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Dr. med. Friedrich Pürner weiß, wovon er spricht. Als Gesundheitsamtsleiter hat er die ersten beiden Corona-Wellen an einem Brennpunkt des Geschehens erlebt. Sein Fazit: Dass Corona zu einer Krise solchen Ausmaßes wurde, liegt nicht in erster Linie an der Gefährlichkeit des Virus, sondern an den Fehlern in unserem Gesundheitssystem. Die Verschränkung von Politik und Medizin hat teilweise fatale Folgen, die lange unbemerkt blieben. Corona wirkt wie ein Brennglas, denn wir bekommen diese Auswirkungen in der Krise erstmals wirklich zu spüren. Selbst wenn wir die aktuelle Pandemie in den Griff bekommen, wird die nächste das öffentliche Gesundheitswesen vielleicht noch deutlicher an seine Grenzen führen. Sind wir dafür gewappnet? Nein, sagt der Amtsarzt. Wir müssen die strukturellen Probleme endlich angehen, Missstände beseitigen und Qualitätsstandards setzen, um künftigen Herausforderungen begegnen zu können.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2021
Für Samuel, Julius und David
»Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du.«
Mahatma Gandhi
DR. med. Friedrich PÜrner
Diagnose
Panik
demie
Das kranke Gesundheitssystem
»Und warum fallen wir, Sir? Damit wir lernen können, uns wieder aufzurappeln.«
(Alfred Pennyworth zu Bruce Wayne – In: Batman Begins, © Warner Bros.)
Für wen ist dieses Buch gedacht? Für alle. Niemand sollte sich ausgeschlossen fühlen. Alle Leser sind herzlich eingeladen, mich zu begleiten und die Dinge aus meiner Perspektive zu sehen. Ganz bewusst habe ich auf zuweilen unverständliche wissenschaftliche Sprache und ausführlichste Erklärungen verzichtet. Auf eine ständige gendergerechte Formulierung habe ich ebenfalls verzichtet. Ich schätze jeden Menschen, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Hautfarbe oder seiner Vergangenheit.
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© 2021, LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur,
www.textbaby.de
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-7844-8407-5
www.langenmueller.de
Inhalt
Prolog:
Wir verändern uns
I. Teil: Ansteckende Aufklärung
1. Das Imperium schlägt zurück
2. Corona geht viral
3. Ein Beamter hat zu dienen
4. Abschied mit Abstand
II. Teil:
Krankes System
5. Vorbereitung? Fehlanzeige
6. Den Hausarzt besser nicht fragen?
7. Der geplante Mangel
8. Blinddarm Gesundheitsamt
9. Vorgelagert, nachgelagert
III. Teil:
Ungesunde Diskussionskultur
10. Drohen statt erklären
11. (Quer-)Denken erlaubt?
12. 25 Narrative, die Sie hinterfragen sollten
Epilog:
Unser altes Leben ist vorüber
Dank
Prolog: Wir verändern uns
Anlässlich eines Tagebuchinterviews mit der Süddeutschen Zeitung sagte ich am 6. April 2020 Folgendes:
»Es ist ja gut, dass die Menschen beim Einkaufen inzwischen Abstand halten und Masken tragen. Für mich ist das aber auch ein Bild, das eine böse Vorahnung weckt. Wir werden uns verändern, wir werden ängstlicher, wir entfernen uns voneinander. Viele werden einen Schaden davontragen, vor allem psychisch labile Menschen. Ich sehe nicht nur hoffnungsfroh dem Ende der Krise entgegen. Sondern auch mit großer Sorge.«
Nun ist es sicher nicht so, dass ich mit einer prophetischen Gabe gezeichnet wäre. Was ich aber besitze, ist eine große Menschenkenntnis. Ich bemerke relativ schnell Stimmungsschwankungen bei Menschen und in Situationen allgemein. Ich spüre auch schnell, wenn jemand Angst hat. Während meiner Tätigkeit als Arzt hat mir diese Eigenschaft oft geholfen.
Zum Zeitpunkt des Interviews waren wir bereits einige Wochen inmitten der Pandemie, und ich bemerkte in vermeintlich unbedeutenden Situationen, dass sich die Menschen veränderten. Spontane Umarmungen blieben aus, traf man sich im Supermarkt, so hielt man gebührend Abstand, die ersten Diskussionen über die Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen wurden viel intensiver und heftiger geführt, als das in anderen Bereichen jemals der Fall gewesen wäre. Auch die Nervosität in der Politik war zu spüren, und das war ein ganz und gar ungutes Zeichen. Denn wenn Politiker nervös werden, dann neigen sie zu unüberlegten Schnellschüssen.
Der SZ-Redakteur fragte mich noch, ob ich das nun ernsthaft sagen wollte und ob es nicht was Positives als Ausblick zu berichten gäbe. Mir fiel leider nichts Positives ein; und traurigerweise lag ich mit meiner Einschätzung gar nicht so falsch.
Die in diesem Buch beschriebenen Situationen sind wahr. Die Geschichten mit den fiktiven Figuren basieren auf wahren Tatsachen. Allerdings musste ich die Personen und manche Aussagen so verändern, damit weder die Protagonisten erkannt noch dienstliche Geheimnisse enthüllt werden. Mir wäre es auch lieber, wären manche Dinge nicht so passiert. Aber sie sind es und verdeutlichen die Lücken in diesem System. Mit meinen Schilderungen sollen keine Pauschalurteile gefällt werden. Aber es ist mir doch wichtig, meine Meinung deutlich zu machen und Missstände aufzuzeigen, aufgrund derer alles begann.
I. Teil: Ansteckende AufklÄrung
1. Das Imperium schlägt zurück
Der Anruf kam unverhofft. Am 3. November 2020, etwa gegen zehn Uhr, teilte mir die Regierung von Schwaben mit bürokratischer Nüchternheit mit, dass ich nun den Job als Amtsleiter des Gesundheitsamtes Aichach-Friedberg los sei und bereits am kommenden Montag meinen Dienst am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) aufnehmen müsse. Das LGL war mir bereits bekannt, denn vor meiner Amtsübernahme in Aichach-Friedberg hatte ich am LGL die Spezialeinheit Infektiologie/Flughafen und den Bereich Epidemiologie geleitet.
Nun würde ich am LGL dringend gebraucht. Zunächst solle ich abgeordnet werden, das Ziel sei aber eine dauerhafte Versetzung. Dass ich damit nicht einverstanden war, wurde zwar zur Kenntnis genommen, trotzdem flatterte ein schriftlicher Bescheid zwei Tage später ins Haus. Im typischen Amtsdeutsch begründete man die Abordnung damit, dass meine langjährigen Erfahrungen zum Aufbau eines neuen Bereiches erforderlich seien.
An diesem Tag vermeldete das Robert Koch-Institut (RKI) 19.900 Neuinfektionen in Deutschland. Also fast die Zahl, die Bundeskanzlerin Merkel bis Weihnachten prognostiziert hatte. Die Meldezahl der Positiven in der Woche, in der ich über meine plötzliche Abordnung informiert wurde, lag bei circa 250 Fällen. Zum Vergleich: Im gesamten Oktober hatten wir nur etwa 450 Fälle. Und genau in dieser Situation sollte ich die Leitung meines Gesundheitsamtes abgeben? Aufgrund von dringenderen Aufgaben? Man kann sich in etwa vorstellen, wie seltsam mir das vorkam, inmitten einer Krise solchen Ausmaßes. Für mich war völlig klar, dass ich nun strafversetzt werden sollte.
Mein Team und ich arbeiteten bereits seit Wochen am Anschlag. Auch in Zeiten vor Corona beschäftigten sich die Gesundheitsämter schließlich viel mit Infektionsschutz. Vor allem im Winter wurden die sogenannten meldepflichtigen Erkrankungen wie beispielsweise Influenza oder Norovirus-Infektionen an uns gemeldet und entsprechend bearbeitet. Die Tuberkulose beschäftigte die Mitarbeiter des Infektionsschutzes ganzjährig gleich stark.
Neben dem Infektionsschutz hatten die Hygienekontrolleure zahlreiche Überwachungsaufgaben wahrzunehmen. So mussten die Alten- und Pflegeheime, die Krankenhäuser, die Wasseranlagen und im Sommer die Badeseen kontrolliert werden. Neben diesen nicht gerade wenig aufwendigen Tätigkeiten mussten durch die Ärzte zahlreiche Gutachtenuntersuchungen an angehenden oder kranken Beamten durchgeführt werden.
Zudem kommt einem Gesundheitsamt noch eine sozialmedizinische Aufgabe zu: Jährlich müssen angehende Schulkinder zur sogenannten Schuleingangsuntersuchung. Diese Aufgabe wird in der Hauptsache von den Fachkräften der Sozialmedizin übernommen. Neben den bereits genannten Mitarbeitern braucht es natürlich auch noch Mitarbeiter für die allgemeine Verwaltung.
Mit Beginn der Pandemie waren all diese Aufgaben vergessen: Es wurde nur noch Corona bearbeitet. Alles andere setzte man bis auf Weiteres aus.. Das war ein Fehler, denn gerade die Alten- und Pflegeheime hätten dringend mehr Expertise und fachliche Beratung gebraucht. Doch die Ermittlung der positiv Gemeldeten und deren Kontaktpersonen fraß alle Zeit und sämtliches Personal auf. Wir mussten bereits in Schichten arbeiten, um die Ermittlung der positiven Meldungen und deren Kontaktpersonen rechtzeitig vornehmen zu können. Für andere Aufgaben war keine Zeit mehr. Ende Februar, Anfang März fanden die letzten Begehungen einiger Heime statt. Auch deshalb, weil es ein vorübergehendes Betretungsverbot dieser Heime gab.
Und so hatten mein Team und ich durch Corona bereits unzählige Überstunden durch Dienste an den Wochenenden oder durch längere Arbeitstage angesammelt, während die Pandemie immer weiter Fahrt aufnahm.
In unserem Team waren wir hervorragend aufeinander eingespielt. Man wusste um meine Linie als Vorgesetzter, und ich kannte die Mitarbeiter und ihre Eigenheiten, Stärken und Schwächen, die nun mal jeder von uns hat.
Ich verstand mich immer schon als Teamplayer. Eine Führungsrolle innezuhaben, bedeutet für mich nicht automatisch, dass ich nicht mehr am Tagesgeschäft teilnehme. Natürlich hatte ich als Chef, wie mich die Mitarbeiter nannten, auch noch andere Aufgaben, Krise hin oder her. Ich führte Personalgespräche, änderte und passte Verwaltungsabläufe an. Sehr zeitraubend waren auch die sogenannten großen Besprechungen im Landratsamt, an denen alle Abteilungsleitungen und sonstige wichtige Personen in einer Krise teilnahmen. Trotzdem versuchte ich immer wieder, im Team mitzuarbeiten, auch um die Abläufe nicht aus den Augen zu verlieren und Probleme besser verstehen zu können. Und um Lösungswege – falls nötig – aufzuzeigen.
Wir waren also ein eingeschworener Haufen mit einem starken Teamgeist, und das machte mir den Abschied besonders schwer.
Als ich nach jenem Telefonat den Hörer sinken ließ, atmete ich tief durch und überlegte, was nun zu tun war. Zunächst einmal hieß es: Situation annehmen. So war es nun, und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem zu stellen, was mir gerade mitgeteilt wurde. Als Erstes wollte ich mein Team darüber informieren. Keinesfalls sollte die Pressemitteilung der Regierung von Schwaben, die kurze Zeit später an die Medien ging, mir zuvorkommen.
Zunächst griff ich aber erneut zum Hörer und rief meine Stellvertreterin an. Mit ihr pflegte ich eine überaus wertvolle und wertschätzende Zusammenarbeit, weshalb sie es als Erste erfahren sollte. Natürlich war sie nicht besonders erfreut und machte sich sogleich Sorgen um mich. Ich bat sie, das Team für eine Besprechung in zehn Minuten zusammenzutrommeln.
Als alle, natürlich unter Berücksichtigung der Infektionsschutzregeln, zusammengekommen waren, schilderte ich kurz und knapp die Situation. Eisiges Schweigen herrschte, und da jeder eine Maske trug, waren die Gesichtsregungen nicht erkennbar. Es war aber zumindest auszumachen, dass niemand vor Freude lachte.
Einige meiner Mitarbeiter blieben nach Beendigung der Besprechung sitzen. Keiner konnte glauben, was gerade geschehen war, verstehen sowieso nicht. Die Stimmung, nach so langer Zeit der Arbeit am Limit ohnehin angespannt, war mit einem Mal tief im Keller, die letzte Motivation, die man aus dem Zusammenhalt untereinander und gutem Zureden geschöpft hatte, erloschen.
Zugleich wusste ich, dass es sinnvoll war, die Sache möglichst schnell und klar zu beenden, ohne noch zwecklose Diskussionen um Wenn und Aber zu führen. Ich nahm mir also die darauffolgenden Tage frei und kam nur noch sporadisch ins Büro, um meine Sachen zu packen und mit meiner Stellvertretung ein paar Dinge abzuklären.
Das war’s.
Bedauerlicherweise unterstützte mich die Lokalpolitik nicht. Man hätte durchaus erwarten können, dass sich Politiker in einer solchen Krise zumindest mit einem Mindestmaß einbringen würden, wenn der Amtsleiter eines Gesundheitsamtes so kurzfristig versetzt werden sollte. Aber falsch gedacht.
Nach meinen ersten kritischen Äußerungen in überregionalen Medien waren es gerade die Kommunalpolitiker der Grünen gewesen, die meinen Kopf gefordert hatten. In Leserbriefen und Pressemitteilungen machten sie mich nun nach Bekanntwerden meiner Abordnung plötzlich für die steigenden Zahlen der positiv Getesteten im Landkreis verantwortlich. Wie lächerlich. Denn in diesem Zeitraum stiegen die Zahlen in fast jedem Landkreis Bayerns. Die Karte auf der RKI-Webseite zeigte Bayern in einer einzigen knallroten Farbe, weil so gut wie überall die sogenannten Inzidenzgrenzwerte gerissen wurden. Insofern war die Logik der Grünen nicht schlüssig, denn ich war natürlich nicht für jeden Landkreis verantwortlich.
Auch ein CSU-Landtagsabgeordneter fand auf seiner sozialen Plattform, aber auch in den Medien kritische Worte über mich … Meine Abordnung sei die richtige Entscheidung gewesen, ließ er die Medien wissen, und auf Facebookäußerte er Unverständnis, weil ich die Lage als überdramatisiert bezeichnete und immer wieder auf die nicht evidenzbasierte Schutzwirkung von Community-Masken hinwies. Sein Vorwurf war, ich würde mich damit meinem Dienstherrn gegenüber »grob illoyal« verhalten. Das sagt natürlich schon viel über das Demokratieverständnis und die Haltung zur Meinungsfreiheit eines Landtagsabgeordneten aus. Zumal der Politiker kein Fachmann auf diesem Gebiet ist.
Dafür setzte sich der Politiker sogleich heftigem Gegenwind seitens der Bürger aus, was an den Kommentaren unter seinen Beiträgen gut erkennbar war. Einige Bürger forderten die Rücknahme meiner Abordnung und kritisierten den Umgang mit der Meinungsfreiheit. Überhaupt waren es viele Bürger, die mich unterstützten. Zahlreiche Mails und Briefe bekam ich, fast alle waren zustimmend und anerkennend. Als meine Abordnung öffentlich bekannt wurde, gab es Aktionen mit Teddybären vor dem Landratsamt, es zog sogar die eine oder andere Demonstration durch meinen sonst so beschaulichen Wohnort, in der sich die Menschen mit mir solidarisch erklärten.
Bemerkenswert fand ich auch, dass sich mehrere Hundert Ärzte für mich einsetzten. Zwei bekannte Kinderärzte aus München schrieben einen offenen Brief an die Bayerische Staatskanzlei und an das Gesundheitsministerium und forderten die Rücknahme meiner Versetzung sowie die Zulassung der freien Meinungsäußerungen und einen wissenschaftlichen Diskurs. Dieses Schreiben wurde von über dreihundert Ärzten und Wissenschaftlern unterzeichnet. Auch andere Ärzte solidarisierten sich mit weiteren Schreiben und Unterschriften, was mich sehr freute. Es hatte natürlich keinerlei Wirkung, aber die Geste zählte und bedeutete mir sehr viel.
2. Corona geht viral
Die Pandemie mit dem Erreger namens SARS-CoV-2 hatte Deutschland, Europa und den Rest der Welt im Griff. Seit Februar 2020 war kein Tag ohne neue Meldungen über das sogenannte Coronavirus vergangen. Ein regelrechter Hype entstand. Die Medien stürzten sich darauf, die Politik musste reagieren. Keine Partei, kein Politiker wollte für auch nur einen Toten verantwortlich gemacht werden.
Bereits Ende 2019, vermutlich zuerst in China, war die neuartige Infektionskrankheit COVID-19 aufgetreten. Und sie hatte sich so rasend schnell verbreitet, dass sie die WHO am 11. März 2020 als Pandemie einstufte. Wichtig dabei ist, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Wort Pandemie zunächst die unkontrollierte Ausbreitung einer Erkrankung über mehrere Kontinente hinweg meint und damit noch nichts über deren Gefährlichkeit ausgesagt ist.
In Deutschland waren die ersten Fälle bereits Ende Januar 2020 nachgewiesen worden. Grundlagen zur Beurteilung einer Pandemie und deren Verlauf sind die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen, der Anteil schwerer und tödlicher Krankheitsverläufe, die Anzahl derer, die von einem Infizierten angesteckt werden und natürlich die Ressourcenbelastung des Gesundheitswesens.
Hinzu kamen die ersten erschreckenden Bilder aus Italien. Offiziell verstarben in Italien zwischen dem 20. Februar und 31. März 2020 13710 Menschen an COVID-19. (laut Wikipedia). Aus Bergamo flackerten Bilder mit Lastwagen voller Leichen um die ganze Welt.
Das RKI bewertete das Risiko für die Bevölkerung in Deutschland noch Ende Februar 2020 als »gering bis mäßig«, stufte dieses Risiko dann aber Mitte März als »hoch« und Ende März als »sehr hoch« ein.
Mit Stand 15. April 2021 meldete das RKI bisher 3073442 bestätigte Fälle und 79381 Todesfälle in Deutschland. Diese Zahlen müssen natürlich ins Verhältnis zu etwa 83 Millionen Menschen in Deutschland gesetzt werden. Leider geschah das zu keinem Zeitpunkt. Von Beginn der Krise an konzentrierte sich die Berichterstattung, gefüttert durch namhafte Experten sämtlicher Fachrichtungen, auf positive Fälle von Getesteten, ohne auf die Schwere der Erkrankung zu achten. Und so entstand bereits zu Anfang der Pandemie ein unkontrollierbarer Zahlensalat, der die Bevölkerung und leider auch den Großteil der Medien in die Irre führte.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst musste auf diese Krise reagieren, und er tat es; viel zu spät und wohlgemerkt auf seine ganz eigene Art. Denn als die ersten Besprechungen anberaumt wurden, waren die meisten Gesundheitsämter bereits völlig überlastet, vor allem, weil es an Personal und technischer Ausstattung fehlte. Denn das neue Virus traf nicht nur eine in Sachen Immunität inkompetente Bevölkerung, das Virus traf auch auf einen völlig unvorbereiteten Öffentlichen Gesundheitsdienst.
Der Mann trug einen dunkelgrauen Anzug, die dunkle Brille hob sich von seiner blassen Gesichtsfarbe ab. Als er das Podium betrat, wurde es still. Er hatte die Chefs und Chefinnen der Gesundheitsbereiche in ihrem Zuständigkeitsbereich kurzfristig eingeladen. Jeder im Saal wusste, dass es sich um ein topaktuelles Thema handelte.
Der Mann rückte energisch das Mikrofon zurecht, tippte einige Male darauf und räusperte sich gekünstelt: »Sehr geehrte Damen und Herren, das neue Koronar-Virus stellt uns vor große Herausforderungen.«
Hatte Herr Langenberger, der eine leitende Position im zuständigen Ministerium innehatte, tatsächlich gerade Koronar gesagt, mit Betonung auf der letzten Silbe und einem schnarrenden r am Ende?
Es wurde zwar zu dieser Zeit schon vermutet, dass dieses neuartige Virus, namens SARS-CoV-2, auch die Herzkranzgefäße, also die Koronargefäße, angreift.
Doch das Virus hieß umgangssprachlich immer noch Corona-Virus. Jedes Kind wusste das inzwischen.
Um das eben Gesagte noch zu untermauern, fuhr Langenberger fort: »Die Zahlen in unserem Land sprechen eine deutliche Sprache. Das neue Koronar-Virus wird viele Todesopfer fordern. Sie stehen an der Front und werden kämpfen müssen.«
Er sagte es schon wieder. Koronar. Diesmal gab es keinen Zweifel mehr: Der Abteilungsleiter des Ministeriums hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Die Zuschauer im Saal begannen vorsichtig zu tuscheln, dann zu lachen. Langenberger reagierte irritiert. Seine Stimme wurde schriller, als er um Ruhe bat. Ohne Erfolg. Das Publikum war nicht mehr zu halten.
Nachdem die ersten Lacher verflogen waren, stand ein Mitarbeiter auf und verlangte mit einer Handbewegung nach dem Mikrofon.
Er stellte nur eine Frage: »Bitte, Herr Langenberger, könnten Sie uns freundlicherweise Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse über dieses neuartige Virus darlegen? Sie haben ja mit allergrößter Ausführlichkeit auf die potenziellen Gefahren hingewiesen, weshalb wir nun auch angewiesen wurden, den Maßnahmenkatalog aus Ihrem Ministerium zu befolgen.«
Im Saal wurde es still. Das war nicht nur irgendeine Frage. Sie hatte Sprengkraft, denn jeder im Raum wusste, dass Herr Langenberger diese Frage nicht beantworten konnte. Zum einen hatte er gerade selbst den Beweis erbracht, dass er sich mit diesem Virus noch wenig beschäftigt hatte, zum anderen waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse bislang sehr überschaubar. Natürlich wusste der Fragesteller das alles, bevor er die Frage laut formuliert hatte.
»Wir stehen gerade erst am Anfang dieser Situation«, begann Langenberger vorsichtig zu antworten. »Hierbei handelt es sich um ein dynamisches Geschehen, und wir lernen von Tag zu Tag hinzu.«
Und jetzt kam es. »Das sind allerdings nur, und das im besten Falle, Lebensweisheiten und keine wissenschaftlichen Erkenntnisse«, antwortete der Mitarbeiter, so als spreche er über das Wetter. »Wenn ich schon diese Maßnahmen der Bevölkerung nahebringen muss, dann würde ich doch wenigstens gerne die wissenschaftlichen Hintergründe erfahren.«
Neben Langenberger erhob sich nun ein langer und schlaksiger Mann, um ihm zu Hilfe zu kommen:
»Sie wissen genau, dass es noch sehr wenige Daten über dieses Virus gibt. Die Wissenschaft steht am Anfang, gleichwohl müssen unsere Behörden nun reagieren. Das ist im Übrigen auch ganz klar der politische Wille. Lassen Sie uns deshalb vereint zusammenstehen und nun die Maßnahmen vollziehen. Das Ministerium braucht Ihre Unterstützung, die Bevölkerung benötigt Ihre Hilfe.«
»Würden Sie mir bitte diesen politischen Willen erläutern? Bedeutet das nun, dass wir uns von unserer Fachlichkeit verabschieden und nur noch als verlängerter Arm des Ministeriums dienen?«
Nun schwoll sichtbar eine Ader an der Schläfe des kantigen Amtschefs an. »So eine Unterstellung möchte ich hier nicht mehr hören. Gehen Sie nicht zu weit!«
Der Mitarbeiter ruhte wie ein Fels inmitten seiner Kolleginnen und Kollegen und regte sich nicht. Nichts deutete darauf hin, dass er nervös oder unsicher wurde. Er stand nur da und blickte regungslos auf den drahtigen Amtschef. Dieser starrte wütend zurück. Herr Langenberger schien im Boden versinken zu wollen.
Überraschenderweise war es der Fragesteller, der sich schließlich zurückzog: »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit, schließlich ist jetzt Mittagspause«, seufzte er, gab das Mikrofon ab und setzte sich wieder.
»Nun gut«, meinte der Amtschef des Ministeriums zögerlich, »dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit. Und einen erfolgreichen Nachmittag.«
Mit diesem Wissen drang die Krise samt Virus offiziell in die Gesundheitsämter ein. Wir waren nicht vorbereitet. Weder personell noch fachlich und schon gar nicht technisch.
Um diese vielleicht etwas verstörende Aussage nachvollziehen zu können, werden wir in einem späteren Kapitel einen genaueren Blick auf die Struktur der Gesundheitsämter insgesamt werfen.
3. Ein Beamter hat zu dienen, nicht zu kritisieren
Aber wie kam es nun dazu, dass ich als Leiter eines Gesundheitsamtes inmitten der, wie uns von allen Seiten versichert wird, größten Krise der Bundesrepublik seit dem Krieg abgesetzt wurde?
Bereits seit März 2020 stand mein Gesundheitsamt viel stärker im Fokus und im Licht der Öffentlichkeit als in normalen Jahren. Häufig war die Expertenmeinung zu dem sich immer schneller entwickelnden Geschehen gefragt, und ich gab bereitwillig Auskunft und führte Interviews mit verschiedenen Medien. Die Nachfragen zum Thema Corona waren groß, und meine persönliche Überzeugung war es seit jeher, dass sich Führungskräfte fachlich äußern müssen.
Nun gibt es darüber bei meinen Kollegen unterschiedliche Auffassungen, wie und ob man überhaupt nach außen kommuniziert. Manche Amtsleiter schweigen. Die Gründe kenne ich nicht, ich kann sie nur vermuten. Im besten Falle möchten diese Kollegen nicht ihren Namen in der Zeitung lesen, erst recht nicht im Zusammenhang mit einer möglicherweise kritischen Aussage.
Andere Kollegen hingegen lassen die Öffentlichkeitsarbeit über die Pressestelle erledigen. Das ist natürlich ein legitimer Weg, jedoch kann die Pressestelle bei Gesprächen weniger gut auf fachliche Fragen reagieren, da es ja meist gerade an dieser Fachlichkeit fehlt. Und sämtliche Anfragen, vor allem in einer akuten Situation, schriftlich zu beantworten, ist zeitlich kaum möglich.
Zudem sind medizinische Sachverhalte doch komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.
Ich hatte bis dahin sehr gute Erfahrungen mit den Medien gemacht. Vor allem mit den regionalen Zeitungen waren der Austausch und die Kommunikation von Vertrauen geprägt. Auch die überregionalen Zeitungen, Fernseh- und Radiosender berichteten fair und meist fachlich sauber. Mit der Pressestelle im Landratsamt gab es die Absprache, dass ich mich zu fachlichen Themen auch äußern könne, ohne vorher um Erlaubnis fragen zu müssen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Ich kenne einige Ämter, in denen ohne vorherige Absprache nicht mit den Medien gesprochen werden darf. Ich wusste es also sehr zu schätzen, dass man mir diese Freiheit gegeben hatte. Zugleich hielt ich dies in gewisser Weise auch für selbstverständlich und wichtig.
Ich entschied mich also meinem Naturell entsprechend für eine offene Kommunikation mit den Medien, weshalb ich auch immer wieder in den Zeitungen zitiert wurde. Bereits vor Corona hatte ich ja fachliche Meinungen zu bestimmten Themen geäußert. So hatte ich mich im Jahr 2019 bereits öffentlich gegen das neue Masernschutzgesetz positioniert. Das schlug allerdings keine hohen Wellen, denn niemand interessierte sich in dieser Zeit sonderlich für die Masern.
Nun, seit Beginn der Pandemie, war alles anders.
Beim Thema Corona hatte ich mich früh öffentlich gegen die Zählung der sogenannten Neuinfizierten durch PCR-Tests, gegen den PCR-Test selbst, gegen die Inzidenzgrenzen sowie gegen andere Maßnahmen positioniert.
Die Corona-Warn-App, die unter großem Beifall und politischem Getöse im Juni 2020 präsentiert wurde, wollte ich nicht bewerben. Ich ließ mich in den Zeitungen zitieren, dass ich mir diese App weder herunterladen noch diese empfehlen würde. Sie machte für uns Gesundheitsämter keinen Sinn. Ich empfahl auch, dass man unbekümmert in den Urlaub fahren solle und nicht unbedingt zu Hause bleiben müsse. Eine meiner Thesen war, dass es an der Adria – hinsichtlich einer möglichen Coronainfektion – sicherer sei als in Bayern. Denn in der Ferienzeit (Pfingsten und Sommer 2020) hatten wir in Bayern einige große Ausbrüche zu verzeichnen, die uns der Statistik nach zu einem immensen Risikogebiet machten.
Ein regionaler Medienwirbel um meine Person formierte sich, als auf einem örtlichen Agrarbetrieb rumänische Saisonarbeiter positiv getestet wurden. Nicht wenige Bürger und Politiker forderten die sofortige Schließung des Betriebes. Alle Saisonarbeiter sollten in Quarantäne gehen. Ich vertrat dazu eine andere fachliche Auffassung, denn warum sollte ich sofort den Betrieb schließen und alle Saisonkräfte in Quarantäne schicken, wenn ein schlüssiges und sauber umgesetztes Hygienekonzept existierte?
Dieses Hygienekonzept sah beispielsweise eine strikte Trennung der einzelnen Arbeitsgruppen und der Wohnbereiche vor, sodass sich nicht alle Saisonkräfte untereinander vermischen konnten. Insofern war eine Übertragung des Virus auf alle Saisonkräfte sehr unwahrscheinlich. Und in diesem Zusammenhang kritisierte ich die Interpretation von positiven PCR-Ergebnissen und deren Konsequenzen, weshalb ich wiederum ziemlich stark von Bewohnern des Landkreises, aber vor allem von meinen Fachvorgesetzten kritisiert wurde. Dieser Vorgang brachte mich zum Umdenken.
Mir wurde langsam klar, dass sowohl die Bevölkerung als auch die Politiker viel zu wenig über dieses Thema aufgeklärt waren. Und dass alle so taten, als sei das Gegenteil der Fall, machte es noch schlimmer.
Das Thema Corona war für mich seit Februar 2020 beruflich omnipräsent gewesen. Es kamen täglich viele Anrufe und E-Mails, die es zu beantworten galt. Mit meinem Team besprach ich einige wiederkehrende Fragen, auch deshalb, damit wir unsere Antworten angleichen konnten. Betriebe wünschten sich vom Gesundheitsamt die Erstellung von Hygieneplänen, Privatpersonen riefen an und wollten über Verhaltensregeln aufgeklärt werden. Urlauber aus Österreich und Italien begaben sich freiwillig in Quarantäne und verlangten anschließend eine Bestätigung dafür. Diese konnte ich aber nicht ausstellen, denn wir hatten diese Menschen nicht in Quarantäne geschickt. Andere wiederum bettelten förmlich darum, endlich in Quarantäne geschickt zu werden, weil sie so Angst vor diesem Virus hatten, und in Quarantäne müssten sie eben keinen Urlaub nehmen, um daheimbleiben zu können.
Ärzte und medizinische Fachkräfte ersuchten Rat, und sogar die Bestattungsinstitute hatten Fragen, wie man zukünftig mit Leichen umzugehen habe.
Auffällig war tatsächlich, wie ängstlich die Menschen waren. In der Bevölkerung machte sich eine Unsicherheit breit, die mir ganz und gar nicht gefiel. Ich hatte den Eindruck, dass viele ein Risiko nicht mehr vernünftig einschätzen konnten. Vor allem wichtige Personen des öffentlichen Lebens waren plötzlich vollkommen kopflos und teilweise gar panisch. Lehrer, Schulleiter, Erzieher, Ärzte, Polizisten, Firmenchefs und so fort hatten Unmengen an Fragen. Mir fiel auf, dass sich auf einmal viele um eine Entscheidung drücken wollten. Mit einem Mal standen die Gesundheitsämter für die breite Bevölkerung als Berater im Fokus. Das war natürlich personell in keiner Weise zu schaffen.
Jedenfalls war nach den Ereignissen und Kontroversen um den Agrarbetrieb das überregionale Interesse der Medien an meiner Person geweckt.
Und so kam es, dass mich der Bayerische Rundfunk und der Münchener Merkur um ein Interview baten. Diesem Wunsch kam ich gerne nach. Beide Gesprächspartnerinnen waren sehr angenehm und schrieben tatsächlich das, was ich sagte. Meine Kritik an einigen Punkten der Coronastrategie der Bayerischen Staatsregierung war intern hinlänglich bekannt. In mehreren Besprechungen, aber auch schriftlich, hatte ich mich immer wieder kritisch zu den dann in den Medien genannten Punkten geäußert.
Intern fand ich kein Gehör, hinter vorgehaltener Hand aber sehr viel Verständnis. In vielen Gesprächen mit Kollegen, auch Beamtenkollegen aus anderen Fachdisziplinen, wurde mir offen gesagt, dass sie meine oft von Pragmatismus geprägten Positionen vollständig nachvollziehen könnten. Aber man müsse sich nun mal an die Regeln halten, auch wenn diese keinen Sinn hätten. Denn dafür würde es ja Regeln geben, und diese zu hinterfragen, könne in dieser Zeit schädlich und sogar gefährlich werden, auch für Fachexperten, die sich entsprechend kritisch äußerten.
Sehr ernüchternd fand ich die Aussagen von zwei mir übergeordneten Personen, die mich immer wieder auf den richtigen Kurs bringen wollten. Beide, völlig unabhängig von Ort und Zeit, sagten zu mir, dass die Bevölkerung dringend Führung bräuchte, weil die meisten Menschen sonst vollkommen orientierungslos wären. Und unsere Aufgabe in Leitungs- beziehungsweise Vorbildpositionen im Staatsdienst sei es, den Menschen Führung zu geben. Beim ersten Mal, als ich das zu hören bekam, war ich noch verwundert, aber nicht weniger empört. Als ich aber ein paar Wochen später diese Aussage fast wortgleich wieder zu hören bekam, da wurde mir seltsam zumute. Hielt man die Bevölkerung tatsächlich für so unfähig? Das war dann auch meine Frage an beide Gesprächspartner. Und beide antworteten mit einem entschiedenen Ja. Die meisten Menschen in der Bevölkerung würden geführt werden wollen. Dann bräuchten sie sich nicht darum zu kümmern, wie es weitergeht. Und wir Beamte in leitenden Positionen sollten diese Führung übernehmen und keinesfalls die Menschen mit unterschiedlichen Aussagen verunsichern.
Die Gespräche mit den beiden Personen fanden deshalb statt, weil ich Kritik an den Maßnahmen in der Pandemie öffentlich übte. Besonders kritisierte ich die häufigen Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen gegenüber der Bevölkerung. Viele Personen mussten nur aufgrund eines positiven Testergebnisses in Isolation, viele Kontaktpersonen daraufhin in Quarantäne. Da viele der positiv Getesteten keine Symptome zeigten, drängte ich auf eine zusätzliche Bestimmung von anderen Werten in den Laboren, damit eine tatsächliche Ansteckungsfähigkeit erkennbar würde. Meine Kritik wurde abgetan und dafür der Wunsch der Bevölkerung nach Führung in den Mittelpunkt gestellt. In meiner Rolle als Arzt und als Beamter wurde damit bei mir eine rote Linie überschritten.
4. Abschied mit Abstand
Meine letzten Stunden im Amt verbrachte ich mit der Klärung offener Fragen der Mitarbeiter und der Organisation der Abläufe für die nächsten Tage, damit zunächst weitergearbeitet werden konnte. So mussten noch einige Entscheidungen hinsichtlich der Quarantänebetreuung von Kontaktpersonen, besonders bei Schulkindern, sowie die Vorbereitungen zur Einführung der Schnelltests getroffen werden.
Der Anruf mit meiner Strafversetzung war an einem Dienstag erfolgt, Mittwoch und Donnerstag hatte ich freigenommen. Für den Freitag plante ich eine Verabschiedung vom Team und wollte vorher noch eine Pressekonferenz abhalten. Das Interesse der Medien war natürlich durch die Presseerklärung seitens der Regierung von Schwaben geweckt. Ich fand es auch nur fair und meinem Amt entsprechend angemessen, dass ich die Medien über meine Sicht der Dinge aufklären und mich zusätzlich von den Pressevertretern, die ich kannte, verabschieden konnte.
Also plante ich ein Pressegespräch für Freitag, 6. November 2020, den letzten Tag in meinem Amt. Leider musste ich erfahren, dass mir das Landratsamt den großen Sitzungssaal nicht zur Verfügung stellte; es wollte nach Rücksprache mit dem Regierungspräsidenten keinesfalls mit meiner Pressekonferenz in Verbindung gebracht werden. Der große Sitzungssaal war aber notwendig, um die aufgrund der Coronavorschriften erforderlichen Abstände einzuhalten.
Also suchte ich nach Alternativen, und ich fand eine. In den für das Gesundheitsamt zusätzlich angemieteten Räumen gab es ausreichend Platz und Sitzgelegenheiten. Also schickte ich den Medienvertretern eine Einladung für den genannten Termin. Unglücklicherweise hatte ein Medienvertreter eine Rückfrage und wandte sich damit direkt an das Landratsamt. Ob das nun Absicht war? Ich kann es nicht sagen.
Jedenfalls erfuhr das Landratsamt von meinen Plänen und untersagte mir – natürlich nur mündlich –, auch diese Räumlichkeiten für eine Pressekonferenz zu nutzen, da sie ja vom Landkreis angemietet waren. Ob meine Enttäuschung oder mein Unverständnis darüber überwog, kann ich bis heute nicht sagen.
Aber so wollte ich mich keinesfalls abspeisen lassen. Es musste eine Lösung her. Glücklicherweise bin ich mit ein paar guten Fähigkeiten ausgestattet. Dazu gehören ein gewisser Dickkopf und eine außergewöhnliche Stressresistenz.
Mir blieb also nur, es allein durchzuziehen, unabhängig von irgendwelchen Räumlichkeiten und der Beteiligung des Landratsamts. Es war doch ohnehin schon alles für alle digital, also würde ich eine virtuelle Pressekonferenz abhalten. Hierfür müsste man nur ein Programm aufspielen, dann allen Teilnehmern die Zugangsdaten schicken, und fertig wäre die Veranstaltung. Den Strom würden sie mir schon nicht abdrehen.
Leider gehören diese EDV-Angelegenheiten nicht gerade zu meinen Kernkompetenzen, was die Begründung der Strafversetzung – ich müsste die Digitalisierung der bayerischen Gesundheitsämter voranbringen – in meinen Ohren noch lustiger klingen ließ.
Aber ich hatte einen Joker, eigentlich drei, aber der Große hat sich darum gekümmert. Meine drei Buben daddeln wie die Teufel, Computerspiele, Handy, Internet sind ihre Welt. Was lag also näher, als ihre Hilfe zu beanspruchen? Der Älteste übernahm die Angelegenheit sofort. Ruckzuck war das Programm installiert, ein Testlauf verlief ohne Probleme.
Also konnte ich mit einem weiteren Schreiben die Medienvertreter zunächst erneut ausladen, um sie anschließend wieder zu einer virtuellen Konferenz einzuladen. Und das alles mit Abstand und im besten Einklang mit der bestehenden Infektionsschutzverordnung.
An diesem Morgen war ich früh wach. Geschlafen hatte ich gut, aufgeregt war ich nicht wirklich. Eher gespannt. Wie eben bei einem Projekt, das nun in die Endphase geht.
Eine Zeitung titelte am nächsten Tag darüber: »Auf Distanz«. Aber es stimmte. Um Punkt elf Uhr hatten sich viele Medienvertreter via Zoom zugeschaltet. In einer knappen Stunde erklärte ich noch einmal meine Kritikpunkte, den Ablauf der letzten Tage und warum diese Presskonferenz auf diese Weise stattfand.
Zuletzt war es mir ein großes Anliegen, mich bei den Medien, vor allem den regionalen, zu bedanken. Besonders aber dankte ich noch einmal meinem Team. Jeder, der in einer Führungsposition arbeitet, sollte wissen und schätzen, wenn ein Team tatsächlich wie ein Team arbeitet. Ich wusste es, und bei aller Abgebrühtheit, die ich an den Tag legte: Bei meinen Dankesworten hatte ich Tränen in den Augen. Es war nicht der Verlust meines Jobs oder meines Amtes; wenn ich etwas vermissen würde, dann dieses großartige Team.
Im Anschluss an die virtuelle Pressekonferenz gab ich noch weitere Liveinterviews. Diese hielt ich einzeln und auf einer freien Wiese ab, allen Vorgaben entsprechend.
Um etwa 17 Uhr war das letzte Interview durch. So, das war es nun wohl wirklich gewesen.
Ich war raus.
Mein erstes freie Wochenende seit Wochen konnte beginnen, und ich begann über das, was da passiert war, in Ruhe nachzudenken.