Deutschland und der Heilige Stuhl - Stefan Samerski - E-Book

Deutschland und der Heilige Stuhl E-Book

Stefan Samerski

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Beschreibung

Diplomatie ist zu einem Schüsselbegriff des internationalen Tagesgeschäfts geworden. Die deutsch-vatikanischen Beziehungen hatten seit ihrer Aufnahme 1920 einen ganz besonderen politischen Wert, nicht nur weil es zahlreiche Krisenjahre zu bestehen galt, sondern weil die ersten Jahrzehnte von Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. mitgestaltet wurden, der aus der Geschichte der ersten deutschen Republik nicht wegzudenken ist. Er hat bis heute Grundlegendes für das Verhältnis von Katholischer Kirche und deutschem Staat geschaffen, Krisenmanagement betrieben und in Berlin auch mit der jungen Sowjetunion verhandelt. Hier liegen entscheidende Wurzeln für die Haltung des Vatikans zu Hitler-Deutschland und dem Weltkrieg.

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Stefan Samerski

Deutschland und der Heilige Stuhl

Diplomatische Beziehungen 1920–1945

Münster 2019

Vollständige Ebook-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2020 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN: 978-3-402-13402-3 (print)

ISBN: 978-3-402-20212-8 (ebook)

Sie finden uns im Internet unter www.aschendorff-buchverlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

Vorgeschichte

1. Teil: Die Weimarer Republik

1.1. Aus der Not geboren

1.2. Die Einrichtung von Nuntiatur und Deutscher Botschaft beim Hl. Stuhl

1.3. Ausbau des diplomatischen Apparats

1.4. Revisionspolitik

1.5. Separatismus, Reparations- und Ruhrfrage

1.6. Der Umzug nach Berlin 1925

1.7. Schattenseiten

1.8. Konkordatsverhandlungen

1.9. Die ‚Unheilige Allianz’. Der päpstliche Weg nach Moskau via Berlin

1.9.1. Ein neues Verhältnis

1.9.2. Polenfrage und Priesterentsendung

1.9.3. Hunger und direkte Kontakte

1.9.4. Strukturierte Verhandlungen

1.9.5. Pacellis neue Mission

1.9.6. Aussichtslose Intensivierung

1.10. Die Abberufung Pacellis

2. Teil: Päpstliche Diplomatie und Drittes Reich

2.1. Machtübernahme

2.2. Der Abschluss des Reichskonkordats

2.3. Arierparagraph

2.4. Auflösung der Länder

2.5. Der kaschierte Bruch

2.6. Krise ohne Bruch: Die Enzyklika ‚Mit brennender Sorge’

2.7. Der Anschluss Österreichs 1938

2.8. Die Papstwahl Pacellis

3. Teil: Der Zweite Weltkrieg

3.1. Kriegsbeginn

3.2. Das Dilemma Polens

3.3. Humanitäre Maßnahmen und Friedensinitiativen

3.4. Die Vermeidung eines Weltkriegs

3.5. Russlandfeldzug und ein drohender Bruch

3.6. Die Wannsee-Konferenz und die Shoa

3.7. Der Wechsel auf dem vatikanischen Posten

3.8. Unter den Augen des Papstes. Die Deutschen besetzen Rom 1943/44

3.9. Pius XII. und das Kriegsende

Epilog: Intermezzo statt Stunde Null

Verzeichnis der Quellen, Literatur, Zeitungen und Hilfsmittel

Bildnachweise

Personenregister

Vorwort

Diplomatie ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff des internationalen politischen Tagesgeschäfts geworden. Der Hl. Stuhl und Deutschland sind zwar auf den ersten Blick zwei sehr unterschiedliche Akteure. Bei näherer Betrachtung waren ihre Beziehungen jedoch bereits in der Zwischenkriegszeit von gegenseitiger Unterstützung und Stärkung ihrer politischen Wirkkraft geprägt. Und heute agieren sie vielfach gemeinsam als Global-Player. Wie effektiv beide Mächte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenarbeiteten und gemeinsame außenpolitische Interessen verfolgten – bis der Nationalsozialismus die gewachsene Freundschaft auflöste –, ist Gegenstand der vorliegenden Studie, die wegen des relativ großen Zeitraums über sich hinaus weist: Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte man wie selbstverständlich an die in der Weimarer Republik erarbeiteten Grundlagen an (Konkordate etc.). Schöpfer und Garant dieser Kontinuitätslinien war vor allem Eugenio Pacelli – erster Nuntius in Deutschland, seit 1930 Kardinalstaatssekretär und damit Leiter der auswärtigen Beziehungen des Hl. Stuhls zu den Staaten, der 1939 zum Papst gewählt wurde. Auf ihn, den die Friedensdiplomatie Benedikts XV. entscheidend geprägt hatte, konzentrierte sich die kuriale Aktivität gegenüber Deutschland immer stärker. Auf deutscher Seite mühte sich Botschafter Diego von Bergen in über 20 Jahren Dienstzeit um außenpolitische Kontinuität und gut vernetzte Kooperation. Sein diplomatisches Wirken ist bislang nicht zusammenhängend gewürdigt worden. Solche personellen Konstanten schufen die Grundlagen für eine Außen- und Kirchenpolitik von vertrauensvoller Professionalität und für zähe Bearbeitung von Themenfeldern über Jahrzehnte hinweg.

Deutschland war für den Hl. Stuhl von Anfang an ein Partner ersten Ranges. Dabei erschöpften sich die bilateralen Beziehungen nicht in der Klärung von Fragen zum Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland, sondern bezogen von Anfang an die politischen Großmächte mit ein und thematisierten sehr frühzeitig welthistorische Themen wie Totalitarismus und Judenfeindlichkeit. Insofern bildeten die deutsch-vatikanischen Beziehungen alle virulenten Brennpunkte der Zeitgeschichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab.

Es ist mir an dieser Stelle eine angenehme Aufgabe, den zahlreichen Kollegen, Freunden, Mitarbeitern und Institutionen zu danken, die mich bei der Erarbeitung des vorliegenden Werkes unterstützt und begleitet haben. Sie können hier nicht alle namentlich aufgezählt werden. Danken möchte ich außerdem dem Aschendorff Verlag/Münster, vor allem Herrn Dr. Dirk Paßmann, für die reibungslose Kooperation und die Aufnahme in das Verlagsprogramm.

Berlin, im März 2019

Stefan Samerski

Einleitung

Angesichts zunehmender kriegerischer Auseinandersetzungen und humanitärer Katastrophen in der Welt titelte die Zeit 2014 mit konkretem Blick auf die Annexion der Krim: „Die Stunde der Diplomatie“1. Mithin werden zwischenstaatliche Konflikte immer weniger durch wirtschaftliche oder gar militärische Aktionen bewältigt bzw. gelöst, da ihre gesellschaftliche Akzeptanz – zumindest in der westlichen Welt – fraglich, wenn nicht sogar diskreditiert ist. Die modernen Grundlagen für jedes System kollektiver Sicherheit und zwischenstaatlichen Engagements in Form von friedlicher Streitbeilegung (UN-Charta), peace-making, Peer Coaching, Mediation etc. bilden Freiwilligkeit und vor allem Vertrauen. Diese zu pflegen und zu bewahren ist eine der wichtigsten Aufgaben der Diplomatie. Daher wird die Frage nach Konfliktlösungen in den letzten Jahren immer häufiger mit der Effektivität internationaler Politik und Diplomatie sowie mit dem Engagement internationaler Akteure beantwortet.2 Als Erfolgsmodell für die Bewahrung der kollektiven Sicherheit treten immer stärker die subsidiären Dienste unparteiischer Dritter in das Blickfeld und immer weniger die Durchsetzung des Völkerrechts mit Hilfe wirtschaftlicher oder militärischer Druckmittel. In diesem Sinne hatte sich auch der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan (1938–2018) 1998 deutlich für die Diplomatie als Medium der Konfliktlösung ausgesprochen. Diese kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie „durch Macht und Fairness unterstützt“3 wird.

Hier kommt der Heilige Stuhl ins Spiel. Die oberste Kirchenverwaltung wird in den letzten Jahren verstärkt als internationales Völkerrechtssubjekt und – auch wissenschaftlich – als politischer Akteur wahrgenommen.4 Das bezieht sich nicht nur konkret auf die Person des Papstes mit seiner traditionellen Kompetenz bei der Friedensvermittlung bzw. -stiftung,5 sondern auch auf seine Verlautbarungen und zeichenhafte Aktivität. Gerade Papst Franziskus sucht das internationale politische Parkett: Auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen in New York sprach er 2015 über Ziele der Entwicklungspolitik und äußerte sich erstmals vor dem US-Kongress in einer viel beachteten Rede. Dabei nimmt Franziskus „eine äußerst prominente Rolle auf der weltpolitischen Bühne ein“6 und tritt vordringlich „als diplomatischer Akteur in Erscheinung“7. Das fällt ihm umso leichter, als der Vatikan seit vielen Jahrhunderten diplomatische Erfahrungen gesammelt und reflektiert hat, um diese an das aktuelle Personal der päpstlichen Vertretungen in aller Welt weiterzugeben.8 Es ist aber nicht nur das historische Moment, das heute die päpstliche Diplomatie überall auf der Welt so respektabel und attraktiv macht,9 es sind vor allem die „nicht zu unterschätzenden außenpolitischen Ressourcen und Netzwerke“10, über die kaum ein anderer Staat verfügt: Die römische Zentrale der Kirche kommuniziert mit einer weltweit verbreiteten Hierarchie von Bischöfen und Priestern und ist mit anderen religiösen Global Playern, wie den geistlichen Orden sowie Missions- und karitativen Instituten, gut vernetzt. Damit wird der Hl. Stuhl zu einem immer wichtigeren Partner innerhalb des internationalen Staatenkonzerts – auch und gerade für Deutschland, das nach Weltkrieg und Wiedervereinigung einen besonderen Wert auf internationale Kooperation legt.

Inzwischen ist der Hl. Stuhl die „größte Nichtregierungsorganisation der Welt“11, die fast zu allen Staaten der Welt und den wichtigsten internationalen Regierungsorganisationen diplomatische Beziehungen unterhält – seien sie nun katholisch oder nicht.12 Das über Jahrhunderte gewachsene moralische Prestige und die weitgehende Abstinenz von der Tagespolitik sind die wichtigsten Ursachen dafür, denn der Zwergstaat braucht weder auf eigene wirtschaftliche noch auf militärische oder geopolitische Belange Rücksicht zu nehmen. Dadurch kann der Papst selbst von muslimischen oder kommunistischen Staaten als ‚ehrlicher Makler’ wahrgenommen werden.13 Auf der anderen Seite steht heute der Papst als Kirchenoberhaupt ca. 1,3 Mrd. Katholiken vor und ist Chef der größten Organisation der Welt, was der vatikanischen Außenpolitik weit größeres Gewicht verleiht als die 44 Hektar des Staatsgebiets mit seinen ca. 600 Einwohnern.14 Der Stato della Città del Vaticano wurde allerdings erst durch die Lateranverträge von 1929 ins Leben gerufen;15 das moralische Kapital des Hl. Stuhls und die expandierende Diplomatie waren aber schon weit vorher politische Faktoren von Gewicht, denen sich auch nichtkatholische Staaten schon damals nicht entziehen wollten.16 Der hohen politischen Bedeutung der modernen päpstlichen Diplomatie wird bereits in der Ausbildung des Botschaftspersonals Rechnung getragen, die nicht nur Sprachkompetenz und Kirchenrecht in den Mittelpunkt stellt.17 Den päpstlichen Vertretern ist es zwar ausdrücklich untersagt, Politik zu betreiben und sich in die inneren Angelegenheiten des Gaststaates einzumischen, doch gerade das wirkt sich heute wie früher vorteilhaft auf den guten Ruf der päpstlichen Diplomatie aus.

Der Apostolische Nuntius nimmt qua Amt neben der Pflege der zwischenstaatlichen Beziehungen auch einen geistlich-religiösen Auftrag im Gastland wahr:18 Um die Einheit zwischen dem Hl. Stuhl und den Ortskirchen in aller Welt herzustellen und zu intensivieren, berichtet er über das Meinungsspektrum und die Wünsche der Bischöfe, der Ordensgeistlichen und Laien, informiert über das kirchliche Leben sowie Probleme mit der kirchlichen Doktrin im Empfängerstaat und sorgt sich um die Ernennung von neuen Bischöfen.19 Dieser Aufgabenkomplex wird im vorliegenden Werk weitgehend ausgeklammert, da er häufig nur marginal oder routinemäßig das diplomatische Geschäft tangiert und vielfach durch wissenschaftliche Spezialuntersuchungen wie Bischofsbiographien, Fakultäts- und Ordensgeschichten abgedeckt ist.20

Noch vor etwa einer Generation galten diplomatiegeschichtliche Studien bei Geschichtswissenschaftlern als eindeutig nachgeordnet und für das Verständnis des tagespolitischen Geschehens als weitgehend uninteressant. Außerdem spielte der Hl. Stuhl in Überblickswerken zur deutschen Außenpolitik keine nennenswerte Rolle.21 Das hat sich inzwischen vor dem Hintergrund der oben beschriebenen aktuellen Rahmenbedingungen geändert. Nicht nur, dass die Diplomatie selbst größere – auch historiographische – Wertschätzung erfuhr, auch der Hl. Stuhl spielt im aktuellen Konfliktmanagement und in der Abwendung von humanitären Krisen eine häufig öffentlich sichtbare und international geschätzte Rolle. Diese neue Dimension begann historisch im Ersten Weltkrieg, als der Hl. Stuhl sein diplomatisches Netz ausdehnte und auf internationaler Ebene im großen Stil karitative Hilfen leistete.22 Mit dieser Entwicklung korrespondiert nicht zufällig die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Rom und Berlin 1920.

Was die Historiographie angeht, so trifft ihr erster Zugriff traditionell Krisenzeiten. Daher rückte der Zweite Weltkrieg anfangs rasch ins Blickfeld.23 Erstmals eine ganze Epoche erfasste Stewart A. Stehlin 1983 in seinem umfangreichen Werk über die deutsch-vatikanischen Beziehungen der Jahre 1919–1933. Er bezeichnete die päpstliche Diplomatie damals noch als „enigma“24 und unterstrich, dass die öffentliche Aufmerksamkeit seiner Zeit viel stärker auf die unbekannte Größe ‚kuriale Politik’ ausgerichtet war als auf das außenpolitische Verhältnis von Rom und Berlin. Inzwischen hat sich viel verändert, da gerade in jüngerer Zeit Studien zu bilateralen Beziehungen zwischen dem Hl. Stuhl und einzelnen Staaten vorgelegt wurden.25 Befeuert wurde der internationale Forschungseifer durch die aktuelle Relevanz der diplomatiegeschichtlichen Thematik und die Öffnung der Vatikanischen Archive im Februar 2003 und 2006,26 die die diplomatische Korrespondenz der Kurie bis 1939 – also für die gesamte Zwischenkriegszeit – für die Wissenschaft zugänglich machte.27 Außerdem wurden seither verschiedene diözesane Archive28 geöffnet und weitere außenpolitische Materialien publiziert, so etwa die Nuntiaturkorrespondenz aus der Zeit Eugenio Pacellis (1876–1958)29in Form einer digitalen Edition.30 Im Vorfeld erhoffte man sich hier, dass „der geheimnisumwitterte Vatikan entzaubert“31 würde. Es interessierte sich nun auch verstärkt das nicht deutschsprachige Ausland zentriert für die Nuntiaturen Pacellis.32 Seine überragende Größe wurde auf deutscher Seite flankiert von Diego von Bergen (1872–1944), der kontinuierlich über 20 Jahre hinweg kenntnisreich und gut vernetzt der Deutschen Botschaft beim Hl. Stuhl vorstand.33 Die verdienstvolle Edition der Korrespondenz von Pacellis Nachfolger Cesare Orsenigo (1873–1946) begann 2009 und hat inzwischen ca. 340 Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1934 zur Verfügung gestellt.34 Da Orsenigo aber als Diplomatenpersönlichkeit und vor allem als Entscheidungsträger weit hinter seinem Vorgänger zurückstand, wird von seinem publizierten Briefwechsel insgesamt geringere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu erwarten sein als von dem Pacellis.

Für die Gesamtepoche des Deutschen Reiches, also für die Zeit von 1871/1918 bis 1945, liegen bislang keine übergreifenden Studien für die Beziehungen zwischen Rom und Berlin vor. Diese Ära weist Zäsuren auf, lässt aber auch große Linien erkennen, die komparativ und kontextuell in ihrer Kausalität in den Blick genommen werden sollen.35 Gerade diese Großräumigkeit kann den historischen Erkenntnisgewinn fördern, wird die Longue durée geschichtlicher Entwicklungsprozesse in Rechnung gestellt. Somit erschließen sich ganz neue Zusammenhänge und Perspektiven – die teils Rückschlüsse auf aktuelle Vorgänge zulassen –, und es wird die Bedeutung zahlreicher immer noch bedienter Fragestellungen relativiert. Denn für die deutsch-vatikanischen Beziehungen liegen inzwischen eine ganze Reihe quellengestützter Einzeluntersuchungen vor, die unter mehreren Nachteilen leiden: Zum einen wirkt sich eine enge thematische Beschränkung der Studien als wenig innovativ und weiterführend auf die Forschungssituation aus. Ferner: „Betrachtet man die Forschungsschwerpunkte zur Nuntiaturzeit Pacellis genauer, so stehen immer wieder dieselben […] Themen im Mittelpunkt des Interesses“36. Vor allem gilt dies für seine Erfahrungen mit dem Kommunismus, die Judenfrage, seine Konkordatspolitik, seinen Umgang mit dem Vereinskatholizismus und die Fixierung auf den Nationalsozialismus, den er in Deutschland gar nicht mehr erlebt hatte.

Damit hängt ein weiterer Nachteil zusammen: Die Historiographie der Nuntiaturen Pacellis, auf den die Forschung geradezu verbissen fixiert ist, war ausgerichtet auf die „Perspektive ex post, ausgehend vom Wissen um seine spätere Rolle als Pontifex Maximus“37 und um die Shoa.38 Damit wird das Pontifikat Pius’ XII. gewissermaßen nach hinten prolongiert.39 Pacellis Nachfolger Cesare Orsenigo, der eine viel längere und vor allem spannungsreichere Nuntiaturzeit in Berlin absolviert hatte (1930–1946) und am Ende einen Amtsbereich betreute, der vom Bug bis an den Atlantik reichte, steht dagegen historiographisch deutlich im Schatten seines Vorgängers. Und das obwohl sowohl die deutschen wie auch die vatikanischen Amtsakten seit Jahrzehnten zugänglich und häufig sogar publiziert sind.40 Die für März 2020 angekündigte Öffnung der päpstlichen Archive für das Pontifikat Pius’ XII. wird nach Kenntnis der vatikanischen Editoren für unsere Überblicksdarstellung kaum grundstürzende Auskünfte hervorbringen.41

Die Bedeutung eines wohlponderierten Überblicks liegt somit – bei aller notwendigen detailspezifischen Unschärfe, die bereits vorliegende Spezialstudien ausgleichen können – auf der Hand. Auf diese Weise kann auch die Weimarer Republik, die in ihren Anfängen noch nicht auf das apokalyptische Szenario von 1944/45 hingeordnet war, als eigenständiger Zeitabschnitt in den Blick genommen werden. Außerdem können unverkrampft Linien von Weimar bis Bonn gezogen werden, was anhand der allseits bekannten Konkordatsfrage sofort plausibel wird. Neben außenpolitischen Entwicklungslinien versucht die vorliegende Studie nämlich auch nachhaltige Berührungspunkte zwischen dem Hl. Stuhl und dem Deutschen Reich exemplarisch zu thematisieren.42

Wenn auch die entsprechenden Zeitabschnitte ‚Weimarer Republik’ und ‚Drittes Reich’ rein quantitativ in etwa gleichbehandelt werden, so fällt doch der inhaltliche Schwerpunkt, die Jahre bis 1927, sofort ins Auge. Sie erfassen im Wesentlichen die Nuntiaturjahre Pacellis, der in München und Berlin für das Kirche-Staat-Verhältnis in Deutschland und für das bilaterale Verhältnis grundlegend und richtungweisend gearbeitet hatte. Dass die große Zeit der diplomatischen Beziehungen schon vor 1929 – und nicht erst 1933 – vorbei war, zeigt deutlich die verschleppte Behandlung von Pacellis Nachfolge in Berlin 1930. Statt spektakulärer außenpolitischer Aktivität dominierte jetzt die stille Routine des administrativen Tagesgeschäfts. Der Nationalsozialismus und vor allem der Zweite Weltkrieg brachten zwar mehr Streitthemen auf den Schreibtisch des Apostolischen Nuntius, doch war nun die Zeit der Diplomatie längst abgelaufen. Andere Wege des politischen (und militärischen) Handelns bestimmten nun den Lauf der Dinge. Und der Hl. Stuhl war nicht mehr die international umworbene Größe wie Anfang der zwanziger Jahre.

Diplomatie war und ist kein monolithisches Geschäft. Die politische Schlüsselposition des Vatikans basierte am Anfang der Weimarer Republik gerade auf seiner multilateralen Vernetzung; der Hl. Stuhl bezog in seine außenpolitische Interaktion frühzeitig – und teilweise sogar richtungweisend – auch zahlreiche Grundprobleme des 20. Jahrhunderts ein, vor allem, was den Umgang mit dem Kommunismus betraf:43 Die Achse Rom-Berlin erhielt in den zwanziger Jahren einen höchst aktiven Ausleger nach Moskau. Auch hier lassen sich gewisse kirchenpolitische Kontinuitäten sogar bis über 1958 hinaus erkennen, die vor allem Pacellis eigener steiler Laufbahn geschuldet waren sowie der Permanenz seines persönlichen Mitarbeiterstabs. Seine persönlichen Erfahrungen mit Sowjetrussland in den zwanziger Jahren prägten das Gesichtsfeld des Papstes und seinen Umgang mit anderen totalitären Regimen wie etwa mit dem Nationalsozialismus.44 Es verwundert daher nicht, dass gerade diese Thematik immer noch im Fokus des historiographischen Interesses steht.45 Gerade hier erweist sich der Blick auf die Longue durée kurialen Agierens als ein zumindest heuristischer Erkenntnisgewinn. Und es ist auch hier wieder von Vorteil, die Quellen selbst zur Sprache kommen zu lassen, auch wenn manches vermeintlich schon als bekannt gilt.

Pacellis fortdauernde Prärogative in der päpstlichen Außenpolitik zementierte den Regierungsstil der Kurie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Diplomatie und Kirchenrecht.46 Ob mit dem Kreml oder mit Hitler-Deutschland: Die Tür für Verhandlungen und Gespräche blieben von Seiten der Kurie prinzipiell bis zuletzt offen, ohne sich allerdings Illusionen hinzugeben und unberechtigten Forderungen nachzugeben.47 Auch das spricht für eine diplomatiegeschichtliche Studie als adäquaten Zugang zum Verhältnis von Deutschland und Hl. Stuhl, das seit 1933 zu einem Kampf auf Leben und Tod wurde.

Vorgeschichte

Die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 rief in den katholischen Landesteilen breite Zustimmung hervor, wenn auch nicht allgemeinen Jubel.48 Selbst Pius IX. (1792–1878) begrüßte den deutschen Nationalstaat: Die entsprechende Anzeige Kaiser Wilhelms I. (1797–1888) beantwortete der Papst Anfang März ohne Reserve und mit dem Ausdruck der Freundschaft.49 Denn anders als der italienische Nationalstaat mit seinen kirchen- und dezidiert papstfeindlichen Positionierungen wurde Deutschland föderalistisch geeint, ohne die katholischen Monarchen verfassungsrechtlich beiseite zu schieben. Doch schon Ende August 1871 änderten sich Inhalt und Ton der Korrespondenz zwischen dem päpstlichen und kaiserlichen Hof, was der Kulturkampfsituation geschuldet war.50 Unter der politischen Direktive Otto von Bismarcks (1815–1898) äußerte Wilhelm sein Missfallen über die gerade gegründete Zentrumspartei und den politisch aktiven Klerus in Deutschland.51 Bismarcks antikirchlich-liberalem Programm folgend, wurden ab Dezember antikirchliche Verwaltungsmaßnahmen und Gesetze in Preußen und im Reich erlassen, die von Anfang an auf den deutlich bekundeten und einmütigen Widerstand der Zentrumspartei, der Fuldaer Bischofskonferenz und des übrigen Klerus stießen. Die Fronten waren schon im November 1871 deutlich abgesteckt und allen Beteiligten bewusst. Die fehlende Bereitschaft etlicher deutscher Gliedstaaten, die Dekrete des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–70) zu publizieren, goss weiteres Öl ins Feuer der inzwischen schwer belasteten bilateralen Beziehungen.

Der preußische Gesandte Harry Graf von Arnim (1824–1881) residierte seit Februar 1871 faktisch nicht mehr in Rom. Bei seiner Abschiedsaudienz im März des folgenden Jahres unterrichtete er Pius IX. über die Ernennung seines Nachfolgers: Gustav Adolf Kardinal zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823–1896).52 Dieser Schachzug Bismarcks war ebenso verschlagen wie verletzend. Bei der Akkreditierung eines diplomatischen Repräsentanten, die bis heute das formelle Einverständnis (Agrément) des Gaststaates erfordert, konnte zwar der Hl. Stuhl auf den ersten Blick einen Kardinal als Botschafter nicht zurückweisen. Erwartungsgemäß lehnte Pius IX. aber ab, da Hohenlohe-Schillingsfürst mangelnde Loyalität gegenüber dem Papst bewiesen hatte, indem er beim Zusammenbruch des Kirchenstaats (20. September 1870) Rom verließ und nach Franken bzw. Berlin ging. Pius IX. hatte sich schon vorher vom fehlenden Takt, nicht hinreichender Intelligenz und mangelnden diplomatischen Fähigkeiten des Kardinals überzeugt und sich deutschen Plänen entgegengestellt, Hohenlohe-Schillingsfürst auf den Kölner Bischofsstuhl zu setzen oder ihn gar zum Primas von Deutschland zu erheben.53 Als dieser Mitte April 1872 den Papst darüber informierte, dass er zum deutschen Botschafter beim Hl. Stuhl ernannt worden war, antwortete Pius IX. sarkastisch, dass eine solche Entsendung zum Schaden für die Kirche, des Hl. Stuhls, für die Person des Pontifex’ und auch für den Kandidaten selbst sei; als Kardinal möge er nach Rom kommen und seine Pflichten erfüllen, als Botschafter solle er in Berlin bleiben.54 Der rigide Standpunkt des Papstes veränderte sich auch nicht, als Ende des Monats dem päpstlichen Staatssekretariat die offizielle Ernennung mitgeteilt wurde. Auf die römische Zurückweisung reagierte Bismarck im Reichstag Mitte Mai mit gespielter Entrüstung: „Ich halte es nach den neuerdings ausgesprochenen und öffentlich promulgierten Dogmen der katholischen Kirche nicht für möglich, für eine weltliche Macht zu einem Konkordat zu gelangen. […] Seien Sie außer Sorge, nach Kanossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig“55. Dadurch wurde bereits kurz nach der Errichtung des Deutschen Reichs die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit Verhandlungen um einen Kirchenvertrag verknüpft. Das politische Klima im Kaiserreich wie auch die Kirchenpolitik Bismarcks gaben aber weder für Konkordatsverhandlungen noch für geregelte bilaterale Kontakte Raum, die die Voraussetzung für solche Erörterungen waren. Damit war das Projekt der Aufnahme diplomatischer Beziehungen beendet, noch bevor es eigentlich begonnen hatte.

Gustav Adolf Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823–1896).

Die neuen Kulturkampfgesetze riefen den bedingungslosen und erbitterten Widerstand des Papstes hervor. Ende 1872 warnte Pius IX. die Gläubigen vor den Übergriffen des neuen Kaiserreichs. Daraufhin wurde auch noch der letzte deutsche Vertreter aus der preußischen Gesandtschaft beim Hl. Stuhl abgezogen und das Gebäude auf dem Kapitol in eine Botschaft beim italienischen Königreich umgewandelt. Preußen selbst hatte nie einen päpstlichen Vertreter in Berlin oder Potsdam geduldet. Seit dem 5. Dezember 1874, inmitten der heißen Phase der Kulturkampfgesetzgebung, verfügte Berlin über keinen diplomatischen Kontakt zum Hl. Stuhl, und nur folgerichtig erklärte Bismarck: „Wir haben jetzt nicht und überhaupt nicht das Bedürfnis, diplomatische Geschäfte an dem römischen Stuhl zu machen, oder irgendwelche Fragen dort auf diplomatischem Wege […] zu verhandeln.“56 Beide Protagonisten hatten sich in eine Sackgasse manövriert. Denn das schroffe Vorgehen Pius’ IX. hatte auch die Kurie außenpolitisch isoliert, die am Ende des Pontifikats (1878) kaum mehr unbelastete diplomatische Beziehungen zu einem Staat kannte.57

Palazzo Caffarelli. Seit 1854 war hier die preußische Gesandschaft in Rom angesiedelt.

Villa Bonaparte. Seit 1906 Sitz der preußischen Gesandschaft in Rom, von 1920–1944 Sitz der Deutschen Botschaft beim Hl. Stuhl.

Die preußische Gesandtschaft beim Hl. Stuhl wurde erst wieder 1882 besetzt, als der Kulturkampf abflaute. Sie residierte ab 1908 in der Villa Bonaparte in der via Piave 23.58 Die ‚Villa’ Sciarra aus dem 18. Jahrhundert hatte Napoleon I. (1769–1821) für seine Schwester Pauline Borghese (1780–1825) ausbauen lassen; sie trägt seither den Namen ‚Villa Bonaparte’. Neben Preußen unterhielt der Gliedstaat Bayern nach wie vor diplomatische Beziehungen zum Hl. Stuhl, und zwar über eine Gesandtschaft in Rom wie über eine Apostolische Nuntiatur in München.59 Bis der deutsche Gesamtstaat seine außenpolitischen Verbindungen zum Papst regulierte und konkretisierte, musste indes erst eine neue Ära anbrechen. Im Ersten Weltkrieg bemühten sich etliche Mächte um die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zum Hl. Stuhl. Dabei ging es vor allem um Friedensvermittlung. In diesem Sinne ließ der Vatikan bereits 1915 seinen Wunsch nach einem päpstlichen Vertreter in Berlin durchblicken. Auch einflussreiche katholische Blätter in Deutschland äußerten sich 1917 in diesem Sinne. Gerade wegen des Vermittlungs- und Friedenswillens der Kurie zählte der Pontifex nun zu den Großmächten – so der damalige niederländische Ministerpräsident.60

Die Römische Kurie kam den Wünschen der Staaten nach diplomatischen Beziehungen gern entgegen, da der Papst vom Nationalstaat Italien immer noch isoliert wurde. Die italienische Einigungsbewegung hatte im September 1870 Rom besetzt und damit die letzten Reste eines päpstlichen Territoriums beseitigt. Die Päpste gerierten sich fortan als Gefangene im Vatikan und Gegner der neuen staatlichen Ordnung Italiens. Während des Ersten Weltkriegs wechselte das italienische Königreich die Fronten zugunsten der Alliierten, weswegen die deutschsprachigen Gesandtschaften beim Hl. Stuhl die Ewige Stadt 1915 verlassen mussten. Im selben Jahr verpflichteten sich die Alliierten im Londoner Vertrag, den Papst bei einer zukünftigen Friedensordnung auszuklammern. Hintergrund dieser Klausel war die schwelende Römische Frage, die erst 1929 durch die Errichtung der Vatikanstadt und finanzielle Regelungen vertraglich gelöst werden konnte.61 In jedem Falle war für den Hl. Stuhl das nach 1870 fehlende Territorium und die dadurch strittige Staatlichkeit eine schwere außenpolitische Hypothek, die sich vor allem in Kriegszeiten schmerzlich bemerkbar machte und zu einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Kurie führte, die Mediationen und Friedensinitiativen erschwerte. So bemühte sich der Hl. Stuhl bereits zu Beginn des Weltkrieges mit Erfolg um die Ausweitung seines diplomatischen Netzes.62 Allerdings tat er dies mit spezifischen Auswahlkriterien. Während beispielsweise die Offerte des neutralen Rumäniens, diplomatische Beziehungen mit dem Hl. Stuhl ex novo aufzunehmen, auf ein sehr positives Echo in Rom stieß, lehnte man noch im Juni 1918 ein solches Ansinnen von Seiten Bulgariens und der Türkei deutlich ab.63

Nuntiatur in München in der Briennerstraße 15.

In die Frage der deutsch-vatikanischen Beziehungen kam erst 1917 Bewegung. Nun erst wurden päpstliche Schreiben, die bislang über die Münchener Nuntiatur nach Berlin geleitet werden mussten, von der Reichsregierung überhaupt beantwortet! In jenem Jahr entsandte der Papst auch den Sondergesandten Eugenio Pacelli mit konkreten Friedenskonzeptionen zu Kaiser Wilhelm II. (1859–1941).64 Bayerische Ressentiments gegenüber Berlin und protokollarische wie politische Empfindlichkeiten verhinderten jedoch die Entsendung eines päpstlichen Repräsentanten bzw. die Doppelakkreditierung des Münchener Nuntius auch für den Berliner Hof. Eugenio Pacelli, der im Mai 1917 als neuer Nuntius nach München geschickt wurde, hielt dort die Türe für das Berliner Nuntiaturprojekt offen. Schon im Juni besuchte er in Berlin Kaiser, Kanzler und den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Ohne Zweifel gehörte die Ankunft Pacellis in Deutschland „zu den wichtigsten Daten des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert“65 und nicht nur zu denen der deutsch-vatikanischen Beziehungen. Der einer papsttreuen Juristenfamilie entstammende Pacelli machte durch seine kompetente Mitarbeit bei der Erarbeitung des Codex Iuris Canonici (Sekretär) und durch seine Freundschaft mit dem späteren Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri (1852–1934) rasch an der Kurie Karriere. Dort galt er als Deutschland- und Konkordatsexperte, der bereits mit 16 Jahren die deutsche Sprache erlernt hatte. Ähnlich wie sein deutsches Gegenüber, Diego von Bergen, übernahm auch Pacelli die päpstliche Mission in Deutschland für eine relativ lange Zeit, verfügte allerdings 1917 über kaum nennenswerte diplomatische Erfahrungen. Pacelli brachte von Anfang an kontinuierlich großes Verständnis und Sympathien für die außenpolitischen Optionen Deutschlands auf. Er ging daher nicht zu Unrecht als ‚Papst Deutschlands’ in die Kirchengeschichte ein, was ein kurialer Vertreter anlässlich seines Todes 1958 deutlich zur Sprache brachte: „Ihr Papst ist gestorben, denn keiner ist Deutschland so zugetan gewesen wie Pius XII.“66

1. Teil Die Weimarer Republik

1.1. Aus der Not geboren

Erst der Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Systems in Deutschland 1918 machte den Weg für eine rasche Aufnahme von regulären Beziehungen frei. Das Kaiserreich war untergegangen, aus der Novemberrevolution ging zunächst eine Räterepublik hervor, die neue Weimarer Verfassung regelte das Verhältnis von Kirche und Staat neu und die Folgen des Vertrags von Versailles reduzierte Fläche und Bevölkerung Deutschlands vor allem im Osten beträchtlich, was besonders Preußen betraf. Daher waren die ersten Monate der jungen Republik geprägt von inneren Unruhen, außenpolitischer Isolierung, wirtschaftlicher Knebelung und von der Bewältigung der drückenden Kriegsfolgen (Hunger, Reparationen, Schuldfrage etc.). Auf der anderen Seite waren die deutschen Katholiken gesellschaftspolitisch gestärkt und rehabilitiert aus dem Weltkrieg hervorgegangen und die Kulturkampfgesetze aufgehoben. Dieses neue katholische Selbstbewusstsein, dessen politischer Träger die Zentrumspartei war, fing ihr Vertreter Peter Spahn (1846–1925) ein, als er in der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar sagte: „Die diplomatische Verbindung des Reiches mit ihm [d.i. der Hl. Stuhl] entspricht den Wünschen und der Bedeutung der Katholiken im Deutschen Reich“1. Spahn argumentierte mit der außenpolitischen Isolierung der jungen Republik und warb darum, partikularstaatliche Gesichtspunkte zurückzustellen. Pacelli berichtete darüber ausführlich und positiv nach Rom, war aber skeptisch, ob der Eigenwille des katholischen Bayerns und des protestantischen Preußens überwunden werden könne.2 Und man gewinnt den Eindruck, als hätte er solche Tendenzen in seiner Berichterstattung weder zu marginalisieren noch den bayerischen Separatismus zu überwinden versucht.3

Pacelli war exzellent über preußisch-deutsche Standpunkte informiert, und zwar zunächst über den Preußischen Gesandten in München, Julius Graf Zech von Burkersroda (1885–1946), und das Faktotum der Zentrumspartei, Matthias Erzberger (1875–1921). Beide waren seine wohl wichtigsten externen Mitarbeiter der ersten Jahre, vor allem was die innenpolitischen Aspekte betraf. In der Berichterstattung bezeichnete der Nuntius Zech als „ottimo Signor Conte“4, ja sogar als „un vero amico“5, der „mit konstanter und treuer Aktivität und Eifer“6 Pacellis Geschäfte mit Preußen erleichtert und gefördert habe. Zech hatte den Nuntius häufig auf Reisen begleitet und ihm in Berlin Kontakte hergestellt. Er war aber nicht nur dem päpstlichen Vertreter persönlich gewogen, sondern auch bestens informiert und im politischen Berlin gut vernetzt, da sein Schwiegervater der frühere Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–1929) war. Pacelli sorgte 1920 dafür, dass der Graf den prestigereichen Gregorius-Orden erhielt.7 Zech war aber auch außenpolitisch bestens unterrichtet, und zwar durch seinen Cousin Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869–1928), den ersten Außenminister der Weimarer Republik.8 Dieser war direkt in das Geschehen der Konferenz von Versailles involviert, so dass Pacellis Kooperation zwecks Milderung der Vertragsvereinbarungen punktgenau erfolgen konnte.9 Brockdorff-Rantzau wurde 1923 erster deutscher Botschafter in Moskau und damit zusammen mit seinem Nachfolger Herbert von Dirksen (1882–1955) und dem Außenamts-Staatssekretär Ago von Maltzan (1877–1927) einer der wichtigsten Protagonisten der Ostausrichtung der deutschen Außenpolitik.10 Nicht zuletzt mit Hilfe solcher Expertenkontakte konnte der Hl. Stuhl seine Russlandpolitik betreiben und zwar schwerpunktmäßig über die Nuntiatur Pacellis.11 Der andere vertraute Mitarbeiter der ersten Jahre, Matthias Erzberger, war als leitender Zentrumsmann der verlängerte Arm Pacellis in dem einflussreichen politischen Katholizismus Deutschlands.12 Er überschwemmte geradezu die Münchener Nuntiatur mit Berichten und Zeitungsmeldungen und informierte detailliert über parteipolitische Belange sowie genuine Zentrums-Themen wie Konkordat, Kultus und Ostpolitik.

Eugenio Pacelli (1876–1958) als Nuntius in Berlin. Aufnahme aus dem Jahr 1920.

Matthias Erzberger (1875–1921). Aufnahme aus dem Jahr 1919.

Das Interesse an der Aufnahme diplomatischer Beziehungen kam jetzt deutlich von beiden Seiten. Der Hl. Stuhl hatte während des Weltkriegs breites außenpolitisches Prestige erwerben können, da er durch seine strikte Unparteilichkeit und sein karitatives Engagement selbst bei nicht christlichen Regierungen Achtung und Anerkennung gewonnen hatte. Bekanntlich lag es auch in seinem Interesse, den diplomatischen Radius bis in bislang unbekannte Regionen auszudehnen: Sogar Albanien, Japan und China sollten in jenen Jahren päpstliche Vertretungen erhalten.13 Verfolgt wurden damit nicht nur missionarische und administrative, sondern auch handfeste kirchenpolitische Ziele. Zu Pfingsten 1917 hatte die Kurie den Codex Iuris Canonici publiziert – eine Sammlung alter und neuer Rechtsmaterie –, der ein neues Selbstverständnis der Kirche bedeutete und eine neue Konkordatsära einleitete.14 Hinzu kamen weitreichende geopolitische Veränderungen auf der europäischen Landkarte: Alte Staaten waren untergegangen, neue entstanden, und eine Vielzahl von Ländern hatten z.T. erhebliche Gebietsveränderungen erfahren sowie ein neues Verfassungssystem erhalten. Benedikt XV. (1854–1922) brachte die sich daraus ergebenden Neuerungen im Verhältnis von Kirche und Staat nach 1919 deutlich und öffentlich zum Ausdruck und wies auf den dringenden Bedarf an neuen Abmachungen hin. Damit stand vor allem Deutschland mit seinen Gliedstaaten unter akutem Konkordatsdruck. Das Reich und Preußen hatten aber selbst gesteigertes Interesse an solchen Verträgen, da als Folge des Versailler Vertrags rund 5,5 Millionen Einwohner von Deutschland abgetrennt wurden, die zu einem hohen Prozentsatz katholisch waren. Denn Konkordatsverhandlungen hatten nach innen stabilisierende Wirkung, nach außen die Sicherung des deutschen Einflusses auf die kirchliche Neustrukturierung in den Grenzgebieten.15 Auf diese Weise wurde die Kurie nach 1918 zu einer kooperativ-konstruktiven Drehschreibe der internationalen Außenpolitik. Davon versprach sich die isolierte Republik von Weimar in ihren ersten Jahren hauptsächlich Vermittlungsfunktion zu den Alliierten und Polen. Noch im November 1921 brachte das der Zentrumskanzler Joseph Wirth (1879–1956) folgendermaßen auf den Punkt: „Wieweit die Kurie das Reich in weltpolitischen Fragen werde unterstützen können, vermöge er nicht zu erörtern; jedenfalls müssten wir wieder trachten nach Fühlung mit [den] Weltmächten.[…] Wir würden verschüttet sein, wenn wir mit der Kurie auseinandergeraten würden.“16 Von deutscher Seite waren es demnach vorrangig außenpolitische Gründe, die die Berliner Regierung zu weiteren Schritten veranlassten. Außerdem hatte man in den vergangenen Monaten freundschaftliche Erfahrungen mit dem Hl. Stuhl gemacht. Das reichte von rein karitativ-humanitärer Unterstützung über internationale Einflussnahmen zugunsten Deutschlands bis hin zur kongruenten Einschätzung der politischen Lage. Schon Mitte 1919, als ganz Deutschland noch unter dem Damoklesschwert der bolschewistischen Revolution stand, teilte Pacelli vollständig die deutsche Analyse der innenpolitischen Situation: Die Kriegsfolgen und der Hunger würden die Deutschen in die Arme der Sowjets treiben.17 Daher sei es wichtig, dass sich der Hl. Stuhl auch weiterhin humanitär zugunsten Deutschlands engagiere.

Die Apostolische Nuntiatur war in Berlin noch nicht errichtet, da wurden bereits die deutsch-vatikanischen Beziehungen einer harten Belastungsprobe unterzogen. Es ging um nichts Geringeres als Indiskretion bzw. Geheimnisverrat. Die päpstliche Friedensinitiative vom August 1917, in die Pacelli persönlich durch Gespräche mit Kaiser Wilhelm II. und seinem Reichskanzler involviert war, geriet im Sommer 1919 publizistisch in die Öffentlichkeit und damit in die tagespolitische Auseinandersetzung.18 Der Kardinalstaatssekretär hatte seinen Nuntius strikt angewiesen, eine Veröffentlichung der Gespräche in Bad Kreuznach vom Juni 1917 zu unterbinden. Pacelli schaltete seinen Gewährsmann Graf Zech ein, der mit seinem Schwiegervater, dem früheren Reichskanzler Bethmann-Hollweg, die Frage diskret zu lösen gedachte. Allerdings wurden zu jener Zeit die persönlichen Begegnungen längst in der Tagespresse thematisiert.19 Gerade anhand dieser Affäre wird deutlich, wie stark die kuriale Aktivität noch von monarchischen Vorstellungen von Außenpolitik als Geheimdiplomatie durchdrungen war, während die Weimarer Republik in ihren Anfängen bereits moderne demokratische Elemente des außenpolitischen Handelns erkennen ließ, die die Öffentlichkeit mit einbezog. Botschafter von Bergen drahtete: „Alter Tradition gemäß legt Kurie entscheidenden Wert auf geräuschlose Arbeit, Diskretion im geschäftlichen Verkehr und Geheimhaltung der Verhandlung, die nur im gegenseitigen Einvernehmen durchbrochen werden darf“20. Der Konflikt ist daher symptomatisch für die unterschiedliche Auffassung von Außenpolitik und beeinträchtigte über Jahre hinweg – wenn auch im konkreten Tagesgeschäft kaum spürbar – das zwischenstaatliche Klima und die Wahrnehmung des Gegenübers.

Die Kontroverse wurde im Juli 1919 ausgerechnet durch den Zentrumsmann Matthias Erzberger in der Weimarer Nationalversammlung ausgelöst, der erklärt hatte, dass britische Friedenspläne (Unabhängigkeit Belgiens), die über päpstliche Kanäle im September 1917 an den damaligen Reichskanzler gelangt waren, blank abgelehnt worden seien. Erzbergers Äußerungen wirkten wie ein Frontalangriff auf die Deutschnationalen sowie die Mitglieder der damaligen Regierung und erweckten den Eindruck, man habe damals die vatikanische Friedensdemarche leichtfertig ausgeschlagen. Die öffentliche Aufregung war verständlicherweise unter dem damals virulenten Eindruck des überaus harten Friedensdiktats von Versailles groß. Nachdem Erzberger, dessen Kontakte zu Pacelli bekannt waren, immer weitere Details bekannt gab, versuchte das Auswärtige Amt den Zentrumsmann anzuklagen, er sei schon frühzeitig in die Vorgänge durch den damaligen Nuntius in München eingeweiht gewesen und habe deswegen die aktuelle Tragik des deutschen Volkes billigend in Kauf genommen. Die Nationalversammlung setzte im August 1919 eine entsprechende Untersuchungskommission ein, die auch zahlreiche Dokumente des Hl. Stuhls sichtete. Eine Veröffentlichung drohte, die den Kardinalstaatssekretär „äußerst verärgert“21 hätte. Noch Mitte März 1924 legte Gasparri gegenüber Botschafter von Bergen sein formelles Veto ein und sprach davon, dass eine Veröffentlichung „den elementarsten Grundsätzen widerstreiten“22 würde. Dann sei „überhaupt die Grundlage für irgendwelche Verhandlungen nicht mehr gegeben“23. Auch Pacelli wehrte sich mit aller Vehemenz. Er pochte auf den internationalen Usus, dass Staaten über die Freigabe ihrer Akten selbst entscheiden müssten. Dabei ging es dem Nuntius nicht um die Vertuschung von Geheimnissen, sondern um die Offenlegung der eigenen außenpolitischen Schritte und die Wahrung der Geheimdiplomatie. Denn die geplante Publikation der Akten aus dem Weltkrieg hätte die Deutschfreundlichkeit der Römischen Kurie dokumentiert und vermutlich die vatikanischen Beziehungen zu Italien und den Alliierten belastet. Die Maxime der strikten Unparteilichkeit Benedikts XV. wäre damit in Frage gestellt.

Pietro Kardinal Gasparri (1852–1934).

Auf der anderen Seite konnte auch die Reichsregierung nach längerem Nachdenken kein großes Interesse an einer solchen Publikation haben, da diese die Beziehungen ausgerechnet zu einem treuen und hilfsbereiten Partner in dunkler Zeit stark belastet hätte. Bereits 1922 hatte die deutsche Regierung in einer kurzen Pressemeldung eine Ehrenerklärung zugunsten des Hl. Stuhls abgegeben und die Taktlosigkeit bei der Behandlung dieser delikaten diplomatischen Materie zugegeben, als nämlich die Friedensbemühungen des Papstes von 1917 durch etliche Memoirenwerke führender deutscher Politiker in ein schiefes Licht gerückt wurden. Der durch Ludwig Kaas (1881–1952) stets gut informierte Pacelli versuchte sogar das Erscheinen von Kaiser Wilhelms Erinnerungen zu verhindern, der die verdienstvolle Friedensinitiative für sich reklamierte.24 Nachdem sich dies als unmöglich herausstellte, ließ der Nuntius im Oktober 1922 in der Zentrumszeitung Germania und im Osservatore Romano eine Richtigstellung abdrucken.25 Im Auswärtigen Amt bemühte sich der Staatssekretär noch im März 1924 erneut um Schadensbegrenzung: Zumindest von Regierungsseite wurde jede weitere Publikation unterdrückt, indem man schlichtweg die eigenen Dokumente nicht freigab.26 Nicht zum letzten Mal stieß hier die Pluralität der Demokratie mit den monarchisch geprägten Prinzipien der päpstlichen Diplomatie zusammen.

Die Bedeutung des monarchischen Gedankens lässt sich in jenen Jahren auch bei einer anderen diplomatischen Aktion der Kurie erkennen, die hier mit traditionellen humanitären Optionen des Vatikans einherging. Als Kaiser Wilhelm II. im November 1918 ins niederländische Exil ging, verlangten die Alliierten dessen Auslieferung und Aburteilung. Neben führenden Köpfen des deutschen Episkopats hatte sich vor allem die Römische Kurie für die Unantastbarkeit des Monarchen eingesetzt.27 Der offiziöse Osservatore Romano bezeichnete das alliierte Gesuch als ein unerhörtes Friedenshindernis. Auf höchster Ebene machte der Kardinalstaatssekretär gegenüber den Niederlanden und sogar gegenüber dem Erzfeind Italien seinen Einfluss zur Rettung des Ex-Monarchen geltend. Gasparri qualifizierte die westliche Forderung als „eine juristische Ungeheuerlichkeit, ein[en] äußerst gravierenden politischen Fehler […und einen] Missbrauch der Macht, wie es nur wenige Beispiele in der Geschichte“28 gebe. Der für alle Benelux-Staaten zuständige Nuntius wurde angewiesen, Den Haag nicht zu verlassen und nahezu täglich der dortigen Regierung den päpstlichen Standpunkt zu erläutern. Als die niederländische Regierung schließlich Anfang 1920 das alliierte Ersuchen abgelehnt hatte, beglückwünschte der Kardinalstaatssekretär diese „zu der noblen und würdigen Antwort“29. Keine andere (selbst deutsche) Institution hatte sich derart für den Protestanten Wilhelm eingesetzt wie die Römische Kirche. Sie tat Ähnliches auch gegenüber dem russischen Zaren Nikolaus II. (1868–1918). Dabei wurden vorwiegend deutsche Kontakte genutzt. Das Staatssekretariat wurde bereits im Februar 1917 über die Lage in Russland und die existentielle Bedrohung des Zaren informiert.30 Im Frühsommer 1918 bot der Hl. Stuhl dem inhaftierten und verbannten Zaren und seiner Familie Asyl im Vatikan an. Im Sommer streckte das Staatssekretariat nochmals seine diplomatischen Fühler aus, um die Romanows zu retten. Diese Kontakte, hauptsächlich zu deutschen Vertretern, kamen allerdings zu spät: Nikolaus und seine Familie wurden in der Nacht vom 17. zum 18. Juli erschossen.31

Gegenüber den westlichen Alliierten ließ sich auf der anderen Seite in den ersten Nachkriegsmonaten eine deutliche Distanz des Hl. Stuhls ausmachen, die vor allem den Vertrag von Versailles betraf.32 Bereits im Oktober 1918 hatte sich Benedikt XV. an den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) gewandt, damit dieser seinen ganzen Einfluss zugunsten eines gerechten Friedens gemäß seiner 14 Punkte geltend machen möge, die auch die deutsche Regierung akzeptiere.33 Zwei Wochen später hatte sogar der letzte kaiserliche Reichskanzler Max Prinz von Baden (1867–1929) den Kardinalstaatssekretär um Vermittlung gebeten. Da der Hl. Stuhl auf der Friedenskonferenz in den Pariser Vororten nicht erwünscht war, musste er indirekt – mit Hilfe der nationalen Episkopate – auf die Alliierten Einfluss ausüben. Außerdem operierte der Papst unauffällig über einen Sondergesandten in Paris zugunsten des geschlagenen Deutschlands. In der heißen Phase der alliierten Verhandlungen sandte das Auswärtige Amt Experten zu Pacelli nach München. Als dann das ganze Ausmaß des alliierten Revanchegeistes bekannt wurde, wandten sich vor allem deutsche Zentrumspolitiker und Bischöfe in dramatischen Worten an den Papst und baten diesen um Intervention zugunsten Deutschlands. Daraufhin kontaktierte Benedikt XV. nochmals indirekt Wilson als den alliierten Staatsmann, der am ehesten diplomatischen Schritten zugänglich war und größtmögliches politisches Gewicht besaß. Dagegen polemisierten vor allem französische und italienische Medien, die jede päpstliche Einmischung in Versailles strikt ablehnten. Benedikt war damit aus dem Schatten seiner Geheimdiplomatie und Unparteilichkeit herausgetreten, und Pacelli leitete unablässig weiteres Material und Bittschriften nach Rom weiter. Der Nuntius beschwor erneut das Schreckgespenst des Hungers, der Krankheiten und Arbeitslosigkeit sowie die Gefahr des Bolschewismus für den Fall, dass ein ungerechter Friede zulasten Deutschlands zustande käme. Dennoch wurde der alliierte Vertragstext ohne substantielle Änderungen und ohne Votum der deutschen Delegation im Juni 1919 ultimativ zur Unterschrift vorgelegt. Das Papier bezeichnete der Kardinalstaatssekretär als ‚Gewaltfrieden’34, der eine Reihe von neuen kriegerischen Auseinandersetzungen hervorbringen würde, was sich später bewahrheiten sollte. Stattdessen wünschte die Kurie ein wiedererstarkendes Deutschland und war in jenen Jahren bereit, das Land vor allem humanitär, aber auch außenpolitisch zu unterstützen.35

Als deutlich wurde, dass die päpstliche Diplomatie an ihre Grenzen gestoßen war, verlegte sich die Kurie auf karitative Aktionen zugunsten der Mittelmächte.36 Die päpstlichen Solidaritätsappelle angesichts von Hunger und Krankheit in Zentraleuropa richteten sich nicht allein an die deutsche Öffentlichkeit, sie erreichten auch die Bevölkerung der alliierten Mächte, wobei der Vatikan alle Prinzipien der Unparteilichkeit weit hinter sich ließ. Der Papst wandte sich außerdem an die britische und US-amerikanische Regierung sowie an die französischen und amerikanischen Bischöfe, um den Hunger in Deutschland zu lindern.37 Im Frühjahr 1919 bemühte sich Rom um die Aufhebung der Hungersperre und die Zufuhr von Lebensmitteln nach Deutschland; im Spätsommer appellierte der Pontifex an die Deutschamerikaner, das Deutsche Reich humanitär zu unterstützen und die Handelsbeziehungen wieder aufzunehmen. Ende des Jahres wandte sich Benedikt sogar an die gesamte katholische Welt, um den Not leidenden Kindern in Mitteleuropa zu helfen.

Eugenio Pacelli bei einem Besuch im Kriegsgefangenenlager in Münster, 1918.

Auch mit Blick auf diese päpstliche Aktivität, die weit über die bislang geübte Unparteilichkeit hinausging, wird deutlich, wie stark das am Boden liegende Deutschland schon damals von seinen Kontakten zum Hl. Stuhl profitiert hatte. War Rom stets an diesen interessiert, so war auf deutscher Seite zunächst die Einsicht in die politische Isolierung nach dem Kriegsgeschehen sowie der Eintritt des Zentrums in die Regierungsverantwortung erforderlich, um die längst fällige Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur Kurie aktiv zu betreiben.

1.2. Die Errichtung von Nuntiatur und Deutscher Botschaft beim Hl. Stuhl

Aufgrund der komplizierten und komplexen politischen Motivationspalette erfolgte 1920 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die nach Kriegsende von beiden Mächten intensiv betrieben wurde – von deutscher Seite hauptsächlich und intensiv von der Zentrumspartei, die seit Sommer 1919 in der Regierung saß.38 Schon im Juni 1919 war das Nuntiaturprojekt in internationalen diplomatischen Zirkeln bekannt, wobei die Modalitäten noch völlig offen waren. Im Sommer setzte sich Pacelli in München deutlich für eine Nuntiatur in Berlin bei Fortbestand der Münchener Vertretung ein. Denn für ihn hatten Konkordatsverhandlungen absolute Priorität: Sein Plan ging dahin, im katholischen Bayern, von dem man sich breites Entgegenkommen versprach, zügig ein Musterkonkordat auszuhandeln, das als Vorlage für Preußen und das Reich präsentiert werden konnte. In den preußischen Haushaltsberatungen fiel schon am 17. Juli eine erste Vorentscheidung, nämlich die preußische Vatikangesandtschaft in eine Reichsbotschaft umzuwandeln.39 Damit war allerdings der Widerstand der Länder (vor allem Preußens) noch längst nicht ausgeräumt. Dafür drehte sich jetzt schon das Personalkarussell: Das Zentrum favorisierte zunächst den Exponenten des politischen Katholizismus in Hessen-Darmstadt, Clemens von Brentano di Tremezzo (1886–1965). Da dieser als diplomatischer Neuling nicht durchsetzbar war und die Römische Kurie sich sehr konziliant bei der Botschafterfrage zeigte, indem sie sich offen auch für einen Protestanten aussprach, lief alles auf den neuen preußischen Gesandten in Rom, Diego von Bergen, hinaus. Dieser hatte 1919 den Posten in Rom angetreten und sich sehr schnell eingearbeitet; außerdem besaß er das Vertrauen Pacellis.40 Bergen entstammte einer Diplomatenfamilie; obgleich selbst evangelisch, war er durch seine spanische Mutter mit dem katholisch-mediterranen Kulturkreis verbunden. 1919 hatte er in Rom seine erste eigenständige Mission angetreten, die er bis 1943 nicht aufgeben sollte.41

Carl-Ludwig Diego von Bergen (1872–1944).

Das Reich drängte aus verständlichen außenpolitischen Gründen auf eine Entscheidung zugunsten des Gesamtstaats. Ende August 1919 schaltete sich sogar Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) ein, der eigens nach München reiste, um Pacelli kennen zu lernen und brennende Fragen zu erörtern.42 So wichtig nahm man trotz anarchischer Wirren die schwebende Nuntiaturfrage. Ebert erkannte in großer Dankbarkeit die Verdienste des Hl. Stuhls um die Verbesserung der humanitären Situation an und lobte das päpstliche Engagement zugunsten der Kriegsgefangenen und der Vertragsbedingungen in Versailles.43 Angesichts des Schreckgespenstes eines linken Umsturzes in Deutschland, der von den Siegermächten noch begünstigt werde, brauche man die stabilisierende Kraft des Hl. Stuhls. Zu jenem Zeitpunkt stand für die Kurie bereits fest, dass die bayerisch-vatikanischen Beziehungen fortbestehen würden und die preußische Gesandtschaft in Rom in eine gesamtdeutsche umgewandelt würde. Das entsprach außerdem den Vorstellungen des bayerischen Ministerpräsidenten.

Im Herbst 1919, mitten im bayerisch-preußischen Tauziehen, erfasste die Botschaftsfrage die deutsche Presselandschaft; auf dem politischen Parkett war der bayerische Partikularismus immer noch nicht ausgeräumt, zumal sich Pacelli auch aus Konkordatsgründen für die Beibehaltung der bayerischen Vertretung in Rom stark machte. Er konnte sich seiner Sache sicher sein, denn er wurde durch Graf Zech bestens aus dem politischen Berlin informiert: Dort hatte die Reichsregierung im September etatmäßig Mittel für die Botschaft beim Hl. Stuhl vorgesehen.44 Schließlich war es Preußen, das nicht nur in allen Punkten nachgab, sondern auch seine Gesandtschaft in Rom opferte. In diesem Streit zwischen Partikularismus und gesamtdeutschem Integralismus drängte Rom im Dezember aus politischen Gründen darauf, dort zügig einen deutschen Botschafter zu installieren, um an der Kurie ein außenpolitisches Gegengewicht zu den westeuropäischen Kriegsgewinnern zu haben, insbesondere zu Frankreich. Auch die Errichtung einer Nuntiatur in Berlin wurde in jenen Tagen großzügig in Aussicht gestellt. Die Kurie hatte das Kräfteverhältnis richtig eingeschätzt, vor allem die außenpolitische Position des verfemten und isolierten Deutschlands. Eine Nuntiatur 1. Klasse war unzweifelhaft eine generöse Offerte des Vatikans, die traditionell als höchste Form päpstlicher Repräsentanz nur katholischen Höfen vorbehalten war (Wien, Madrid, Paris, Lissabon). Vor dem Ersten Weltkrieg hatten diese Nuntien nach Beendigung ihrer Mission den Kardinalspurpur erhalten und waren von Rechts wegen auch Doyens des Diplomatischen Corps.45

In Rom drängte man auf eine rasche Lösung, denn die Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zu Frankreich stand unmittelbar bevor. Mitte Dezember 1919 erhielt Pacelli Order aus dem Staatssekretariat, sich nach Berlin zu begeben, um dort direkte Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen.46 Diese charakterisierte der Münchener Nuntius damals als ex novo, was den Eindruck eines politischen Geschenks an das Reich noch unterstrich. In den letzten Tagen des Jahres konferierte Pacelli mit den höchsten Vertretern des Staates. Ebert machte ihm klar, dass die Reichsregierung schon lange den Plan einer gesamtdeutschen Botschaft in Rom ventiliert hatte, dabei aber von Bayern und Preußen behindert worden sei.47 Das Problem sei jetzt behoben; Bayern behalte seine Nuntiatur und die selbständig arbeitende römische Vertretung. Gegenüber der Bitte Eberts, eine Nuntiatur in Berlin einzurichten, verhielt sich Pacelli aus formalen Gründen merkwürdigerweise zurückhaltend, obgleich man in Berlin durch von Bergen schon Näheres wusste. Im Vatikan äußerte man sich dem Reich und Preußen gegenüber viel entgegenkommender. Gasparri hielt außerdem noch Ende Februar 1920 die Aufhebung der bayerischen Vertretung in Rom für möglich und stellte sie in das Ermessen der Münchener Nuntiatur.48 Auch dieser Vorgang verdeutlicht, wie weitgehend Pacelli schon die deutschen Kirchenfragen dominierte. Er hielt sich Ende Februar/Anfang März für etliche Tage in Rom auf,49 um die Berliner Nuntiaturfrage einer abschließenden Lösung zuzuführen.

Nun war also die deutsche Seite am Zug. Als Entgegenkommen der Zentralregierung gegenüber Preußen wurde für dessen bisherigen Gesandten Diego von Bergen am 25. März das Agrément eingeholt,50 das bereits Ende des Monats vorlag. Der deutsche Reichskanzler bat am 11. April persönlich darum, umgehend das Beglaubigungsschreiben für von Bergen auszustellen und „durch besonderen Kurier nach Rom zu senden“51, damit der neue Botschafter schnellstmöglich installiert werden könne. Dieser überreichte am 30. April in einem hochpolitischen Akt seine Kredenzialien; dem außerordentlichen Anlass angemessen kreisten die bedeutungsschweren Reden des ersten Botschafters und des Papstes um die politische Neuordnung Europas und die Pariser Vorortverträge. Benedikt XV. stellte heraus, dass „der geschlossene Friede […] der Welt noch nicht Ruhe und Befriedigung zu geben vermocht“52 hätte. Und von Bergen brachte ganz unumwunden den deutschen Motivationshintergrund zum Ausdruck, „die Völker wieder einander nahe zu bringen, um unter ihnen dem Prinzip des Rechts Geltung zu verschaffen und es obsiegen zu lassen über das der Macht“53. Bei jener Gelegenheit stellte der Papst auch die Errichtung einer Nuntiatur in Berlin und die Entsendung Pacellis in die Hauptstadt in Aussicht. An der Kurie dachte man allerdings nicht an eine Doppelakkreditierung des Prälaten für Berlin und München, wie sie dann aber faktisch eintrat. Da man am Tiber an einen zügigen Abschluss der bayerischen Konkordatsverhandlungen glaubte, wäre Pacelli in München rasch frei geworden, um nach Berlin zu übersiedeln. Tatsächlich blieb er jedoch bis 1925 in München wohnen und wurde erst dann abgelöst, da sich der endgültige Vertragsabschluss dort noch bis 1924 hinzog und er durch seine häufige Abwesenheit ein Druckmittel für die Berliner Verhandlungen hatte.

Tatsächlich stellte die Übergabe des Beglaubigungsschreibens im Vatikan einen politischen Meilenstein für Deutschland wie für den Hl. Stuhl dar, und zwar nicht allein, weil es hier um die Einrichtung eines Novums ging. Das Staatssekretariat versicherte Botschafter von Bergen Anfang Mai, „die Ansprache des Papstes bilde eine der wichtigsten Kundgebungen [seines] Pontifikats“54. Obgleich der Hl. Stuhl in den letzten Jahren erheblich an außenpolitischem Prestige gewonnen und seinen diplomatischen Aktionsradius erweitert hatte, litt er doch seit 1915 unter dem Würgegriff der Alliierten, insbesondere des katholischen Frankreichs und Italiens, die die Römische Frage in der Schwebe ließen und den Papst außenpolitisch isolierten. Trotz dieses Prestiges war der Papst damit von Italien und den übrigen Siegermächten abhängig, wenn es um direkte politische und territoriale Fragen ging. Schon in den letzten Kriegsmonaten hatte der preußische Gesandte beim Hl. Stuhl von Pacelli erfahren, dass der Vatikan die Positionen und die Haltung der Entente ablehne: „Sie forderte klipp und klar, dass der Papst sich ganz auf ihre Seite stelle und sie suchte, durch maßlose Drohungen und rücksichtslose, brutale Preßangriffe dieses Ziel zu erreichen“55. Der bayerische Gesandte beim Hl. Stuhl meldete noch im November 1919, „dass der Päpstliche Stuhl unter dem Drucke, den die Entente und zumal Frankreich auch noch nach dem Kriege auf ihn auszuüben versucht, leide und es ihm angenehm wäre, einen Rückhalt an Deutschland zu finden“56. Neben den anstehenden Konkordatsverhandlungen erklärt diese politische Konstellation das weite Entgegenkommen des Hl. Stuhls gegenüber Deutschland. Der päpstliche Vertreter in Bern und spätere Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione (1877–1944) brachte es in jenen Wochen auf den Punkt, indem er durchblicken ließ, dass die Kurie gerade auf den politischen Charakter der deutsch-vatikanischen Beziehungen gesteigerten Wert lege.57

Nachdem das päpstliche Staatssekretariat am 9. Mai 1920 offiziell die Errichtung einer Nuntiatur in Berlin bekannt gegeben und für Pacelli das Agrément erbeten hatte, drängte die Reichsregierung nun ihrerseits auf die Realisierung. Die Zustimmung zur päpstlichen Vertretung war im politischen und gesellschaftlichen Berlin nahezu allgemein, nur ultrarechte und konservativ protestantische Kreise äußerten Bedenken. Die Deutsch-Evangelische Korrespondenz widmete sich in jenen Tagen ausführlich diesen Plänen und glaubte, dass eine doppelte Vertretung des Hl. Stuhls in Deutschland „das paritätische Verhältnis der Konfessionen in Deutschland über Gebühr“58 belasten würde. Ja, wenige Tage später diffamierte dasselbe Blatt den Papst als Franzosenfreund, da in jenen Wochen die Nationalpatronin Jeanne d’Arc (1412–1431) und die Herz-Jesu-Propagatorin Marguerite-Marie Alacoque (1647–1690) heilig gesprochen wurden.59 Auch die antikirchliche Splittergruppe des Reichsverbands für staatliche und kulturelle Unabhängigkeit erhob Ende Mai direkt beim Auswärtigen Amt Einspruch, da historisch „römische Nuntiaturen stets Mittelpunkt sehr gefährlicher politischer Umtriebe gewesen“60 seien.

Pacelli bauschte solche Gegenströmungen aus taktischen, aber auch aus persönlichen Gründen auf, da ihm das preußisch-protestantische Umfeld in Berlin Sorgen bereitete.61