Deutschland als multireligiöser Staat – eine Herausforderung - Hans Markus Heimann - E-Book

Deutschland als multireligiöser Staat – eine Herausforderung E-Book

Hans Markus Heimann

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Beschreibung

In seinem hellsichtigen und scharfsinnig argumentierenden Buch ›Deutschland als multireligiöser Staat‹ zeigt der renommierte Jurist und Staatsrechtler Hans Markus Heimann die Herausforderungen, denen sich Deutschland zukünftig als multireligiöser Staat stellen muss. Wie weit sollte der Staat in die Ausübung der Religion eingreifen? Sollen die Beschneidung oder die Burka verboten werden? Ist die staatlich eingezogene Kirchensteuer noch zu rechtfertigen, wenn in zehn Jahren voraussichtlich die Hälfte der Bevölkerung weder katholisch noch evangelisch sein wird? Kopftuch oder Kruzifix – die Frage, ob religiöse Symbole in Schulen benutzt werden sollten, ist nur eine von vielen, die sich im Einwanderungsland Deutschland heute stellen. Hans Markus Heimann zeigt nicht nur, wie brisant das Verhältnis zwischen Religion und Staat in Deutschland heute schon ist. Er entwickelt auch konkrete Vorschläge, wie die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit in der Praxis gestaltet werden kann. Denn nur ein multireligiöser Staat kann der wachsenden religiösen Vielfalt in Deutschland gerecht werden und ein friedliches Zusammenleben garantieren.

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Hans Markus Heimann

Deutschland als multireligiöser Staat – eine Herausforderung

FISCHER E-Books

Inhalt

I. Deutschland als multireligiöser StaatII. Das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland1. Neutralität2. Laizismus3. Parität4. Neutralitätsausnahmen5. ToleranzIII. Die grundrechtliche Dimension: Religionsfreiheit als »magna charta« des multireligiösen Staates1. Die Religionsfreiheit im System der GrundrechteReligionIndividuelle ReligionsfreiheitKollektive ReligionsfreiheitEingriff und Eingriffsrechtfertigung2. Religiöse Gleichheit3. Religionsfreiheit im staatlichen Mehrebenensystem4. Aktuelle KonfliktfelderReligiöse Symbole in staatlichen RäumenReligionsfreiheit in staatlichen EinrichtungenReligiös motivierte BekleidungSchächtenBeschneidungGlockengeläut und MuezzinrufKirchenasylReligionsgemeinschaften und ArbeitsrechtStrafrechtlicher Schutz der ReligionIV. Die historische Dimension: Religionsrecht staatskirchlichen Ursprungs1. Religionsrecht als historisches Recht2. Körperschaftsstatus3. Finanzierung von ReligionsgemeinschaftenKirchensteuerStaatsleistungenSubventionen4. Schulischer ReligionsunterrichtReligionsunterricht in der Konzeption des GrundgesetzesInhalt und Legitimation von ReligionsunterrichtIslamischer ReligionsunterrichtGrenzen für Glaubensinhalte im ReligionsunterrichtIntegration durch schulischen Religionsunterricht5. Theologie an staatlichen Hochschulen6. Verträge zwischen Staat und ReligionsgemeinschaftenV. PerspektivenAnhangAnmerkungenAbkürzungenGesetzestexte: Normen mit Bezug zum ReligionsrechtGrundgesetzEuropäische MenschenrechtskonventionVertrag über die Arbeitsweise der Europäischen UnionCharta der Grundrechte der Europäischen UnionStrafgesetzbuch

I.Deutschland als multireligiöser Staat

Religion und Religionsausübung stellen das Zusammenleben von Menschen immer wieder vor neue Herausforderungen. Auch ein scheinbar eingespieltes Verhältnis von Staat und Religion kann durch die Konfrontation mit bisher fernen Religionen als Folge von Migrationsbewegungen oder durch Veränderungen bei etablierten Religionen in neuem Licht erscheinen. In Deutschland – wie auch in anderen Ländern des Westens – ergeben sich neue Fragestellungen derzeit vor allem durch einen wachsenden und gesellschaftlich präsenter werdenden islamischen Bevölkerungsanteil, der hier mit einem in vielen Jahrhunderten ausdifferenzierten säkularen Verständnis des Staates konfrontiert wird. Dabei offenbaren sich nicht selten unterschiedliche Auffassungen von Religion und ihrer Rolle im Gemeinwesen. Ein Grund dafür ist die Ungleichzeitigkeit der Säkularisationsprozesse in Deutschland und in den genuin islamischen Staaten. So führen religiös motivierte Verhaltensweisen von Muslimen oft zu Konflikten, da sie in der deutschen Gesellschaft ungewohnt sind. Genannt seien nur einige wenige Beispiele: Darf eine Lehrerin in der Schule ein Kopftuch tragen? Dürfen Tiere aus religiösen Gründen geschächtet werden? Dürfen Jungen (oder gar Mädchen) einer Beschneidung unterzogen werden? Soll ein Zeichner aufgrund satirischer Karikaturen, die den Propheten Mohammed zeigen, wegen Religionsbeschimpfung verurteilt werden? Eine die Gesellschaft befriedende Antwort auf diese Fragen scheint im Moment die drängendste Herausforderung im Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland und in den Staaten des Westens zu sein. Dabei ist das Meinungsspektrum denkbar weit: Die einen stellen das gegenwärtige System grundsätzlich in Frage und fordern, es müsse sich stärker für den Islam öffnen. Von anderer Seite wird gewünscht, dass die Grenzen der Religionsfreiheit nicht zur Disposition gestellt und deutlicher hervorgehoben werden. Es gibt auch Stimmen, die vom Islam eine Anerkennung des Primats der deutschen Kultur fordern – wie auch immer diese, gerade im Hinblick auf Fragen der Religion, zu definieren ist. Und nicht zuletzt wird gelegentlich sogar alles Religiöse als unaufgeklärt abgelehnt. Vielfach zeigen sich in der öffentlichen Diskussion diffuse Ängste gegenüber dem Islam[1], der unter dieser Bezeichnung freilich – nicht anders als das Christentum – sehr unterschiedliche Richtungen vereint, die sich zum Teil sogar ablehnend gegenüberstehen: »Den« Islam gibt es also gar nicht.

Doch wäre der Blick verengt, würde man in diesem Zusammenhang allein den Islam betrachten: Auch bei den Kirchen schreitet der Veränderungsprozess weiter voran, sie müssen in Deutschland den Wandel vom Status der »Volkskirche« zu zwar immer noch bedeutenden, aber schwächer werdenden Religionsgemeinschaften bewältigen. Damit geht eine Neuausrichtung ihres Verhältnisses zum Staat einher. Die in der alten Bundesrepublik weithin angenommene Überschneidung der Interessen von Politik und Kirchen wird geringer, Staat und Kirchen entfernen sich voneinander. Zudem entstehen neue Gemeinschaften auf christlicher Grundlage, die zuweilen fundamentalistische Züge aufweisen. Durch Zuwanderung kommen weitere Religionen hinzu, die – so wie früher auch der Islam – erst mit Verzögerung als solche in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Und schließlich stellt die größer werdende Zahl derer, die gar keiner Religionsgemeinschaft angehören, das traditionell freundliche Verhältnis der Bundesrepublik zur Religion in Frage. Im Jahr 2014 gehörten der römisch-katholischen Kirche 29,9 Prozent der Bevölkerung an, der evangelischen Kirche 28,9, den evangelischen Freikirchen 0,9, den orthodoxen Kirchen 1,3 und den jüdischen Gemeinden 0,1 Prozent; als keiner Religionsgemeinschaft zugehörig gilt ungefähr ein Drittel der Bevölkerung. Da der Islam nicht mitgliedschaftlich organisiert ist, kann die Zahl der Muslime nur geschätzt werden: Die Annahmen bewegen sich zwischen 2,6 und 7 Prozent der Bevölkerung, angesichts des Flüchtlingsstroms mit zunehmender Tendenz.[2] Dabei existieren große regionale Unterschiede, so gehören derzeit noch 75 Prozent der Bevölkerung in den alten Bundesländern einer der beiden großen Kirchen an, während dies in den neuen Ländern für nur noch 20 Prozent gilt. Bei einer gleichbleibenden Entwicklung ist davon auszugehen, dass 2025 die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland nicht mehr einer der großen Kirchen angehören wird.[3] Vor diesem Hintergrund müssen also viele eingespielte Verfahrensweisen ihre Legitimität neu erweisen oder werden sie verlieren.

Nun ist das Verhältnis von Staat und Religion mit seinen zahlreichen, von der Bevölkerung oftmals sehr emotional wahrgenommenen Facetten ein rechtlich normiertes. Es existiert also ein vom Staat vorgegebener rechtlicher – vor allem verfassungsrechtlicher – Rahmen, und dieser muss in einer Demokratie als alleiniger Beurteilungsmaßstab dienen. Letztlich lassen sich alle Fragestellungen mit Religionsbezug am Grundgesetz messen, und hier insbesondere an Art. 4 GG, der die Religions- und Weltanschauungsfreiheit schützt. Ein solcher rechtlicher Maßstab ist bereits das Ergebnis eines säkularen Prozesses, denn er impliziert, dass Religion sich dem Staat und seinen Rechtsnormen unterzuordnen hat und ihm nicht gleichgeordnet ist oder gar vorgeht. Staat und Religion sind grundsätzlich getrennt, dem Staat obliegt die Regelungshoheit. Was uns heute selbstverständlich erscheinen mag, war noch in der Anfangszeit der Bundesrepublik nicht unumstritten, als es Strömungen gab, die dafür eintraten, den Kirchen eine bevorrechtigte Stellung innerhalb des Staates zuzusprechen.[4] Der Normenkomplex, der das Verhältnis von Staat und Religion regelt, ist Teil des Staats- und Verfassungsrechts und nennt sich traditionell »Staatskirchenrecht«, wird heute aber überwiegend neutraler als »Religionsrecht« (oder auch »Religionsverfassungsrecht«) bezeichnet.[5] Wie zu allen rechtlichen Fragen hat sich auch im Religionsrecht im Zusammenspiel von Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre eine Dogmatik – ein rechtswissenschaftlicher Diskussionsstand – herausgebildet. Hier liegt das erste Anliegen dieses Buches: Über die Funktionsweise der Religions- und Weltanschauungsfreiheit und die weiteren Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion herrscht verbreitet Unklarheit. Den bestehenden grundgesetzlichen Maßstab und seine historischen Voraussetzungen vor Augen zu haben ist aber für die Diskussion der aktuellen Herausforderungen notwendig. Alles andere würde der staatlichen Wirklichkeit nicht gerecht. Damit allein kann es jedoch nicht sein Bewenden haben: Es muss auch die Frage gestellt werden, ob das gegenwärtige System der aktuellen Situation noch angemessen ist: Die rechtlichen Strukturen sind also auf ihre Legitimität hin zu untersuchen. Auch wenn die Normen des Grundgesetzes nur unter erschwerten Bedingungen verändert werden können, sind sie keineswegs der verfassungspolitischen Diskussion entzogen. Sollten die derzeitigen Verfassungsvorgaben nicht mehr passen, muss um die erforderlichen Mehrheiten geworben werden, um das Grundgesetz zu ändern. Insofern ist das zweite Anliegen des Buches der Entwurf eines Tableaus, das die aus heutiger Sicht für den freiheitlichen Staat notwendigen Grundkonstanten zu religiösen Fragen markiert – und ebenso das, was überholt oder verzichtbar erscheint.

Das Grundgesetz lässt in seinen Normen zu Religion und Weltanschauung eine Zweiteilung erkennen. Zum einen gewährt Art. 4 GG die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Grundlage des religiösen Zusammenlebens. Religion und Religionsausübung haben unter dem Grundgesetz eine zuvor unbekannte Freiheitsgewährung durch den Staat und gegenüber dem Staat erfahren. Wie immer in multipolaren Grundrechtskonstellationen kann die Inanspruchnahme religiöser Freiheit aber die Freiheiten Dritter beschneiden oder grundlegende Verfassungskonstanten tangieren, zumal letztlich alle Lebensbereiche als Teil der Religionsausübung verstanden werden können. Gerade hier muss angesichts neuer gesellschaftlicher Entwicklungen stets ein neuer Ausgleich gefunden werden. Wie können die staatlichen Rahmenbedingungen in einer religiös und weltanschaulich immer heterogeneren Gesellschaft so organisiert werden, dass jedem Einzelnen ein Höchstmaß an religiöser Freiheit zugebilligt wird, zugleich aber die Grenzen deutlich werden, die wegen entgegenstehender Verfassungsrechte von niemandem überschritten werden dürfen? Die hierbei zu treffende Entscheidung, die letztlich fast immer auf Abwägungen zwischen konfligierenden Verfassungsrechtsgütern basiert, kann nur schwer explizit durch das Grundgesetz vorgegeben werden; sie ist, auch wenn sie durch das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage von Normtexten getroffen wird, eine Entscheidung, die ihren politischen Charakter nicht verleugnen kann.

Die sich so ergebenden vielen Facetten der Religions- und Weltanschauungsfreiheit werden im ersten Teil des Buches dargelegt; hier wird auf ihre Funktionsweise eingegangen und gefragt, welche Prinzipien für das staatliche Handeln aus dem Grundgesetz abgeleitet werden können: Versteht sich Deutschland gegenüber Religion als tolerant, neutral, paritätisch, laizistisch? Ausgehend von dieser Grundlegung lassen sich dann Vorschläge für gegenwärtige Konfliktfelder machen, die sich sowohl in staatlichen Einrichtungen (zum Beispiel Kopftuch oder Kruzifix in der Schule etc.) als auch im privaten Raum (zum Beispiel Beschneidung, allgemeines Verbot der Burka etc.) zeigen können. Ein näherer Blick wird auf Arbeitsverhältnisse mit Religionsgemeinschaften – insbesondere mit den Kirchen – geworfen, deren spezifische Rahmenbedingungen vielfach auf Unverständnis stoßen. In einem weiteren Sinne hängt auch der strafrechtliche Schutz von Religion mit der Religionsfreiheit zusammen; die Strafbarkeit der Religionsbeschimpfung wird seit dem Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris auch in Deutschland wieder stärker diskutiert.

Der zweite Teil widmet sich dann dem spezifischen deutschen Regelungserbe. Dieses eröffnet seit 1919 weitgehend unverändert für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verschiedene organisatorische Möglichkeiten, die zur grundrechtlichen Religions- und Weltanschauungsfreiheit hinzutreten und die für dieses Verhältnis im übrigen geltenden Prinzipien zum Teil modifizieren. Zu nennen sind hier beispielsweise der Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften, das Recht zur Steuererhebung (»Kirchensteuer«), die Staatsleistungen an die Kirchen, der schulische Religionsunterricht oder auch die Existenz theologischer Fakultäten. Die Diskussion um diese in der Öffentlichkeit ohnehin schon umstrittenen Gewährleistungen erhält eine weitere Dimension, wenn zu entscheiden ist, ob sie auch von anderen Religionen als den bisherigen Nutznießern, also vor allem vom Islam, in Anspruch genommen werden dürfen.

Selbstverständlich kann die Frage gestellt werden, welche Relevanz dies alles für jemanden hat, der dem Religiösen fernsteht und die in diesem Zusammenhang auftretenden Probleme für sich selbst als irrelevant betrachtet. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Position des Staates zu den Erscheinungsformen von Religion alle Bürger und nicht nur die religionsaffinen betrifft. Die Bewahrung religiösen Friedens durch eine zumindest vom überwiegenden Teil der Bevölkerung akzeptierte Ordnung von Religion und Religionsausübung ist eine Grundvoraussetzung für den innerstaatlichen Frieden – aus meiner Sicht ebenso wichtig wie der soziale Frieden. Auch wenn religiöser Frieden zumindest in der Geschichte der Bundesrepublik als selbstverständlich erscheint, zeigt der Blick in die deutsche Vergangenheit ebenso wie auf andere Staaten, dass er in Wahrheit höchst fragil ist: Die Zahl der Kriege, Bürgerkriege und innerstaatlichen Konflikte, die zumindest auch auf religiösen Differenzen beruhen, ist beinahe unübersehbar. Und auch in Deutschland ist noch nicht ganz in Vergessenheit geraten, wie ausgeprägt beispielsweise die Gegensätze zwischen den Angehörigen der beiden großen Kirchen noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren. Zugleich gibt die spezifische deutsche Religionsgeschichte Anlass zu der Hoffnung, den religiösen Herausforderungen gerecht werden zu können. Seit der Reformation bestand in praktisch allen Teilen Deutschlands immer die Notwendigkeit, einen Modus Vivendi für das Zusammenleben der lange Zeit sehr antagonistischen christlichen Konfessionen zu finden. Anders als in konfessionell homogenen Staaten bildete sich so über die Jahrhunderte mit zahlreichen religiösen Konflikten ein verfassungsrechtliches Instrumentarium heraus, das es ermöglicht, mit religiöser Differenz angemessen umzugehen. Und nicht zu vergessen ist die Katastrophe des Dritten Reichs, die gerade in Deutschland ständig in Erinnerung ruft, wohin die Ausgrenzung des (scheinbar) anderen – und damit auch des religiös oder weltanschaulich anderen – führen kann.

Vor diesem Hintergrund mag der im Titel verwendete Begriff »multireligiöser Staat« auf den ersten Blick ungenau wirken, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen könnte er so verstanden werden, dass hier der multireligiöse Staat in abstrakter Form beschrieben wird, gleichsam als von lokalen Erfahrungen losgelöstes Idealmodell. Dies ist jedoch kaum möglich, da nichts so sehr von der jeweiligen Geschichte und den jeweiligen nationalen Erfahrungen und Befindlichkeiten geprägt ist wie die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion. Selbst innerhalb Europas hat jedes Land seine eigenen, durchaus sehr unterschiedlichen Lösungen gefunden, angefangen von bis heute existierenden staatskirchlichen Systemen bis hin zu Systemen weitgehender Laizität. Hieran zu rütteln, traut sich bisher nicht einmal die Europäische Union, der die Mitgliedsstaaten aus guten Gründen keine Kompetenzen für die Regelung religionsrechtlicher Fragen übertragen haben. Zum anderen ist eigentlich nicht der deutsche Staat multireligiös – er ist religiös und weltanschaulich neutral –, sondern allenfalls die Gesellschaft in Deutschland. Doch selbst eine solche Zuschreibung – und das ist die dritte Ungenauigkeit – lässt außer Acht, dass ein zunehmend größer werdender Teil der deutschen Bevölkerung gar keiner Religion mehr angehört.

Dennoch hat der Titel seine Berechtigung, da er das Augenmerk auf den entscheidenden Punkt lenkt: Auch wenn es die Bewohner eines Staates sind, die bereits heute – trotz nach wie vor bestehender Dominanz des Christentums – religiöse Vielfalt aufweisen, müssen doch der Staat und seine Institutionen Antworten auf die Herausforderungen durch religiös motivierte Fragen finden. Der Staat ist es, der die Religionsfreiheit gewährt, sichert und ihre Grenzen zieht; dies wird mit der Formulierung des »multireligiösen« Staates verdeutlicht. Eine Erweiterung des Attributs um »weltanschaulich« würde diesen Schwerpunkt schwächen, denn die Herausforderungen haben ihren Ursprung ganz wesentlich im Religiösen, nicht aber im Bereich der Weltanschauung: In Deutschland sind nur ungefähr 37000 Personen in weltanschaulichen Zusammenschlüssen organisiert.[6]

Und schließlich bietet das deutsche religionsrechtliche System trotz aller nationalen Bezüge auch die Möglichkeit, allgemeine Aussagen zu treffen: Die Antworten auf Grundlage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Grundgesetzes können für andere Staaten von exemplarischem Interesse sein, da hier stets die Religions- und Weltanschauungsfreiheit mit anderen Grundrechten und Verfassungsrechtsgütern ins Verhältnis gesetzt wird. Dies stellt sich für andere westliche Verfassungen oder für die Europäische Menschenrechtskonvention nicht grundsätzlich anders dar. Zwar haben sich hier seit Inkrafttreten des Grundgesetzes insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spezifische Auffassungen herausgebildet, die trotz prinzipiell vergleichbarer Normen in anderen Ländern auch entgegengesetzten Inhalts sein können; das Burkaverbot in Frankreich oder Belgien würde in Deutschland wohl allgemein als Verletzung der Religionsfreiheit verstanden werden. Dennoch gilt: Wenn die grundrechtlichen Fragestellungen vergleichbar sind, können auch die Antworten hierauf in sich zunehmend angleichenden Gesellschaften allgemeine Beachtung finden. Deutschland ist also heute und noch mehr in der Zukunft als multireligiöser Staat zu verstehen. Die Bezeichnung allein kann jedoch nur einen ersten Hinweis geben. Entscheidend für die Lösung aller Fragen und Spannungen ist das religionsrechtliche System selbst, wobei die Antworten, die es bereitstellt, gesellschaftlich akzeptiert sein müssen.

II.Das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland

Das Verhältnis von Staat und Religion ist in Deutschland in erster Linie verfassungsrechtlich determiniert, die grundlegenden Rahmenbedingungen werden durch das Grundgesetz und – bisher jedoch von deutlich geringerer Bedeutung – durch die Europäische Menschenrechtskonvention vorgegeben. Von der grundlegenden Gewährleistung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Art. 4 GG abgesehen, die in dieser oder ähnlicher Form praktisch in allen westlichen Staaten existiert, sind die weiteren Regelungen des Grundgesetzes in besonderer Weise historisch geprägt. Sie sind gleichermaßen Ausdruck der langjährigen spezifischen Erfahrungen mit Religion in Deutschland und Ergebnis von Kompromissen nach historischen Umbruchsituationen, insbesondere während der Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung und zum Grundgesetz. Genau betrachtet sind die gegenwärtigen Verfassungsregelungen die politische Antwort auf den religiös-gesellschaftlichen Zustand unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor Inkrafttreten des Grundgesetzes. Sie bilden ein im Verhältnis zur Religion grundsätzlich säkulares Staatsverständnis ab, das als Kompromiss der Beratungen zum Grundgesetz einzelne christlich-deutsche Traditionen berücksichtigt und auf diese Weise spezifische deutsche Elemente des ursprünglichen Staatskirchenrechts in bekenntnisneutraler Formulierung fortschreibt – ähnlich, wie dies schon die Weimarer Reichsverfassung getan hatte.

Die Regelungen zu Religion und Weltanschauung finden sich im Grundgesetz im Wesentlichen an drei Orten: Zentral ist zunächst die bereits erwähnte »Grundnorm« der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Art. 4 GG; sie wird gleichheitsrechtlich von Art. 3 Abs. 3 GG (und für den öffentlichen Dienst nochmals ausdrücklich in Art. 33 Abs. 3 GG) flankiert, indem Religion als Kriterium für eine Ungleichbehandlung ausgeschlossen wird. Des Weiteren gewährleistet Art. 7 Abs. 2 und 3 GG die Existenz schulischen Religionsunterrichts. Schließlich normieren drittens Art. 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung insbesondere die institutionellen Fragen der Religionsgemeinschaften wie den Körperschaftsstatus, die Kirchensteuer oder die Anstaltsseelsorge. Diese Artikel der Weimarer Reichsverfassung werden von Art. 140 GG als vollgültiger Bestandteil in das Grundgesetz inkorporiert, sie sind also ebenso Normen des Grundgesetzes wie seine sonstigen Artikel, auch wenn auf sie nur verwiesen wird. Diese ungewöhnlich erscheinende Form der Normsetzung hat ihren Grund allein darin, dass die in den Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung sehr strittigen und letztlich mit einem Kompromiss beendeten Diskussionen zur Regelung des staatskirchlichen Erbes aus dem Kaiserreich für das Grundgesetz nicht noch einmal zur Gänze geführt werden sollten; man hat also den »Weimarer Kirchenkompromiss«[7] einfach weitgehend in das Grundgesetz übernommen.[8] Aus der in der Präambel des Grundgesetzes enthaltenen Gottesklausel lässt sich nach allgemeiner Auffassung im Staatsrecht kein normativer Gehalt ableiten, der die religionsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes relativieren könnte; allenfalls wird sie als Bekräftigung der Religionsfreiheit verstanden. Damit ist der Gottesbezug als Referenz an die christlich-abendländische Tradition Deutschlands zu verstehen, ohne dass hierdurch ein Vorbehalt zugunsten dieser Tradition begründet würde.[9]

1.Neutralität

Wenn man versucht, neben der Religionsfreiheit den Inhalt der religionsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes auf einen Begriff zu bringen, passt hierfür am besten »Neutralität«: Der deutsche Staat ist zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet.[10] Dieser elementare Grundsatz stützt sich vor allem auf den in Art. 137 Abs. 1WRV verankerten Trennungsgrundsatz, der – neben Art. 4 GG – das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland grundlegend bestimmt: »Es besteht keine Staatskirche.« Diese Norm, die 1919 vor allem auf die Beendigung des landesherrlichen Kirchenregiments abzielte, ist bis heute für das staatliche Handeln von fundamentaler Bedeutung, da sich keine staatliche Stelle in irgendeiner Form mit Religion identifizieren oder gar selbst auf dem Feld der Religion handeln darf. In Verbindung mit der negativen Religionsfreiheit des Einzelnen verbürgt der Trennungsgrundsatz den Anspruch, dass der deutsche Staat sich keine Religion zu eigen macht. Diese Ausprägung der Säkularität kann neben der Religionsfreiheit als das zweite entscheidende Ergebnis der jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Religion sowie zwischen den Konfessionen in Deutschland verstanden werden.

Die Verankerung der religiösen Neutralität des Staates in der Weimarer Reichsverfassung ist auch der konfessionellen Spaltung geschuldet, da bereits die bloße Existenz zweier großer Kirchen verhinderte, dass sich staatskirchliche Strukturen bis heute erhalten konnten. Dies ist in vielen Ländern Europas mit (zumindest traditionell) konfessionell homogeneren Bevölkerungen in unterschiedlicher Weise anders und spiegelt die jeweiligen nationalen Identitäten wider.[11] Es existieren beispielsweise staats- und volkskirchliche Modelle in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien, Griechenland und in einzelnen Kantonen der Schweiz. Gerade in den skandinavischen Ländern lässt sich dabei die Tendenz erkennen, dass der Staat großen Einfluss auf kirchliche Angelegenheiten nimmt. Offenbar sind solche auf Traditionen gründende Regelungen, die man heute so wahrscheinlich nicht mehr treffen würde, auch aus Respekt vor der historisch gewachsenen Staatlichkeit gut zu ertragen, wenn – und das ist entscheidend – zugleich die Religionsfreiheit gewährt ist.[12] Demgegenüber stehen die Trennungsmodelle, unter denen paradigmatisch Frankreich heraussticht, wo 1905 eine strikte Trennung von Staat und Religion gesetzlich verankert wurde. Offenbar hat aber auch der Laizismus französischer Prägung seitdem eine Entwicklung hin zu einem Neutralitätsverständnis genommen, das dem in Deutschland – bei Unterschieden in Einzelfragen – nicht unähnlich ist, beispielsweise was die Unterstützung kirchlicher Erziehungs- und Sozialtätigkeiten anbelangt.[13]

Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund ihrer nationalen Erfahrungen religiös und weltanschaulich neutral – doch was heißt das genau? Oftmals stößt selbst die Trennung von Kirche und Staat, die auf den ersten Blick klar und einleuchtend erscheint, auf Unverständnis, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird der Trennungsgrundsatz mitunter mit Laizität verwechselt, zum anderen gibt es auch in Deutschland zuweilen staatliche Handlungsweisen, die ihm widersprechen. Um mit dem zweiten Aspekt zu beginnen: Immerhin musste letztlich das Bundesverfassungsgericht entscheiden, dass das durch den Staat angebrachte Kreuz im Gerichtssaal[14] oder im staatlichen Schulzimmer gegen das Trennungselement des Neutralitätsgrundsatzes verstößt – und gerade die sogenannte »Kruzifixentscheidung« zum Kreuz im Klassenzimmer[15] hat dann sehr heftige kritische Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Dies verwundert, denn wie kann eine staatliche Einrichtung, zu deren Benutzung der Bürger (als Schüler) zudem gesetzlich verpflichtet ist, religiös neutral sein, wenn sie sich mit dem Symbol einer bestimmten – wenn auch traditionell verbreiteten – Religion schmückt und sich dieses damit zu eigen macht? Dabei kann es gar keine Rolle spielen, ob alle oder die große Mehrheit der Schüler dieses Bekenntnis teilen: Das Trennungsgebot verbietet es dem Staat, sich selbst religiös zu betätigen, und sei es nur in Form der Übernahme religiöser Symbolik.

2.Laizismus

Ebenso wäre aber auch die Forderung, der deutsche Staat müsse sich von allem Religiösen prinzipiell distanzieren, eine Fehlinterpretation. Der Unterschied der deutschen Neutralitätskonzeption zu einem streng laizistischen Staatsverständnis besteht gerade darin, dass der Trennungsgrundsatz nach deutschem Verständnis keine absolute Scheidung der staatlichen von der religiösen Sphäre erfordert. Der Staat darf Religion fördern, so wie er jede grundrechtliche Betätigung seiner Bürger fördern darf. Dem Grundgesetz lässt sich kein »Berührungsverbot«, sondern nur das Verbot eigener Betätigung des Staates im Bereich des Religiösen entnehmen. Die religiöse Betätigung in staatlichen Räumen ist also ohne weiteres erlaubt, nur darf sie eben nicht vom Staat ausgehen, dieser darf sie sich nicht zu eigen machen und niemanden zur Teilnahme zwingen. Ein generelles Verbot des Kopftuchs für muslimische Schülerinnen aus dem Trennungsgrundsatz abzuleiten wäre dem deutschen Verständnis daher fremd. Das Grundgesetz steht Religion also nicht abwehrend oder gar feindlich gegenüber, vielmehr darf der deutsche Staat bei Beachtung von Neutralität und Parität auf vielfältige Weise mit Religionsgemeinschaften kooperieren und sie nach politischem Ermessen unterstützen, auch in finanzieller Hinsicht.

3.Parität

Dabei hat jede Unterstützungshandlung – als zweite Facette der Neutralitätspflicht neben dem Trennungsaspekt – wie auf allen anderen staatlichen Handlungsfeldern paritätisch zu erfolgen: Jede Förderung der Religion hat den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG zu beachten. Mit diesem wird es allgemein als vereinbar angesehen, die Parität nach der zahlenmäßigen Relevanz einer Religion in der Bevölkerung abzustufen. Die Erlaubnis zur speziellen Förderung des jüdischen Gemeindelebens wird aus der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands abgeleitet. In jedem Fall unzulässig wäre beispielsweise die Orientierung an der politischen Opportunität von Glaubensinhalten. Ebenso wenig kann auch die Rechtsform einer Religionsgemeinschaft – beispielsweise ob sie den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts wie die großen Kirchen innehat oder nicht – eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.

Aus der aus dem Neutralitätsprinzip abgeleiteten Parität ergibt sich zudem, dass staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit ausschließlich religiös neutral zu begründen sind. Staatliche Begründungen dürfen sich nicht auf bestimmte religiöse oder ethische Konzeptionen stützen, sondern können aus Sicht des Grundgesetzes nur dann Akzeptanz beanspruchen, wenn sie begründungsneutral sind, also insbesondere auf Verfassungsrechtsgütern des Grundgesetzes basieren. Die Entscheidungsergebnisse hingegen können nicht neutral sein und brauchen es auch nicht: In der für rechtliche Fragen typischen Ja-Nein-Dichotomie kann ein Eingriff in die Religionsfreiheit nur entweder gerechtfertigt sein oder nicht. Ist er es, kann der Eingriff als solcher sicherlich nicht als neutral bezeichnet werden; die Gründe für ihn allerdings durchaus.

4.Neutralitätsausnahmen

Die Neutralitätskonzeption des Grundgesetzes wird in gewisser Hinsicht dadurch kompliziert, dass Ausnahmen vom Trennungsgrundsatz – und damit vom Neutralitätsprinzip – als Ausdruck eines »staatskirchlichen Überhangs« existieren. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dies vollkommen unproblematisch, da diese Durchbrechungen im Grundgesetz angeordnet werden, sich also auf derselben Normebene wie der Grundsatz selbst befinden; es gibt kein »verfassungswidriges Verfassungsrecht«. Zuweilen wird hierfür auch das Bild der »hinkenden Trennung« verwendet, das allerdings das Ideal einer vollkommenen Trennung impliziert – wovon das Grundgesetz aber gerade nicht ausgeht. Die wichtigste Ausnahme ist der Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 5WRV, der ein heute etwas seltsam anmutendes Relikt aus der Zeit des Übergangs zur Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung ist. Zugleich steht er aber allen Religionsgemeinschaften offen und wird auch von vielen anderen Gemeinschaften als den großen Kirchen genutzt. Der Körperschaftsstatus ist Voraussetzung für das Recht, Steuern für die Religionsgemeinschaft zu erheben. Eine weitere bedeutsame verfassungsimmanente Durchbrechung des Trennungs- und Neutralitätsgrundsatzes ist der schulische Religionsunterricht, weil Art. 7 Abs. 2 und 3 GG ihn als staatlichen Unterricht mit staatlichem Lehrpersonal konzipiert. Wäre dies so nicht explizit im Grundgesetz verankert, dürfte er in Deutschland in dieser Form nicht praktiziert werden. Mitzudenken ist bei allen Ausnahmen vom Trennungsgrundsatz, dass der Staat sich innerhalb der verfassungsrechtlich gestatteten Durchbrechungen wiederum paritätisch zu verhalten hat. Alle Religionsgemeinschaften sind bei Erfüllung der jeweils im Grundgesetz aufgestellten Voraussetzungen gleich zu behandeln, es darf beispielsweise keine Unterschiede aus Gründen der Tradition geben.

Eine weitere im Grundgesetz selbst angelegte Durchbrechung der Neutralität stellt der in Art. 139WRV verankerte Schutz des Sonntags und der staatlichen Feiertage dar. Hierdurch werden der christlich tradierte Sonntag und die ganz überwiegend an christliche Feste anknüpfenden allgemeinen gesetzlichen Feiertage aus der Paritätsverpflichtung des Staates herausgenommen. Es gibt daher für die Landesgesetzgeber, die in Deutschland für die Feiertagsregelung zuständig sind, keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, auch die Feste anderer Religionen als allgemeine staatliche Feiertage zu schützen; dies ist eine politische Entscheidung, die dann aber alle Religionen paritätisch berücksichtigen muss. Die Religionsfreiheit als Grundrecht gewährleistet nur, dass alle religiösen Minderheiten ihre religiösen Feste auch ohne deren Anerkennung als Feiertag begehen können – dies allerdings im verhältnismäßigen Ausgleich mit entgegenstehenden Verfassungsrechtsgütern, zum Beispiel des Arbeitgebers. Die Feiertagsgesetze der Länder schützen viele Feste anderer Religionen als religiöse – also nicht allgemeine – Feiertage, wodurch den Angehörigen dieser Religionen in unterschiedlicher Ausgestaltung insbesondere das Recht zum Gottesdienstbesuch gewährt wird.

Es ist allerdings zu fragen, wie legitim eine solche Feiertagsregelung, die sich im Wesentlichen an christlichen Festen orientiert und damit Angehörige anderer Religionen letztlich zurücksetzt, heute noch ist. Diese faktische – wenngleich nicht rechtliche – Ungleichbehandlung könnte man mit einem »christlichen Kulturvorbehalt« zugunsten der bisherigen Mehrheitsgesellschaft begründen, doch ist das angesichts der grundsätzlich religionsneutralen Ausrichtung des Grundgesetzes wenig plausibel, von der sehr fraglichen gesellschaftlichen Akzeptanz eines solchen Arguments einmal ganz abgesehen. Überzeugender ist der Hinweis, dass diesen staatlichen Feiertagen – obwohl sie auf christliche Feste zurückgehen – heute eine Tendenz zur Verweltlichung zugeschrieben werden kann. Sie kommt bereits in Art. 139WRV selbst zum Ausdruck, in dem der Sonntag und die Feiertage eher weltlich auch »als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung« verstanden werden. Insofern ist zu überlegen, ob die heutigen Feiertage nicht Bestandteil eines »weltlichen kulturellen Erbes« geworden sind.[16]

Natürlich ist bei einer solchen Bewertung Vorsicht geboten, da sich auch in einer solchermaßen »verweltlichten« Argumentation ein »christlicher Kulturvorbehalt« verbergen kann. Tatsächlich scheinen aber der Sonntag und die meisten Feiertage christlichen Ursprungs in Deutschland heute auch bei religiös nicht gebundenen Menschen akzeptiert zu sein. Ob dies auch für die Angehörigen anderer Religionen gilt, ist aber fraglich. Letztlich wird eine alle religiösen Bedürfnisse befriedigende Feiertagsregelung nicht möglich sein, zumal die Gesamtzahl allgemeiner Feiertage in einer modernen Gesellschaft nicht unbegrenzt sein kann. Ob sich einzelne Landesgesetzgeber trauen werden, in paritätischer Symbolik neue allgemeine Feiertage einzuführen, wird sich zeigen.

Noch ein weiterer Aspekt ist im Hinblick auf die neutralitätskonforme Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes fragwürdig: So legen die Feiertagsgesetze der Länder die Sonn- und Feiertage nicht nur als allgemeine Feiertage fest, sondern sehen außerdem in unterschiedlicher Weise Verpflichtungen und Verbote für die allgemeine Lebensgestaltung an diesen Tagen vor. Beispielsweise verbietet das nordrhein-westfälische Gesetz über die Sonn- und Feiertage in § 6 am Gründonnerstag den »öffentlichen Tanz« ab 18 Uhr oder in § 5 Abs. 3