat bezeichnete ursprünglich einen regionalen, auf eine Branche bezogenen Zusammenschluss von Personen, auch in der Arbeiterbewegung. Er wurde auf eine besondere Form von Unternehmenskartellen übertragen, die sich an hoch entwickelten Formen des Kartells, vor allem den US-amerikanischen Trusts, orientierten. Als „Kartelle höherer Ordnung“ basierten Syndikate auf Übereinkünften zwischen selbstständigen Unternehmen, die in der Regel auf vertraglicher Basis geschlossen wurden, um den Wettbewerb zu beschränken. Klassischerweise waren Preisabsprachen mit dem Ziel der monopolistischen Beherrschung des Marktes am bedeutendsten.

Zu den wichtigsten deutschen Industriekartellen zählte das von 1893 bis 1945 existierende Rheinisch-Westfälische Kohlesyndikat. Seine gemeinsame Vertriebsorganisation hatte die Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Als Unternehmerzusammenschluss vereinigte es die Zechenbesitzer im Steinkohlebergbau des Ruhrgebiets. Ebenfalls von großer Bedeutung war der 1904 gegründete Deutsche Stahlwerksverband, der bei seiner Gründung 87,5 Prozent der deutschen Flussstahlproduktion umfasste. Der Zusammenschluss der Stahlindustriellen unterhielt eine zentrale Verkaufsgesellschaft mit Sitz im Düsseldorfer Stahlhof. Syndikate und Kartelle standen in herausragender Weise für die Vermachtung der deutschen Wirtschaft, weshalb die Alliierten nach 1945 auf ihr generelles Verbot drängten.

1887 gehörten acht der 100 größten deutschen Industrieunternehmen einem Syndikat an, 1907 waren es 71 Prozent. Das wirtschaftliche Gewicht dieser Organisationen stieg in dieser Periode, zum Beispiel wurden 1907 drei Viertel der Wertschöpfung des deutschen Bergbaus durch Kartelle erwirtschaftet. Gleichzeitig nahm die Anzahl der ursprünglich 19 Bergbaukartelle bis 1910 auf sechs ab. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg zählte man in den unterschiedlichen deutschen Wirtschaftszweigen rund 700 Kartelle. Neben der industriellen Konzentration formierte sich auch eine agrarische Lobby, insbesondere der Bund der Landwirte, der sich seit seiner Gründung 1893 gegen den nachlassenden Protektionismus in der Ära des Reichskanzlers Leo von Caprivi (1831–1899) richtete. Trotz einer breiten klein- und mittelbäuerlichen Basis stellten die als Junker bekannten ostelbischen Rittergutsbesitzer die Führungspersönlichkeiten in diesem wichtigsten agrarischen Interessenverband.

Unter dem Eindruck solcher Tendenzen zur Vermachtung formulierten selbst Liberale wie Friedrich Naumann (1860–1919) Konzepte für einen staatlichen Eingriff mittels Wirtschaftspolitik. Angesichts der vielen Interessengruppen, zu denen er auch Sozialisten und Bodenreformer zählte, würden der Staat und die Verbände zu wesentlichen Wirtschaftsfaktoren.

Quelle

Friedrich Naumann zum Wandel der Wirtschaftspolitik

Aus: Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, S. 27.

Der Einzelne ist seines Glückes Schmied! Man zerbrach die alten Verbände und Zünfte, um den einzelnen freizumachen, und verlangte vom Staat, dass er nichts anderes tue, als das Eigentum zu schützen und den einzelnen sich bewegen zu lassen. Mit viel echtem Idealismus wurde diese Kunde vom Sieg des Individualismus vernommen und weitergegeben. Und doch ist heute alles voll von Motiven anderer Art. Alle Teile des Volkes treten mit Forderungen an den Staat heran. Die Forderungen der Sozialisten und Bodenreformer, die auf öffentliche Regelung der Produktion, des Wohnungs- und Hypothekenwesens hinauslaufen, finden willige Hörer. Der Staat und die Verbände werden Wirtschaftsfaktoren, an deren Notwendigkeit man glaubt. So wirkte das Wachsen der Masse. […] Das heißt aber mit anderen Worten: die Wirtschaftsleitung wird den Produzenten aus der Hand genommen und geht teils in die Verbände, teils an den Staat über. Die Zahl der wirtschaftlich leitenden Personen wird immer kleiner. Oft ist die Leitung nur noch Schein.

Da sich selbst Liberale für den Staat als Wirtschaftsakteur aussprachen, schien der Weg für die gesetzliche Implementierung des Staatsinterventionismus bereitet. Durch den Kriegsausbruch trat der Umbruch der wirtschaftspolitischen Rolle des Staates allerdings viel schneller und anders als erwartet ein.

2. Reorganisation durch Kriegswirtschaft

Mit der Notwendigkeit, die Wirtschaft auf die Anforderungen des Krieges umzustellen, sah sich die Staatspolitik einer völlig neuen Aufgabe gegenübergestellt. Insofern könnte man annehmen, dass 1914 die Stunde der Politik schlug und der Staat energisch in den Wirtschaftsprozess eingriff, um die Wirtschaft auf Kriegskurs zu bringen. Jedoch waren den regulierenden Eingriffen erhebliche Grenzen gesetzt, weil es an konzeptionellen Vorüberlegungen für eine Kriegswirtschaftsplanung weitgehend fehlte.

Mangelhafte Mobilisierung

Noch bei Kriegsausbruch rechneten weder die Oberste Heeresleitung (OHL) noch die Industriellen damit, dass eine besondere wirtschaftliche Mobilisierung notwendig sei. Nach Ansicht des Generals Alfred von Schlieffen (1833–1913), dessen Vorkriegsplanung den schnellen Sieg gegen Frankreich mittels eines Angriffs über Belgien vorsah, wäre ein langwieriger Krieg ohnehin nicht führbar, weil der moderne Staat auf den ungebrochenen Fortgang von Handel und Industrie angewiesen sei. Die Annahme, dass modernes Wirtschaften nicht mit dem Krieg zu vereinbaren sei, verstellte auch den Blick auf die mögliche Planung der kriegswirtschaftlichen Mobilmachung. Obgleich die Militärs durchaus Überlegungen zur Intensivierung der Rüstungsproduktion anstellten, wiegten sie sich in der Hoffnung, dass man sich auf die staatlichen Rüstungsfirmen verlassen könne und nur wenige größere private Rüstungsunternehmen wie z.B. Krupp einbeziehen müsse. Die Industriellen rechneten ihrerseits nicht mit einer umfassenden Rüstungsproduktion für die Zwecke des Heeres. Überhaupt kam ihnen der Krieg ungelegen, weil er den Außenhandel störte, an dem sie unter anderem durch das Flottenbauprogramm in lukrativer Weise partizipierten.

Prekäre Rohstofflage

Walther Rathenau (1867–1922), Präsident der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), und der leitende Beamte Wichard von Moellendorf (1881–1937) gehörten zu den wenigen, die die prekäre Rohstofflage realistisch einschätzten, denn Deutschland war 1913 auf den Import von rund 40 Prozent seiner Rohstoffe angewiesen. Mit Erfolg bemühten sie sich in den ersten beiden Kriegswochen um die Einrichtung einer Kriegsrohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium. Damit wurde einer Landesbehörde die nationale Aufgabe der Rohstoffbewirtschaftung übertragen. Zur Durchführung der Lenkungsaufgaben bildeten sich sogenannte Kriegsrohstoffgesellschaften, die meist als Aktiengesellschaften organisiert waren. In ihren Aufsichtsräten saßen vor allem Ministerialbeamte, während ihre Vorstände aus den kriegswichtigen Großunternehmen stammten. Die Rohstofflenkung bildete den Ausgangspunkt für eine kriegswirtschaftliche Ordnungspolitik, die sich anfangs zögerlich entwickelte. Neben der Importaktivierung bzw. -substitution gehörte zu ihren Aufgaben die Erfüllung folgender Hauptanliegen: die Anregung der Rüstungsgüterproduktion, die im Verlauf des Kriegs immer stärker wachsen sollte, die Schließung der aufgrund der Mobilisierung entstehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt, die Finanzierung des wachsenden Staatsverbrauchs.

Stichwort

Burgfrieden und Kriegsfinanzierung